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H.P. Lovecraft - Vom Jenseits und andere Erzählungen

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Leseprobe aus dem avant-verlag

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ich weiss nicht, wo ich geboren wurde. ich weiss nur, dass das schloss ungeheuer alt war, voller finsterer

flure, schatten und spinnweben; es stank fürchterlich …

nie war es hell. die sonne stieg nicht über

die hohen bäume …

ein schwarzer turm ragte bis in den himmel …

der oberste wehrgang war nur durch eine wag-halsige kletterpartie

zu erreichen.

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nach langem zögern beschloss ich, den verfallenen turm zu ersteigen. ich wollte

tageslicht sehen …

einmal habe ich versucht, aus dem wald zu fliehen,

doch je weiter ich ging, desto schwärzer wurden die schatten,

sodass ich ängstlich zurückkehrte …

in dieser finsteren einsamkeit wurde meine sehnsucht nach

licht so gross, dass ich nicht länger stillsitzen konnte …

ich fand sie normaler als die bilder von lebenden menschen,

die ich fand …

für mich hatten die skelette, die überall herumlagen, nichts

gruseliges.

mein bild von einem lebenden war jemand, der mir sehr

ähnlich war, jedoch verschrumpelt und ebenso

alt wie das schloss.

ich muss jahre in diesem schloss gelebt haben, und jemand muss für mich gesorgt haben … ich

kann mich an niemanden ausser mich selbst erinnern …

oft lag ich draussen unter den dunklen bäumen und träumte stundenlang von den dingen,

die ich in den büchern gesehen hatte.

ich sah mich selbst dann in einer heiteren menge in

der sonne tanzen …

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die fläche über mir gab nach, ich wusste, dass ich

erst einmal nicht weiter-klettern musste …

plötzlich, nach langem

klettern über dem abgrund,

stiess mein kopf gegen etwas

hartes, und mir war klar, dass ich das dach

oder zumindest eine decke erreicht hatte …

… unter lebensgefahr musste ich mich im dunkeln an kleinen vorsprüngen

hochziehen.

… im feuchten zwielicht

erklomm ich die alte ausgetretene steintreppe, bis sie plötzlich endete …

... denn es schien eine falltür zu

sein ...

und lag erschöpft auf dem steinboden.

... ich kroch durch die luke …

ich erhob mich und fing an, nach einem fenster zu suchen. ich meinte nämlich,

mich in riesiger höhe zu befinden. doch stiess

ich nur auf marmor-platten, auf denen längliche kisten

standen …

ich entdeckte auch einen steinernen türrahmen, mit

seltsamen ornamenten verziert …

mit einem heftigen ruck gelang es mir,

die tür aufzuziehen …

euphorie erfasste mich: ich sah den

leuchtenden mond, den ich allein aus meinen träumen kannte …

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zwei stunden verstrichen, bis ich zu einem von bäumen umstandenen, mit efeu bewachsenen schloss gelangte. es kam mir wahnsinnig bekannt vor … ich schaute zu den offenen,

hellerleuchteten fenstern … die geräusche eines festes drangen ins freie ...

... erst folgte ich dem sichtbaren weg, dann verliess ich ihn und stampfte querfeldein über die wiesen.

durch ein steinernes tor verliess ich das gelände mit den platten und säulen und streifte durch die

offene landschaft …

... ich öffnete das tor und betrat den weissen kiesweg. ich war fest

entschlossen, glanz zu sehen, und fröhlichkeit …

ich war entsetzt … statt eines schwindelerregenden panoramas lag gleich hinter dem zaun nichts anderes als fester boden, bedeckt mit allerlei marmorplatten und säulen, im schatten einer alten, halb verfallenen kirche,

die im mondlicht gespenstisch leuchtete …

ich meinte, den höchsten punkt des schlosses

erreicht zu haben und rannte zum

gitter. doch da eine vorbeiziehende wolke

das mondlicht verschluckte,

musste ich mich vorwärtstasten.

das gitter war nicht verschlossen. ich fürchtete schon,

in die tiefe zu stürzen … da kam der mond wieder zum vorschein …

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ich stieg über die niedrige fensterbank in den herrlich erleuchteten saal, und meine hoffnung verwandelte sich in bitternis … als ich den

saal betrat, vollzog sich das fürchterlichste, das ich

je erlebt habe …

… manche hatten gesichts-züge, die mich an eine ferne vergangenheit erinnerten …

durch eines der fenster schaute ich hinein und sah eine merkwürdig gekleidete, fröhliche gesellschaft …

mir wurde klar, dass ich nie zuvor menschen hatte

sprechen hören …

… die gesamte gesellschaft wurde von einer plötzlichen

panik ergriffen. alle gesichter waren schreckverzerrt, und

aus den kehlen drangen die grauenhaftesten schreie …

verblüfft stand ich allein in dem hell erleuchteten raum.

der saal schien verlassen, doch ich meinte, etwas in

einer der nischen zu sehen …

eine massenflucht folgte. möbel wurden umgerannt, und

die leute stiessen gegen die wände, bevor es ihnen gelang, eine der türen zu erreichen …

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