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HEGEL-STUDIEN - ciando

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HEGEL-STUDIEN

In Verbindung mit der Hegel-Kommission der Rheinisch-Westfälischen

Akademie der Wissenschaften

herausgegeben von

FRIEDHELM NICOLIN und OTTO PÖGGELER

Band 16

FELIX MEINER VERLAG

HAMBURG

Page 4: HEGEL-STUDIEN - ciando

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.

ISBN 978-3-7873-1480-5 ISBN eBook: 978-3-7873-2941-0 ISSN 0073-1578

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikro-verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de/hegel-studien

Inhaltlich unveränderter Print-On-Demand-Nachdruck der Originalausgabe von 1981, erschienen im Verlag H. Bouvier und Co., Bonn.

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INHALT

TEXTE UND DOKUMENTE

CHRISTOPH JAMME, Bochum Hegel als Leser Johannes von Müllers. Mit einem Hegelschen Exzerpt und unveröffentlichten Briefen Sinclairs an Müller 9

Dokumente zu Hegels Reise nach Österreich mitgeteilt und eingeleitet von INGE BLANK, Düsseldorf 41

Hegel und die ägyptischen Götter Ein Exzerpt, herausgegeben von HELMUT SCHNEIDER, Bochum 56

ABHANDLUNGEN

LAURENT PAUL LUC, Sherbrooke, Que. Le Statut philosophique du Tübinger Fragment 69

Lu DE VOS, Löwen Die Logik der Hegelschen Rechtsphilosophie; Eine Vermutung 99

UDO RAMEIL, Siegen Sittliches Sein und Subjektivität. Zur Genese des Begriffs der Sittlichkeit in Hegels Rechtsphilosophie 123

SANDER L. GILMAN, Ithaca, New York Hegel, Schopenhauer and Nietzsche see the black 163

DISKUSSION

Selbstbewußtsein und Identität (OTTO POGGELER, Bochum) 189

Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie? (GERHARD GOHLER,

Berlin) 217

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Eine Diskussion ohne Ende: zu Hegels These vom Ende der Kunst (ANNEMARIE

GETHMANN-SIEFERT, Bochum) 230

LITERATURBERICHTE UND KRITIK

Recent interpretations of Hegel's Phenomenology (HOWARD P. KAINZ,

Milwaukee) 245

Einige Interpretationen der Phänomenologie des Geistes (WIM VAN DOOREN,

Utrecht) 251

F. Guibal: Dieu seien Hegel (GEORGES MOREL, Paris) 256

Hegels Philosophische Psychologie. Hrsg, von D. Henrich (MICHAEL J. PETRY,

Rotterdam) 259

R. Albrecht: Hegel und die Demokratie (FRIEDRICH HOGEMANN, Bochum) . . 261

M. Hulin: Hegel et l'Orient (PIERRE GARNIRON, Bochum/Paris) 266

M. Alvarez-Gomez: Experiencia y sistema (HANS-CHRISTIAN LUCAS,

Bochum) 274

P. Macherey: Hegel ou Spinoza (PIERRE GARNIRON, Bochum/Paris) 276

M. Frank: Der unendliche Mangel an Sein; Schelling: Philosophie der Offenbarung 1841/42. Hrsg, von M. Frank (HANS-JOACHIM HELMICH,

Düsseldorf) 279

G. Schmitt: The concept of being in Hegel and Heidegger; J.-L. Vieillard- Baron: Le Temps (EDGARDO ALBIZU, Lima) 281

J. Taminiaux: Le regard et l'exc6dent (PIERRE GARNIRON, Bochum/Paris) . . . 285

J. Simon: Wahrheit als Freiheit (UDO RAMEIL, Siegen) 288

Kurzreferate und Selbstanzeigen

über C. Cordua, J. Simmen, G. Mieth, M. Westphal, R. J. Siebert, Ch. Taylor, R. D. Cumming, D. DeGrood, G. R. Lucas, B. CuUen, S. Kratz, H. Bachmaier, P. Böning, H. Brandt (Hg.), H.-J. Helmich, E. Eckstein, J. Göres (Hg.), W. Kuhlmann, V. Verra, U. Krautkrämer 291

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BIBLIOGRAPHIE

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1979. Mit Nachträgen aus früheren Berichtszeiträumen 305

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CHRISTOPH JAMME (BOCHUM)

HEGEL ALS LESER JOHANNES VON MÜLLERS

Mit einem Hegelschen Exzerpt und unveröffentlichten Briefen Sinclairs an Müller

Die Herausbildung des Hegelschen Denkens vollzog sich im lebendigen Austausch mit Freunden; am Beginn des Weges, an dessen Ende der (scheinbar?) erratische Block der Wissenschaft der Logik steht, finden wir die alle Einsamkeit des Philosophierens durchbrechende Macht des Gesprächs. „Viel hat von Morgen an,/ Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,/ Erfahren der Mensch", dichtet Hegels Freund HöLDERLIN in der Friedensfeier, damit auch jenes Gespräch auszeich- nend, das er mit Hegel im Tübinger Stiftszimmer und vor allem in Frankfurt geführt hat. Neben HöLDERLIN’ sind in den letzten Jahren der Hessen-Homburgische Diplomat, Poet und Philosoph ISAAK VON SINCLAIR^, neben ihm aber auch Gestalten wie JACOB ZWILLING^ und neuerdings FRANZ JOSEPH MOLITOR'* in ihrer Bedeutung für Hegel entdeckt worden. Die Wichtigkeit historisch-biographischer Forschungen ist also unumstritten, doch steckt sie, gerade was das Umfeld angeht, innerhalb dessen der junge Hegel philosophierte, noch in den Kinderschuhen. Andere Personen als die Genannten und weitere Gesprächskreise sind bisher in ihrer Wirkung auf Hegel noch fast gänzlich unerforscht und geraten bei einer allzu einseitigen Fixierung auf den Frankfurt-Homburger FicHXE-Diskurs leicht aus dem Blick. Zu denken wäre hier etwa an den Frankfurter Kreis um die Familie BRENTANO, um KAROLINE VON GüNDERRODE

und FRIEDRICH VON LEONHARDI, WO es wohl eine intensive ScHELLiNc-Diskussion gab.

’ Vgl. O. Pöggeler: Hegels Jugendschriften und die Idee einer Phänomenologie des Geistes. Habil. Heidelberg 1966 [masch.schr.]; D. Henrich: Hegel und Hölderlin. In: Henrich: Hegel im Kontext. Frankfurt a. M. 1971. 9-40; P. Kondylis: Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802. Stuttgart 1979. Bes. 257 ff.

^ Vgl. H. Hegel: Isaak von Sinclair zwischen Fichte, Hölderlin und Hegel. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der idealistischen Philosophie. Frankfurt a. M. 1971; Ch. Jamme: Sinclairs Briefe an Hegel 1806/07. In: Hegel-Studien. 13 (1978), 17-52; Ders.: Politik und Natur. Zum historischen Kontext und philosophischen Gehalt von Sinclairs Cevennenkrieg-Trilogie. ln: Homburg vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte. Hrsg. v. Ch. Jamme undO. Pöggeler. Stuttgart 1981, 194-230. Vgl. in diesem Band auch die Aufsätze von V. Schupp und P. Bertaux.

® Vgl. D. Henrich: Jacob Zwillings Nachlaß. Gedanken, Nachrichten und Dokumente aus Anlaß seines Verlustes. In: Homburg v. d. H. in der deutschen Geistesgeschichte. 245-266.

* Vgl. K. R. Meist: Identität und Entzweiung. Molitors Geschichtsphilosophie und der Homburger Kreis. In: Homburg vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte. 267-299.

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aber auch an Mainz mit JUNG, FöRSTER, SOMMERING und HEINSE sowie an Düsseldorf mit JACOBI. Welche von HöLDERLINS Freunden Hegel persönlich gekannt hat, zu wem er etwa in Mainz außer JUNG noch Kontakte gehabt hat, - all dies sind bisher noch offene Fragen; das biographische Dunkel ist groß.

Hier soll es nur um jenen Mann gehen, der zu seiner Zeit als „deutscher TACITUS"

gefeiert wurde, dann aber von vielen Zeitgenossen als politischer Verräter gebrandmarkt wurde und der heute, so scheint es, fast völlig vergessen ist: JOHANNES

VON MüLLER. Der später als HöLDERLiN-Forscher berühmt gewordene WERNER KIRCHNER

wußte noch, angeregt von seinem Lehrer FRIEDRICH GUNDOLF, um die Bedeutung dieser Gestalt und stieß erst von ihm aus zu HöLDERLIN und SINCLAIR; leider blieb seine breit angelegte Biographie des Historikers Fragment Die heutige historische Wissenschaft, beschäftigt sie sich mit berühmten Geschichtsschreibern und stößt dabei auf den Verfasser der Schweizergeschichte, nimmt von diesen Bezügen keine Kenntnis; die neueste und maßgebliche Gesamtbiographie erwähnt den Namen Hegels nur ein einziges Mal en passant®. Wenn Hegel JOHANNES VON MüLLER auch wohl persönlich nie begegnet ist, so gehört der Schweizer Historiker doch weit enger in den Kreis um SINCLAIR, HöLDERLIN, Hegel, als dies bisher gesehen worden ist. Und dies nicht nur rein biographisch; so zählen etwa JOHANNES VON MüLLER und GEORG

FöRSTER ZU den Wiederentdeckem von HEMSTERHUIS in Deutschland, gehören also unmittelbar in die Geschichte der Vereinigungsphilosophie, ohne die HöLDERLINS

Konzeption des Einen Seins und Hegels Begriff des „Lebens" in seinen Frankfurter Schriften undenkbar wären. ^

I.

JOHANNES VON MüLLER ist eine Schlüsselfigur der Historiographie des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Seine vielfältigen Beziehungen zu Zeitgenossen sind bis heute noch nicht vollständig überschaubar; seine Nachlaß-Briefe werden in der Stadtbi- bliothek Schaffhausen inventarisiert und für eine Edition vorbereitet, ein Katalog der über zweitausend Korrespondenten JOHANNES VON MüLLERS ist im Entstehen begriffen. Merkwürdig und auffällig ist es, daß wir in MüLLERS Biographie vielen uns

® W. Kirchner: Johannes von Müller. 2 Teile. Maschinengeschriebenes Manuskript aus dem Nachlaß, Geschenk von Frau A. Kirchner. Stadtbibliothek Schaffhausen Sign.-Nr Hs St 9 70/1-H2. Ein Teildmck daraus ist Kirchners Heidelberger Dissertation von 1927: Studien zu einer Darstellung Johannes von Müllers. Homburg 1931.

® K. Schib: Johannes von Müller 1752-1809. Thayngen-Schaffhausen, Konstanz-Lindau- Stuttgart 1967. 455. - Auf die Notwendigkeit einer Untersuchung des Verhältnisses Hegels zu J. v. Müller hat O. Pöggeler verwiesen: Hegels Option für Österreich. Die Konzeption korporativer Repräsentation. In: Hegel-Studien. 12 (1977), 111 Anm. 38.

^ Vgl. H. Moenkemeyer: Krangois Hemsterhuis: Admirers, Critics, Scholars. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 51 (1977), 503-524, hier 509.

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Hegel als Leser Johannes v. Müllers 11

von der Beschäftigung mit Hegel und HöLDERLIN her vertrauten Namen wiederbe- gegnen, ja diesen selbst.

Nach Jahren des Studiums, des Reisens und der Hauslehrertätigkeit erhielt JOHANNES VON MüLLER, der gerade die Urfassung seiner Schweizer geschickte veröffent- licht hatte®, 1781 durch Vermittlung des Hessen-Kasseler Ministers VON SCHLIEFFEN

eine bescheidene Stelle am Collegium Carolinum in Kassel. Hier lernte er als Kollegen GEORG FöRSTER und SAMUEL THOMAS SOMMERING kennen. FöRSTER, der seit Anfang April 1779 eine Stelle als Professor für Naturgeschichte innehatte, war damals schon ein berühmter Mann; der erste Band seiner Weltreise war kurz zuvor in Deutschland erschienen, jenes Werk, in welchem er die Erlebnisse und Erfahrun- gen seiner gemeinsam mit seinem Vater unternommenen Weltumseglung auf dem Schiff „Resolution" des Engländers JAMES COOK verarbeitet hatte.® Auf Betreiben FöRSTERS erhielt im Herbst 1779 auch dessen Freund SOMMERING einen Ruf als Professor der Anatomie nach Kassel. Beide traten übrigens noch im gleichen Jahre in die (1771 gegründete) Kasseler Freimaurerloge „Zum gekrönten Löwen" ein und zogen ihren Freund MüLLER nach. Die Freimaurerei war im absolutistischen Staat bekanntlich jener Freiraum, in dem sich nicht nur eine von der staatlichen Souveränität unabhängige Moral frei entwickeln konnte, sondern von dem aus man auch die Außenwelt, eben den Staat, dem Gerichtshof dieser innermaurerischen Moral unterwarf und so die bestehenden Staatsverhältnisse in Frage stellte; m. a. W. der moralische Innenraum der Logen bildete die Keimzelle der Revolution, zumindest ihrer Idee; der Eintritt FöRSTERS in den Mainzer Jakobinerklub ist von hier aus nur konsequent. Auch SINCLAIR wollte in seiner Jenaer Studienzeit eine Loge gründen, HöLDERLIN und vielleicht auch Hegel hatten während ihrer gemeinsamen Frankfurter Hauslehrerzeit Kontakt zur dortigen „Loge der Einigkeit", vermittelt durch den Arzt (und wissenschaftlichen Gegner SOMMERINGS) JOHANN CHRISTIAN

EHRMANN. " 1776-79 war auch CHRISTIAN WILHELM VON DOHM Professor am Carolinum gewesen; MüLLER lernte ihn auf seiner ersten Berlin-Reise 1780 kennenund hat wenig später nicht nur in der von DOHM gemeinsam mit BOJE herausgegebenen Zeitschrift Teutscher Merkur veröffentlicht'®, sondern auch die Hauptidee des

® Die Geschichten der Schweizer. Boston [recte: Bern] 1780. ® Das Buch erschien in seiner englischen Fassung A voyage round the world im März 1777.

Zum Leben Försters vgl. neuerdings Ulrich Enzensberger: Georg Förster. Weltumsegler und Revolutionär. Ansichten von der Welt und vom Glück der Menschheit, zusammengestellt und erzählt. Berlin 1979. Über seine Zeit in Kassel vgl. 51 ff.

Vgl. dazu R. Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Freiburg, München 1959. Neuaufl. Frankfurt a. M. 1973.

" Vgl. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe (= StA). Bd 7,2. Stuttgart 1972. 529 f (LD 446).

Der preußische Beamte Dohm war es, der Mendelssohns und Lessings Forderung nach bürgerlicher Gleichstellung der Juden auf den praktisch-politischen Weg gebracht hat, vgl. seine Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. 2 Bde. Berlin, Stettin 1781/83. Den Hinweis auf diese Schrift verdanke ich Frau Prof. 1. Strohschneider-Kohrs.

'® Zweierlei Freiheit. In: Deutsches Museum 1786. Bd 2. 29 f.

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glühenden Verehrers FRIEDRICHS DES GROSSEN aufgegriffen, die Stiftung eines Fürstenbundes gegen Österreichs Übermacht.

Auf Betreiben SOMMERINGS, der inzwischen in Mainz Professor geworden war, erhielt MüLLER im Frühjahr 1786 eine Stelle als Bibliothekar und (ab 8, 3. 1787) Hofrat in Mainz; er wurde Hausgenosse SöMMERINGS. Das Kurfürstentum Mainz war ein geistlicher Staat und bestand in der Hauptsache aus dem Erzstift Mainz und dem Oberstift Aschaffenburg. Es zählte eine Bevölkerung von 320 000 Personen (wovon 30 000 in Mainz lebten), der Hofstaat umfaßte 460 Personen und das stehende Heer 30 000 Mann und 12 Generäle. Kurfürst war zur Zeit MüLLERS der Erzbischof FRIEDRICH

KARL JOSEPH VON ERTHAL, gleichzeitig Direktor des Kurfürstenkollegiums und nach dem Kaiser ranghöchster Reichsfürst. Nach seinem Regierungsantritt verfolgte er eine aufklärerisch-fortschrittliche Politik. Er wollte sich an die Spitze der katholi- schen Aufklärungsbewegung setzen und machte seinen Hof bewußt zu einem der wichtigsten Kultur- und Kunstzentren Westdeutschlands. Er gab der Universität eine neue Verfassung; er berief aufgeklärte Köpfe, nicht nur den Protestanten MüLLER, sondern auf Betreiben MüLLERS wurde ein weiterer Protestant, GEORG

FöRSTER, im Oktober 1788 als MüLLERS Nachfolger kurfürstlicher Bibliothekar in Mainz; schon seit September 1786 hatte sich JOHANN JACOB WILHELM HEINSE, ebenfalls Protestant und Verfasser des Skandalromans Ardinghello (der 1787 - anonym - erschien), dem Kurfürsten als Vorleser und Bibliothekar verdungen. In diese Jahre (1. Januar 1782) fällt auch die Gründung der Mainzer Lesegesellschaft, Sammelbek- ken der unzufriedenen Intelligenz. Ein weiterer, in unserem Zusammenhang wichtiger Mainzer Kollege MüLLERS war der Professor der Geschichte NIKOLAUS VOGT,

später Geh.Legationsrat in Frankfurt, ein Freund SINCLAIRS und Bekannter EBELS und MOLITORS.

Traditionell österreichisch orientiert, schließt sich ERTHAL angesichts der Reform- politik JOSEPHS II. Preußen an. Er tritt dem preußischen Fürstenbund bei, jenem Plan eines nordischen Bundes durch die Verbindung Preußens mit England und Rußland, der wesentlich dem Kopf des Ministers EWALD FRIEDRICH GRAF VON HERTZBERG

entsprungen war und den DOHM sowohl durch erfolgreiche praktische Tätigkeit als auch mittels einer Verteidigungsschrift'* entscheidend beförderte. Der Plan einer antiösterreichischen Allianz unter preußischer Führung geht 1785 in Erfüllung: FRIEDRICH tritt JOSEPHS Plan, Bayern von dessen Herrscher im Austausch gegen die österreichischen Niederlande zu erwerben, durch die Gründung einer „Assoziation

Zu Müllers Urteilen über Förster vgl. Johannes von Müller: Sämmtliche Werke (= SWl. Hrsg. V. ]. G. Müller. Tübingen 1810-19. Bd 5, 210 f, 288; Bd 16, 400 ff, 416. Zum Verhältnis beider vgl. K. Schib: J. v. Müller. 174 ff. Zum Urteil Müllers über Heinse vgl. SW 5. 288; SW 16. 264 f, 275, 278, 282. Vgl. auch Briefe zwischen Gleim, Wilhelm Heinse und Johannes von Müller. Hrsg. v. W. Körte. 2 Bde. Zürich 1806.

'*1^1. Brief an Hegel vom 16. 8.1810, in: Briefe von und an Hegel. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 1952 ff; Bd 1. 323.

** Über den deutschen Fürstenbund. Berlin 1785.

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Hegel als Leser Johannes v. Müllers 13

zur Erhaltung des Reichssystems" entgegen. - MüLLERS Tätigkeit als Bibliothekar ist kaum feststellbar, seine eigentlichen Arbeitsgebiete sind Publizistik und Diplo- matie. Deshalb fühlt er sich hier auch sehr wohl: „Beynahe in der Welt ist kein Ort, welcher mir wie Mainz gefiele. . ." Wenn MüLLER seit Mai 1786 an einer Schrift über den Fürstenbund arbeitet’®, befindet er sich nicht nur in Übereinstimmung mit der preußischen Fürstenbundspublizistik, sondern entspricht auch der offiziellen Politik seines Brotherrn, in dessen Dienst er seit dem Frühjahr steht. Nicht zuletzt aufgrund dieser Haltung wird er von KARL FRIEDRICH VON ERTHAL mit Ämtern und Ehren in seinem Kabinett überhäuft. MüLLER hofft auf die Wirkung der preußischen Macht zur Erhaltung der europäischen Freiheit. Er setzt seine Hoffnungen auf FRIEDRICH DEN GROSSEN als den prädestinierten Gegenspieler JOSEPHS

II., in dem MüLLER auch den Initiator einer allfälligen Teilung der Schweiz erblickt. Dahinter steht seine Sorge um den Bestand des europäischen Gleichgewichts: das innerdeutsche Gleichgewicht soll Grundlage des europäischen werden. MüLLERS

Fernziel ist eine umfassende Reichsreform, vor allem eine Reform der Reichsge- richtsbarkeit, ein „ächter Reichszusammenhang".

Die Mainzer Zeit MüLLERS ist nicht nur deshalb von Interesse, weil hier mit der Fürstenbund-Schhh seine bedeutendste publizistische Leistung entsteht, sondern auch, weil in die Zeit seiner Wirksamkeit am kurfürstlichen Hofe jenes Ereignis fällt, das die damalige Welt am tiefsten erschüttert hat: die Erstürmung der Bastille. Nach 1789 verfolgte ERTHAL eine außerordentlich repressive Politik; die Haltung seines inzwischen zum Geh. Kabinettssekretär aufgestiegenen Dieners MüLLER bleibt zwiespälHg. In einem Brief vom 14. August preist er den Tag der Zerstörung der Bastille als ,,de[n] schönste[n] Tag seit dem Untergang der römischen Weltherr- schaft"; im Namen der „Vaterlandstugend" begrüßt er die Revolution.^’ MüLLER

SW 16. 226. ’® Anonym erschienen u.d.T.: Darstellung des Fürstenbundes. Leipzig 1787. Vgl. SW 9.

13-310. ” Vgl. dazu W. Pillen: Die Publizistik des deutschen Fürstenbundes. Diss. [masch.] Frankfurt

a. M. 1925. - H. Ryser: Johannes von Müller im Urteil seiner schweizerischen und deutschen Zeitgenossen. Basel, Stuttgart 1964.

SW9.331. Vgl. dazu insgesamt: K. Fienking: Johannes von Müller 1752-1809. Bd 2. Stuttgart, Berlin 1928. 121-25 u. 178 f. - E. Bonjour: Die Idee des europäischen Gleichgewichts bei Johannes von Müller. In: Historische Zeitschrift. 182 (1956), 527-547. - P. Stauffer: Die Idee des europäischen Gleichgewichts im politischen Denken Johannes von Müllers. Basel, Stuttgart 1960. - K. Schib: J. v. Müller. 147 ff. - M. Haller-Dirr: Johannes v. Müller und das Reich. Studien zur Kurmainzer Fürstenbundspolitik. Diss. [masch.] Freiburg i. Ue. 1979. - (Für seine Hilfe bei der Literatursuche danke ich H. Clairmont, für seine freundlichen historischen Hinweise Prof. Dr. St. Skaiweit.) - F. Hölderlin nimmt auf den Streit zwischen Joseph II. und Friedrich d. Gr. und die Bildung des Dt. Fürstenbunds vielleicht in einem späten Bruchstück Bezug (Nr 55, vgl. StA 2.331). A. Beck (Hölderlin-Jahrbuch. 21 [1978-79], 294) vermutet, daß der Dichter hier Kritik an Josephs aktivem Eingreifen in den Weltlauf üben wollte, u. a. an dem Plan einer Einverleibung bayerischer Gebiete nach Österreich. f

SW 5. 269. - Johann Müller's Briefe an seinen ältesten Freund in der Schweiz (d. i. Joh. Heinr. FüßU). Geschrieben in den Jahren 1771 bis 1807. Hrsg. v. J. H. Füßli. Zürich 1812. 201.

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14 CHRISTOPH JAMME

gefiel VOGTS Geschichte der französischen Revolution vom Jahr 1355, zur Warnung für Aristokraten und Demokraten.'^ In seiner Selbstbiographie äußert der an HERDER

geschulte Historiker die Einsicht in die Notwendigkeit von periodischen Erneu- erungen bzw. Verjüngungen der Menschheit in Revolutionen, er ist gegen alle Unterdrückung und äußert dem Bruder gegenüber unverhohlen seinen Freiheits- sinn: „Gut ist immer, daß die Fürsten gewahr werden, sie seyen Menschen, und daß die Vorsehung sie aus dem Schlaf rüttelt, in welchen die lange Geduld der Nationen sie eingewiegt." Doch bezeichnend ist der Nachsatz: „Nur sollten die Eigenthums- rechte und die Justiz nicht so gar verletzt werden!"“ Hier zeigt sich JOHANNES VON

MüLLER, anders als Hegel und HöLDERLINals Bourgeois, als Liberaler und - will man ihn innerhalb des französischen Spektrums einordnen - Girondist, sah diese Gruppe doch, im Gegensatz zu den Jakobinern und Montagnards, das Eigentums- recht als unantastbar an. Neben der Sozialisierungspolitik ist es vor allem die Anti-Christlichkeit der neuen Herren in Frankreich, ihre Verfolgung der eidverwei- gemden Priester, was den Mainzer Geheimrat davon abhält, sich in den Dienst der Franzosen zu begeben: das gesamte französische Freiheitssystem ruhe auf Sand, weil es nicht auf Gott und Moral gegründet sei. “ Die Religionsverfolgungen schiebt er dem Einfluß ROUSSEAUS ZU, dem er MONTESQUIEU, die eigentliche Quelle seiner Staatsauffassung, gegenüberstellt.“ Die Befreiung eines Volkes darf nicht in Gesetzlosigkeit und Anarchie münden, - so ließe sich seine theoretische Einschät- zung der Vorgänge in Frankreich resümieren. Was seine konkrete Politik in Mainz angeht, so rät er ERTHAL im Frühjahr 1790 angesichts des sog. Lütticher Handels (die Brabanter hatten sich gegen die österreichische Verwaltung unter dem Eindruck der Französischen Revolution erhoben, und der Funke war auch auf das zum Deutschen Reich gehörende Besitztum Lüttich übergesprungen) zur Niederschla- gung der Unruhen in Lüttich. Fast schon Z)mismus zeigt sich in Sätzen wie diesem: „Ich halte nicht nur für die beste Politik, sondern selbst für ein Werk der Barmherzigkeit gegen bethörte Unterthanen, aufrührischen Geist nicht zu Kräften kommen zu lassen, sondern durch überraschend schnelle Maaßregeln zu schrek- ken." Ein Mainzer Kontingent schließt sich dem zweiten Aufgebot von Exekutions- truppen an, doch endet alles in einer kläglichen militärischen Niederlage. Über die

“ Vgl. SW 16. 419 f. “ Vgl. SW 5. 313; 372; 271. “ Vgl. K. Rosenkranz: G. W. F. Hegels Leben. Berlin 1844. 525: Hegel hat in Bern die christliche

Eigentumskritik modifiziert zur Verteidigung der jakobinischen Enteignungspolitik aufgegrif- fen; seine Haltung änderte er erst in Frankfurt, vgl. Hegels theologische Jugendschriften. Hrsg. v. H. Nohl. Tübingen 1907. 273. Hölderlin vertritt im Empedokles (1 1556) ebenfalls die jakobinische Idee nicht einer völligen Aufhebung des Privateigentums, sondern einer möglichst gleichmäßigen Verteilung des Besitzes.

“ Vgl. SW 5. 371; 364; 369; 272. “ Zeugnis seiner ursprünglichen Begeisterung auch für Rousseau ist der Plan einer

Übersetzung der Schriften des Genfers, vgl. Johann Müller's Briefe an seinen ältesten Freund. 144 f.

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Hegel als Leser Johannes v. Müllers 15

Rolle Preußens (es unterstützt die Aufständischen) ist MüLLER tief enttäuscht. Bei Unruhen im kurmainzischen Gebiet im Februar 1790 sendet MüLLER selbst ein Kommando von 250 Mann in die aufrührerische Provinz; die Soldaten finden jedoch keine Aufständischen. Im September des gleichen Jahres wird ein Gesellen- und Lehrlingsaufstand von einem Hessen-Darmstädtischen Regiment niedergeschla- gen. Pfingsten 1791 nimmt ERTHAL nach dem gescheiterten Fluchtversuch LUDWIGS

XVI. 600 französische Emigranten in Mainz auf. MüLLERS schwankende Haltung gegenüber den revolutionären Ereignissen

draußen und im eigenen Land entfremdet ihn von seinen Freunden und Rosenbrüdern HEINSE und FöRSTER. HEINSE, der bis 1789 in Mainz blieb und anschließend als Bibliothekar nach Aschaffenburg ging, hatte Kontakt zu jenen Kreisen, aus denen sich die späteren Klubisten rekrutierten; FöRSTER wurde, nach der überstürzten Flucht des Kurfürsten und seines Hofstaates (4. 10.) und dem Einzug der Franzosen am Abend des 21. 10.1792 (von dem MüLLER in Bayern erfuhr und auf den er nur mit Angst um seine zurückgebliebenen Bücher und Manuskripte reagierte“) Vizepräsident der von CUSTINE eingesetzten provisorischen Verwaltung und trat in den (nach Straßburger Vorbild am 23. 10. gegründeten) Klub von „Freunden der Gleichheit und Freiheit" ein. “ Hier hielt er am 15. 11. 1792 eine Rede (Über das Verhältnis der Mainzer gegen die Franken), in welcher er unter Berufung auf den bei der Bevölkerung angesehenen MüLLER dafür warb, die neue Verfassung anzuerkennen. MüLLER verwahrte sich in einer merkwürdig gewundenen Erklä- rung. In einer längeren Unterredung mit CUSTINE lehnte er alle ihm angebotenen Ehren und Stellungen im revolutionären Mainz ab. So blieb ihm das Schicksal erspart, nach dem Wiedereinzug des Kurfürsten (30. 3. 1793) erleben zu müssen, daß man auf ihn ein Kopfgeld aussetzte, wie es seinem Freunde FöRSTER widerfuhr. FöRSTER hatte schon in der Kasseler Zeit die Meinung, MüLLER hänge den Mantel nach dem Wind; um dem Minister VON SCHLIEFFEN ZU gefallen, habe er den Despotismus gepriesen und die schweizerische Freiheit verspottet. Auch als MüLLER in Mainz war, hielt FöRSTER an seiner Meinung fest: „MüLLER ist weich in weltlichen Verhältnissen und läßt sich zu Inkonsequenzen wohl bringen.

Der Historiker gilt jedenfalls in Deutschland nicht als Revolutionär. Im Vorwort zur II. Abteilung des 3. Bandes seiner Schweizergeschichte (1795) verwahrte er sich

SW 5. 327; 330; 302. “ Vgl. SW 5. 400. “ Mitglieder im Jakobinerklub waren u. a. auch die beiden Freunde Sinclairs Kämpf und

Schlemmer. Mitgliederliste bei H. Scheel: Die Mainzer Republik. Bd 1: Protokolle des Jakobiner- klubs. Berlin 1975. 829-839.

^ Vgl. SW 5. 416; Georg Förster „hat mir einen schlimmen Streich gespielt. . ." Die Erklärung SW 16. 421-423. - Noch 1791, als Förster von dem geistlichen Fiskal Turin angezeigt worden war, weil er Adam als Produkt orientalischer Phantasie bezeichnet habe, verteidigte Müller ihn gegenüber dem Kurfürsten, indem er seinen Herrn angesichts der revolutionär aufgewühlten Zeit vor jedem Zeichen von Intoleranz warnte, vgl. SW 27. 273.

G. Förster: Sämmtliche Schriften. Leipzig 1843. Bd 7. 153; Bd 8. 138.

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16 CHRISTOPH JAMME

ausdrücklich gegen einen Vergleich der altschweizerischen Freiheitsbewegung mit der Französischen Revolution, indem er seine Landsleute aufrief, gegenüber dem Angebot revolutionärer Freiheit auf ihre viel ältere, gewachsene Schweizerfreiheit zu pochen. 1806 dann allerdings benutzte er eben dies Pochen auf die altschwei- zerische Freiheit zum Kampf gegen das unter NAPOLEON annektionistisch gewordene Frankreich und zur Werbung für ein starkes und einheitliches Deutsches Reich. Nach fast lOjähriger Tätigkeit im Dienste des Kaiserhofes zu Wien tritt MüLLER Ende Juli 1804 eine Stelle am Königlichen Hof in Berlin an. Er sollte hier als Historiograph des Königlichen Hauses arbeiten, doch anderes trat dazwischen, vor allem die Weiterführung von Schweizergeschichte und Universalhistorie. Obwohl jetzt im Dienste Preußens stehend, setzt er den schon in Wien begonnenen Kampf gegen die Politik dieser Großmacht fort, die den Basler Frieden mit Frankreich geschlossen hatte. Er wird Mitglied der patriotischen Opposition um den Prinzen Louis FERDINAND und den Minister Freiherrn VOM STEIN. Er arbeitet jetzt für eine österreichisch-preußische Versöhnung mit dem Ziel eines gemeinsamen Wider- standes beider Höfe gegen NAPOLEON. Von Preußen fordert der Historiker die Aufgabe der Neutralität, vom König im September 1806 die Entlassung seiner unzuverlässigen Räte, was dieser allerdings übelnimmt.

II.

Im Kreis um Louis FERDINAND machte MüLLER wohl auch erstmalig die Bekanntschaft des Hessen-Homburgischen Geheimrats ISAAK VON SINCLAIR, vermittelt wahrschein- lich durch die Buchhändlersgattin SOPHIE SANDER, die nach einem Schriftleiter für die von JOHANNES VON MüLLER geplante Nationalzeitung suchte. SINCLAIR war seit September 1805 im Aufträge seines Landgrafen in Berlin, um von Preußen Unterstützung für die Wünsche seines Herrn nach Selbsterhaltung und Vergröße- rung Homburgs, vor allem aber nach Sitz und Stimme im Reichsfürstenstand zu erhalten. Von hier aus besuchte er auch Hegel in Jena, was zur brieflichen Wiederanknüpfung des einst im Frankfurter „Bund der Geister" geführten Gespräches anregte. ^ Wenn sich auch in den Briefen SINCLAIRS an Hegel der Name JOHANNES VON MüLLERS nicht findet, so mögen sie doch anläßlich von SINCLAIRS Besuch über ihn gesprochen haben.

SINCLAIR und MüLLER verband die Liebe zur Schweiz, die - vermeintlich - leichte Übertragbarkeit der Idee des Bundes als des Ursprungs der Schweizerfreiheit auf die aktuelle politische Lage Deutschlands, die Hilflosigkeit eines zersplitterten

Zu Müllers Tätigkeit in Berlin siehe K. Schib: J. v. Müller. 212 ff. ^ W. Kirchner: Der Hochverratsprozeß gegen Sinclair. Ein Beitrag zum Leben Hölderlins.

Marburg 1949. 126 f. ^ Vgl. dazu meine in Anm. 2 genannte Edition der Briefe Sinclairs.

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Staatswesens angesichts der Bedrohung durch Frankreich. Wie die Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden sich 1291 zu einem „ewigen Bund" vereinigten, so sollen sich die (über 300) Einzelstaaten des Deutschen Reiches zur Wahrung ihrer inneren und äußeren Freiheit zusammenschließen. Das Interesse im Freundeskreis um Hegel und HöLDERLIN für die Schweiz ist aber älter als diese vordergründige politische Aktualisierung. Die Kassierung der Schweiz durch Frankreich war eines der beherrschenden Themen im Gespräch SINCLAIRS mit BOHLENDORFF in Homburg. JOHANNES VON MüLLER hatte 1798 ebenfalls Frankreichs „Interesse" an der Schweiz beklagt; er wußte, „daß, wenn man sie ihnen liesse, Europa verlohren wäre". ’*’ Dennoch war er in der Ablehnung der französischen Politik gegenüber seiner Heimat schwankend geworden, als er 1797 im Aufträge des österreichischen Ministers THUGUT die Schweiz bereiste, was ihm nach seiner Rückkehr den Vorwurf des Buhlens mit der Revolution eintrug. 1805/06 aber ist seine Haltung fest: galt der Kampf seiner Fürstenbund-Schrift dem Hegemoniestreben Österreichs, so gilt jetzt, wie besonders die Vorreden zur Neuauflage seiner Schweizergeschichte zeigen, sein Kampf dem Vormachtstreben des nachrevolutionären Frankreich.

Die Schweizergeschichte steht zwischen Aufklärung und Romantik. Der SINCLAIR

begeisternde uneingestandene Rousseauismus beherrschte schon die erste Fassung

Sinclairs Freunde Böhlendorff, Ebel und Horn haben über die Schweiz geschrieben. Vgl. C. U. Böhlendorff: Geschichte der helvetischen Revolution, ln: Woltmann: Geschichte und Politik. 1802, Dritter Band, 97-186 und 216-299. Vgl. J. G. Ebel: Schilderung der Gebirgsvölker der Schweiz. 2 Bde. Leipzig 1798 u. 1802. Ders.: Anleitung auf die nützlichste und genußvollste Art die Schweiz zu bereisen. 2 Bde. Zürich 1793. - f. Horn: Der Fall der Schweiz. 1800. - Vgl. auch des Hessen-Homburgischen Landgrafen „Enthusiasmus für edle, griechische und schweizerische Freiheit". In: Ch. Waas: Franz Wilhelm jung und die Homburger Revolutionsschwärmer 1792-1794. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Altertumskunde zu Bad Homburg V. d. H. 19 (1936), 31-80, hier 45 f. - Hegel hat zuerst an der Schweizer Geschichte seine Gedanken über Freiheit exemplifiziert, vgl. Vertrauliche Briefe über das vormalige staatsrechtliche Verhältnis des Waadtlandes (Pays de Vaud) zur Stadt Bern. Frankfurt a. M. 1798. In: Dokumente zu Hegels Entwicklung. Hrsg, von J. Hoffmeister. Stuttgart 1936. 247-257. Noch in Jena interessiert sich Hegel für die Vorgänge in der Schweiz. Vgl. den Aphorismus aus dem Wastebook „Unterwalden. Hirtenleben." f. Nicolin: Unbekannte Aphorismen Hegels aus der jenaer Periode. In: Hegel-Studien. 4 (1967), 9-19, hier 14 f. Wie M. Baum und K. R. Meist nachweisen konnten, ist dieser Aphorismus ein Exzerpt aus: H. Zschokke: Historische Denkumrdigkeiten der helvetischen Staatsumwälzung. 3 Bde. Winterthur 1803-05, ein Buch, das aus pro-französischer Sicht die Republikanisierung der Schweiz (1787-1799) beschreibt. Vgl. zum Problem auch O. Pöggeler: Hegels praktische Philosophie in Frankfurt. In: Hegel-Studien. 9 (1974), 79 f. - Was Hölderlin angeht, so steht in Stäudlins Poetischer Blumenleseßr das Jahr 1793 das Gedicht Kanton Schweiz, das an seine Fußreise erinnert, die er mit C. F. Hiller und dem Reutlinger Medizinstudenten F. A. Memminger im Frühjahr 1791 in das von vielen Zeitgenossen als republikanisches Vorbild gesuchte Land unternahm: „Ihr Väter der Freien!" (StA 1,1. 147.) Vgl. auch das Lob der Schweizer Bergwelt, ebd. 6,1. 443. - Im Jenaer „Bund der Freien Männer" las A. Bärnhof aus Riga am 19. 2. 1795 eine „Schilderung der Errichtung des Schweizerbundes" vor. Vgl. P. Raabe: Das Protokollbuch der Gesellschaft der Freien Männer in Jena 1794^1799. ln: Festgabe für Eduard Berend zum 75. Geburtstag am 5. Dez. 1958. Weimar 1959. 336-383, hier 355 (Nr 28).

“ SW 27. 277.

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18 CHRISTOPH JAMME

von 1780. Doch erst die Umarbeitung des Jugendwerks, die unter dem Titel Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft 1786-95 in Leipzig erschien (Band 2 erschien, als er in Mainz war), machte ihn zum gefeierten Historiker. In Berlin nun begann MüLLER mit der Revision dieser Auflage; der 1.-3. Teil dieser Neuauflage erschien dann in Leipzig 1806, Band 4 wurde ebenfalls noch in Berlin vollendet; in der Vorrede war das Erscheinen eines 5. Bandes in Aussicht gestellt. Doch die Tätigkeit in Kassel ließ ihm dann keine Zeit mehr, im November 1808 konnte (ebenfalls in Leipzig) nur die erste Hälfte des 5. Bandes erscheinen. Das Werk blieb also unvollendet.

Der Historiker gab in Berlin wohl seinem neuen Freunde SINCLAIR Einblick in seine Arbeit an der Neufassung der Schweizergeschichte, und der Hessen-Homburgische Diplomat dichtete unter dem starken Eindruck des Geistes des Geschichtswerkes den ersten Teil einer Dramentrilogie, die den Kampf der Bauern des Cevennenge- birges in den Jahren 1702-04 gegen LUDWIG XIV. als Freiheitskampf eines naturhaften Hirtenvolkes verherrlicht, um so den Nationalgeist der Deutschen wider NAPOLEON ZU wecken. Sofort nach dem Erscheinen des Stücks Anfang 1806 schickte er ein Exemplar an MüLLER mit der Bitte um Kritik (vgl. unten Brief vom 7. 4. 1806).

Mit SINCLAIR traf sich MüLLER in der Hoffnung auf ein baldiges Ende der territorialen und politischen Zersplitterung Deutschlands; das Hauptziel des Historikers bei allen seinen Bemühungen war, daß die Deutschen sich als Nation fühlen. ^ Als SINCLAIR im April 1806 Berlin verließ, schrieb MüLLER seinem Bruder in Schaffhausen: „Ungern verlor ich den sehr genialischen, liberal gesinnten, homburgischen Regierungsrath VON SINCLAIR; . . . ein wirklich sehr guter Freund." Anerkennend zitiert er Verse aus dem Ende des Cevennenkriegs.^

So sehr MüLLER über die offizielle Politik Preußens verärgert, von HAUGWITZ

enttäuscht war, so sehr gehörte seine Sympathie der preußischen Armee. Um so niederschmetternder empfand er die Nachricht von der Niederlage dieser Armee in der Schlacht von Jena.® Den Weg einer inneren Reform Deutschlands, vor allem seiner rechtlichen Institutionen, sah er jetzt nur noch bei dem gewährleistet, den er kurz zuvor noch als seinen erbittertsten Gegner bekämpft hatte: NAPOLEON. Nach

Vgl. dazu meinen in Anm. 2 genannten Aufsatz Politik und Natur. ^ SW 16. 267.

SW 7. 200 f; 209. ® Manuscripta Mülleriana, Sign. Nr 235/257-61 und 247/212-13. Frau Dr. Barbara Schnetzler

habe ich für Ihre freundlichen Auskünfte sowie für die Erteilung der Druckerlaubnis sehr zu danken. W. Kirchner fertigte maschinengeschriebene Transkriptionen der Briefe an, die heute das Hölderlin-Archiv der Württembergischen Landesbibliothek, Nachlaß Werner Kirchner bewahrt. Nach diesen Transkriptionen ist bisher sowohl von H. Hegel (Isaak von Sinclair) als auch von mir (Sinclairs Briefe an Hegel 1806107), allerdings jeweils nur auszugsweise, zitiert worden. - Frau cand. phil. Ursula Rautenberg danke ich an dieser Stelle herzlich für ihre Hilfe bei der Entzifferung schwer lesbarer Stellen. Außerdem konnte ich den gesamten Fragen- komplex mit ihr durchsprechen und erhielt manchen wertvollen Hinweis.

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Hegel als Leser Johannes v. Müllers 19

einer Unterredung mit dem als Sieger in Berlin Eingezogenen am 20. 10. 1806 schwenkte er zu Frankreich und wird ein Jahr später zum Minister-Staatssekretär des neugebildeten Königreichs Westfalen ernannt. Auch SI.MCLAIR scheint eine zeitlang geschwankt zu haben. Doch schon nach wenigen Wochen Tätigkeit als Minister JERöMES bittet MüLLER „aus Gesundheitsrücksichten" um seine Entlassung aus diesem Amt und wird dafür zum Staatsrat und Generaldirektor des öffentlichen Unterrichts ernannt.

Die Stadtbibliothek Schaffhausen bewahrt innerhalb der JOHANNES VON MCLLER-

Briefsammlung fünf Briefe von SINCLAIR an den Historiker, 3 Briefe aus dem Jahre 1806 mit 2 Beilagen und zwei Briefe aus Paris 1807-08. SINCLAIR zeigt sich in diesen Briefen als geschworener Feind der Politik Preußens unter HAUGWITZ und HARDENBERG

wie auch des „Obscurantismus des Wiener Hofes", der jeden „Heldensinn" im Volke ersticke. In Berlin hatte SINCLAIR, unterstützt von der Prinzessin WILHELM, geb. MARIANNE VON HESSEN-HOMBURG, an Verhandlungen mitgewirkt, eine Vergrößerung der Landgrafschaft um das rund 40 Ortschaften umfassende Oberamt Höchst zu erwirken. Doch die allgemeine politische Lage spielt gegen ihn, SINCLAIR muß Berlin verlassen. Auf der Rückreise nach Homburg macht er Station in Weimar, wo er bei GOETHE die Annahme seines Stücks zur Aufführung auf dem Hoftheater erreicht. Kaum in Homburg zurück, muß er erleben, wie Hessen-Homburg am 12. Juli 1806 durch die Rheinbundsakte an den Großherzog von Hessen-Darmstadt übergeht. Um der Huldigung des französischen Generalkommissars zu entgehen, begibt er sich, nachdem er noch HöLDERLINS Mutter um Abholung ihres Sohnes aus Homburg gebeten hat, nach Hötensleben, einer Homburger Besitzung im Magdeburgischen, um seinem Herrn die wertvollen auswärtigen Ämter zu erhalten. In Frankfurt, wo er noch eine Woche Station macht, lernt er CLEMENS BRENTANO, BETTINA und LUDWIG

TIECK kennen; BETTINAS Briefroman Die Günderode legt von den damals geführten Gesprächen Zeugnis ab. Mitten in den Hötenslebener Verhandlungen erhält er das ihn in Sachen Hochverratsprozeß entlastende Gutachten der hallischen Juristenfa- kultät, das er in Abschrift sogleich an JOHANNES VON MüLLER schickt. Im Frühjahr 1807 reist SINCLAIR dann mit dem Erbprinzen von Hessen-Homburg nach Paris und trägt in besonderer Audienz NAPOLEON das Verlangen Hessen-Homburgs nach Souveränität, Anschluß an den Rheinbund und Entschädigung für die erlittenen Verluste vor. Der letzte Brief SINCLAIRS an MüLLER zeigt seine Hoffnung auf einen Erfolg dieser Verhandlungen. Dennoch fühlt er sich, auch aufgrund der Erfahrung des Scheiterns seiner Verhandlungen in Hötensleben und Magdeburg mit Marschall NEY, niedergeschlagen und dem Landgrafen entbehrlich.

Vgl. dazu Ch. Jamme: Sinclairs Briefe. 42 f. Vgl. Beilagen Nr 260 und 261. Auf den Abdruck wird verzichtet, weil das vollständige

Gutachten schon anderswo publiziert ist, und zwar in Neue Sammlung merkwürdiger Rechtsfälle. Entscheidungen der Hallischen Juristen-Fakultät. Hrsg. v. Th. Schmalz. Bd 1. Berlin 1809. 1-27.

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20 CHRISTOPH JAMME

Ein in französischer Sprache abgefaßter Brief SINCLAIRS wohl an JERöME^^ zeigt, daß JOHANNES VON MüLLER seinem Freund auch Kontakte zum Kasseler Hof vermittelt hat, so daß SINCLAIR sich in der Angelegenheit eines Grafen TAVILLE, der über den Hessen-Homburgischen Landgrafen dem König von Westfalen seine Dienste hatte anbieten lassen, direkt an JERöME wenden und auf die Fürsprache MüLLERS vertrauen konnte. Als nicht an den Historiker gerichtet wird der Brief im Folgenden nicht publiziert. Gegenbriefe MüLLERS haben sich nicht erhalten, sie dürfen mit dem gesamten Nachlaß SINCLAIRS als verschollen gelten.

DIE BRIEFE SINCLAIRS

Die Transkriptionen folgen weitgehend der in der Stuttgarter HöLDERLIN-Ausgabe angewand- ten diplomatischen Wiedergabe. Die von SINCLAIR häufig verwendeten Abkürzungszeichen für Konsonantenverdoppelung (z. B. Bekantschaft) wurden stillschweigend aufgelöst; Zusätze erscheinen in eckigen Klammem; Hervorhebungen sind kursiv gedrackt. Streichungen wurden nicht mitgeteilt.

Erster Brief

Homburg vor der Höhe d. 7ten AprU. 1806.

Verehrtester Freund.

Erst am 4*«'' d. bin ich hier angekommen. Ich eile Ihnen zu schreiben, und füge den Brief an die Princeß WILHELM K. H. bei. Sie sagte mir noch bei meinem Abschied, daß der Prinz wünschte. Sie öfters bei sich zu sehen. Es wäre mir lieb, wenn Sie der Princeß den Brief zu bringen die Güte hätten. Sie würden ihr eine grose Freude damit machen. ^

EBEL habe ich mit Ihrem Andenken sehr erfreut. Er wird Ihnen selbst schreiben, u. Sie werden darin mehr Auskunft über den Gegenstand unserer letzten Unterhaltungen erhalten, als ich bis izt Ihnen zu geben im Stand bin. Alles aber was ich seit den wenig Tagen meines Aufenthalts dahier erfahren habe, bestätigt volkommen alle meine Vermuthungen[.] / EBEL ist in allem meiner Meinung; u. es freute mich dieselbe Ansicht auch

« Nr 247/212. ** Prinzessin Marianne bedankte sich für den Brief Sinclairs in einem undatierten Billet an

den Historiker (Stadtbibliothek Schaffhausen, MSc Müll. 95/14).

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bei GOTHE, U. selbst bei dem so gelaßenen WIELAND ZU finden. Der Geist des Volks erwacht, u. reißt sich los von den Banden, in denen das Zutrauen in unwürdige u. abgestorbene Formen ihn gehalten. Das Bewustsein seiner Kraft erhebt sich, u. ich glaube wenn diese äzzenden Mittel noch eine Zeit lang dauern, werden sie bald keine Gefahr mehr scheuen, um sich von dem Übel zu befreien.^ An vielen Orten der Wetterau haben sich Unruhen gezeigt u. die Bauern haben Prügel ausgetheilt. Die Franzosen scheinen sich selbst nicht ganz sicher zu halten, u. sprechen von nichts als von ihrem Abmarsch. Die Last ihres Aufenthalts ist unerträglich, u. überall zeigen sie den Übermuth knechtischer Sieger, u. verworrener Gemüther. I Dabei herrscht viel Unzufriedenheit unter ihnen. Sie haben Officiers u. Soldaten kein Geld, und sie sagen laut, bald würden nur noch Weiber in Frankreich sein. Alle sagen, wenn Preußen ihnen die Hinterthüre geschloßen hätte, wär keiner davongekommen. Sie hätten gar nicht gebraucht sie zu schlagen, sie hätten sie aushungern können. Wie hier die Meinung des Publicums über diese Macht ist, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen; doch ist die Verachtung noch gröser, als Sie Sich vors teilen können.

Graf FIAUGWITZ war vorgestern in Francfurt. Er bringt wieder nichts als Frieden: wie überhaupt von daher izt dieser Ton angestimmt wird.“*^ Er sagte alles würde in Teutschland im statu quo erhalten werden; er hätte sich nur bemüht, alles zu erhalten, den Einfluß Frankreichs abzuwenden. / In Weimar hörte ich HARDENBERG hätte unbestimmten Urlaub erhalten: hier sagt man sich noch ärgeres. Ich bin sehr begierig auf das Nähere dieser Dinge. Sind Sie so gütig gewesen dem Prinzen Louis FERD[1NANDI mein Stück zu geben. Auf sein und ihr Urtheil bin ich sehr begierig. Ich ersuche Sie

Sinclair hatte Goethe am 31. 3. 1806 in Weimar besucht und dabei sein Stück Das Emie des Cevennenkriegs (Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen von Crisalin [= Anagramm für Sinclair], o. O. 1806), den ersten (eigentlich letzten) Teil einer Trilogie, mitgebracht. Vgl. Ch. Jatnrne: Sinclairs Briefe. 43. - J. G. Ebel war es, der Hölderlin die Hauslehrerstelle in Frankfurt vermittelte. Wann er und J. v. Müller sich kennengelernt haben, ist mir unbekannt; jedenfalls war er ein Freund des Anatomen Sömmering, vgl. R. Wagner: Samuel Thomas von Sömmering's Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen. Leipzig 1844. Bd 2. 214 ff: Briefe Sömmerings an Ebel. Ebel kämpfte im übrigen auch um die Unabhängigkeit der Schweiz und erhielt deshalb das Schweizer Bürgerrecht. - Johannes von Müller hat Ebels Anleitung, auf die nützlichste und genußvollste Art die Schweiz zu bereisen (2. Ausg. 1804) rezensiert; vgl. SW 12. 220-28. - Mit dem Bruder des Historikers korrespondierte er 1810/11 (vgl. Stadtbibliothek Schaffhausen, Johann^Georg-Müller-Nachlaß Nr 194/1-2).

^ Vgl. [I. V. Sinclair:] Der Gipfel des Cevennenkriegs. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen von Crisalin. o. O. 1807. 45 f.

Der preußische Minister Christian August Heinrich Kurt, Graf von Haugwitz (1752-1831) hatte den Vertrag von Schönbrunn geschlossen.

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22 CHRISTOPH JAMME

freundschaftlich mir das Ihrige so umständlich als möglich mitzutheilen. Wie PiNDAR in der ersten Olympica sagt daß die künftigen Zeiten die Zeugen der Wahrheit der Begeisterung sind'*^, so hat diße Poesie auch ein historisches Interesse, und so darf ich es wagen das Urtheil des ersten Geschichtsschreibers darüber zu wünschen. Daß dies nicht Compliment von mir ist, werden Sie nach der Art, wie Sie mich kennen glauben, wie auch das, daß Ihre Bekanntschaft für mich eines der wichtigsten Geschenke der Vorsehung und ein Grund mehr ist, an Gutes unwandelbar zu glauben. Gott erhalte Sie wohl, u. laße uns bald beßere Zeiten erleben. Meine Mutter empfiehlt sich Ihnen gehorsamst Der Ihrige

S

Zweiter Brief

S. Hochwohlgebohrn des Herrn GeheimenRaths JOHANNES

VON MüLLER

zu durch Hl.Prof. Berlin BERNHARDY Wohlgeb.

Homburg d. 28*^" Mai. 06. Sie können nicht glauben, theuerster Freund, wieviel Freude mir Ihr Brief gemacht, und wie er in mir die Empfindungen der Freude Ihrer Freundschaft gewürdigt zu werden, erneuert hat. Eben so stolz bin ich auf den Beifall, den Sie meinem kleinen Werke schenken wollen. Ich darf es Ihnen wohl sagen, daß die lecture Ihrer Schweizer Geschichte, und das grose Bild der menschlichen Natur, das darinn dargestellt ist, das Vorbild war, dem ich mich darinn zu nähern gesucht habe. Sie werden daher oft dasselbe wieder darinn finden, u. insofern rechnete ich auch darauf, daß die Schilderung des HirtenLebens Ihnen gefallejn] würde. Durch Ihre Bemerkung, daß dem Alterthum die höhere Natur Ansicht so vorzüglich angehört habe, haben Sie mir einen neuen Aufschluß hierüber verschafft, weil sich dies nun in der reellsten Würklichkeit mir gezeigt hat, was vielleicht sonst von manchen KleinGläubigen in die Classe der Traümerey-

Im Frankfurter „Bund der Geister" leitmotivisch verwandtes Zitat; vgl. Ch. Jamme: Sinclairs Briefe. 41 Fn.

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Hegel als Leser Johannes v, Müllers 23

en u. Schwärmereyen verwiesen werden möchte. Ich zweifle aber nicht daran, daß die bevorstehende Zukunft auch hierüber die Räthsel lößen wird, u. zeigen, daß mehr vom Geist des Menschen u. seinem Muthe umfaßt wird, als die veralteten Formen die ihn feßeln, erwarten laßen. Allein es wird nur langsam reifen, u. vom teutschen Character besonders läßt es sicherwarten, daß er auch hierinn nichts übertreiben wird, u. nur auf die würkliche Desperation, nicht auf die Idee derselben reagieren“*^, denn man kann sich nicht verhehlen, daß schon zuvor in unserm lieben Vaterland des Elends u. der Noth sehr viel war, was das Volk empfand, ohne daß es die höheren Stände gewahr wurden, oder wenigstens für wichtig genug ansahen. Anizt ist aber ein ZeitPunkt gekommen, wo alle Stände in T[eutschland] übereinstimmend zu denken scheinen^“, u. dies hat würklich etwas rührendes, u. könnte wohl auch gedeihliches haben, wenn es recht erkannt würde. Dies wäre ein Gegenstand, über den ich Sie vor dem Publicum hören möchte, weil es aus Ihrem Munde / allein den nöthigen Eindruck machen könnte, daß anizt alle Soissionen der höheren u. der niedern Stände, der Gelehrten u. Laien, der Alten u. der Jugend, vor dem gemeinschaftlichen Interesse des Vaterlands verschwinden müßten, u. alle einerlei Bahn zu befolgen haben, zB. der Obscurantismus des Wiener Hofes, u. der Kampf der Garden gegen den FreiheitsGeist des Volks wahres Gift für die Keime einer beßeren Zukunft ist, u. daß ein jeder, der nur die Ehre des Vaterlands will, bona fide dabei seinen eigenen Grundsäzzen folgen kann, u. nicht den Tadel der AndersDenkenden verdient. Ich glaube daß namentlich in Österreich dieser Antagonismus gegen alles liberale, die Keime des HeldenSinns erstickt u. das Comptoirmäsige hervorgebracht hat, das dort an die Stelle des Ares getretten ist. So erwarte ich auch nichts gedeihliches von einem abermahligen Kriege dieser Macht, den hier mehrere Personen nach einiger Zeit vermuthen.

Ich habe seit meiner Rückkunft den ersten Theil den Anfang des CevennenKriegs gemacht. Es wird gedruckt, u. sobald es fertig ist, werde ich es Ihnen zustellen. Ich glaube, daß, wenn das frühere gefallen hat, dieses beßer gefallen muß, weil ich mir darinn ein gröseres Ziel vorgesteckt habe. Auf des Prinzen Ljouis FERDINAND] Urtheil bin ich ausnehmend

Vgl. Der Gipfel des Cevennenkriegs. 46: „Erst muß des Landes Noth zum Gipfel steigen ..."

^ Vgl. die Position Rolands ebd. 49: „Wenn jene, die sich izt die Edlen nennen,/. . . Sich mit dem Volk zu einem Muth verbänden."

ll. V. Sinclair:] Der Anfang des Cevennenkriegs. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen von Crisalin. o. O. 1806. - Vgl. Ch. Jamtne: Sinclairs Briefe. 39.

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24 CHRISTOPH JAMME

begierig, es würde mich sehr stolz machen, wenn es ihm gefallen hätte. Am l/ten d. ist es in Weimar aufgeführt worden^^, ich weiß aber nicht mit welchem Beifall, weil Hegel, der es mir den Tag darauf von Jena schrieb, nichts weiter erfahren hatte. Es soll nächstens wieder gegeben werden. Vielleicht interessirt es ein wenig die Princess W[ILHELM] es zu erfahren, u. Sie könnten es ihr vielleicht nebst meinem alleruntjerthänigsten] Respect melden. Wie freut es mich daß Sie diesem herrlichen Paar näher gekommen sind, u. versaümen sie nicht diese Verbindung immer mehr zu befestigen. Sie verzeihen mir dem jüngeren den Ton der Ermahnung; ich glaube aber Ihrer allzugrosen Discretion die bei der Timidität des liebenswürdigen FürstenPaars nachtheilig würken könnte, ein wenig zusprechen zu müßen./

Hat Gr. KELLER würklichen Einfluß. Beantworten Sie mir gütigst diese Frage. Er ist ein ander GeschwisterKind von mir, u. stand in unserer Familie immer im Ruf eines rechtschaffen denkenden u. feinfühlenden Mannes, so daß ich mir was gutes von ihm versprechen möchte. Meine Mutter, die Ihnen mit inniger Verehrung zugethan ist, empfiehlt sich Ihrem gütigen Andenken. EBEL war über Ihr Andenken sehr erfreut. Ich verseumte ihn gestern in Francfurt: er ist auf einem LandGut in Wickert. Sein Werk wird nächstens erscheinen. ^

Über die Aufführung des Endes am 17. 5. 1806 auf dem Weimarer Hoftheater und Hegels Bericht vgl. Ch. Jamme: Sinclairs Briefe. 42 ff (Brief Sinclairs an Hegel v. 28. 7. 1806).

Vgl. Sinclair an die Prinzessin Wilhelm v. 4. Sept. 1806 (Abschrift W. Kirchner, Hölderlin-Archiv: Nachlaß W. Kirchner, II 3c 7,2; Bl. 2); „Das Traurigste aber ist, daß im Ganzen uns eine drohende Zukunft bevorsteht, das Loos einer französischen Provinz. . . Die Seelengröße Ew. Hoheit und mehrerer des hohen Stands in Teutschland, die Muthvollen Männer, wie der treffliche Geheime Rath J. v. Müller ist, die durch ihre Schriften den Geist zu beleben suchen und die starke Gährung, die unter dem Volk herrscht, geben zwar Ahndungen einer besseren Zukunft. . . J. v. Müller hat mir vor einigen Monathen in dem Brief, den Ew. Hoheit mir zu überschicken die Gnade hatten, schon die Huld Ew.Hoheit und Allerhöchst- dero Gemahl gerühmt. Er verdient sie gewiß auch mehr, wie keiner kann."

^ Dorotheus Ludwig Christoph, Graf von Keller (1757-1827) war 1797-1805 preußischer Gesandter in Wien; 1804/05 bewirkte er in Verhandlungen, die er in direktem Auftrag des Königs mit dem Wiener Kabinett führte, Müllers Entlassung aus österreichischen Diensten (vgl. K. Henking: Johannes von Müller. Bd 2. 609 f). 1806 wurde er zum 2. Kabinettsminister in Berlin bestimmt, 1807 war er westfälischer Unterhändler, zuletzt beim thüringischen Hof. - Ebel hatte seinen Pariser Aufenthalt (er arbeitete dort seit September 1796 als „attachö ä la legation de Francfort") Anfang 1802 aufgegeben und war wieder nach Frankfurt übergesiedelt. Sinclair meint hier wahrscheinlich das Hauptwerk seines Freundes: Über den Bau der Erde in den Alpengebirgen. 2 Bde. Zürich 1808. - Das einzig authenhsche Zeugnis von Sinclairs Stellung zu Ebel ist sein Brief an Hölderlin vom 30. Juni 1802, in dem er seinem Freund berichtet, Ebel habe Diotima in ihrer tödlichen Krankheit beigestanden (vgl. StA 7,1 170 f).

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Hegel als Leser Johannes v. Müllers 25

Darf ich hoffen, bald etwas von Ihnen zu hören. Dem Prinzen L. machen Sie meinen Respect, Falls Sie ihn sehen; u. schreiben Sie mir ja sein Urtheil.

Meine Sache ist noch nicht aus: das responsum ist von der Universität noch nicht zurück, u. ich bin daher noch über meine zukünftige Lage ganz ungewiß und unentschlossen,

Grüßen Sie gütigst die Würzischen von mir. Leben Sie wohl. Ihr

treuer Freund SINCLAIR

[Zusatz von fremder Hand:] SINCLAIR

Dritter Brief

S. Hoch Wohlgebohren Herrn GeheimenRath JOHANNES

VON MüLLER

zu durch Gut Berlin

HCassel, 28 Sept. 1806 Hochzuverehrender Freund!

Nachdem die Rheinische BundesActe auch in Homburg in Vollzug gesezzt wurde, Darmstädter Commissarien es occupirten, und der dasigen Dienerschaft Pflichtleistung zumutheten, hat der Hl LandGraf, ich und noch ein Rath Homburg verlaßen, und wir haben uns vor der Hand nach Hötensleben bei Helmstädt, eine Besizzung des Hl LandGrafen begeben. Meine Mutter habe ich mit mir genommen, und ich bin fest entschloßen.

Das einem Freispruch gleichkommende Gutachten der juristischen Fakultät der Universität Halle wurde erst im Oktober 1806 fertig und am 16. Februar 1807 im Hamburgischen Correspondenten öffentlich bekanntgemacht.

Am 12. Juli 1806 wurde Hessän-Homburg mediatisiert; es wurde dem zum Großherzog erhobenen Landgrafen Hessen-Darmstadt zugeteilt und durch einen französischen General- kommissar diesem übergeben. Vgl. Brief Sinclairs an die Prinzessin Wilhelm vom 26. 9. 1806 (Hölderlin-Archiv, Nachlaß W. Kirchner, II3 c 7,3 [Bl. 1]): „Was mich betraf, so blieb mir, da ich fest entschlossen war, nicht dem K. Napoleon und Darmstadt zu huldigen, sondern im Teutschen zu bleiben, nichts übrig als wegzugehen, da sie dort angefangen hatte, die Dienerschaft in Pflichten zu nehmen."

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26 CHRISTOPH JAMME

solang Frankreich in jenen Gegenden herrscht, nicht wieder dahin zurückzukehren. Vor der Hand kann ich dem LandGrafen nicht sehr nüzzlich sein; und ich wünschte die Freiheit, die mir meine izzige SituationsVeränderung giebt, dazu benuzzen zu können, meinem Vater- lande im gröseren nüzzlich sein zu können. Da ich überzeugt bin, daß Sie, verehrungswürdigster Freund, den Entschluß billigen und sich darüber freuen, den ich gefast habe, sage ich Ihnen dies im Vertrauen vorleufig: vielleicht werde ich Ihnen bald etwas näheres über meine desfalsigen Plane mitzutheilen im Stande sein, und mir dabei Ihren Rath und Unterstüzzung erbitten. Es wird mich freuen, wenn Sie mir bald schreiben / und mir vielleicht schon vorleufig einige Gedanken darüber mittheilten, was Sie von meiner künftigen Bestimmung hielten.

Da man nach allem glauben muß, daß Krieg Statt haben wird, lebt alle Hoffnung wieder in einem auf, Teutschlands Ehre von den Französischen Bübereyen wiederhergestellt zu sehn. Möge nun der Geist der Anführer dem gleichen, die izt die Menge belebt, und der eine so unerschütterliche Standhaftigkeit in diesem Kampfe verspricht, daß ich überzeugt bin, daß am Ende, sollte auch die izzige Form und Einrichtung unsers Widerstands unterliegen, aus dem Schoos der Nazionalität, Sieg und Größe hervorgehen wird. Ich habe seit ich Berlin verlaßen, viel auf dem Land an verschiedenen Orten gelebt, und überall habe ich gefunden, daß das Volk sich zu einer Klarheit des Geistes und Stärke des Muths durch das große Interesse der izzigen Zeit entwickelt hat, daß das Resultate erwarten läßt, von denen wir gewiß in der teutschen Geschichte in dem Umfang kein Beispiel haben.

Darum glaube ich auch, daß bei dem bevorstehenden Kampfe hauptsäch- lich darauf müßte Rücksicht genommen, vor allem auf die Gemüther gewirkt und der Krieg als NazionalSache behandelt werden. Überall wo nun das Volk bewaffnen wird, wird es bis zum lezten BlutsTropfen kämpfen, und gewißlich dem Feind mehr Abbruch thun, als die Soldaten. Daß bisher sich keine Insurrectionen gezeigt haben, kömmt gewiß blos daher, / daß man der politischen Conjuncturen wegen überall noch auf evenements erst wartete. Sollte ein oder zwei glückliche Actionen vorfallen, so wird sich das Feuer an den meisten Orten zeigen. Das Mistrauen gegen Preußen ist aber allenthalben, der früheren Proceduren wegen sehr gros, und es wird daher viel darauf ankommen, daß diese Macht gleich anfangs sich von dem Verdacht der Selbstsucht befreie, und zeige, daß sie nur für das teutsche Vaterland handle. Dieser Name ist nun

Vgl. Der Gipfel des Cevennenkriegs. 45 f.

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keine Phrase mehr, er lebt in Millionen Herzen, und die Gluth die edle Geister lange in ihrem Innern bewahrten, u. durch Wißenschaft mittheil- ten, wird gewiß bald sich als das allgemeinste und lebendigste der Zeit zeigen. Mögen nur die höheren Stände sich ihrer Würde würdig zeigen, u. ich muß Ihnen bekennen, daß ich besorge, daß diese an Kraft und Tugend nicht blos nachstehn, sondern auch dadurch das Heil zwar nicht vereiteln, aber doch hemmen werden. Ich würde unendlich wünschen, einige Stunde izt bei Ihnen zubringen zu können, ich hoffte alles was vielleicht noch trüb zwischen uns, u. vielleicht scheinbar verschieden in unserer Ansicht ist, aufhellen zu sehen. Übrigens glaube ich izt vor Ihnen und dem jungen Publicum meine Bereitschaft durch das was ich izt gethan, meinen öffentlichen Character hinlänglich legitimirt zu haben und so reiche ich Ihnen mit erneuter Freude und Liebe die Hand des Vertrauens[.]

Sie wissen wie sehr ich Sie verehre u. liebe. Auch meine Mutter empfiehlt sich Ihnen verehrungsvoll. Wollen Sie mir schreiben, adressiren Sie gefälligst den Brief nach Helmstädt: Poste restante. Ich erwarte nur noch die Rückkehr des F. WITTGENSTEIN. Der Ihrige

SINCLAIR

Vierter Brief

Paris d. Jan. 1808 Verehrtester Freund

Wie freut es mich, daß Graf TAVILLE SO glücklich ist. Ihnen nahe zu kommen, und gewislich hauptsächlich Ihnen seine carriere zu verdanken zu haben. Ich hoffe er wird sich dieser Güte durch ein vollkommenes attachement würdig machen. Ich habe ihm aufgetragen Ihnen nebst meiner ganzen Verehrung, auch dafür meinen Dank auszudrücken, und Ihnen dabei zu sagen, daß ich nicht ungeneigt wäre in Westphälische Dienste zu tretten, da mich persönliche Abhängigkeiten denen ich mich nicht länger aufopfem mag, nöthigen den Homburgischen Dienst zu verlaßen, in dem ich glaube meine Pflichten dort, solange als es thunlich war, redlich erfüllt zu haben, und die günstigen Umstände, die sich izt für das Haus Homburg zeigen, mich dort entbehrlich machen. Es hat nämlich der Kayser gleichsam officiell dem Prinzen sagen laßen, daß er bei der izzigen Gelegenheit ihn bedenken würde. Überdem sind alle GeschäftsLeute uns gewogen, so daß ich beinahe nicht an einer vollkommenen reussite zweifeln kann. Bei

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28 CHRISTOPH JAMME

Fortsezzung der mit Ihnen angeknüpften Austauschs-Negociation, von welcher ich auch vor einiger Zeit Ihnen zu schreiben die Ehre hatte, können Sie daher nunmehr von der Voraussezzung ausgehen, daß man hier für Homburg günstig gestimmt ist. Ich hoffe bald von Ihnen hierüber Nachricht zu erhalten. Unterdeßen leben Sie wohl, und gedenken Sie meiner in gütiger Freundschaft. Der Ihrige

SINCLAIR.

In diese Jahre fällt auch eine Veröffentlichung MüLLERS, die zeigt, daß er noch über eine andere Gestalt außer SINCLAIR enger in den Frankfurt-Homburger Kreis um Hegel, HöLDERLIN, ZWILUNG, SIEGFRIED SCHMID und BOHLENDORFF hineingehört, als dies bisher gesehen worden ist: über den Frankfurter Lehrer und Philosophen FRANZ

JOSEPH MOLITOR. Als K. J. WINDISCHMANN, der seit Ostern 1806 in engerem Briefkontakt mit Müller stand, in die Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung vom 16. 8. 1806 eine vernichtende Rezension von MOLITORS Schrift Ideen zu einer künftigen Dynamik der Geschichte (Frankfurt a. M. 1805) einrückte, wurde sie von einem zusätzlichen Nachwort JOHANNES VON MüLLERS begleitet, der MOLITOR in politisch bewegter Zeit abstraktes Spekulieren statt nationalpädagogischer Wirksamkeit vorwarf: „. . . wenn die vielen schönen Talente benutzt würden, um dem Vaterlande (dessen Zeit einst auch wieder kommen wird) Männer zu bereiten, was wäre nicht auszurichten!"^ Wie kommt es, daß der kleine Frankfurter Lehrer von dem berühmten Historiker überhaupt zur Kenntnis genommen wurde? MOLITOR selbst machte um dieselbe Zeit die Bekanntschaft SINCLAIRS®’, er schickte Hegel „einen Aufsatz . . . über die Geschichte", weshalb dieser ihm noch Ende 1810 über SINCLAIR

Grüße bestellt*®. MOLITOR war aber auch, und das erklärt wohl die Verbindung zu JOHANNES VON MüLLER, ein recht guter Freund SöMMERINGS und HEINSES. Als SCHELLINGS

Vetter BREYER MüLLER 1805 auf MOLITORS Arbeit hinweist*', ist der Frankfurter für den Historiker wahrscheinlich bereits kein Unbekannter. HEINSE erwähnt MOLITOR in einem Brief*^' A. LEITZMANN veröffentlichte 1938 erstmalig vier Briefe MOLITORS an SOMMERING aus dem Jahre 1803, in denen er über HEINSES Tod und Begräbnis berichtet.

Vgl. F. W. /. Schelling: Briefe und Dokumente. Bd 3. Hrsg. v. H. Fuhrmans. Bonn 1975. 357.

** Vgl. Ch. Jamme: Sinclairs Briefe. 48. *® Vgl. Briefe von und an Hegel. Bd 1. 333. *' Vgl. Briefe an Johann von Müller (Supplement zu dessen sämmtlichen Werken). Hrsg. v.

Maurer-Constant. Bd 3. Schaffhausen 1839. 339: „Da hat neulich ein gewisser Franz Molitor eine Dynamik der Geschichte geschrieben, da ist unsere Historia recht eigentlich auf den Kopf gestellt. Einige neue Ansichten gewann ich aus der Schrift, aber um den Organismus der ganzen Verkehrtheit kümmerte ich mich so wenig, als um den innem Organismus des Theaters von Kurio. . ."

*^ W. Heinse: Sämmtliche Werke. Hrsg. v. C. Schüddekopf. Bd 10. Leipzig 1910. 339.

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Hegel als Leser Johannes v. Müllers 29

HEINSE, SO heißt es im Brief vom 18. Juni 1803, möge sich im Jenseits mit SUSETTE

GONTARD, HöLDERLINS Diotima, vereinen. Mit NIKOLAUS VOGT, mit dem er wohl schon seit seiner Aschaffenburger Studienzeit bekannt war, bespricht er den Plan eines Grabdenkmals, SöMMERING gegenüber äußert er den Wunsch, eine Biographie des Verstorbenen zu schreiben, was aber nicht zustande kam. Ein letzter Brief MOLITORS

an den Anatomen vom 25. Juni 1803 enthält das Bekenntnis: „HEINSES Andenken ist mir heilig. . Eine Untersuchung über die Beziehungen zwischen HEINSE, FöRSTER

und Hegel, die dringliches Desiderat ist, hätte auf diese Beziehungen zu achten.

III.

JOHANNES VON MüLLERS Schweizergeschichte gehörte zu den meistgelesenen Büchern der Goethezeit. Im Kreis um BETTINA VON ARNIM und KAROLINE VON GüNDERRODE wurde über das Geschichtswerk ebenso diskutiert, wie es auf den Schulen als Lehrstoff galt (am Nürnberger Gymnasium, dessen Rektor Hegel eine zeitlang war, sollte gemäß NIETHAMMERS Normativ in der oberen Mittelklasse neben LESSING, SCHILLERS Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung auch MüLLERS

Schweizergeschichte gelesen werden*^). Hegel lernte es vielleicht ebenfalls schon auf dem Stuttgarter Gymnasium

kennen; auf jeden Fall hatte er während seiner Berner Hauslehrerzeit Gelegenheit, das Werk zu studieren, denn ein Exemplar stand in der SrEiGERSchen Bibliothek*-. In Hegels erster Veröffentlichung, der wohl zu Ende seines Berner Aufenthaltes geschriebenen Übersetzung und Kommentierung der Vertraulichen Briefe über das vormalige staatsrechtliche Verhältniß des Waadtlandes (Pays de Vaud) zur Stadt Bern des Schweizers J. J. GART (Frankfurt a. M. 1798), die die Verteidigung der alten Rechte der Waadtländer gegen die Berner Oligarchie zum Thema haben, zitiert Hegel in der Anmerkung zum vierten Brief, in der es um die Zerstörung der landständischen Selbstverwaltung des Waadtlands durch die Berner Bürgerschaft geht, eine Stelle aus MüLLERS Geschichte der Schweiz (I. Buch, 16. Kap.), wo der Historiker über die Entstehung, Organisationsweise und Rechte der Waadter Landstände berichtet, und fügt hinzu: „Dies hat MüLLER aus den handschriftlichen Nachrichten QUISARDS

gezogen, welche GART im ersten Briefe auch anführt." ** In seiner Jenaer Schrift über Die Verfassung Deutschlands zieht Hegel MüLLERS Mainzer Hauptwerk Darstellung des Fürstenbunds (2. verb. Aufl. Leipzig 1788, 70) heran. War das Leitmotiv von MüLLERS

^ Vgl. Wilhelm Heinse in Zeugnissen seiner Zeitgenossen. Zusammengestellt und erläutert von A. Leitzmann. Jena 1938. 39 ff, 65.

Diesen Hinweis verdanke ich Prof. O. Pöggeler. “ Vgl. H. Strahm: Aus Hegels Berner Zeit. Nach bisher unbekannten Dokumenten. In: Archiv

für Geschichte der Philosophie. 41 (1932), 514-533, hier 531 f. ** Zitiert nach dem Reprint d. Ausg. von 1798, den W. Wieland u. d. T. Hegels erste

Druckschrift (Göttingen 1970) herausgegeben hat. Hier 59 f.

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Schrift die Ablehnung der Universalmonarchie gewesen, so fragt Hegel nach dem Nutzen von Staatenbunden in der deutschen Geschichte. Das Unglück Deutschlands sei seine Desorganisation, die Aufsplitterung in eine „Menge von Staaten". Wann, so fragt er, bildeten die souveränen Einzelstaaten und „isolierten Stände" jemals eine gemeinsame Staatsmacht. Neben dem Schmalkaldischen Bund von 1531 führt er als Beispiel auch den Deutschen Fürstenbund von 1785 an, den er aber als Fehlschlag bewertet: „Mehr als die Beschäftigung der öffentlichen Meinung [Hegel spielt auf die Flut von Fürstenbundspublizistik an] und die Anregung vieler Hoffnungen oder Besorgnisse ist aber von dem deutschen Fürstenbund nicht anzumerken." MüLLERS Schrift dient ihm zum Beleg der These: „Was freie Verbindungen gegen auswärtige Mächte betrifft, so waren solche, wenn Deutsch- land sich nicht innerlich zerfleischte, sondern gegen einen auswärtigen Feind sich schützte, an die Stelle der eigentlichen Reichskriege getreten." Noch eine weitere Idee MüLLERS mag in Hegel, jetzt allerdings bezogen auf die Situation Deutschlands nach der Französischen RevoluHon und den Interventionskriegen, verwandte Überlegungen ausgelöst haben: in der Einleitung seiner Schrift hatte der Historiker eine absolute Freiheit für unmöglich erklärt, eine Freiheit im Rahmen der Gesetze dagegen für möglich und allein menschenwürdig. Hegel zog 1802 aus den Erfahrungen mit der jakobinischen terreur eine ganz ähnliche Lehre, die einen neuen Freiheitsbegriff beinhaltet: „daß eine feste Regierung notwendig zur Freiheit [ist], hat sich Hef eingegraben, ebenso tief aber, daß zu Gesetzen und zu den wichtigsten Angelegenheiten eines Staats das Volk mitwirken muß."*’^ In derselben Schrift plädierte Hegel für Österreich als Sachwalter des Deutschen Reiches, schwenkte aber wenig später schon zu NAPOLEONS Rheinbundpolitik über. “

Hegel folgte damit dem Weg JOHANNES VON MüLLERS, der sich nach der Niederlage Preußens bei Jena ebenfalls NAPOLEON zugewandt hatte. Nach dieser Wendung, aber vereinzelt auch schon vorher, wurde MüLLER der seinen Ruf und Ruhm bis heute belastende Vorwurf der Charakterlosigkeit gemacht. Vernichtend war das Urteil FRIEDRICH VON GENTZ', der sich von seinem Freunde mit einem alle Brücken abbrechenden Absagebrief trennte: „Ihr Leben ist eine immerwährende Capitula- tion." Unerbittlich verdammte er MüLLERS „frevelhafte Apostasie": „Wenn der Teufel in Person auf Erden erschiene, ich wiese ihm die Mittel nach, in 24 Stunden einen Bund mit Ihnen zu schliessen."^° In der Tat hat MüLLER in seinem Leben die gegensätzlichsten politischen Optionen vollzogen. In seiner Jugend war er vom

Hegels Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie. Hrsg. v. G. Lassen. Leipzig 1913. 97, 104, 128.

^ Vgl. O. Pöggeler: Hegels Option ßr Österreich. ^ Vgl. dazu K. Schib: Die Gründung der Universität Berlin und J. v. Müllers unßeiwilliger

Rücktritt aus dem Dienste Preussens. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte/Revue suisse d'histoire/Rivista storica svizzera. 13 (1963), 161-176.

Vgl. G. Schlesier: Briefwechsel zwischen Gentz und fohannes von Müller. Mannheim 1840. Bd 4. 270, 372, 273. - Zum Briefwechsel beider vgl. K. Schib: }. v. Müller. 228 ff.