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Ich war der einzige Pirat - download.e-bookshelf.de · Ich war der einzige Pirat auf der Party LINDSEY STIRLING UND BROOKE S. PASSEY Stirling_Einziger_Pirat_Party_Titelei.indd 1 12.07.17

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Ich war der einzige Pirat auf der Party

L I N D S E Y S T I R L I N GUND BROOKE S. PASSEY

Stirling_Einziger_Pirat_Party_Titelei.indd 1 12.07.17 14:48

Ich war dereinzigePiratPartyauf der

L I N D S E Y S T I R L I N GUND BROOKE S. PASSEY

A U T O B I O G R A F I E

Stirling_Einziger_Pirat_Party_Titelei.indd 2 12.07.17 14:48

www.rivaverlag.deBeachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter: www.m-vg.de.

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter:

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 2017© 2017 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbHNymphenburger Straße 86D-80636 MünchenTel.: 089 651285-0Fax: 089 652096

© der Originalausgabe 2016 by Lindsey Stirling. All rights reserved.

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016 bei Gallery Books, einem Imprint von Si-mon & Schuster, New York, unter dem Titel The Only Pirate at the Party.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Überset-zung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikro-film oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Elisabeth LieblRedaktion: Annett Stütze Umschlaggestaltung: Manuela AmodeUmschlagabbildung: © Robin RoemerSatz: Röser Media, Karlsruhe Druck: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany

ISBN Print: 978-3-7423-0031-7ISBN E-Book (PDF): 978-3-95971-402-0ISBN E-Book (EPUB, Mobi): 978-3-95971-403-7

Den Träumern, die mir das Leben geschenkt haben. Mama und Papa,

ich liebe euch.

Und all den Träumern, die meiner Musik das Leben geschenkt haben, meinen wunderbaren Fans.

InhaltsverzeichnisTeil 1 Meine Kindheit und die

Zeit als heranwachsender Teenager ............................. 11

Lechts, rinks – Piratendings .........................................................13

Holdes Mägdlein im lockigen Haar ........................................... 17

Wer den Pfennig ehrt ... ..............................................................25

Rettet die Wale! .............................................................................31

Der geheime Bonbonbeutel ........................................................37

Über ältere Schwestern .............................................................. 43

Der Mann mit dem Schal ............................................................ 53

Aus der Schule geplaudert ......................................................... 63

Was sich so alles nicht gehört! ....................................................73

Sie sind nicht adoptiert ..............................................................84

Teil 2 Die Zeit, in der ich es so unbedingt schaffen will, dass ich dafür meine Seele verkaufen würde – angereichert mit einem Hauch von »Warum klappt es bei mir nicht?« ......................................................... 93

Schwester Stirling ....................................................................... 95

Ein paar Tipps für künftige Missionare, Nonnen oder Zeugen Jehovas .................................................. 105

Ich liebe die Bühne – und die Bühne lernte, mich zu lieben ...................................... 107

Essstörung ................................................................................... 115

Das Leben mit Ed ....................................................................... 127

Amerika sucht den Superstar – bitte mich! ............................. 136

Was danach in Vegas geschah .................................................. 143

INHALTSVERZEICHNIS8

Schuld sind immer die Jungs ...................................................149

Wollen = Müssen? ......................................................................157

Das Kapitel über meine jugendliche Leichtsinnigkeit im Umgang mit Drogen und Alkohol ...........................................164

Devin Supertramp ..................................................................... 165

Arbeit auf Italienisch: ein Musical ............................................173

Teil 3 Unterhaltsame Geschichten aus dem Leben einer Entertainerin ....................................................... 181

Man muss nur fragen ................................................................ 183

Bitte nicht antworten ................................................................. 188

Lindsey auf dem Weg nach Westen: Stadtgeschichten ..........192

Hilfe, der Boss bin ich! .............................................................. 197

Das Leben mit Jungs ................................................................202

Drew, Gavi und der kleine Unterschied.................................... 211

Wenn du erst mal älter bist, wirst du mir dankbar sein ......... 212

So finden Sie mich in einem Club ........................................... 217

Reisen in Hosen ........................................................................218

Flug-Etikette .............................................................................. 225

Was es kostet .............................................................................229

Sich zu verlieben ist alles andere als einfach ...........................237

Eine Botschaft von Phelba ........................................................242

Es gibt immer ein erstes Mal ................................................... 245

Niemandsland ........................................................................... 254

Bekenntnisse ..............................................................................261

Jeder fängt in Khaki an ............................................................ 266

Das künstlerische Monster ......................................................270

INHALTSVERZEICHNIS 9

Oder doch lieber Stylistin? .......................................................275

Der Post-Tour-Blues ..................................................................281

Stöcke und Steine .....................................................................288

»Und was tragen wir heute für eine Haltung zur Schau?« ... 295

Mein Auto .................................................................................. 301

Das Beste zum Schluss ............................................................306

Für all die Menschen, die einen besonderen Platz in meinem Herzen haben, gibt es auch einen besonderen Platz in meinem Buch ............................................................... 311

In liebevovvller Erinnerung an Jason Gaviati ...........................313

Danksagung ............................................................................... 314

Bildnachweise ............................................................................ 316

Anmerkungen Bildteil ................................................................317

TEIL 1 MEINE KINDHEIT UND DIE

ZEIT ALS HERANWACHSENDER TEENAGER

Sei du selbst, alle anderen sind bereits vergeben.

Oscar Wilde

LECHTS, RINKS – PIRATENDINGS

Lesen habe ich erst gelernt, als ich die erste Klasse schon zur Hälfte

hinter mir hatte. Lesen bedeutete für mich Arbeit – Schwerstarbeit, und

zwar nicht von der Art, die die Mühe lohnt. Jahrelang hatte ich mit dem

Lesen in der Schule Probleme. Ich las langsamer und zog die Vokale

länger als alle anderen Kinder. Das hat meiner Mutter echt zu denken

gegeben. In jeder anderen Hinsicht war ich nämlich ziemlich helle. Ein

Ass in Mathe, ein Crack in allen naturkundlichen Fächern, ziemlich gut

auf der Geige, und ich konnte alles nachplappern, was ich in der Se-

samstraße aufgeschnappt hatte. Warum also tat ich mich mit dem Le-

sen so schwer? Am Ende der zweiten Klasse setzte ich beim Lesen das

Wort Basketball immer noch buchstabenweise zusammen. Da beschloss

LINDSEY STIRLING UND BROOKE S. PASSEY 14

meine Mutter, mich ein paar Tests machen zu lassen. Als die Ergebnis-

se vorlagen, nahm der Arzt sie zur Seite und erklärte ihr, meine Lern-

schwäche gehe auf meine »Kreuzdominanz« zurück. Kreuz was? Ja, ich

weiß, Sie hören das Wort auch zum ersten Mal. Doch so was gibt es

wirklich. Falls Sie keine Lust haben, das zu googeln, erfahren Sie hier

die Details.

Die meisten Menschen haben eine dominante Körperseite. Das

heißt, ein Sinnesreiz wird vom dominanten Auge bzw. Ohr aufgenom-

men, im Gehirn verarbeitet und geht dann als Befehl an die dominan-

te Körperhälfte zurück, die daraufhin eine angemessene motorische

Funktion ausführt. Ein Beispiel: Jemand sieht einen Fußball auf sich

zukommen, verarbeitet diese Information über das dominante Auge,

und das Gehirn gibt dem dominanten Fuß den Befehl, den Ball zu tre-

ten. Bei Leuten mit Kreuzdominanz aber gehen diese Signale durchei-

nander, sodass sie nicht mit der dominanten, sondern mit der anderen

Körperseite reagieren. Kreuzdominanz wirkt sich auch auf die kogni-

tiven Funktionen des Gehirns aus. Normalerweise funktioniert Lesen

zum Beispiel folgendermaßen: Das dominante Auge sieht das Wort

Verbalphrase, diese Information wird sodann hauptsächlich in der do-

minanten Hirnhälfte verarbeitet. Zu guter Letzt bildet der Mund das

Wort Verbalphrase. Bei mir läuft das aber so ab: Mein linkes Auge sieht

das Wort Verbalphrase, von dort geht es in mein Hirn, wird da ein paar

Mal gedreht und gewendet, und kommt aus meinem Mund als Glasva-

se. Ach, keine Ahnung, fragen Sie meinen Arzt. Im Prinzip ist es wie

Legasthenie, nur anders. Wie auch immer, aufgrund dieser neuen Er-

kenntnisse wurde uns empfohlen, ich solle ein paar Mal pro Woche die

Sehschule besuchen, um mein nicht-dominantes Auge zu trainieren

und – wer weiß – vielleicht auch meinem Hirn beizubringen, wie man

Informationen ordentlich verarbeitet. Man zeigte mir eine Reihe von

Übungen, die ich zu Hause machen sollte. Teil des Übungsplans war,

dass ich eine Stunde täglich eine Augenklappe über meinem dominan-

ten Auge tragen sollte. Es war die Hölle!

ICH WAR DER EINZIGE PIRAT AUF DER PARTY 15

Ich litt schrecklich unter der Augenklappe. Bis zu jenem Tag, als ich

in meinem Schrank einen Piratenhut entdeckte und es bei mir Klick!

machte. Ich war kein sonderbares Kind mit einer Augenklappe, nein,

ich war ein Pirat, der zufälligerweise in einem Vorstadtgarten haus-

te. Fortan brachte ich mindestens eine Stunde täglich damit zu, unse-

re Schaukel in ein riesiges Piratenschiff und mich in den grausamen

Käpt’n Davy Jones zu verwandeln, der seine Schwester und ihre Freun-

din Mary über die Planke schickte. Grrr! Selbst als ich keine Augenklap-

pe mehr tragen musste, tat das meiner Faszination für dieses verwege-

ne Volk keinen Abbruch. Piraten gehen höchst selten unter die Dusche,

haben ein sicheres Gefühl für Stil, und zwar von der lässig coolen Art,

und wenn man mal von den ständigen Plündereien absah, waren sie

im Grunde nichts anderes als »Schatzsucher«. Lauter Dinge, die mir

zusagten. Mehr als alles andere aber sprach mich ihre Persönlichkeit

an. Ein Pirat lässt sich nichts befehlen und bittet nicht um Erlaubnis.

Er tut, was er will. Lassen Sie mich das erklären. Wenn Muttern bittet,

den Abwasch zu machen, dann ist das nicht der Moment, den Piraten

rauszukehren. Aber wenn Ihnen jemand weismachen will, dass Sie’s

nicht draufhaben, dass Ihre Pläne zu hochfliegend sind oder dass es im

Showgeschäft keinen Platz für tanzende Violinisten gibt – dann, mein

Freund, wird es Zeit, die Augenklappe aufzusetzen und in See zu ste-

chen. (Das ist meine Ausdrucksweise für: Lassen Sie sich nicht beirren.)

Der Grund, warum Leute behaupteten, ich würde es nie zu etwas brin-

gen, ist derselbe, warum ich es letztlich doch geschafft habe: weil ich

anders bin. Damit will ich nicht sagen, dass ich versucht habe aufzufal-

len, doch vor die Entscheidung gestellt, ob ich entweder ein sonderbares

Kind mit Augenklappe oder ein Pirat sein wollte, fiel mir die Antwort

nicht schwer. Sie fällt mir immer noch leicht, aber ich will Ihnen auch

nichts vormachen. Der einzige Pirat weit und breit zu sein ist manch-

mal ganz schön anstrengend. Aber das geht in Ordnung.

LINDSEY STIRLING UND BROOKE S. PASSEY 16

Durch meinen Rückgriff auf Käpt’n Davy Jones verbesserte sich mei-

ne Lesefähigkeit im Lauf der Jahre, doch meine Orthografie ist immer

noch schlechter als beim Durchschnitt der Bevölkerung. Das können

Ihnen meine Follower in den sozialen Medien bestätigen. Meine Fans

machen nämlich dauernd Bildschirmfotos von meinen Rechtschreib-

fehlern – das ist für sie zu einer richtigen Schnitzeljagd geworden. Zum

Glück versichern mir meine zuverlässige Rechtschreibprüfung und

mein noch zuverlässigerer Verleger, dass ich mir auf den Seiten, die Sie

gerade in Händen halten, keine Blöße gegeben habe. (Wobei mein Ver-

leger mich bat, Sie darauf hinzuweisen, dass dies allein in puncto Or-

thografie gilt, vor allen darüber hinausgehenden Peinlichkeiten könne

auch er mich nicht bewahren.) Kar-to-fell, Kar-to-fehl! Können wir jetzt

mit der Party beginnen?

HOLDES MÄGDLEIN IM LOCKIGEN HAAR

Als Kind war mir eigen: ein großer Kopf, ein winziges Stimmchen und

die absolute Unfähigkeit, soziale Signale richtig zu deuten. Letzteres ist

typisch für kleine Kinder.

Tobsuchtsanfälle in aller Öffentlichkeit und In-die-Hose-Machen

gehen in den frühen Jahren noch irgendwie durch. Aber die meisten

Kinder merken irgendwann, dass es gewisse Regeln gibt, die sie dann

nachahmen. Ich hingegen habe es irgendwie geschafft, durch meine

Kindheit zu segeln, ohne diese »akzeptierten Verhaltensweisen« zu be-

merken (vielleicht auch, ohne mich darum zu kümmern). Trotzdem

LINDSEY STIRLING UND BROOKE S. PASSEY 18

möchte ich hier klarstellen, dass ich laut Auskunft meiner Mutter schon

sehr früh nicht mehr in die Hose gemacht habe. Und sie fügte hinzu,

ich solle doch bitteschön in meinem Buch weder das Wort Kacke noch

eines seiner Synonyme benutzen. Wie auch immer, irgendwie schien

ich nie groß darauf zu achten, wie andere Leute sich in bestimmten Si-

tuationen verhielten.

Ich war die geborene Drama-Queen, und mein Vorschul-Klassen-

zimmer war die Bühne für eine meiner frühesten Improvisationen. Ei-

nes Morgens, ich sollte mich für die Schule anziehen, durchwühlte ich

statt meiner Kommode die Schachteln mit den Kostümen zum Verklei-

den. Bisher hatte ich doch glatt, das muss man sich mal vorstellen, Kos-

tüme immer nur zu Halloween getragen oder wenn ich mich mit ande-

ren Kindern zum Spielen traf – was für eine Verschwendung!

Wenige Minuten später trat ich aus meinem Zimmer, ausgestattet

mit einem Kimono, roten, paillettenbesetzten Schuhen, einem einzel-

nen Handschuh und einer braunen Lockenperücke. Wäre die Perücke

auch noch rot gewesen – immerhin war das rothaarige Waisenmädchen

Anne (von Green Gables) eins meiner ersten Idole –, wäre mein Glück

perfekt gewesen, doch diese Perücke war so weit auch okay. Sie hatte

kurze, ungleichmäßige Locken, und wenn ich mein Gewicht ein biss-

chen verlagerte, konnte ich die Wuschellocken um mein Gesicht tanzen

lassen. Die hübschen Sachen, die meine Mutter extra für meinen ersten

Schultag gekauft hatte, lagen in meinem Zimmer auf einem Haufen am

Boden. Als ich ihr verkündete, dass ich für die Schule fertig sei, warf sie

mir einen irritierten Blick zu und tat, was jede liebende Mutter getan

hätte – sie drückte mir mein Essenspaket in die Hand und fuhr mich

zur Jefferson-Grundschule.

Als ich dort ankam, saß meine Klasse schon im Kreis zusammen

und war in ein Buch vertieft. Um die Aufmerksamkeit meiner Mitschü-

ler zu erregen, trat ich durch die Tür, breitete die Arme aus und nahm

die dramatischste Pose ein, die mir in den Sinn kam: »Tada!«, piepste

ich mit Mäuschenstimme, während ich von einem spindeldürren Bein

aufs andere hüpfte. Die Klasse brach in Gekicher aus, und ich kam mir

ICH WAR DER EINZIGE PIRAT AUF DER PARTY 19

wie eine echte Heldin vor. Nur Mrs. Fowler, meine Lehrerin, verlor kei-

ne Zeit. Sie ließ den Rektor rufen – aber nur, um ihm dieses sonderbare

Mädchen zu zeigen.

Obwohl meine darstellerische Leistung so ziemlich alles überragte,

war ich selbst für mein Alter reichlich kurz geraten. In der ersten Klas-

se kompensierte ich das, indem ich mich mit zwei Riesinnen namens

Krista und Naomi anfreundete. Ob es nun ihr Instinkt großer Mädchen

war, der sie mich unter ihre Fittiche nehmen ließ, oder ob es mich un-

bewusst zu ihnen hinzog, weil ihre Breitschultrigkeit etwas Tröstliches

hatte, kann ich nicht sagen – so oder so, wir waren ein wildes Trio.

Das Foto auf dieser Seite zeigt uns bei einem Ausflug in den Strei-

chelzoo, wobei Krista und Naomi so böse in die Kamera gucken, weil sie

meine Bodyguards sind.

LINDSEY STIRLING UND BROOKE S. PASSEY 20

Bei genauerer Überlegung könnte es aber auch unsere gemeinsame

Vorliebe für schlabbrige Jeans gewesen sein, die uns zusammenge-

bracht hat.

Die Eltern von Krista und Naomi waren ebenfalls eng miteinander

befreundet, darum unternahmen die beiden auch außerhalb der Schule

öfter irgendwas zusammen. Nachdem wir ein paar Monate in der Pau-

se miteinander gespielt hatten, nahmen mich die Mädchen zu Knott’s

Berry Farm mit, einem Vergnügungspark. So besiegelten sie unsere

Freundschaft. Als Naomi mich fragte, ob ich mitkommen möchte, ver-

schlug es mir glatt die Sprache. Ein Besuch von Knott’s Berry Farm war

für meine Familie ein richtiger Urlaub mit allem Drum und Dran. Für

Naomis Eltern war es ein Wochenendausflug, zu dem sie auch noch ih-

re Freundin mitbringen konnte!

Als Naomis Mutter bei uns anrief, hörte ich meine Mutter im Neben-

zimmer mir ihr sprechen.

»Hallo Clair, ich hab’ mir gedacht, dass Naomi mal wieder zu uns

rüberkommen könnte.«

Dann Pause.

»Oh, und Sie sind sich da ganz sicher? In Ordnung.« Dann hörte ich

meine Mutter noch sagen: »Vielen Dank noch mal. Sie ist auch schon

ganz zapplig.«

Und damit war die Sache ausgemacht.

Am Morgen vor dem Ausflug schlüpfte ich in meine beste Schlab-

berjeans und wartete aufgeregt neben der Haustür, bis es endlich los-

ging. Während ich so dasaß und zum Fenster hinausspähte, beobachte-

te mich meine Mutter von der Küche aus.

»Na Lindsey, freust du dich schon auf Knott’s Berry Farm?«, fragte

sie.

»Ja«, sagte ich freudestrahlend und hielt weiter nach dem rotem

SUV von Naomis Eltern Ausschau.

»Wenn du wieder zurück bist, musst du mir alles über die Fahrge-

schäfte erzählen, die es dort gibt. Vielleicht fahren wir zwei später mal

zusammen hin.«

ICH WAR DER EINZIGE PIRAT AUF DER PARTY 21

»Mach’ ich«, gab ich zurück, den Blick unbeirrbar nach draußen ge-

richtet.

Wie alle Mütter wollte auch die meine ihren Kindern alles und am

liebsten noch mehr geben. Andererseits war sie auch die Art Mutter, die

kein Geld ausgab, das sie nicht hatte. Wenn gegen Ende des Monats das

Geld ausging, dann gab es eben Grießbrei statt Cornflakes zum Früh-

stück. Und wenn es zum Frühstück nur Grießbrei gab, dann gingen wir

eben nicht in die örtliche Videothek oder in ähnliche Läden, von Knott’s

Berry Farm ganz zu schweigen.

»He, Lindsey, schau mich mal einen Augenblick an.«

Widerstrebend drehte ich mich zu meiner Mutter um. Sie lächelte

mich sanft an.

»Du weißt, dass ich dich liebe, nicht wahr?«

»Yep«, sagte ich schnell, wurde aber sogleich abgelenkt vom Knir-

schen der Autoreifen, die unsere Einfahrt hereinrollten.

»Sie ist da!«, schrie ich, sprang auf und rannte zur Tür.

»Alles klar. Viel Spaß!«, rief Mama mir aus der Küche nach, wäh-

rend sie in der Spüle eine Pfanne schrubbte.

Bald nachdem wir im Vergnügungspark angekommen waren, muss-

te ich feststellen, dass ich für die aufregendsten Fahrgeschäfte nicht

groß genug war. Oft musste ich mit Troy, Naomis kleinem Bruder,

am Eingang warten, bis die anderen zurückkamen. Zuerst war ich ent-

täuscht – was sollte ich denn meiner Mutter über die Fahrgeschäfte er-

zählen, wenn ich gar nicht mitfahren durfte? Doch dann fing Naomis

Mutter an, Troy und mir Leckereien zu spendieren, um uns bei Laune

zu halten. Ich musste die Sachen nur länger als sechs Sekunden anstar-

ren, und schon fragte sie, ob ich es haben wollte: Zuckerwatte, Chur-

ros, geeiste Limonade, Krapfen oder unsere zahllosen Runden an der

Ringwurfbude. Die Wunder der Imbiss- und Getränkebuden waren to-

tal neu für mich. Wenn wir einen Ausflug machen, packte meine Mut-

ter normalerweise Sandwiches in ihre Tasche, die bis zum Mittag völlig

durchweicht waren. Naomis Mutter dagegen hatte ganz offensichtlich

vergessen, Lunchpakete zu machen, was ich aber in Ordnung fand, da

LINDSEY STIRLING UND BROOKE S. PASSEY 22

sie als Ersatz einen nicht endenden Vorrat an Fünf-Dollar-Scheinen zu

haben schien.

Irgendwann meinte Naomis Mutter, die beiden Mädchen sollten

doch mal mit einem der Karussells fahren, bei denen auch Troy und

ich mitfahren dürften. Naomis Blick wanderte zwischen ihrer Mutter

und Krista hin und her, ehe sie antwortete: »Aber die sind langweilig.«

Ich wartete darauf, dass Naomis Mutter ihre Tochter für ein kurzes Ge-

spräch über Höflichkeit und was weiß ich, gute Freundin oder so, zur

Seite nähme, stattdessen drückte sie mir einen weiteren Fünf-Dollar-

Schein in die Hand und ließ die Mädchen ihrer Wege gehen.

Binnen Kurzem war ich bis zum Platzen voll, doch je mehr ich aß,

desto mehr wollte ich. Denn wer wusste schon, wann sich wieder die

Gelegenheit bieten würde, derartige Mengen von Industrienahrung

und weißem Zucker in sich reinzustopfen oder derart scheußliche (aber

riesengroße) Stofftiere zu gewinnen. Und so hielt ich mich weiter ans

Fixieren, Essen und Ringewerfen. Als ich am Abend nach Hause kam,

war mir schlecht. Doch ich war überglücklich über die hässliche Stoffei-

dechse unter meinem Arm. Was machte es da schon, dass ich den gan-

zen Tag mit einem vierjährigen Jungen verbracht hatte?

Im Laufe der Zeit machten Krista und Naomi mich noch mit an-

deren Dingen bekannt: Misswahlen, Essen im Restaurant ohne beson-

deren Anlass und der Vorstellung, dass einem fürs Mithelfen bei der

Hausarbeit Geld zustünde. In ihrer Sprache hieß das »Taschengeld«,

und sie waren echt erstaunt zu hören, dass ich so etwas noch nie be-

kommen hatte.

»Was meinst du mit ›du kriegst kein Geld, wenn du dein Zimmer

aufräumst?‹«

Ich wiederum war nicht minder erstaunt zu entdecken, dass reiche

Leute offensichtlich auch von einer anderen Zahnfee Besuch bekamen.

Einmal kriegte Naomi fünf Dollar für einen Vorderzahn. Für einen

einzigen Zahn! Und der war nicht mal besonders groß. Naomi hatte

nämlich ziemlich kleine Zähne – so klein, dass sie nicht mal bis zum

Kolben reichten, wenn sie in einen Maiskolben biss. Ich dagegen hatte

ICH WAR DER EINZIGE PIRAT AUF DER PARTY 23

Beißerchen wie ein Biber und war mir sicher, dass dieser Umstand sich

auch finanziell zu meinen Gunsten auswirken würde. Als mir daher

das nächste Mal ein Zahn ausfiel, bat ich Naomi, ihn doch unter ihr Kis-

sen zu legen, was sie auch tat. Gespannt wartete ich auf meinen großen

Preis. Naomis Zahnfee würde sicher schwer beeindruckt sein. Doch

tags drauf kam Naomi mit meinem Zahn, aber ohne Geld an. Ihre Fee

hatte uns die Geschichte nicht abgekauft. Ziemlich enttäuscht legte ich

den Zahn unter mein Kopfkissen und fand am nächsten Morgen beim

Erwachen zwei funkelnde Vierteldollarmünzen. Ich malte mir aus, wie

meine kleine Zahnfee mit je einer Münze unter dem Arm durch die

Nacht geflogen war (was sicher weit schwerer war, als mit einem Fünf-

Dollar-Schein herumzuschwirren), und war ihr auch wirklich dankbar

für ihre Extra-Anstrengung, obwohl ich mich über die Höhe des Geld-

betrages nicht sonderlich freuen konnte. An jenem Morgen stellte mir

meine Mutter eine Schüssel Grießbrei hin und setzte sich zu mir.

»Na, ist die Zahnfee letzte Nacht gekommen?«, fragte sie.

Ich überlegte kurz, ob ich ihr von Naomis Fünf-Dollar-Schein erzäh-

len sollte, doch ich befürchtete, meine Mutter könnte dann vielleicht das

Zahnfee-Amt anrufen, um sich zu beschweren. Und was, wenn meine

Zahnfee dann gefeuert würde? Also behielt ich das Ganze für mich und

sagte nur: »Ja, sie hat mir zwei Vierteldollarmünzen dagelassen.«

»Was? Gleich zwei Vierteldollar! Das muss ja ein großer Zahn ge-

wesen sein!«

»Sag das mal Naomis Zahnfee«, dachte ich nur. Doch je länger ich

mir die Sache überlegte, desto mehr wusste ich die Vierteldollarmünzen

meiner Zahnfee zu schätzen. Offensichtlich war sie nicht die reichste,

aber mit Sicherheit eine der kräftigsten Zahnfeen. Ich mochte meine

kleine Zahnfee, sie machte ihre Sache gut.

WER DEN PFENNIG EHRT ...

Kurz nach meinem achten Geburtstag bekam mein Vater eine Stelle

als Religionslehrer an einer Highschool in Mesa, Arizona. Als das Ge-

spräch auf unseren bevorstehenden Umzug kam, war meine Mutter, so

glaube ich, ein wenig beunruhigt, weil ich bei dem Gedanken, Krista

und Naomi Lebewohl zu sagen, keine einzige Träne vergoss. Ich vermu-

te, der Grund dafür war, dass ich mich in meinem tiefsten Innern Leu-

ten, die ihre Spielsachen in Glasvitrinen aufbewahrten, nicht wirklich

verbunden fühlte.

Am Tag nach dem Einzug in unser neues Haus erschien um sieben

Uhr morgens Dawnee Ray vor unserer Haustür, barfuß und mit einem

Wägelchen voller Zitronen. Sie war so groß wie ich und ihr strubbliges

Haar war kaum dunkler als ihre olivfarbene Haut.

»Hallo. Ich bin Dawnee. Meine Mama schickt mich. Ich soll euch

das bringen.«

LINDSEY STIRLING UND BROOKE S. PASSEY 26

Dabei deutete sie hinter sich auf die Ladung Obst.

»Danke. Ich bin Lindsey.«

Sie streckte mir ihre magere, braune Hand entgegen und sagte:

»Freut mich, dich kennenzulernen, Linse.«

Dawnee nannte die Dinge nie beim richtigen Namen. Eine Schub-

karre wurde bei ihr zur »Schubskarre«, ein Telefon zum »Telefant«,

und mir gab sie alles an Namen, was mit einem L anfing. Im Laufe un-

serer Freundschaft war ich »Lizard«, »Lindy Hop«, »Lindizzle« und »Li-

mesey Styling«, um nur ein paar zu nennen. Ihre Weigerung, die kor-

rekten Ausdrücke zu benützen, ging ihren Geschwistern zwar meist auf

die Nerven, aber für meine Fantasie war die Freundschaft mit Dawnee

das Beste, das mir je passiert war.

Wie sich herausstellte, zählte auch sie in puncto Taschengeld zu den

Benachteiligten. Doch statt sich zu beklagen, überzeugte sie mich, dass

wir diese ganze Gelderwerbsgeschichte doch in unsere eigenen Hände

nehmen sollten. Unser erster Versuch: ein Limonadenstand.

Ich habe Werbung, die die Aufmerksamkeit des Konsumenten auf

das Fehlen wesentlicher Zutaten richtet, nie begriffen: Neu! Jetzt mit 30

Prozent weniger Zucker. Immer wenn ich versuchte, Süßigkeiten in Mut-

ters Einkaufswagen zu schmuggeln, achtete ich sorgfältig darauf, nicht

gerade solche Produkte zu nehmen – ich war schließlich nicht blöd. Also

entschieden sich Dawnee und ich, als wir beschlossen ins Limonaden-

geschäft einzusteigen, für eine andere Strategie. Wir pressten 46 Zitro-

nen aus, reicherten den Saft großzügig mit der magischen Zutat an und

schrieben ein Plakat, auf dem in großen Buchstaben stand: LIMONADE

– JETZT MIT 30 Prozent MEHR ZUCKER! Alsdann liefen wir hinun-

ter ans Ende unserer Straße und bauten unseren Stand gegenüber den

Maisfeldern auf, wo pro Stunde geschätzt drei Autos vorbeifuhren. Ja,

ich sagte vorbeifuhren. Da saßen wir, schlürften unseren Zitronensirup

und unterhielten uns darüber, wie köstlich er doch schmeckte, bis uns

so schlecht war, dass wir nicht mehr gerade sitzen konnten.

Wir räumten gerade unseren Stand ab, als Dawnees Mutter die Stra-

ße heruntergefahren kam und uns fröhlich fragte, ob wir ihr noch was

ICH WAR DER EINZIGE PIRAT AUF DER PARTY 27

verkaufen würden. Sie gab uns 10 Cent, und ich gab ihr ein großes Glas

warmer Limonade. Wir warteten gespannt und beobachten, wie unser

erster und einziger Kunde, den wir an diesem Tag gehabt hatten, einen

großen Schluck nahm. Sie setzte das Glas vorsichtig ab und wollte wis-

sen, wie viel Zucker wir genommen hätten. Wir sagten es ihr, und von

dem Moment ab durften Dawnee und ich nur noch unter Aufsicht Li-

monade machen.

Eine weitere unserer gefloppten Geschäftsideen war die Filmnacht.

Wir buken Kekse, machten Popcorn und personalisierte Platzdeck-

chen. Für gerade mal zwei Dollar gehörte all das Ihnen! Unsere älteren

Schwestern bekamen immer Geld fürs Babysitten, aber davon gaben sie

uns nie was ab. An einem Samstag vor der Vorführung von Zotti, das

Urviech, kam Sherri, Dawnees ältere Schwester, zu unserem Verkaufs-

stand an der Küchentheke. Sie legte ihre Hände auf die Granitplatte,

lehnte sich mit einer Hüfte dagegen und warf einen prüfenden Blick

auf unser Angebot.

»Was soll eins von den verbrannten Keksen kosten?«

Dawnee machte ein gekränktes Gesicht. »Die sind nicht verbrannt...«

»Fünfzig Cent«, ging ich dazwischen, ehe der Streit eskalierte. Ich

war bereit, jedes Angebot zu akzeptieren.

»Zu teuer«, meinte Sherri.

Und mit diesen Worten ging sie zum Küchenschrank, schnappte

sich eine Packung Popcorn und steckte sie in die Mikrowelle. Ich woll-

te sie auf das Unrechtmäßige ihres Tuns hinweisen, doch Dawnee hielt

lieber die andere Wange hin. »So gut wie unsere schmecken die aber

nicht. Unsere haben nämlich eine geheime Zutat«, verkündete sie stolz.

Sherri grinste nur. »Ich bin mir nicht sicher, ob ein bisschen Ext-

ra-Butter als geheime Zutat zählt, aber als Geschmacksverirrung könnte

es durchgehen.«

Als einzige Kaufinteressenten blieben am Ende nur meine jünge-

re Schwester Brooke sowie Dawnees jüngere Schwester Heidi, aber die

beiden hatten natürlich kein Geld. Schließlich zahlten wir den beiden je

einen Vierteldollar fürs Küche-Saubermachen, der nur wenig später als

LINDSEY STIRLING UND BROOKE S. PASSEY 28

Entgelt für eine kleine Tüte Popcorn und ein halbes Cookie wieder zu-

rück in unsere Taschen wanderte. Wir legten noch gratis die Platzdeck-

chen mit ihren Namen drauf, da wir sie nun schon mal gemacht hatten.

Ein paar Monate später startete meine Schule ihre alljährliche Scho-

koriegel-Fundraising-Aktion. Zum Auftakt gab es eine Rede, die uns

anspornen sollte. Dazu gehörte auch eine Diavorführung mit wirklich

unerhörten Preisen, die man gewinnen konnte. Danach war ich wild

entschlossen, den Mini-Kühlschrank und ein Fahrrad zu gewinnen. Den

Ausführungen des Vertriebstypen, der die Motivationsrede hielt, waren

dazu »auch bloß zwanzigtausend Bestellungen« oder so nötig. Doch ob-

wohl ich überaus motiviert war, standen die Woche drauf nur zwei Be-

stellungen auf meiner Liste – die eine stammte von Mrs. Boyle, die ein

wenig die Straße runter wohnte, die andere von Dawnees Schwester

Sherri Ray. Offensichtlich hatte sie doch ein weiches Herz. Es lag nur

unter einem Berg überteuerter Festtags-Schokolade verborgen.

Die »Fleißigen Hausmädchen« waren das dritte Lindsey-Dawnee-Un-

ternehmen, dem zu guter Letzt sogar einigermaßen Erfolg beschieden

war. Wir machten Visitenkarten, auf denen wir unsere Dienste für quasi

alles anboten, und verteilten sie in der Nachbarschaft. WIR MACHEN

IHRE ARBEIT ZU IHREM PREIS. Manchmal hatten wir Glück und ein

großzügiger Wohltäter bezahlte uns ordentlich, doch meistens wurden

wir nur kolossal über den Tisch gezogen.

Einer unserer verlässlichsten Kunden war Mr. Hult. Er war ein etwas

dicklicher Mann, um es mal höflich zu formulieren, der jeden Tag ein

frisch gestärktes Oberhemd trug. Als wir ihm zum ersten Mal unsere

Dienste anboten, drückte er uns fünf Hemden und eine Dose Sprüh-

stärke in die Hand und versprach uns einen Dollar für jedes gebügelte

Hemd. Das hörte sich nach einem tollen Geschäft an – bis wir versuch-

ten, eins von seinen Hemden zu bügeln, und dabei feststellen mussten,

dass dies eine ebenso langwierige wie schweißtreibende Aufgabe war.

Habe ich schon erwähnt, dass Mr. Holts Hemden Übergröße hatten?

Was ich sagen will, ist: Der Mann war klein, doch je länger ich an sei-

nen Hemden bügelte, desto sicherer war ich mir, dass man sie auch als