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Im Schloß des Piraten

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Viola Larsen

Im Schloß des Piraten

Irrlicht Band 070

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Der Pirat war ihr so nahe, und wieder sehnte Scarlett sich danach, daß seine Lippen ihren Mund berührten. Er lächelte sein verwegenes Lächeln und beugte sich langsam über sie. Aber da platzte ein Klatschen, Patschen und Prusten in die zärtliche Idylle. Scarlett war kraftlos, ihre Knie zitterten, und sie schnatterte vor Kälte. Der Pirat, der eben noch ganz nahe bei ihr gewesen war, hatte sich in dem dichten Nebel in Nichts aufgelöst.

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Es war Freitag, und der Vollmond stand gelb und rund an dem Sternenhimmel über Cornwalls grüner Küste.

Auf der Freitreppe von Cliffwood-Castle tauschten Lord Halifax und Sir Wilmont einen verschmitzten Verschwörerblick, als sie sich zum Abschied kräftig die Hände schüttelten und gegenseitig auf die Schultern klopften.

Der Cornwall-Wind zauste ihre weißen Haare, aber ihre runzligen Altmännergesichter verjüngte ein Lausbubenlächeln, das freilich auch ein wenig grimmig war. Die beiden alten Knaben hatten an diesem Freitag ihren besten Streich ausgeheckt – der zugleich ihr letzter sein sollte.

Sir Wilmont stieg die Treppe hinunter, die für sein linkes Rheumaknie kein Ende nahm. Lord Halifax begleitete ihn nicht, weil die steilen Stufen seinem rechten Rheumaknie ein Greuel waren. So blieb er vor dem Portal seines Schlosses stehen und wartete, bis der Chauffeur Sir Wilmont in den Rolls Royce verfrachtet hatte.

Hinter der dunklen getönten Scheibe des Rolls hob Sir Wilmont noch einmal grüßend die Hand und machte mit Zeige- und Mittelfinger das Victoryzeichen, das ihren gemeinsamen Sieg über die dunklen Mächte des Grauens signalisierte!

Lord Halifax erwiderte den Gruß, und er lachte dabei leise. Es sollte das letzte Mal sein, daß die beiden alten Freunde

sich sahen. Noch ein paar Atemzüge lang blieb Lord Halifax auf der

Freitreppe stehen, weil die Luft so mild war und nach Sommer schmeckte. Prompt mußte er an Muriel denken, wie immer, wenn die Luft nach Sommer roch. Jedesmal sah er dann Muriel, diese kleine, rothaarige, irische Hexe mit ihren grünen Augen ganz deutlich vor sich, und er glaubte ihr fröhliches Lachen zu hören.

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Langsam wandte er sich schließlich um und humpelte ins Haus. Das Portal fiel schwer hinter ihm zu und sperrte den Sommer und das gelbe Mondlicht aus.

Cliffwood-Castle war ein herrlicher, wenn auch etwas unheimlicher Besitz, denn in dem alter! Schloß war es nicht geheuer. Ein Gespenst ging darin um, das sein Unwesen trieb und von Zeit zu Zeit ein schlimmes Spektakel heraufbeschwor. Für einen einsamen alten Mann war das Schloß überdies zu groß, zu kalt, zu unbewohnt, und so war es im Laufe vieler Jahre für Lord Halifax zu einer Insel der Verlassenheit geworden.

Mühsam hinkte er den langen, düsteren Korridor hinunter zur Wohnhalle und stützte sich dabei schwer auf seinen Stock mit dem Elfenbeinknauf, der ihm das Gehen etwas erleichterte.

Auf dem Klubtisch in der weitläufigen Halle standen noch die Portweingläser und zwei randvolle Aschenbecher. Das Zusammensein der beiden alten Herren hatte ziemlich lange gedauert.

Seit das Reisen für Lord Halifax zu beschwerlich geworden war, so daß sie sich nicht mehr in ihrem Londoner Club treffen konnten, besuchte Sir Wilmont seinen alten Freund an dem Freitag einer jeden Vollmondwoche auf Cliffwood-Castle, und dieser Termin hatte seinen guten Grund.

Timothy, das Schloßfaktotum, genauso weißhaarig und runzlig wie sein Herr, schürte das Holzfeuer in dem offenen Kamin, denn auch an Juliabenden war es hinter den trutzigen Mauern von Cliffwood-Castle immer November, nämlich kühl und trist. Ein Wunder war es also nicht, daß Lord Halifax vom Zipperlein geplagt wurde.

Timothy rückte, nachdem das Feuer geschürt war, den mit schwarzem Leder bezogenen Kippsessel in die wärmende Nähe des Kamins. Lord Halifax ließ sich etwas umständlich in dem Sessel nieder, weil er das rechte Knie dabei listig

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anwinkelte, so daß dem Zipperlein die Lust verging, hineinzufahren. Fürsorglich breitete Timothy noch eine weiche Kaschmirdecke über die Knie Seiner Lordschaft.

Meistens blieb Sir Wilmont über Nacht in Cliffwood-Castle, doch da er am nächsten Morgen in London einen wichtigen Termin wahrnehmen mußte, hatte er sich lieber noch spät am Abend auf den Heimweg gemacht. Nicht einmal für das Dinner hatten die Herren sich Zeit genommen, weshalb es denn auch nur mit reichlicher Verspätung serviert werden konnte.

»Was gibt es denn heute Gutes?« erkundigte Lord Halifax sich erstaunlich aufgeräumt.

»Kaltes Huhn, Mylord.« »Warum keine kalte Ente?« witzelte Lord Halifax. Freitags

gab es nämlich immer kaltes Huhn. Mylords ungewöhnlich heitere Laune mußte mit Sir

Wilmonts Besuch zusammenhängen, sinnierte Timothy, der sich freitags bei Vollmond nie wohl in seiner Haut fühlte, weil schlimme Ängste ihn plagten. Er hatte einen höllischen Respekt vor dem Spuk und argwöhnte, daß die Freunde wieder etwas ausgeheckt haben könnten, um dem Hausgespenst von Cliffwood-Castle Paroli zu bieten. Das hatten sie schon ein paarmal gemacht, doch die Versuche waren jedesmal kläglich schiefgelaufen und hatten nur neue, noch wüstere Schrecknisse heraufbeschworen.

Die Panik hatte Timothy deshalb schon beim Schlafittchen, als er wenig später wie an jedem Freitag den Servierwagen mit dem kalten Huhn in die Wohnhalle rollte. Nur war es an diesem Freitag das letzte kalte Huhn, das Timothy Seiner Lordschaft servierte.

»Es ist Freitag und Vollmond, Mylord!« erinnerte er vorwurfsvoll.

Lord Halifax ließ es sich trotzdem schmecken.

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Er verspeiste das kalte Huhn nebst sämtlicher delikater Beilagen mit gutem Appetit und ließ sich, als er fertig war, noch ein Glas Burgunder einschenken.

Derart wohl hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt! Deshalb scheuchte er Timothy auch mit einer ärgerlichen Handbewegung hinaus, als der treue Alte ihn wie jeden Abend nach dem Dinner noch auf einem kleinen Rundgang durch den Hofgarten begleiten wollte.

Man fühlte sich schließlich nicht jeden Abend so wohl! Lord Halifax wollte diesen Zustand genießen, wobei es ihn nicht im geringsten störte, daß es Freitag war und daß der volle Mond am Himmel stand.

Er angelte eine Havanna aus dem Intarsienkästchen, das auf dem Servierwagen neben ihm stand, und ließ die Zigarre genießerisch an seiner Nase vorbeispazieren, bevor er ihr die Spitze abschnitt und sie mit einem gewissen feierlichen Zeremoniell anzündete.

Leise knisterte und prasselte das Kaminfeuer. Die schwatzhaften Flammen schienen aufgeregt miteinander zu tuscheln. Dies taten sie immer, bevor der Spuk losging! Aber Lord Halifax achtete nicht darauf. Er genoß vielmehr die wohlige Wärme, die sich ausbreitete.

Warnend blinkte auch das kupferne Kohlebecken im düsteren Widerschein des Feuers, das unheimliche Schatten in den Raum warf. Doch diese Signale bemerkte Lord Halifax ebenfalls nicht. Im Rücken fror er ein bißchen, aber seine Vorderseite röstete, und das war ein durchaus angenehmes Gefühl.

Zufrieden lehnte er sich in dem schwarzen Kippsessel zurück. Nun war also alles erledigt, alles getan! Gegen die Wechselfälle des Lebens war niemand versichert.

Aber wenigstens konnte jeder für Überraschungen nach seinem Tod sorgen!

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Lord Halifax schmunzelte, freilich ziemlich boshaft, als er sich das Gesicht seines einzigen Neffen Randolph bei der Testamentseröffnung vorstellte. Da würde der ›große Trickser‹ aber große Augen machen!

Flugs versuchte der alte Herr, sich noch ein anderes Gesicht bei der Testamentseröffnung vorzustellen, nämlich das Gesicht seines Widersachers! Leibhaftig hatte er den Widersacher nie gesehen, gleichwohl glaubte er sein Gesicht zu kennen, und da verging ihm das Schmunzeln. Er knirschte sogar mit den Zähnen vor Grimm. In jedem Fall, das stand für Lord Halifax fest, würde auch dieser Bursche sich wundern! Sir Wilmont war übrigens genau der gleichen Ansicht.

Die beiden alten Herren waren schon zusammen zur Schule gegangen, und zu jener Zeit hatten ihre ebenso phantasievollen wie wilden Jungenstreiche alle Lehrer in blanken Schrecken versetzt. Sie hatten deshalb mehrfach die Colleges wechseln müssen, waren mit etlichen Verzögerungen in Cambridge gelandet und hatten sich dort, ihren Familien und nicht etwa dem eigenen Trieb gehorchend, so manierlich aufgeführt, daß sie ihre Examina schließlich glorreich bestanden hatten.

Sir Wilmont, der Jura studiert hatte, war ein angesehener Anwalt geworden. Er besaß eine erstklassige Kanzlei in London, der er noch immer als Senior-Chef vorstand, und zu seinen Klienten zählten vornehme Herrschaften der allerhöchsten Kreise.

Lord Halifax war nach einem naturwissenschaftlichen Studium brav in die Fußstapfen seiner Ahnen getreten und als Herr des Schlosses, zu dem ausgedehnte Ländereien gehörten, ein prächtiger Landlord geworden.

Versunken in amüsante Erinnerungen an die gemeinsame Studentenzeit mit Sir Wilmont schlummerte der alte Herr unversehens ein.

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Seit einiger Zeit ermüdete er rasch. Das hinge mit seinem Kreislauf zusammen, hatte sein Arzt ihm erklärt und damit, daß auch das Herz einer Lordschaft nach neunundsiebzig Lenzen nicht mehr so taufrisch schlage wie das Herz in eines Jünglings Brust. Es war ja auch nicht schlimm, wenn die Müdigkeit Lord Halifax überkam, er machte dann eben einfach ein Nickerchen.

Sanft verglühte die Havanna im Ascher. Lord Halifax träumte. Es war ein wunderschöner Traum! Er war wieder jung, und

der blaue Himmel über Cornwalls grüner Küste hing voller Zärtlichkeit und Geigen. Die Welt war heiter, frisch und sonnenhell – bis es plötzlich zu regnen anfing.

An dem Traumhimmel des alten Herrn war freilich kein Wölkchen aufgezogen, doch es tröpfelte, rieselte, plätscherte, pladderte, schüttete, goß schließlich wie aus löchrigen Kübeln und Kannen.

Aufgescheucht fuhr Lord Halifax in die Höhe. Der Havannaduft stieg in seine Nase, das Aroma des

Burgunders umschmeichelte noch seinen Gaumen, er spürte die Wärme des Kaminfeuers wie Sonne auf seiner welken Haut, und in dem Ascher verglühte just der letzte Rest der Zigarre. Demnach konnten höchstens ein paar Minuten vergangen sein, seit er eingenickt war.

Doch nun war Lord Halifax munter und wachsam. Er horchte. Sein Gehör funktionierte noch ausgezeichnet, und er vernahm es deutlich, dieses Tropfen, Prasseln, Rieseln und Triefen.

Verwirrt blinzelte er. Seine Augen hatten etwas nachgelassen, aber aus schierer Eitelkeit trug er keine Brille. Dennoch sah er das Malheur ganz deutlich.

Sein Blick fiel nämlich auf das Parkett zu seinen Füßen. Dort bildete sich ein dunkler, feuchter Fleck, der sich in

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Sekundenschnelle zu einer Pfütze auswuchs, in die es munter hineinregnete.

Zu spät merkte Lord Halifax, daß an den Wänden der Halle schon Wasserfälle herunterschossen.

Er wollte noch Timothy rufen, doch seine Stimme versagte. Es war schlimmer als ein Alptraum, denn es war Wirklichkeit!

Von der Decke klatschten dicke Tropfen. Das weiße Haar des alten Herrn wurde naß und stand strähnig um seinen mageren Kopf.

Im Kamin prustete das Feuer, es keuchte, schnappte zischend nach Luft und ertrank doch unrettbar in den gurgelnden Wassermassen.

Der Saum der Kaschmirdecke, die über Lord Halifax’ Knien lag, berührte das Parkett und saugte die Feuchtigkeit wie ein Löschpapier auf. Die Füße des alten Herrn standen schon bis zu den Knöcheln in der Pfütze. Wie gut, dachte er, daß ich Stiefel trage!

Ärgerlich wollte er nach der Glocke greifen, die auf dem Servierwagen stand, um Timothy herbeizuklingeln. Aber das Wasser trieb die Räder an, und der Servierwagen rollte wie von Geisterhand bewegt davon. Dabei schwappte der Burgunder aus dem Glas und tropfte wie Blut auf die Perserbrücke vor dem Kamin.

Allmählich, regte Lord Halifax sich auf, ging der Spaß entschieden zu weit!

Wütend und mit aller Kraft stemmte er sich gegen die Armlehnen des Sessels, um sich in die Höhe zu hieven. Aber er löste die Kippvorrichtung aus, und der Sessel schnellte zurück.

Hilflos lag Lord Halifax nun flach auf dem Rücken, riß die Augen auf – und sah seinem Widersacher mitten ins Gesicht. Es war ein unverschämt junges, anziehendes Gesicht, und der Widersacher lächelte auch noch! Wenn es wenigstens ein

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teuflisches Lächeln oder ein höhnisches Grinsen gewesen wäre! Aber das Lächeln war eigentlich ganz nett und menschlich.

»Es wird Zeit, alter Knabe!« mahnte der Widersacher freundlich, und seine sonore Stimme besaß einen aufregend schwarzen Samtsound.

Sein Leben lang hatte Lord Halifax gegen den Widersacher gekämpft, jedesmal und immer wieder auf neue, wenn das Schloß in den ungeheuren Wassermassen einer rätselhaften Sintflut fast untergegangen war. Aber noch nie, niemals zuvor hatte er ihn von Angesicht zu Angesicht gesehen, obwohl er ja eine ganz bestimmte Vorstellung von ihm gehabt hatte, die völlig zutreffend gewesen war, wie er nun feststellte.

Am meisten ergrimmte es Lord Halifax, daß der Bursche so jung aussah! Dabei mußte er mindestens dreihundert Jahre alt sein!

»Hol’ dich der Teufel, Henry Cliffwood!« krächzte er zornig. Warum verschwamm nur alles vor seinem Blick? Seine

Augen wurden trüb. Er gähnte und hielt nicht einmal die Hand vor den Mund, weil er auf einmal so furchtbar müde war.

»Gute Reise, Halifax!« wünschte das Hausgespenst von Cliffwood-Castle.

Lord Halifax sah nur noch, daß eine nadelfeine rote Narbe quer über die Stirn seines Widersachers lief, daß er einen Dreispitz auf dem dunklen Lockenhaar trug und ein verwegener Piratenbart sein ungeheuer männliches Gesicht zierte.

Plötzlich wußte er auch wieder, woher er dieses Gesicht kannte, nämlich aus seinen Kinderträumen, in denen es ihm oft begegnet war.

Mit letzter Kraft raffte er sich zusammen, stieß triumphierend hervor: »Und ich habe dir doch ein Bein gestellt, Henry!«

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Diese Gewißheit schenkte ihm die flüchtige Wonne reinster Schadenfreude. Aber wieso roch es plötzlich nach Sommer, und woher kam Muriel, die zärtlich seine Hand hielt?

Lord Halifax seufzte. Wie jung Muriel geblieben war in all diesen vielen Jahren! Grünäugig und rotschopfig war sie noch immer, und auch ihr fröhliches Lachen hatte sie nicht verloren. Er war sehr glücklich darüber, daß sie bei ihm war.

»Mylord!« Timothy stieß die Tür auf. Heiser vor Aufregung und Entsetzen schrie er: »Ist es wieder mal so weit?«

Mit den dürren Armen rudernd, kämpfte er sich vor Angst schlotternd durch die Wassermassen hindurch, die ihm schon bis zu den Waden reichten.

»Natürlich! Es ist Vollmond, und es ist Freitag!« jammerte er. »Warum nur mußte Sir Wilmont ausgerechnet heute nach London zurückfahren?«

Besorgt beugte er sich über seinen Herrn, wollte ihm zu Hilfe eilen, ihn aus dem Sessel ziehen und merkte, daß er zu spät gekommen war.

Es dauerte eine geraume Weile, bis er wirklich begriff, was geschehen war. Mit zitternden Händen schloß er die Lider seines toten Herrn und bekreuzigte sich.

Auf einmal war es still. Die unheimlichen Geräusche verstummten, denn die

Wasserströme versiegten. Der Spuk war vorüber. Doch Lord Halifax war hinübergegangen in eine andere Welt,

und der alte Timothy stand mitten in der Sintflut und weinte wie ein Kind.

In die Stille hinein verkündete die Turmuhr von Cliffwood-Castle die Wende der Mitternacht.

Ein Tag war vergangen, und ein neuer Tag begann.

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*

Nach gutem alten Kalenderbrauch folgte dem Freitag ein Sonnabend, und so geschah es auch dieses Mal wieder.

Am Spätnachmittag dieses Sonnabends traf Scarlett O’Conell, aus London kommend, in Irland ein. Der Himmel war grau, und sie wertete das nicht gerade als gutes Vorzeichen, war andererseits aber zu hoffnungsfroh gestimmt, um sich durch einen grauen Himmel einschüchtern zu lassen.

Die Reise war ziemlich strapaziös gewesen. Scarlett war von London aus mit dem Flieger herübergekommen. Jenseits der Irischen See war das Wetter umgeschlagen. Bei ihrem Abflug in London war der Himmel noch blau gewesen, und die Sonne hatte geschienen. Von Galway aus war sie dann mit Bahn und Bus weitergereist, was zeitraubend und nicht sonderlich bequem gewesen war.

Scarlett war deshalb froh, als das Bootstaxi, das zu einer der winzigen vorgelagerten Inseln tuckerte, endlich anlegte.

Wie sehr hatte sie diesen Augenblick herbeigesehnt, seit sie den Brief Pastor Cormacs bekommen hatte. Vielleicht, so hoffte sie, würde sich nun ihr ganzes Leben ändern?

Vorsichtig ging sie über den schmalen Steg an Land und sah sich mit leuchtenden Augen um. Leider gab es nicht viel zu sehen, außer zerklüfteten Klippen, Steinen, Sand und diesem grauen, schwermütigen Himmel.

Der Skipper präsentierte ihr die Rechnung. Scarlett bezahlte und fragte, ob er sich auf der Insel

auskenne. »Das kommt darauf an, was Sie wissen wollen, Miß.« »Den nächsten Weg zum Haus des Pastors.« »Immer geradeaus, beim Kirchplatz links um die Ecke.«

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»Danke.« Scarlett hatte den Eindruck, daß der mürrische Geselle sie mißtrauisch beäugte, so wie er das schon die ganze Fahrt über getan hatte, und das irritierte sie.

Sie war auch etwas enttäuscht darüber, daß niemand zu ihrem Empfang gekommen war.

Der Bursche schien es jedenfalls eilig zu haben, wieder abzulegen, denn Scarlett hatte sich kaum ein paar Schritte von dem Landesteg entfernt, als das Boot schon lostuckerte.

Möwen schrien. Die Brandung rauschte. Einige Fischerboote lagen verlassen vor Anker. Bei Sonnenschein und unter einem freundlichen Himmel mochte die Insel ein idyllisches Fleckchen sein. In der kühlen Abenddämmerung und unter dem grauen Himmel war sie es nicht.

Ein unangenehmes Gefühl der Beklemmung beschlich Scarlett. Sie schritt wacker aus, obwohl es kaum möglich war, auf dem steinigen Pfad schnell vorwärts zu kommen.

Was Barnet wohl dazu sagen würde, wenn er wüßte, daß ich hier bin, fragte sie sich und mußte ein wenig lachen, denn sie mußte schließlich genau, daß Barnet entsetzt darüber gewesen wäre!

So war Barnet nun einmal! Er war gewiß ein lieber, netter Junge, doch kein Mann, der Berge versetzte oder mit dem man Pferde stehlen konnte!

Ihr Traummann hingegen, davon war Scarlett fest überzeugt, hätte sogar den Himalaja von der Stelle bewegt, und man hätte mit ihm zusammen Dutzende Pferde stehlen können.

Es war schade, daß es ihn nicht wirklich gab. Zuweilen, wenn Scarlett sehr tief schlief, sah sie ihn im Traum, und er lächelte ihr zu.

Er war jung, und sein Lächeln war verwegen. Etwas seltsam gekleidet war er freilich, denn er trug eine Uniform, so wie seefahrende Kapitäne sie in vergangenen Jahrhunderten getragen hatten. Auf seinem schwarzen Lockenhaar saß keck

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ein Dreispitz, und eine nadelfeine, rote Narbe lief quer über seine Stirn. Der schwarze Piratenbart schmückte ihn ungemein.

Manchmal redete er auch zu Scarlett, und seine tiefe Stimme streichelte sie wie schwarzer Samt, doch was er zu ihr sagte, konnte sie nie verstehen.

Der Weg, der nur aus Steinen bestand, war zu Ende, und Scarlett erreichte eine gepflasterte Straße, auf der man vernünftig gehen konnte.

Niemand begegnete ihr. Keine Menschenseele schien unterwegs zu sein. Die Insel wirkte wie ausgestorben. Ob die Leute schon alle zu Hause hinter dem warmen Ofen saßen, fragte sich Scarlett. So kalt und spät war es doch noch nicht!

Wie hätte sie ahnen sollen, daß just ihre Person der Grund dafür war, daß sich niemand auf die Straße wagte, bevor sie nicht in dem Haus des Pastors verschwunden war.

Dabei war Scarlett ein durchaus erfreulicher Anblick, auch wenn sie keine Schönheit im landläufigen Sinne war. Sie war nur mittelgroß und auch ein bißchen mollig, weil das Essen ihr so gut schmeckte. In einem ansonsten recht freudlosen Dasein war es ein gewisser Trost, wenn man wenigstens Spaß am Essen hatte.

Mrs. Dorothy behauptete immer, Scarlett futtere sie mit ihrem unersättlichen Appetit noch um den letzten Cent! Doch Mrs. Dorothy sagte selten nette Sachen.

Sie mokierte sich ja auch über Scarletts rote Haare, über ihre grünen Augen und ihre Sommersprossen. Wenn Mrs. Dorothy ihrer Bosheit die Zügel schießen ließ, erklärte sie sogar, daß Scarlett genauso aussehe, wie eine rothaarige, grünäugige irische Hexe. Scarlett hielt dann jedesmal wütend dagegen, daß Hexen aber keine Sommersprossen hatten!

Die Straße zog sich endlos hin. In den Häusern brannte noch kein Licht, und sie wirkten so

menschenleer wie Häuser einer Geisterstadt. Die Gardinen an

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den Fenstern waren zugezogen. Trotzdem glaubte Scarlett zu spüren, daß sie von vielen Augen beobachtet wurde.

Sie versuchte, dieses Gefühl abzuschütteln, doch es gelang ihr nicht. Kalte Feindseligkeit schlug ihr auf der Insel entgegen, und sie war sicher, daß sie sich nicht täuschte!

Scarlett besaß nämlich, auf eine frische und ganz unkomplizierte Art, die rare Gabe, manches zu erahnen, was anderen Leuten verborgen blieb. Zuweilen wußte sie sogar schon Dinge, die erst ein paar Tage später passierten, und wenn irgendeine Gefahr drohte, spürte sie das im voraus.

Endlich machte die Straße eine Biegung und mündete auf den Kirchplatz ein.

Auch hier war es still und menschenleer. Die kleine, alte Kirche sah mit ihrem Glockenturm wie eine Möwe aus, die sich an Land verirrt hatte.

Am Kirchplatz links um die Ecke, hatte der Bursche gesagt, und Scarlett hielt sich daran.

Das Pastorenhaus stand etwas abseits von der Straße in einem freundlichen, gepflegten Garten. Die Fenster waren blank geputzt, und sogar der Messingknauf an der Tür sah aus, als ob er just frisch poliert worden wäre.

Scarlett läutete. Es dauerte eine Weile, bis die Tür geöffnet wurde. Ein älteres

Mädchen mit einem schlauen Mausgesicht fragte: »Sind Sie Miß O’Conell?«

»Ja, die bin ich«, bestätigte Scarlett. »Es tut mir leid, daß es so spät geworden ist, aber schneller ging es nicht.« Warum nur, überlegte sie, beäugte das Mädchen sie genau so mißtrauisch wie zuvor der Bursche auf dem Boot?

Irgend etwas stimmte nicht. Wieder beschlich Scarlett ein beklemmendes Unbehagen.

Der Pastor empfing sie in seinem Arbeitszimmer, einem düsteren Raum, dessen Wände bis zur Decke hinauf aus

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Bücherregalen bestanden. Auch der Schreibtisch war mit Büchern und mit vielen Papieren bedeckt. Eine grün abgeschirmte Arbeitslampe brannte schon, weil die kleinen Fenster das letzte Tageslicht nicht mehr einließen.

»Ich bin Pastor Cormac«, stellte der würdige Herr, der hinter dem Schreibtisch saß, sich vor, und er hieß Scarlett freundlich willkommen. »Es freut mich, daß Sie so schnell gekommen sind, damit wir die Angelegenheit mit dem Erbe, das Ihr Vater Ihnen hinterlassen hat, schnellstmöglich regeln können.«

Der Pastor zog eine Mappe mit Unterlagen aus dem Papierwust und fragte: »Sie haben Ihren Vater persönlich nicht gekannt?«

»Nein.« Scarlett sah auf einmal sehr traurig aus. »Ich habe auch keine Erinnerung an meine Mutter. Als sie starb, war ich drei Jahre alt, und mein Vater lebte schon nicht mehr. Die Barneys, bei denen meine Mutter Hauswirtschafterin war, behielten mich bei sich, weil Mrs. Dorothy keine Kinder mehr bekommen konnte, und Barnet so gerne eine kleine Schwester gehabt hätte.«

»Sie sind noch bei den Barneys?« »Ich arbeite bei den Barneys als Haus Wirtschafterin, so wie

meine Mutter einmal. Mister Barney ist inzwischen leider gestorben. Er war ein guter Mensch. Die Immobilienfirma führt jetzt Barnet, aber er ist nicht so erfolgreich wie sein Vater, weil Mrs. Dorothy ihm in alles hineinredet.«

»Es tut mir leid, daß ich nicht zum Landesteg kommen konnte«, entschuldigte er sich. »Aber derzeit bin ich nicht gut zu Fuß.« Er deutete auf die beiden Krücken, die am Rand des Schreibtisches lehnten und die Scarlett noch gar nicht bemerkt hatte. »Ich bin die Kirchenstiege hinuntergestürzt, als ich mitten in der Nacht zu einem Sterbenden gerufen worden war.«

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Kopfschüttelnd stellte er fest. »Ich kann keine Ähnlichkeitsehen. Nicht die geringste Ähnlichkeit!«

»Mit meinem Vater?« fragte Scarlett rasch. »Mit Captain O’Conell, ja.« »Mrs. Dorothy sagt, daß ich meiner Mutter sehr ähnlich

sehe.« »Ja, so geht das manchmal, daß ein Kind nur einem Elternteil

ähnlich sieht.« Der Pastor schlug die Mappe auf. »Um auf die Erbschaft zurückzukommen, es handelt sich dabei um ein Haus.«

»Ein Haus?« unterbrach Scarlett ihn aufgeregt. »Um ein sehr altes Haus«, dämpfte der Pastor ihr Entzücken.

»In einer Truhe mit vergilbten Schriftsachen fanden wir die Heiratsurkunde des Captain.« Er zögerte kurz. »Niemand auf der Insel wußte, daß Captain O’Conell geheiratet hatte. Nun, jedenfalls haben wir auf diese Weise Nachforschungen anstellen und in Erfahrung bringen können, daß der Captain eine Tochter hatte.«

»Aber warum erst jetzt? Ich meine, warum haben Sie das erst jetzt erfahren?«

»Weil Ihr Großvater erst vor kurzem gestorben ist.« Scarlett hatte gar nicht gewußt, daß sie einen Großvater

gehabt hatte, der noch am Leben gewesen war. »Das tut mir leid.«

Der Pastor räusperte sich. »Die Gemeinde ist jedenfalls an dem Erwerb des Hauses interessiert, um einen Kindergarten darin einzurichten. Deshalb mußten wir erst feststellen, ob nicht Erben vorhanden sind.«

Der Pastor räusperte sich erneut. »Ich hoffe, daß Sie nicht mit zu großen Erwartungen gekommen sind, mein Kind?«

»Eigentlich«, gab Scarlett beklommen zu, »habe ich schon gehofft, durch die Erbschaft ein neues Leben anfangen zu können.«

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»Was verstehen Sie unter einem ›neuen Leben‹?« »Fort von den Barneys, etwas Richtiges lernen und dann

einen Job finden.« »Das klingt vernünftig. Nur kann man das Leben, das einem

zugemessen ist, nicht abwerfen wie ein getragenes Kleid«, bezweifelte der Pastor.

»Aber ich will nicht mein Leben lang das Hausmädchen von Mrs. Dorothy Barney sein!« begehrte Scarlett heftig auf. »Man muß Dinge doch auch ändern können, oder?«

Gewiß könne man das, beschwichtigte der Pastor, schließlich habe jeder Mensch einen eigenen, freien Willen. Er bedauerte, daß er sich noch auf seine Sonntagspredigt vorbereiten müsse und deshalb keine Zeit mehr habe, um sich weiter mit Scarlett zu unterhalten.

»Sie sehen auch ziemlich erschöpft aus, mein Kind. Das Mädchen wird Sie in Ihr Zimmer bringen und Ihnen das Abendessen servieren. Wir reden morgen weiter, und dann zeige ich Ihnen auch das Haus!«

Pastor Cormac zeigte Scarlett das Haus am nächsten Morgen gleich nach seiner Sonntagspredigt, und als sie es sah, dachte sie: Du liebe Güte, was würde nur Barnet dazu sagen?

Das Haus war langgestreckt, einstöckig, grüngelb und häßlich. Ein löchriger Zaun, der es umgab, sah aus, als grinse er höhnisch durch schiefe Zahnlücken.

Der Bursche, der sie in dem altmodischen, geländegängigen Wagen des Pastors zu dem Haus chauffiert hatte, machte ein Gesicht, das deutlich verriet, was er dachte, nämlich daß es am besten gewesen wäre, wenn man dieses heruntergekommene Ding abgerissen hätte.

Genau dies dachte Scarlett auch. »Gehen wir hinein!« ermunterte der Pastor. Er humpelte auf seinen Krücken voraus. Scarlett folgte ihm

zögernd.

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Im selben Augenblick, als sie die Schwelle überschritt, war ihr merkwürdig beklommen zumute. Dieses Haus, spürte sie, hatte keine gute Ausstrahlung!

Es gab Häuser, in denen man sich sofort wohl fühlte, weil sie eben eine gute Ausstrahlung besaßen. Aber dieses Haus gehörte nicht dazu.

Barnet, der sich als Immobilienmakler mit Häusern schließlich auskannte, behauptete allen Ernstes, daß es Häuser gab, vor denen man sich hüten mußte.

Captain O’Conells Haus war von dieser Sorte, und das lag nicht daran, daß es verwahrlost war. Das Böse mußte in ihm eingemauert sein. Die Spinnwebfäden, die von den Decken hingen, konnten für die ungute Ausstrahlung so wenig wie die Staubflocken, die sich überall breitmachten. Das ganze Haus wirkte einfach von innen heraus verkommen.

Pastor Cormac stützte sich schwer auf seine Krücken. »Wenn alles sauber und fertig ist, wird es hier natürlich ganz anders aussehen«, versicherte er. »Alles wird frisch gestrichen, die Wände werden weiß gekalkt und bunt bemalt. Aber dann werden unsere Inselkinder ein fröhliches Spielhaus haben!«

Das konnte Scarlett sich beim besten Willen nicht vorstellen. Die Atmosphäre des Hauses bedrückte sie furchtbar, und sie wollte nichts wie fort. »Können wir jetzt wieder gehen?«

Der Pastor war sichtlich enttäuscht über ihre ablehnende Reaktion. »Zugegeben, das Haus ist in keinem guten Zustand«, räumte er ein, »aber es ist immerhin das Haus Ihres Urgroßvaters.«

Mit einem Urgroßvater, dem ein derart unsympathisches Haus gehört hatte, wollte Scarlett lieber nichts zu tun haben!

Was sie nun bedrückte, war die Frage, was für ein Mensch wohl ihr Vater gewesen war. Eine fest umrissene Vorstellung von ihm hatte sie nie gehabt, und sie hatte sich auch kein Idealbild von ihm aufgebaut, weil Mister Barney eine

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Vaterfigur für sie gewesen war. Jetzt hatte sie die Chance, etwas über den Mann zu erfahren, der ihr Vater war.

»Erzählen Sie mir von ihm, Herr Pastor«, bat sie impulsiv. »Von Ihrem Urgroßvater?« »Von meinem Vater.« Pastor Cormac zuckte etwas zurück. »Oh, ich fürchte, da

habe ich nicht viel Erfreuliches zu berichten, mein Kind.« »Das macht nichts. Ich will es wissen!« Er seufzte. »Nun gut. Sie haben ein Recht darauf, es zu

erfahren, und ich habe kein Recht zu schweigen.« Leicht fiel es ihm trotzdem nicht zu reden. Er überlegte

lange, bevor er etwas sagte. Der schadhafte Wasserhahn tropfte in die Stille hinein

wiederholt sein eintöniges ›Plop-plop‹. Pastor Cormac überlegte immer noch. »Es ist keine lange und

keine schöne Geschichte, die ich Ihnen erzählen werde, Scarlett«, warnte er.

Die Geschichte des Captain O’Conell war kurz und scheußlich.

»Vorsichtig formuliert«, begann der Pastor, »würde ich sagen, daß der Captain nicht gerade ein gottgefälliges Leben geführt hat.«

Ein unheimliches Bangen befiel Scarlett, doch tapfer hakte sie nach: »Und was heißt das im Klartext?«

»Daß er nicht das gewesen ist, was man als einen guten Menschen bezeichnet.«

Der Pastor faßte zusammen, daß der Captain seine Eltern früh verloren hatte und deshalb bei seinem Großvater in dessen Haus aufgewachsen war.

»Schon, als er noch ein Kind war, haben alle Leute auf der Insel den wilden O’Conell gefürchtet. Er war überdurchschnittlich intelligent. Aber leider besaß er ein ungestümes Temperament, war jähzornig und bösartig. Er hat

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seinem Großvater viel Kummer gemacht. Als Halbwüchsiger, nachdem er in verschiedene schlimme Händel verwickelt war, die ihm etliche Jahre Gefängnis eingebracht hätten, verschwand er bei Nacht und Nebel.«

»Auf Nimmerwiedersehen?« »O nein! Er kam wieder. Leider.« Der Pastor seufzte. »Als er

wiederkam, war er Kapitän eines obskuren Frachters, der unter fremder Flagge und meistens in südchinesischen Gewässern kreuzte. Es waren schlimme Gerüchte über jenes Schiff in Umlauf.«

Er stockte kurz, ließ sich aber nicht näher darüber aus. »Jedenfalls«, fuhr er fort, »gab es jedesmal, wenn Captain O’Conell für einen kurzen Aufenthalt nach Hause kam, Unfrieden auf der Insel. O’Conell hatte stets mit irgend jemand noch irgendeine Fehde auszutragen. Das führte regelmäßig zu üblen Raufereien. Er war ein brutaler Schläger, und man tat gut daran, ihm aus dem Weg zu gehen, wenn er in Wut geriet. Jeder hat aufgeatmet, wenn er seinen Seesack schulterte und wieder verschwand.« Abermals stockte der Pastor kurz, bevor er die unrühmliche Geschichte mit den Worten schloß: »Irgendwann kam er dann nicht wieder.«

Scarlett war blaß geworden, sie sah richtig elend aus, und so fühlte sie sich auch.

Aus tiefster Seele empfand sie Abscheu gegen diesen Captain O’Conell, der ihr Vater war, gegen das Haus und sogar gegen den Urgroßvater, obwohl der für alles Schlimme, das geschehen war, ja wohl nichts konnte.

»Ich will das Haus nicht haben!« erklärte sie in einer heißen Aufwallung von Trotz und Scham.

»Wollen Sie damit sagen, daß Sie die Erbschaft ablehnen?« fragte der Pastor bestürzt.

»Ja, genau«, bestätigte Scarlett heftig. »So ist es. Ich lehne die Erbschaft ab!«

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»Sie lehnen Ihren Vater ab!« Der Pastor deutete Scarletts Verhalten vollkommen richtig. »Aber dadurch, daß Sie die Erbschaft ablehnen, werden Sie Ihren Vater nicht los, mein Kind! Man kann sich seine Eltern nun einmal nicht aussuchen. Wie auch immer sie sein mögen, man muß das ertragen.«

»Ich ertrage das nicht!« Mit leidenschaftlichem Ungestüm begehrte Scarlett gegen ein Schicksal auf, das ihr einen solchen Vater beschert hatte. »Ich will nichts mehr mit diesem Captain zu tun haben. Nie, nie mehr!«

Der Pastor konnte das gut nachvollziehen. »So sehr ich es bedaure, und ich habe es wahrlich nicht gerne getan, aber trotzdem mußte ich Ihnen die Wahrheit sagen.«

»Ja, und das war richtig«, stimmte Scarlett zu. Sie war zu aufgebracht, um nach freundlichen Worten zu suchen. »Ich bin Ihnen sogar dankbar dafür, denn jetzt weiß ich wenigstens Bescheid!«

Auf einmal war ihr klar, warum die Atmosphäre auf der Insel so kalt und feindselig gewesen war. Ihre ganze Verzweiflung und Bitterkeit brachen aus ihr heraus. »Sie können Ihre Schäflein beruhigen, Herr Pastor! Captain O’Conells Tochter verschwindet sofort und auf Nimmerwiedersehen von der Insel! Das war es doch, oder?«

Er kam da nicht gleich mit. »Was, Scarlett?« »Nun, daß niemand sich auf die Straße getraut hat, als ich auf

die Insel kam, daß die Gardinen an den Fenstern der Häuser zugezogen waren und daß der Bursche mit seinem Motortaxi; und das Mädchen mit dem Mausgesicht im Pastorhaus mich so schief und mißtrauisch beobachtet haben?«

»Das tut mir leid, Scarlett. Es ist betrüblich, und es fällt mir schwer, es zuzugeben, aber die Leute auf der Insel sind sehr abergläubisch.«

»Und da haben sie wohl gedacht, wenn Captain O’Conell der leibhaftige Böse gewesen ist«, fiel Scarlett ihm in die Rede,

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»dann muß Captain O’Conells Tochter mindestens eine Hexe sein! Ha! Sie hat ja auch rotes Haar und grüne Augen!« Unglücklich warf sie den Kopf zurück. »Als ob nicht viele irische Mädchen rote Haare und grüne Augen hätten! Und überhaupt – Hexen haben keine Sommersprossen!«

Dies, meinte der Pastor mit einem leisen Lächeln, sei gewiß ein schlagender Beweis dafür, daß sie keine Hexe sei! Er sagte nicht, daß auch seine Frau mit den Kindern die Insel vor allem deshalb verlassen hatte und zum Geburtstag ihrer Mutter gefahren war, weil sie hatte verhindern wollen, daß die Kinder mit der Tochter Captain O’Conells in Berührung gekommen wären.

Alle vernünftigen Vorhaltungen hatten nichts genützt. Und da war noch etwas, das der Pastor Scarlett nicht sagen

konnte. Es gab Geheimnisse, die er nicht enthüllen durfte, zumal wenn ein Sterbender ihm ein solches Geheimnis in seiner letzten Stunde anvertraut hatte. Vielleicht, so entschied der Pastor bei sich, war es auch besser, wenn das junge Mädchen dieses schreckliche Geheimnis nie erfahren würde.

So tief ihn Scarletts Schicksal bewegte, machte er sich doch auch Sorgen um den Kindergarten. »Das wird eine Menge Papierkram geben, falls Sie wirklich auf die Erbschaft verzichten wollen. Aber Sie sollten sich das noch einmal gut überlegen.«

»Da gibt es nichts mehr zu überlegen«, beteuerte Scarlett. »Und Papierkram schreckt mich nicht. Ich unterschreibe alles, wenn ich dadurch nur die Erbschaft loswerde. Erst dann werde ich mich wieder richtig frei fühlen.« Sie holte tief Luft. »Noch eine letzte Frage – wie sah mein Vater aus?«

»Oh, Captain O’Conell war ein wirklich gutaussehender und sehr stattlicher Mann«, versicherte der Pastor, der richtig froh darüber war, daß er endlich auch etwas Positives über den Captain berichten konnte. »Er war lang, breitschultrig und

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muskulös. Er hatte hellblondes Haar, helle blaue Augen und ein schönes männliches Gesicht. Wenn man ihn sah, mochte man es nicht glauben, daß er ein böser Mensch hätte sein können. Manchmal«, murmelte der Pastor, »kam der Captain mir wie ein gefallener Engel vor.«

Tränen stiegen in Scarletts Augen. Sie hätte ihren Vater, den sie nie gekannt hatte, so gern geliebt! Doch dieser Traum war ausgeträumt.

Auf dem Rückflug von Galway nach London geschah dann etwas Merkwürdiges.

Die freundliche Stewardeß wies Scarlett einen Fensterplatz zu. Der Sitz neben ihr blieb leer.

Der Start vollzog sich ganz normal, und die Maschine nahm ihren Kurs auf.

Es war Scarlett ja sehr schwergefallen, Barnet nichts von dem Brief des Pastors und von ihrer Reise nach Irland zu sagen! Trotzdem hatte sie es nicht getan, und das war, wie sie nun erkannte, richtig gewesen. Bestimmt hätte Barnet, der nun mal ein Immobilienmakler war, nicht verstehen können, daß sie es ablehnte, ein Haus zu erben!

Doch ihr Entschluß, die Erbschaft des Captain O’Conell abzulehnen, stand für Scarlett unerschütterlich fest. Das hätte nur zu endlosen Diskussionen mit Barnet geführt, die doch nichts gebracht hätten.

Offiziell hatte sie Mrs. Dorothy um einen Wochenendurlaub gebeten, weil sie angeblich von einer Collegefreundin in deren Cottage eingeladen worden war. Niemand hatte daran gezweifelt, Barnet sowieso nicht und noch nicht einmal die mißtrauische Mrs. Dorothy. Wie hätten die beiden auch auf die Idee kommen sollen, daß Scarlett statt aufs Land zu fahren, nach Irland flog?

Ein Ruck lief durch die Maschine.

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Scarlett verlor die Balance und wurde von ihrem Sitz geschleudert. Ihr Kopf schlug auf die Einfassung des Vordersitzes. Zum Glück war es nicht weiter schlimm, und sie setzte sich schnell wieder gerade hin.

»Haben Sie sich weh getan?« fragte die Stewardeß, die sofort zur Stelle war, erschrocken. »Bitte, schnallen Sie sich doch wieder an! Die dringliche Aufforderung, sich anzuschnallen, ist wiederholt durchgegeben worden. Haben Sie es denn nicht gehört?«

»Tut mir leid, nein.« Die Maschine schwankte so heftig, daß Scarlett mit dem

Schließen des Sicherheitsgurtes allein nicht zurechtkam. Die Stewardeß war ihr behilflich.

Was denn los sei, wollte Scarlett wissen? »Wir durchfliegen eine Gewitterfront«, antwortete die

Stewardeß, und sie spielte die Sache herunter, versicherte, daß die Unruhe der Maschine nichts weiter zu bedeuten habe. Doch das mochte Scarlett nicht recht glauben, denn dafür war die nette Stewardeß eine Spur zu blaß um die Nase.

Jetzt sah sie auch die Blitze, die am Fenster vorbei zuckten, gelbe, orangerote und violette Blitze, und das war schon recht unheimlich, zumal es draußen auf einmal Nacht geworden war.

»Es ist nur eine Wolkenwand«, tröstete die Stewardeß. »Wir sind da schnell durch. Es ist bestimmt gleich vorbei.«

Aber so schnell waren sie nicht durch, und es war auch nicht gleich vorbei.

Jedesmal, wenn die Maschine von einer Sturmböe erfaßt und gebeutelt wurde, krächzte und keuchte sie, als wolle sie sich in ihre Einzelteile auflösen, und ein bedrohliches Zittern durchlief den Rumpf.

So etwas hatte Scarlett noch nie erlebt! Bisher hatte sie auf allen ihren Flügen immer Glück mit dem Wetter gehabt.

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Zum ersten Mal unternahm sie eine Flugreise ja auch allein. Sonst waren immer die Barneys bei ihr gewesen.

Zu seinen Lebzeiten hatte Mister Barney seine Familie, zu der er auch Scarlett gezählt hatte, stets in die Ferien begleitet, und später waren doch wenigstens Mrs. Dorothy und Barnet bei Scarlett gewesen.

Aber jetzt war niemand bei ihr, denn die Stewardeß mußte sich auch um die anderen Passagiere kümmern, die zum Teil erhebliche Schwierigkeiten durch die Turbulenzen hatten.

Als das Stöhnen und Zittern der Maschine nicht nachließ, die Blitze weiter wild an dem Fenster vorbeischossen und der Donner brüllte, bekam Scarlett Angst.

»Du mußt keine Angst haben, Scarlett«, sagte eine Stimme neben ihr. Es war eine wunderbare Männerstimme, die tief und aufregend klang, genauso, als streichle man schwarzen Samt. Scarlett kannte diese Stimme aus ihren Träumen.

Wie in Trance drehte sie den Kopf herum. Der Platz neben ihr war doch eben noch leer gewesen? Jetzt war er es nicht mehr. »O nein!« flüsterte sie ganz verzückt. Ihre Angst war wie

fortgeblasen. »So etwas aber auch! Wo kommen Sie denn auf einmal her?«

»Nun, das ist doch nicht so wichtig«, meinte Scarletts ›Traummann‹, und er lächelte ihr zu. »Wichtig ist nur, daß ich bei dir bin, oder?«

»Ja, das ist wahr«, stammelte Scarlett, die ganz überwältigt von dem unverhofften Glück dieses überraschenden Wiedersehens war. Schließlich waren sie einander schon lange nicht mehr begegnet! Scarlett hatte inzwischen viele Träume geträumt, doch in keinem dieser Träume war der ›Traummann‹ aufgetaucht.

Ein ohrenbetäubender Donnerschlag krachte. Die Maschine sackte ab und drehte sich auf die Seite.

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Der Traummann legte seinen Arm um Scarlett und hielt sie fest.

»Bleibe ganz ruhig«, bat er. »Es wird dir nichts geschehen. Und es ist bald vorbei.«

Ihm glaubte Scarlett das aufs Wort, obwohl die Turbulenzen unvermindert gewaltig waren. Sie fürchtete sich nicht, weil sie viel zu glücklich war.

Zum ersten, allerersten Mal verstand sie nämlich, was der ›Traummann‹ zu ihr sagte. Bisher hatte sie immer nur den Klang seiner Stimme vernommen, ohne die Worte, die er ausgesprochen hatte, entschlüsseln zu können.

»Du kannst übrigens ruhig du zu mir sagen«, erlaubte er. »Ich weiß ja nicht einmal, wie Sie heißen«, wandte Scarlett

schüchtern ein, und sie wurde doch tatsächlich ein wenig rot. »Ich habe viele Namen. Sage, wenn du magst, einfach ›Pirat‹

zu mir.« »Ja, gut, Pirat.« Sie erschauerte richtig, als sie ihn so nannte,

und es war ihr auch ganz egal, was die anderen Leute denken mochten. Ihr Traummann war nämlich recht seltsam gewandet. Er trug wieder diese malerische Uniform eines seefahrenden Kapitäns aus irgendeinem vergangenen Jahrhundert, und von dem Dreispitz auf seinem dunklen Lockenhaar konnte er sich wohl überhaupt nicht trennen. Vielleicht, weil der schmucke Kopfputz die Narbe auf seiner Stirn ein wenig verdeckte?

»Was ist das für eine Narbe?« fragte sie. »Hast du dich verletzt? Sicher hat es weh getan!«

»Ziemlich, ja«, gab er zu. »Es war eine Machete, die mich gestreift hat, weißt du.«

»Eine Machete?« fragte Scarlett ungläubig. »Gewiß doch. Du glaubst mir nicht? Es war aber eine

Machete! Sie gehörte einem Burschen aus Honduras, einem Kaffeepflanzer, dessen Schiff wir geentert hatten.«

»Wieso geentert?« unterbrach Scarlett.

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»Nun ja. Was glaubst du wohl, was ein Pirat so treibt?« »Schiffe kapern?« »Was denn sonst?« Er lachte ein tiefes, dröhnendes

Männerlachen, das mitten aus seiner Brust zu kommen schien. »Es ist ein toller Job, sage ich dir! Job – so heißt das doch, nicht wahr?«

Bevor Scarlett antworten konnte, wechselte er das Thema, und er wurde unversehens sehr ernst.

»Es war richtig, daß du die Erbschaft abgelehnt hast, Scarlett, und lasse dich durch niemand dazu überreden, sie etwa doch noch anzunehmen.«

Sie seufzte. »Barnet würde es bestimmt versuchen, mich umzustimmen, wenn er es wüßte.«

»Wie gut, daß er es nicht weiß!« »Woher weißt du es eigentlich?« wollte Scarlett wissen. Er wisse so ziemlich alles von ihr, behauptete der Pirat, aber

er sagte nicht, wieso und woher. »Gib jedenfalls gut acht auf dich in der nächsten Zeit! Und sei ein wenig netter zu Barnet, hörst du? Manchmal bist du nämlich gar nicht freundlich zu ihm, sondern richtig schulmeisterlich, und das verdient er nicht.«

»Aber ich bin nur nicht nett zu ihm, wenn ich mich darüber aufrege, daß er sich von seiner Mutter wie ein Tanzbär an der Nase herumführen läßt!«

»Ja, aber wenn du dann auch noch auf ihm herumhackst, macht es das nicht besser«, erklärte der Pirat. »Du solltest sein Selbstwertgefühl stärken und ihn nicht auch noch niedermachen.«

Sie wolle es versuchen, versprach Scarlett etwas kleinlaut. Der Pirat hatte ja recht, das sah sie ein. Manchmal war sie wirklich nicht nett zu Barnet, weil sie so schrecklich wütend auf ihn war, wenn er bei seiner Mutter wieder mal Pfötchen gegeben hatte, wie sie es nannte.

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»Du würdest so etwas nie tun!« sagte sie zu dem Pirat. »Ach, ich habe auch schon Pfötchen gegeben, weißt du.« Woher wußte er nur, was Scarlett dachte, bevor sie es

überhaupt ausgesprochen hatte? Sie sah ihn unverwandt an, sie konnte sich einfach nicht an

ihm sattsehen, und sie wünschte so sehr, daß seine Lippen ihren Mund berührten, daß er sie küssen möge. Sie spürte doch, daß er das gerne getan hätte?

Doch er tat es nicht. »Übrigens«, sagte er noch, »du solltest Captain O’Conell

nicht allzusehr verdammen.« Mitten in seiner Rede brach er ab und verstummte.

Gleichzeitig gab es einen gewaltigen Ruck und einen tiefen, tiefen Fall.

Aber die Maschine vibrierte nicht mehr. Vor den Fenstern wurde es hell. Durch den Lautsprecher ertönte die erleichterte Stimme des

Piloten, der erklärte, daß sie die Gewitterfront hinter sich gelassen hatten und die Maschine nun wieder Kurs aufnahm.

»Ich danke Ihnen allen für Ihr diszipliniertes Verhalten«, fügte er noch hinzu. »Wir befinden uns jetzt über der Irischen See. Es sind keine weiteren Turbulenzen mehr zu befürchten und in London erwartet uns ein freundlicher Sommerabend.«

Scarlett sah auf den Platz neben sich. Er war leer. Die Stewardeß kam und fragte, ob Scarlett vielleicht gern

etwas zu trinken hätte. Sie lachte dabei und meinte: »Sie haben aber wirklich starke Nerven, Miß, und einen gesegneten Schlummer haben Sie auch! Die anderen Passagiere sind schier umgekommen vor Angst, und Sie haben ein Nickerchen gemacht und selig gelächelt.«

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*

Montags war London immer besonders scheußlich, fand Scarlett. Sie mochte das Großstadtleben sowieso nicht und hätte lieber auf dem Land gewohnt.

»Wo bleibt mein Frühstück?« reklamierte Mrs. Dorothy schrill aus dem Obergeschoß des dreistöckigen, viktorianischen Hauses, das, eingebettet in das wohltuende Grün eines gepflegten Vorgartens, hinter einem senfgelben Jägerzaun lag.

Es schlug gerade sieben. Mrs. Dorothy war eine notorische Frühaufsteherin. Scarlett flitzte in die Küche und setzte das Teewasser auf. Sie war immer noch ein bißchen durcheinander, ihre

heimliche Reise nach Irland hatte sie doch ziemlich mitgenommen. Vor allem die seltsame Begegnung mit ihrem ›Traummann‹ auf dem Rückflug ließ sie einfach nicht los.

Bei ihrer Rückkehr am vergangenen Abend war Barnet in seinem Club und Mrs. Dorothy bei einer Bridge-Party gewesen. Scarlett war in ihr Mansardenzimmer gegangen, vor Erschöpfung gleich eingeschlafen und hatte weder Barnet noch Mrs. Dorothy heimkommen hören.

Wie immer warf sie, während sie das Frühstück richtete, nebenbei schnell einen Blick in die Zeitung, und da bekam sie einen tüchtigen Schrecken.

Auf der dritten Seite entdeckte sie nämlich einen Bericht über die Beinahe-Katastrophe, die sich am Vortag während eines Charterflugs von Irland nach London ereignet hatte.

Erst, als sie den Bericht las, wurde Scarlett klar, wie ernst die Situation tatsächlich gewesen war.

Eine Maschine, stand da nämlich schwarz auf weiß, war in eine Gewitterfront hineingeraten und nur mit Mühe wieder heil

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herausgekommen. Es grenzte fast an ein Wunder, daß sie das geschafft hätten, wurde der Pilot zitiert. Einige der Passagiere waren erheblich verletzt worden, hatten sich während der Turbulenzen Prellungen zugezogen oder Herzattacken erlitten, so daß sie nach der Landung gleich in ärztliche Behandlung hatten gebracht werden müssen.

Unwillkürlich griff Scarlett sich an die Stirn. Die Stelle, an der sie auf den Vordersitz geschleudert worden war, tat zwar noch ein bißchen weh, aber sie hatte nicht einmal eine Beule abbekommen.

Barnet kam im Pyjama die Treppe herunter in die Küche, und er schlurfte, weil er Pantoffeln an den Füßen hatte.

»Morgen, Lettie! Ich habe verdammt schlecht geschlafen.« Sein Pyjama und seine Pantoffeln waren nougatfarben, schlicht und teuer. »Gut, daß du wieder da bist. Wie war es auf dem Land?«

»Wie es auf dem Land eben so ist«, wich Scarlett diplomatisch aus, denn direkt anschwindeln wollte sie Barnet nicht, das brachte sie nicht fertig. Flugs machte sie sich mit dem Frühstück zu schaffen und richtete das Gedeck für Mrs. Dorothy auf ein Tablett. Dabei huschte sie flink hin und her, und Barnets treuherzige Braunaugen verfolgten sie hungrig.

»Dieses Wochenende ohne dich war scheußlich, Lettie!« stieß er hervor. »Du hast mir schrecklich gefehlt. Ich habe die ganze Nacht nachgedacht!«

»Hättest du lieber geschlafen. Jetzt frühstücke erst einmal und vergiß den Emir!«

»Wen?« fragte er verblüfft. »Wen soll ich vergessen?« »Na, diesen irren Typen aus dem Morgenland, der unbedingt

ein Gespensterschloß für sein Lieblingstöchterchen kaufen will! Deshalb hast du doch sicher die ganze Nacht nicht schlafen können, darüber hast du nachgedacht, oder?« Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. »Du liebe Güte, auch in England

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liegen Gespensterschlösser nun einmal nicht auf der Straße herum! Wenn du keines hast, dann kannst du auch keines verkaufen, basta. Warum machst du das deiner Mutter nicht klar?«

»Weil sie so etwas nicht gelten läßt!« »Du kannst doch kein Gespensterschloß aus dem Boden

stampfen!« »Mama meint aber, ich müßte das können.« »Oh, Barnet!« brauste Scarlett auf. »Merkst du denn nicht,

wie jämmerlich es ist, daß du dir von deiner Mutter derart auf der Nase herumtanzen läßt?« Zornig riß sie die Pfanne von der heißen Herdplatte. »Nun sieh’ mich nicht an wie ein Fisch auf dem Teller. Sag endlich etwas!«

»Lettie, ich liebe dich!« stieß Barnet hervor. Beinahe wäre die Pfanne umgekippt. Scarlett jonglierte die

Eier noch in letzter Sekunde auf Mrs. Dorothys Teller. »Was tust du?« fragte sie entgeistert.

»Ich liebe dich!« wiederholte Barnet tapfer. »Ich kann nie mehr ohne dich sein. Deshalb möchte ich dich heiraten. Willst du meine Frau werden?«

Scarlett schnappte nach Luft. »Und was, glaubst du, wird deine Mutter dazu sagen?«

Barnet wirkte etwas verunsichert. Er bekam sich aber schnell wieder in den Griff. »Nun«, erklärte er mutig, »meine Mutter wird sich an den Gedanken gewöhnen müssen, daß du ihre Schwiegertochter wirst.«

»Und du glaubst, das tut sie?« Scarlett stellte den Teller mit Speckeiern auf die Wärmeplatte. »Barnet! Ich verstehe nicht, was in dich gefahren ist!« Sie schüttelte den Kopf. »Du und ich, wir sind doch wie Bruder und Schwester!«

»Aber wir sind nicht Bruder und Schwester!« »Nein, natürlich nicht. Oder irgendwie doch!«

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»Das sehe ich aber ganz anders«, protestierte Barnet, und er blickte trübselig auf seine Nougat-Pantoffeln. »Ich werde mit meiner Mutter schon fertig werden!«

Das konnte Scarlett sich absolut nicht vorstellen. Dabei hielt sie Barnet sonst schon für einen rechten Mann, der durchaus das Zeug dazu hatte, eine Firma zu leiten und eine Frau glücklich zu machen. Aber in den Händen seiner Mutter war er nun einmal wie Wachs. Er ließ sich von Mrs. Dorothy dirigieren wie ein ganzes Orchester, und manchmal kam er Scarlett wie eine Marionette vor, die sich nur bewegte, wenn Mrs. Dorothy an den Fäden zog.

Die Glocke schellte. Mrs. Dorothy wollte ihr Frühstück haben! Scarlett nahm schnell das Tablett und lief damit in das

Obergeschoß hinauf. »Guten Morgen, Mrs. Dorothy. Ich hoffe, Sie haben gut

geschlafen?« »Nein. Ich schlafe nie gut.« Mrs. Dorothy war eine gewichtige Persönlichkeit. Sie hatte

überall Fettpölsterchen unter dem wallenden lila Nachtgewand. Ihr Gesicht war rund und rosig. Mit den grünen, stachligen Lockenwicklern im blondgefärbten Haar erinnerte sie Scarlett respektlos an ein Schweinchen, dem man einen Lorbeerkranz aufgesetzt hat.

»Mach die Fenster auf und laß frische Luft herein, Lettie!« gebot Mrs. Dorothy. »Ich habe wieder einmal unerträgliche Kopfschmerzen!« Nichtsdestotrotz machte sie sich über die Speckeier her. »Sollte ein Gespräch des Emirs hereinkommen, stell es sofort auf meinen Apparat durch.«

»Mache ich, Mrs. Dorothy.« Scarlett schob die Gardinen zurück und sperrte die Fenster

auf.

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»Der Tee ist zu heiß und die Eier sind zu kalt«, rügte Mrs. Dorothy.

»Tut mir leid«, behauptete Scarlett, was eine kesse Lüge war. Sie kannte Mrs. Dorothys unberechtigte Nörgeleien zur Genüge und machte sich schon lange nichts mehr daraus.

»Wie war es übrigens auf dem Land?« »Ganz nett.« »Wir sollten vielleicht auch mal wieder für ein langes

Wochenende aufs Land fahren«, meinte hierauf Mrs. Dorothy. »Ach, das Cottage hat doch keine Klimaanlage«, wiegelte

Scarlett schnell ab. »Sie sagen selbst immer, daß es in dem Cottage im Sommer nicht auszuhalten ist.«

Sie machte, daß sie hinauskam, und lief schnell die Treppe wieder hinunter.

Barnet saß wie das berühmte Häuflein Elend am Küchentisch, als sie zurückkam, und sein Anblick schnitt ihr ins Herz. Er hatte die Morgenzeitung ausgebreitet vor sich liegen, las aber nicht, sondern starrte dumpf auf eine Seite nieder.

Scarlett überlegte gerade, wie Sie ihm schonend beibringen konnte, daß eine herzliche, geschwisterliche Zuneigung nun einmal etwas anderes war als die heiße, leidenschaftliche Liebe, die Mann und Frau verbinden sollte, als er düster verkündete: »Lord Halifax ist tot!«

»Wer?« fragte Scarlett verblüfft. »Wer ist tot?« »Der Erbonkel meines Clubfreundes Randolf Cliffwood«,

antwortete Barnet trübselig. Er deutete auf eine Todesanzeige, die eine ganze Zeitungsseite einnahm.

Scarlett beugte sich über seine Schulter und las, daß der Lord von Cliffwood in der Nacht des vergangenen Freitags auf Cliffwood-Castle unerwartet verschieden war.

»Ist er ein netter Mensch gewesen?« fragte sie anteilnehmend.

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Barnet griff zu seinem Taschentuch, um sich die Nase zu schneuzen, denn Todesanzeigen rührten ihn leicht zu Tränen. »Mein Freud hat immer behauptet, sein Onkel sei ein altes Ekel.«

»Immerhin hat dein Freund Randy sich die Todesanzeige etwas kosten lassen!«

»Er ist ja auch Lord Halifax’ einziger Erbe!« »Oh!« hauchte Scarlett ergriffen. Sie dachte an Captain

O’Conells altes, verkommenes Haus und seufzte. »Es muß etwas Wunderbares sein, als Erbe eines Schlosses geboren zu werden.«

»So wunderbar nun auch wieder nicht«, widersprach Barnet. »Dieses Schloß hat nämlich seine Tücken.«

Das Telefon klingelte. In den frühen Morgenstunden war der Anschluß in die Küche

umgestellt. Barnet nahm ab. Am Apparat war Seine Hoheit, der Emir. Scarlett verkniff sich einen Hinweis darauf, daß Mrs.

Dorothy befohlen hätte, einen Anruf des Emirs auf ihren Apparat umzustellen. Sie kümmerte sich um das Frühstück, während Barnet den Emir vertröstete.

»Wunder dauern eben etwas länger, Hoheit!« Auch die honorige Firma Barney, bekannt dafür,

Unmögliches möglich zu machen, konnte nun einmal kein Gespensterschloß aus dem Ärmel schütteln.

Das Gespräch dauerte ziemlich lange, und Barnet machte ein niedergeschlagenes Gesicht, als er auflegte. »Wenn es wenigstens nicht auch noch aktiv sein müßte!« murmelte er geknickt.

»Wer soll aktiv sein?« »Das Gespenst natürlich.«

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»Du liebe Güte!« Scarlett verdrehte die Augen. »Wie stellt der Herr Scheich sich das eigentlich vor? Und was heißt überhaupt ›aktiv‹?«

»Daß es spuken muß, das Gespenst.« »Vergiß es!« empfahl Scarlett. Sie frühstückten wie immer zusammen in der Küche, aber an

diesem Montag wurde es kein gemütlicher Treff. Der Emir mit seinem Wunsch nach einem aktiven Gespenst verdarb Barnet den Appetit auf die Speckeier, und die Nachricht über das Ableben des Lord von Cliffwood verwässerte ihm den Morgentee.

»Ich muß zu dieser Beerdigung gehen«, murmelte er bedrückt, denn Beerdigungen waren ihm ein Graus.

»Ich richte dir deinen schwarzen Anzug heraus«, versprach Scarlett fürsorglich. Wenigstens kam Barnet nicht auf seinen Antrag zurück, und das erleichterte sie sehr.

Dafür beglückte Mrs. Dorothy sie fünf Minuten später mit einer niederschmetternden Eröffnung. »Meine Kopfschmerzen bringen mich um. Ich brauche frische Luft und andere Tapeten. Ich habe es mir überlegt, Lettie: Wir fahren am kommenden Wochenende doch nach Cornwall!«

*

Scarlett liebte Cornwall. Aber sie haßte die Weekends in dem Cottage, das waren Alpträume für sie.

Alles hing an ihr! Die Vorbereitungen, der Proviant, das Gepäck, und wenn etwas nicht klappte, war es natürlich ihre Schuld.

Mrs. Dorothy löcherte ihren Sohn mit Vorwürfen, weil er immer noch kein Gespensterschloß für den Emir aufgegabelt

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hatte. »Wenn du so weitermachst, mein Junge, wird unsere Firma eines Tages bankrott gehen.«

Es plagte Scarlett, daß sie mitanhören mußte, wie Mrs. Dorothy ihren Sohn maßregelte. In London fiel das nicht so auf, da verteilte es sich mehr, aber in dem Cottage war alles zu konzentriert, man trat sich gegenseitig auf den Füßen herum, und Barnet sagte immer nur »Ja, Mama.« Oder zur Abwechslung auch einmal »Du hast recht, Mama!«

Scarlett hätte ihn schütteln mögen! Sie hielt das einfach nicht mehr aus und bestand deshalb trotz

des schlechten Wetters auf ihren Freistunden. Barnet fragte erschrocken: » Du wirst doch nicht surfen

wollen, Lettie?« »Warum, glaubst du, habe ich mein Surfbrett mitgebracht?« »Aber das kannst du nicht machen bei diesem Wetter!« regte

Barnet sich auf. »Es ist nun mal kein anderes Wetter.« Gemeinsam machten die beiden sich auf den Weg zum

Strand. Barnet schleppte zwar brav Surfbrett und Segel, redete aber

unentwegt auf Scarlett ein, daß sie es bleiben lassen solle. »Das ist einfach zu gefährlich bei diesem Wetter!«

»Wieso denn? Es hört ja sogar auf zu regnen.« »Aber der Wind weht!« »Oh, Barnet! Ich brauche den Wind!« »Ja, aber nicht diesen!« Wind sei Wind, meinte Scarlett, und sie lachte, aber ganz

echt klang ihr Lachen nicht. Ihre innere Stimme warnte sie nämlich auch. Es war recht kühl, und sie fröstelte.

»Du frierst ja!« regte Barnet sich auf. »Mir wird schon gleich warm werden!« tröstete ihn Scarlett. Sie startete elegant, und zunächst lief auch alles ganz

fabelhaft. Scarlett vergaß die kleinen Kümmernisse der

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alltäglichen Plage, als sie auf das Wasser hinausglitt. Sie fühlte sich wunderbar frei, und natürlich war sie auch ein wenig stolz auf ihre Geschicklichkeit, denn sie hatte ja kaum Gelegenheit, diesen Sport zu trainieren. Aber sie beherrschte das ausgewogene Spiel mit Wellen und Wind so gut, als sei ihr das Talent dafür einfach angeboren.

Barnet rannte am Ufer entlang neben ihr her. Er war zu unsportlich, um sich auf eine solch riskante Weise auf dem Wasser zu bewegen. Aber ein tüchtiger Schwimmer war er, das hatten sie ihm im College beigebracht. Doch froh hatte ihn die Begegnung mit dem nassen Element noch nie gemacht. Deshalb begriff er Scarletts Leidenschaft für das Surfen auch nicht. Er rief nach ihr, aber sie hörte ihn nicht.

Sie war sehr weit fort von ihm. Aber es war nicht die räumliche Trennung, die Barnet so furchtbar beunruhigte, sondern er spürte, daß er sie im Augenblick einfach nicht erreichen konnte, und das machte ihn sehr traurig.

Fasziniert beobachtete er sie. In dem enganliegenden, silbern schimmernden Surfdreß sah sie wie ein Wesen aus einer anderen Welt aus. Auf eine geheimnisvolle Weise schien sie eins zu werden mit Wellen und Wind. Ihre Gesichtszüge konnte er nicht genau erkennen, dazu hatte sie sich schon zu weit vom Ufer entfernt, aber er ahnte, daß sie so verzückt und glücklich aussah, wie er sie so herzlich gern durch seine Liebe gemacht hätte. Er winkte heftig mit beiden Armen, aber sie beachtete es nicht.

Scarlett hatte Barnet vollkommen vergessen. Sie verschmolz mit dem Rhythmus des Wassers und der Luft. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl erfüllte sie. Es war wie ein Rausch, der sie überkam und immer weiter forttrug.

»Lettie!« schrie Barnet am Ufer beschwörend. »Kehre um! Ich glaube, der Nebel kommt!«

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Der Nebel hatte sein Süppchen hinter den Klippen nämlich fertig gekocht und kippte einen Kessel dampfender Milchbrühe über die schroffen Felsen ins Meer.

Scarlett merkte das nicht gleich. Erst, als plötzlich der Wind den Atem anhielt, wachte sie aus ihrer Verzückung auf.

Wo war das Ufer? Das Segel bekam keinen Auftrieb mehr und hing schlaff

herab. Das Board kenterte. Scarlett klatschte ins Wasser. Es war scheußlich kalt. Sie

schwamm mit kräftigen Stößen. Aber wohin? Der Nebel war zu dicht. Sie konnte sich nicht orientieren. Vergebens versuchte sie, das wabernde Grau zu durchdringen.

Nur vorwärts, ermunterte sie sich, noch kein Ufer ist verloren gegangen!

Wenn das Wasser nur nicht so mörderisch kalt gewesen wäre! Scarlett glaubte, daß ihre Glieder zu Eis gefroren. Ihre Kräfte erlahmten. Aber sie hatte noch immer keine Angst!

Die Angst kam erst ein paar Atemzüge später, als sie Wasser schluckte. Es schmeckte salzig.

Das darf doch nicht wahr sein, schoß es ihr durch den Kopf, ich kann doch nicht einfach ertrinken? Mrs. Dorothy wird es mir nie verzeihen! Barnet wird weinen, und niemand wird da sein, der seinen schwarzen Anzug herausrichtet.

Sie schluckte viel Wasser, und jetzt drehte sie durch, weil alles so kalt, grau und endgültig war, »Hilfe!« ächzte sie und wußte doch, daß niemand sie hören konnte. »Hilfe! Hilfe!«

Angst. Die Kälte. Das salzige Wasser. Der Nebel. Scarlett glaubte, von Angst, Kälte, Nässe und Nebel wie von

einem vielköpfigen Ungeheuer geschluckt zu werden. Dabei habe ich noch so viel vorgehabt, dachte sie verworren, und viele Träume habe ich gehabt, von Glück und Liebe und einem langen Leben.

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Ihre Gedanken gerieten durcheinander, weil ihr die Sinne schwanden.

Das passierte nicht von einem Atemzug auf den andern, sondern ganz allmählich, und es war nicht einmal unangenehm.

Zuerst verflüchtigte sich die Angst, danach hörte das Frieren auf, und schließlich fühlte Scarlett sich so leicht wie eine Feder oder ein Vogel, der seine Schwingen weit ausgebreitet hat. Eine wohltuende Schläfrigkeit lullte sie ein.

»Hey!« riß eine tiefe, samtene Männerstimme sie aus dem wohligen Dämmerzustand. »Was soll denn das? Schlaf nicht ein, Scarlett!«

Sie wollte aber gar nicht aufwachen, weil der Zustand, in dem sie sich befand, keine Schrecknisse mehr für sie barg, keine Kälte, keine salzige Nässe, keinen Nebel, keine Angst.

»Aufwachen, Scarlett!« beförderte die tiefe Samtstimme sie energisch von dem Abgrund der Bewußtlosigkeit zurück. »Zum Schlafen ist jetzt nicht die Zeit!«

Diese Stimme kannte sie doch? Sie riß die Augen auf. »Pirat?« Sein Anblick ließ sie selig und süß erschauern. Wenn sie nur nicht so furchtbar hätte husten müssen! Dieser Husten war gemein, er schüttelte sie richtig, und der Atem war ihr auch wie abgeschnürt. »Wo kommst du denn her?« keuchte sie.

»Hauptsache, ich bin da, oder?« »Ja.« Scarlett rang nach Luft, hustete wieder und würgte,

weil das salzige Wasser, das sie geschluckt hatte, aus ihr heraus wollte. Als es ihr einigermaßen besserging, stammelte sie erleichtert: »Es ist gut, daß du da bist!«

»So gut nun auch wieder nicht«, widersprach er etwas ärgerlich und fügte besorgt hinzu: »Hoffentlich kommt er bald, sonst wirst du erfrieren.«

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»Wer?« Scarlett war das scheußliche, salzige Wasser zwar los, aber so richtig tief durchatmen konnte sie noch nicht, ohne von dem widerwärtigen Husten geschüttelt zu werden. »Wer soll kommen?«

»Dein Retter natürlich.« »Was für ein Retter denn? Du hast mich doch schon

gerettet«, stammelte Scarlett zwischen den Hustenattacken. »Jedenfalls machst du mir eine Menge Scherereien. Erst

gurtest du dich während eines Gewitters im Flugzeug nicht an, und dann surfst du auch noch bei diesem Wetter auf dem Wasser herum. Es war doch klar, daß die Wellenbrecher und die Nebel kommen würden. Du bist ziemlich leichtsinnig. Es wird höchste Zeit, daß jemand auf dich aufpaßt!«

»Das tust du doch schon.« »Soweit ich es kann. Aber ich kann dich beispielsweise nicht

vor dem Erfrieren retten. Nein, das kann ich nicht.« Das war freilich schlimm, denn jetzt fror Scarlett wieder

erbärmlich, und die furchtbare Angst kam auch wieder. Zum Glück schluckte sie kein Wasser mehr, sie hatte das Empfinden, irgendwo an Land zu sein. Aber der Hustenreiz saß ihr immer noch in der Kehle. Das war schrecklich lästig. Sie mußte ziemlich viel Wasser geschluckt haben.

»Hör mir jetzt gut zu, Scarlett!« gebot der Pirat. »Du befindest dich auf dem schmalen Geröllstreifen am Fuße einer Klippe. Diese Klippe ist höllisch steil. Zur Linken fällt sie weiter schroff ab. Ein Sturz in die Brandung wäre tödlich. Aber zur rechten Hand steigt sie sanft an. Da ist ein Pfad, und es sind nur wenige Schritte bis zu dem rettenden Ufer. Zur rechten Hand!« wiederholte er eindringlich. »Hast du es gehört, Scarlett?«

»Ja, ich habe es gehört.« »Dann wiederhole es.« »Rechts. Ich muß mich rechts halten.«

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»So ist es brav! Und vergiß es nicht!« Er war ihr so nahe, und wieder sehnte Scarlett sich

verzehrend danach, daß seine Lippen ihren Mund berührten. Er lächelte sein verwegenes Lächeln und beugte sich langsam über sie. Aber da platzte ein Klatschen, Patschen und Prusten in die zärtliche Idylle.

»Lettie!« keuchte Barnet. »Dem Himmel sei Dank! Da bist du ja. Draußen in der Brandung treiben dein Board und das Segel. Wie kommst du denn hierher?«

»Und wo kommst du her?« Scarlett war ja doch froh, daß er da war.

»Woher schon?« Er schnappte nach Luft und schüttelte sich. »Als ich merkte, daß es gefährlich wird, habe ich mich voll hineingestürzt, um dich zu retten!« erklärte er dramatisch. Er war naß und in Panik. »Steh sofort auf, Lettie!« Er zog sie hoch. »Los! Ich glaube, wir müssen links herum!«

Irgendwie begriff Scarlett es nicht so recht, was da geschah. Sie war ziemlich kraftlos, ihre Knie zitterten, und sie

schnatterte vor Kälte. Der Pirat, der doch eben noch ganz nahe bei ihr gewesen war,

hatte sich in dem dichten Nebel gleichsam in Nichts aufgelöst. Ein untrügliches Gefühl warnte sie davor, ihn zu erwähnen. Aber sie hielt sich an seine Weisung.

»Rechts, Barnet!« Der verflixte Husten würgte und schüttelte sie wieder.

»Das kommt davon!« Barnet klopfte ihr aufgeregt den Rücken. »Links, sage ich!«

Scarlett faßte ihn fest bei der Hand. »Komm einfach mit mir.« Sie hielten sich rechts. Der Nebel war noch immer undurchdringlich, doch die Klippe stieg wirklich sanft an, das Wasser umspülte kaum mehr ihre Knöchel, sie faßten Grund, konnten gehen und erreichten nach wenigen Schritten das rettende Ufer.

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*

Der Schock über Scarletts nasses Abenteuer steckte Barnet noch in allen Knochen, als er in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch der darauffolgenden Woche ein schauriges Erlebnis hatte, das in gewisser Weise auch wieder mit Scarlett zusammenhing.

Am Vormittag des Mittwochs flüchtete er deshalb zum Lunch in seinen Club, um in dessen vertrauter und kultivierter Atmosphäre etwas Abstand von den beängstigenden Ereignissen zu gewinnen. In der Tiefe eines behaglichen Lederfauteuils geborgen, ließ er sich seinen Lieblingswhisky bringen und vertiefte sich erst einmal in die Lektüre der Times.

Das Wochenende war noch fürchterlich gewesen! Mrs. Dorothy hatte ihrem Sohn fast den Kopf abgerissen, weil er ihrer Ansicht nach sein Leben für die ›irische Hexe‹ riskiert hatte. Wenn sie wütend auf Scarlett war, nannte Mrs. Dorothy sie immer eine ›irische Hexe‹. Dabei hatte Barnet sich bei seiner Rettungsaktion noch nicht einmal einen Schnupfen geholt! Von der unheimlichen Begebenheit in der vergangenen Nacht hatte Mrs. Dorothy zum Glück nichts mitbekommen. Barnet schauderte es, wenn er nur daran dachte.

Trotzdem mundete ihm der Whisky vortrefflich, und in der Times standen eine Menge interessanter Dinge, die ihn von den Problemen, die ihn plagten, zumindest vorübergehend ablenkten.

»Oh, Barnet!« rief in diese beschauliche Idylle hinein eine sonore Männerstimme erfreut. »Wie schön, dich zu sehen!«

»Hallo, Randy!« Barnets Stimme klang nicht so ganz erfreut. Auf die Begegnung mit dem jungen Lord Cliffwood hätte er

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im Moment gut verzichten können. Der arme Bursche sah freilich miserabel aus, richtig mitgenommen, bleich und irgendwie verstört. Barnet hätte nicht gedacht, daß der Tod seines Onkels dem jungen Lord so nahe gehen würde.

Deshalb beeilte er sich, ihn sehr herzlich zu begrüßen und ihm nochmals das Beileid zum Heimgang des seligen Lord Halifax auszusprechen. Genau das hätte er lieber vermieden, denn ihm fehlten in derlei Situationen die passenden Worte. Ziemlich hilflos stotterte er: »Tut mir ehrlich leid, alter Junge, das mit deinem Onkel Halifax!«

»Danke für deine Anteilnahme, Barnet!« murmelte Lord Randolph ergriffen. »War nett von dir, daß du zur Beerdigung gekommen bist. Hat mir echt wohlgetan. Die Trauerfeier war pompös, wie?«

»Ungeheuer!« Sie schüttelten sich die Hände und klopften sich gegenseitig

auf die Schultern. Nach diesem Austausch freundschaftlicher Floskeln und

Gesten verabschiedete Lord Randolph sich jedoch nicht, sondern er fragte: »Es ist dir doch recht, wenn ich mich zu dir setze?«

»Ja, aber sicher doch!« versicherte Barnet, obwohl es ihm eigentlich nicht so recht war, denn er wäre just lieber allein geblieben. Andererseits freute es ihn natürlich doch, den Freund zu sehen, dem es überdies ersichtlich schlechtging und der ein wenig aufmunternde Gesellschaft wohl brauchen konnte. So deprimiert hatte Barnet den jungen Lord noch nie erlebt.

Sonst war Randy Cliffwood nämlich ein hinreißender Charmeur, stets amüsant und guter Laune. Trotz seiner traurigen Verfassung sah er freilich immer noch blendend aus. Ein dunkler, rassiger Typ war er, schlank, rank und

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hochgewachsen. Smart zierte ein verwegenes Bärtchen seine Oberlippe.

»Nun bist du das alte Ekel also los«, meinte Barnet, nachdem der feierliche Teil vorbei war und sie gemütlich beieinander saßen.

»Ja, aber er hat mir noch aus der Ewigkeit ein Bein gestellt!« jammerte Lord Randolph. »Am Montag war die Testamentseröffnung, weißt du.«

»Ach, deshalb bist du so bleich und blickst so verstört?« rief Barnet.

Der Whisky rüstete Lord Randolphs demoralisiertes Gemüt zwar etwas auf, doch er fühlte sich noch immer miserabel. Deshalb war er dankbar dafür, daß er einen Menschen getroffen hatte, mit dem er offen reden konnte. Barnet war ein verläßlicher Freund.

Ohne Umschweife fragte er deshalb: »Du weißt doch sicher noch, was für Eiertänze ich immer aufführen mußte, um ein paar lausige Cliffwood-Mäuse aus Onkel Halifax herauszuquetschen?«

»Es waren tolle Geschichten!« Barnet labte sich richtig an den Erinnerungen. »Einmal hast du behauptet, du hättest in Soho eine wilde Messerstecherei mit einem Chinesen gehabt, und dessen Clan werde dich umbringen, falls du nicht unverzüglich eine irre Summe hinblätterst. Und ein andermal hast du ihm weisgemacht, du müßtest eine Ehrenschuld begleichen oder dich erschießen.«

»Ja, aber das war nicht besonders originell«, unterbrach der junge Lord. »Dafür war die Geschichte mit der Beteiligung echt gut! Eine Schiffsladung englischer Tonerde für eine Porzellanmanufaktur in Lima! Onkel Halifax wollte dabei natürlich auch seinen Reibach machen!«

»Und wie ist die Geschichte doch gleich ausgegangen?«

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»Das Schiff hat Lima natürlich nicht erreicht. Ich ließ es in einem Hurrikan havarieren. Salome hieß er.«

»Wer?« »Der Hurrikan!« »Und wie hieß doch das Mädchen, dem du angeblich die Ehe

versprochen hattest, jene Bauchtänzerin, die entweder Lady Cliffwood werden oder eine saftige Abfindung haben wollte?«

»Dolores, und Onkel Halifax wollte sie unbedingt kennenlernen.« Lord Randolph seufzte. Auch in seiner desolaten Verfassung wirkte er herzerquickend charmant.

»Und hast du sie ihm vorgestellt?« »Barnet! Dolores existierte doch genauso wenig wie Salome,

der Hurrikan!« Das wußte Barnet natürlich. »Aber hast du damals nicht

irgendein Mädchen für den Job angeheuert?« »Sicher. Nur hat das nicht funktioniert. Onkel Halifax hat ihr

so zauberhaft den Hof gemacht, daß sie bereit war, auf mich und die Abfindung zu verzichten.«

Barnet lachte. »Er war ein schlauer, alter Fuchs, dein Onkel Halifax, wie?«

»Hinterher ist er mir jedenfalls immer auf die Schliche gekommen. Deshalb hat er mich ja auch den ›großen Trickser‹ genannt. Und jetzt hat der alte Knabe mich aus dem Jenseits ausgetrickst.«

Barnet blinzelte erschrocken. »Er hat dich doch nicht etwa enterbt?«

»So gut wie.« »Nicht möglich!« Barnet glaubte es einfach nicht. »Du meine

Güte, wem hat er seine Siebensachen denn vermacht?« »Seiner Tochter«, antwortete Lord Randolph mit

Grabesstimme. Barnet riß die Augen auf. »Ich denke, er war gar nicht

verheiratet?«

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»Ist das ein Grund, keine Tochter zu haben?« »Nicht unbedingt«, gab Barnet zu. »Aber wie ist er denn an

das Kind gekommen?« »Wie kommt man schon an ein Kind!« »Das war eine dumme Frage von mir«, gab Barnet zu, und er

erkundigte sich neugierig: »Was ist die Tochter denn für ein Mädchen?«

»Keine Ahnung. Onkel Halifax wußte selbst nicht, wo sie abgeblieben ist. Vermutlich wird Sir Wilmont jetzt den Rest seines Lebens damit verbringen, Onkel Halifax’ Erbin ausfindig zu machen, und so lange liegen die Millionen auf Eis.«

»Dabei hätte das Kind doch die Sonne seines Alters werden können«, murmelte Barnet. Es tat ihm ehrlich leid, daß sein Freund ein solches Pech hatte. »Und du bist also wirklich die Cliffwood-Millionen los?«

Lord Randolph nickte trübselig. »Vielleicht habe ich es ja nicht besser verdient«, gab er in einem Anfall edler Selbsterkenntnis zu. »Ich mag Arbeit nun einmal nicht leiden! Und ich habe ja auch gar keine Zeit dazu. Ich bin viel zu beschäftigt, um zu arbeiten!«

»Aber das Schloß«, fragte Barnet trostbereit. »Wenigstens das wird dir doch bleiben?«

Lord Randolph lachte bitter. »Es bleibt mir unter der Bedingung, daß es dem Verfall anheim gegeben werden muß!«

»Was muß es werden?« stammelte Barnet ungläubig. »Verfallen! Kaputtgehen! Verrotten oder vermodern!

Begreifst du denn nicht? Onkel Halifax will dadurch aus dem Jenseits auch Lord Henry noch ein Schnippchen schlagen!«

Er pfriemelte das Familienskelett ja nicht gerne aus dem Kleiderschrank, doch Barnet gegenüber hatte er da keine Hemmungen.

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»Zum Abschied hat sein Widersacher das Schloß nämlich noch einmal tüchtig eingeweicht, weißt du. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß der Schrecken über die nasse Attacke meinen Onkel umgebracht hat!«

»Aber in der Zeitung stand doch, er sei einem Herzversagen erlegen?«

»Hätte ich vielleicht schreiben sollen, daß unser Hausgespenst ihn gemeuchelt hat?«

Barnet dachte an das grausige Erlebnis, das er in der vergangenen Nacht gehabt hatte, und es wurde ihm ein wenig schwül. Flugs redete er sich ein, daß er sich ja auch getäuscht haben könnte. Er wehrte sich innerlich vehement dagegen, plötzlich an übersinnliche Phänomene zu glauben. »Glaubst du denn an Gespenster, Randy?« fragte er.

»Ja! Du nicht?« Barnet schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht, nein.« »Du kennst eben Lord Henry nicht!« »Kennst du ihn denn?« Lord Randolph mußte zugeben, daß er dem Hausgespenst

von Cliffwood-Castle persönlich noch nie begegnet war. »Aber ich kenne die Spuren, die Lord Henry hinterläßt!«

Barnet blieb skeptisch. »Wir sind doch moderne, aufgeklärte junge Leute, Randy!« Lebhaft vertrat er seine Ansicht, daß es für die rätselhaften Vorgänge in Cliffwood-Castle bestimmt eine ganz normale, physikalische Erklärung gäbe.

»Nein, die gibt es nicht!« widersprach Lord Randolph ganz energisch. »Onkel Halifax hat alles versucht, um die Sache aufzuklären und den Spuk abzustellen. Wissenschaftler und sonstige Experten haben wiederholt an dem Phänomen herumgetüftelt, und sie hatten keinen Erfolg! Manchmal gibt Lord Henry ja für eine Weile Ruhe, aber dann legt er unvermutet wieder mit voller Wucht los.«

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»Und warum macht er das wohl?« fragte Barnet kopfschüttelnd.

»Auch Gespenster haben ein Recht auf kleine Freuden, denke ich«, antwortete sein Freund Randy.

Barnet stellte betrübt fest, daß derart heimtückisch nur das Leben sein könne! »Siehst du, Randy, ich suche händeringend nach einem Gespensterschloß, um es an einen Emir zu verhökern, und du sitzt auf einem Gespensterschloß und mußt es einmotten!«

Lord Randolph faßte den Freund plötzlich so scharf ins Auge, daß Barnet ganz nervös wurde und unbehaglich in dem Fauteuil hin und her rutschte. »Warum siehst du mich auf einmal so komisch an?« forschte er. »Was hast du denn, Randy?«

»Eine Idee, Barnet! Ich habe mal wieder eine Idee!« Daraufhin steckten die Freunde die Köpfe zusammen und

tuschelten miteinander, wobei sie immer aufgeregter wurden. »Das ist echt Wahnsinn!« rief Barnet schließlich ganz

entzückt. »Himmel, wie kommt man nur auf eine so tolle Idee?«

»Die hat man, oder man hat sie nicht«, erwiderte Lord Randolph bescheiden.

Eines sei jedenfalls gewiß, fand Barnet, nämlich, daß der selige Lord Halifax seinem Neffen den Spitznamen ›großer Trickser‹ zu Recht verpaßt hatte!

Er war so fasziniert von der Idee des Freundes, daß er seine eigenen Probleme rigoros unter den Teppich bugsierte, denn dort lagen sie zunächst mal gut, bis die Idee Lord Randolphs zum Tragen kam.

Es fiel Barnet nicht leicht, so selbstlos zu sein, denn er hatte ja wirklich echte Probleme, über die er mit dem Freund auch gern gesprochen hätte.

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Sein größtes Problem war, daß er berechtigten Anlaß zu haben glaubte, sich Sorgen um Scarlett zu machen. Seit sie aus Cornwall zurück waren, sah sie elend aus, war auffallend blaß und magerte Zusehens ab.

Barnet hatte große Angst um sie, und das hing auch mit der unheimlichen Begebenheit der vergangenen Nacht zusammen. Er hoffte ja immer noch, daß er sich vielleicht getäuscht habe oder daß es irgendeine vernünftige Erklärung dafür gab.

Doch diese Hoffnung war trügerisch, denn das gleiche schauerliche Geschehen sollte sich in der darauffolgenden Nacht wiederholen.

*

Barnet kam spät nach Hause. Er hatte noch lange im Club mit Lord Randolph

zusammengesessen, um dessen glorreiche Idee auf ihre Tauglichkeit hin abzuklopfen und gleich in allen Einzelheiten auszuarbeiten.

Danach war ihm die Zeit davongelaufen, und er war vollauf damit beschäftigt gewesen, ihr hinterherzustrampeln.

Die Arbeit in seinem Büro war liegengeblieben, und er hatte bis in die Nacht hinein damit zu tun gehabt, alles wieder auf die Reihe zu bringen. Zu Hause hatte er sich telefonisch mit einigen unvorhergesehenen, dringenden Terminen entschuldigt und gebeten, nicht auf ihn zu warten.

Als er gegen Mitternacht leise die Tür aufschloß, war im Haus schon alles dunkel und still. Da er sehr müde war, ging er gleich zu Bett und schlief auch sofort ein.

Aber gegen drei Uhr morgens wurde er plötzlich wach.

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Es dauerte einige Sekunden, bis er begriff, was es gewesen war, das ihn aufgeweckt hatte: Es waren die gleichen unheimlichen Geräusche, die ihn schon in der vergangenen Nacht heimgesucht und aus dem Schlaf aufgeschreckt hatten.

Er verhielt sich still und horchte mit angehaltenem Atem. Nein, erkannte er entsetzt, es war keine akustische

Täuschung, wie er versucht hatte, sich einzureden. Er vernahm es wieder ganz deutlich, dieses leise, gequälte Stöhnen und halb erstickte Röcheln, das ihn schaudern machte. Es war alles genauso wie in der vergangenen Nacht, und wieder hatte er den deutlichen Eindruck, daß die schrecklichen Geräusche unmittelbar aus den Wänden drangen. Es hörte sich an, als sei ein Wesen eingemauert, das sich bemerkbar machen wollte. Doch die Wände seines Zimmers waren es nicht, die ein schreckliches Geheimnis bargen!

In der vergangenen Nacht waren die Geräusche nach einer Weile verstummt.

In dieser Nacht verstummten sie nicht, sondern sie steigerten sich sogar noch, wurden immer intensiver. Ein klägliches Wimmern und Wehklagen kam hinzu und schließlich ein Kratzen, das sich anhörte, als versuche jemand, der in den Mauern eingeschlossen war, sich mit den Fingernägeln zu befreien.

Barnet knipste die Nachttischlampe an. Sein Zimmer lag im zweiten Obergeschoß unmittelbar unter

Scarletts Mansarde. Schon in der vergangenen Nacht hatte er geglaubt, daß die Geräusche aus der Mansarde zu ihm drangen.

Er wartete noch kurz ab, hoffte inbrünstig, daß es wieder still werden würde.

Aber als plötzlich ein schwerer, dumpfer Schlag erfolgte, sprang er aus dem Bett. Das hatte geklungen, als sei in der Mansarde ein Mauerstein aus der Wand gefallen. Durch die

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Erschütterung zitterte sogar die Deckenlampe in Barnets Zimmer.

In fliegender Eile schlüpfte er in seine Pantoffeln, zog den Morgenmantel über und hastete auf den Korridor hinaus. Das Zimmer seiner Mutter lag eine Etage tiefer auf der anderen Seite des Hauses. Obwohl Mrs. Dorothy ja stets behauptete, die ganze Nacht über kein Auge schließen zu können, schien sie fest zu schlummern und nichts zu hören.

Doch Barnet hörte es ganz deutlich, dieses unheimliche Rumoren in den Mauerwänden der Mansarde und dieses herzzerreißende Jammern und Wehklagen, das nicht verstummen wollte.

Er rannte die Treppe hinauf. Vor der Tür, die in Scarletts Zimmer führte, blieb er noch

eine Sekunde unschlüssig stehen, als ein markerschütternder Schrei ihn zusammenzucken ließ.

Es war Scarlett, die schrie! Barnet geriet in Panik, riß die Tür auf und knipste das Licht

an. Die unheimlichen Geräusche verstummten abrupt. In dem Zimmer war alles in Ordnung, auch die Wände waren

intakt. Nur der schwere Leuchter, der auf einer Konsole in

Reichweite des Bettes stand, war heruntergefallen, und das mußte der dumpfe Schlag gewesen sein, den Barnet gehört hatte. Von allein, grübelte er, fiel ein Leuchter nicht herunter! Folglich, überlegte er vernünftig, mußte Scarlett sich im Schlaf ungestüm bewegt und den Leuchter dabei unabsichtlich heruntergestoßen haben.

Er horchte. Nichts rührte sich mehr. So abgründig still war es, daß Barnet nur seinen eigenen

Atem hörte.

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Scarlett mußte sehr flach atmen, und sie bewegte sich auch nicht.

Schlief sie wirklich? Ihr Gesicht war schneeweiß und wie erloschen. Mit merkwürdig verrenkten Gliedern lag sie da, die gespreizten Hände wie in stummer Abwehr verzweifelt von sich gestreckt.

Diesen schrecklichen Anblick ertrug Barnet nicht, das hielt er nicht aus.

Er lief zu Scarlett hin und berührte sie vorsichtig an der Schulter. »Wach auf, Lettie!« flehte er. »Bitte, wach doch auf!«

Sie seufzte und holte so tief Luft, als habe sie schon eine lange Weile nicht mehr geatmet. Ihre verrenkten Glieder entspannten sich, auch ihre Hände entkrampften sich, und etwas Farbe kehrte in ihr blutleeres Gesicht zurück.

»Komm zu dir, Lettie!« bat Barnet verzweifelt. »Ich bin bei dir! Hörst du mich denn nicht?«

Ganz langsam machte sie die Augen auf, sah ihn an und flüsterte erleichtert: »Oh, es ist gut, daß du da bist, Barnet.« In ihrem Blick lag ein Grauen, das ihn erschütterte.

»Was war los, Lettie?« forschte er behutsam. »Was hat dich so sehr erschreckt?«

»Es war wieder dieser gräßliche Traum«, antwortete sie tonlos.

»Was für ein Traum, Lettie?« »Er kommt immer wieder.« Sie bebte, als habe sie ihre

Muskeln nicht mehr unter Kontrolle, zitterte schließlich wie Espenlaub im kalten Wind.

Barnet setzte sich neben sie, nahm sie in seine Arme und wärmte sie. »Nun mal der Reihe nach, Lettie.« Behutsam versuchte er, sie zum Reden zu bringen. »Es ist immer der gleiche Traum, sagst du?«

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»Ja, immer derselbe.« Das furchtbare Zittern ließ ein wenig nach, aber sie hatte immer noch eiskalte Hände. »Es fängt damit an, daß ich Geräusche höre, und ich glaube jedesmal, sie wecken mich auf, aber das stimmt nicht, in Wirklichkeit schlafe ich weiter. Es ist wie ein Traum im Traum, verstehst du? Und er fängt immer mit diesen Geräuschen an!« Sie hielt sich die Ohren zu, flüsterte: »Es sind grauenvolle Geräusche! Oh, wenn du sie hören könntest, Barnet!«

Er hatte sie gehört. Aber das sagte er ihr nicht, um sie nicht noch mehr zu verstören. Er wollte auch erst wissen, ob es wirklich dieselben Geräusche waren, die er gehört hatte. »Was für Geräusche sind das denn, Lettie?«

»Da stöhnt jemand, weißt du, ächzt und jammert, als sei er eingesperrt und könne nicht heraus, und dann ist es, als kratze er an einer Mauer…« Sie brach ab und verstummte.

Barnet spürte, daß seine Nackenhaare sich sträubten. Es waren dieselben Geräusche, die auch er gehört hatte, und ihn hatten sie tatsächlich aufgeweckt.

»Wo bist du denn in deinem Traum im Traum?« wollte er wissen.

»In einem Haus.« »Kannst du es beschreiben?« »Ja. Es ist alt, leer und häßlich. Es steht hinter einem Zaun,

der Lücken hat. Ich bin in der Küche, und der Wasserhahn tropft. In einer Ecke liegen leere Bierdosen und alte Zeitungen. Das Fenster ist zersprungen und mit einer Latte vernagelt.«

Solche verwahrlosten alten Häuser gab es viele. Barnet kannte sich durch seinen Job da bestens aus. Er hielt sich nie gern in einem derartigen Haus auf, was gelegentlich anläßlich von Besichtigungen freilich unumgänglich war. »Man sollte sie abreißen«, murmelte er und wollte wissen, was weiter in Scarletts Traum geschah. »Was geschieht dann, Lettie?«

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»Nichts.« Sie schmiegte sich enger an ihn, weil das Zittern wiederkam und auch die Angst. »Es geschieht nichts, Barnet. Da ist nur eine Gefahr, eine Bedrohung, und ich habe eine wahnsinnige Angst. Ich will schreien und habe keine Stimme…«

»Vorhin hast du aber geschrien«, unterbrach Barnet. »Deshalb bin ich ja hereingekommen.«

»Mein Schreien hat dich aufgeweckt?« »Nein, das hat der Leuchter besorgt, der von der Konsole

gefallen ist. Ich schätze, du hast dich in deinem Traum lebhaft bewegt und ihn heruntergestoßen.«

Scarlett überlegte angestrengt. »Ich weiß nicht, ob ich das getan habe, Barnet.«

»Wie kannst du es wissen, wenn du doch geschlafen hast?« Er blieb ruhig und vernünftig. »So ein gabeliges, schweres Ding, das noch dazu auf einer wackligen Konsole steht,bekommt schnell das Übergewicht.«

»Ja, das ist wahr«, stimmte Scarlett merklich erleichtert zu. Der Bann des Grauens, unter dem sie stand, fing an, sich zu verflüchtigen. Sie fühlte sich leichter. »Es war wirklich schrecklich, Barnet. Ich habe Angst vor diesem Traum!«

Das sei durchaus verständlich, meinte er und wollte sie eigentlich fragen, ob sie denn irgendwann einmal in einem ähnlichen Haus wie in ihrem Traum gewesen sei. Er unterließ es dann aber lieber, weil er befürchtete, Scarlett erneut aufzuregen. Sie stand zweifellos unter Schock, und er dachte, daß es sicher besser gewesen war, sie abzulenken, statt weiter an dem unheimlichen Thema herumzuhäkeln. Deshalb schlug er betont munter vor: »Wie wäre es, wenn wir uns in der Küche eine Schokolade kochen so wie früher?«

Das hatten sie als Kinder immer gemacht, wenn die Barneys ausgegangen waren, sie allein zusammen in dem Haus gewesen waren und Angst bekommen hatten.

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»Das wäre gut!« Scarlett war sofort damit einverstanden. Sie hatte sich einigermaßen beruhigt. »Gibst du mir bitte meinen Morgenmantel herüber, Barnet?«

»Ja, gerne.« Der Morgenmantel lag über dem Schemel, der vor der Frisierkommode stand. Als Barnet hinüberging, um den Morgenmantel zu holen, blickte er sich unauffällig um und war eigentlich sicher, daß die Gefahr, die Scarlett bedrohen mochte, nicht von diesem Raum ausging. Er hatte ein sicheres Gespür dafür, ob Räume eine gute oder eine böse Ausstrahlung hatten, und eine böse Ausstrahlung hatte die Mansarde nicht.

Trotzdem war ihm die ganze Sache nicht geheuer. Was ihn am meisten irritierte, war die Tatsache, daß er die Geräusche, die Scarlett vernommen hatte, ja selbst auch gehört hatte und in dieser Nacht nun schon zum zweiten Mal! Das beunruhigte ihn sehr.

Es war doch nicht möglich, überlegte er, daß sie akkurat zur gleichen Zeit die gleichen Träume träumten? Aber selbst wenn dies so gewesen wäre, hätte es noch nicht erklärt, wieso er die Geräusche ja auch in wachem Zustand deutlich vernommen hatte. Sie waren erst verstummt, als er die Tür zu Scarletts Zimmer aufgemacht und das Licht angeknipst hatte. Ziemlich merkwürdig, fand er, war das schon.

Während sie miteinander die Treppe hinuntergingen, schlug er spontan vor, doch für ein paar Nächte die Zimmer zu wechseln. »Das klingt jetzt vielleicht albern, aber es wäre einfach eine Beruhigung für mich. Du siehst in den letzten Tagen nämlich gar nicht gut aus, Lettie, und um ehrlich zu sein, ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht!«

Zu seinem Erstaunen widersprach Scarlett seinem Vorschlag nicht, wie er es eigentlich erwartet hatte. Sie meinte nur: »Deiner Mutter wird das aber gar nicht gefallen!«

»Muß sie es erfahren?« fragte Barnet.

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»Wenn du es ihr nicht verrätst, ich sage es ihr bestimmt nicht!« Scarlett konnte wieder ein wenig lachen, aber ein bißchen kläglich war dieses Lachen doch.

Sie gaben sich große Mühe, leise zu sein, um nur ja Mrs. Dorothy nicht zu alarmieren, die sich ja angeblich immer schlaflos in den Kissen wälzte.

Die Schokolade kochten sie in der Küche gemeinsam zusammen, so wie sie das auch früher immer gemacht hatten. Als sie dann mit den dampfenden Tassen am Küchentisch saßen, wollte Barnet doch noch wissen, seit wann Scarlett denn von diesem Alptraum geplagt würde.

»Zum ersten Mal passierte es in dem Cottage in Cornwall, in der Nacht von Sonntag auf Montag, und dann vorgestern und gestern wieder.«

Wenn Scarlett von dem Traum auch in dem Cottage heimgesucht worden war, folgerte Barnet, wurde er demnach also nicht durch ihren Aufenthalt in einem bestimmten Raum ausgelöst. Trotzdem beharrte er darauf, daß sie die Zimmer tauschen sollten. »Nur vorübergehend, für einige Zeit, Lettie!«

»Und du glaubst, das wird etwas nützen?« Scarlett stellte die gleiche Überlegung an wie er, merkte Barnet. »Der Traum«, fügte sie noch hinzu, »hat mich doch auch in dem Cottage verfolgt.«

»Ich nehme aber an, du wirst sicher entspannter einschlafen, wenn du in einem anderen Zimmer bist, oder was meinst du?«

Doch, das meine sie auch, gab Scarlett zu. »Ich bin dir sehr dankbar, Barnet. Du bist so lieb und ritterlich!«

»Das ist doch wohl selbstverständlich«, brummte er. »Jeder andere würde genauso handeln!«

»Jeder nicht«, widersprach Scarlett, und sie meinte das ehrlich. Sie wollte nicht, daß Barnet seinen Verdienst aus Bescheidenheit schmälerte. Freilich dachte sie, daß der Pirat bestimmt genauso gehandelt hätte wie Barnet.

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In diesem Augenblick war sie ganz nahe daran, Barnet alles anzuvertrauen, ihre Begegnungen mit dem Pirat, ihre Reise nach Irland und was sie dort erlebt hatte und daß sie die häßliche Kulisse, in der ihr Alptraum spielte, sehr wohl kannte, weil sie ja schon einmal dort gewesen war. Vor allem wollte sie ihm sagen, daß der gefürchtete Captain O’Conell ihr Vater war und daß die Leute auf der Insel sie deshalb für eine Hexe hielten.

Aber dann tat sie es doch nicht, sondern schwieg. Vielleicht einfach nur, weil sie durch das schreckliche Traumerlebnis zu erschöpft war, um große Erklärungen abzugeben, und das hätte sie ja tun müssen, damit Barnet die Zusammenhänge begreiflich geworden wären.

Eine Weile rührten sie beide stumm in ihrer Schokolade herum.

Schließlich fragte Scarlett zaghaft: »Glaubst du eigentlich an Geister, Barnet?«

»An Gespenster, meinst du?« Er rührte etwas heftiger in seiner Tasse. »Ich weiß nicht.« Das Hausgespenst von Cliffwood-Castle fiel ihm ein und was sein Freund Randy ihm noch alles darüber erzählt hatte. Das verunsicherte ihn etwas. Trotzdem erklärte er nach kurzem Überlegen: »Nein, ich denke nicht, daß ich an Gespenster glaube. Du etwa?«

»Ja, ich schon«, antwortete Scarlett fest. »Nicht an solche Gespenster in weißen Wallegewändern, die Leute erschrecken oder so«, setzte sie schnell hinzu. »Aber an Geister glaube ich, an Kräfte, die aus einer anderen Welt zu uns herüberkommen, an magische Strömungen, oder nenne es, wie immer du willst. Und ich halte es auch nicht für ausgeschlossen, daß diese Kräfte sich unter gewissen Umständen materialisieren können, daß sie sichtbar werden, jedenfalls für Menschen, die eine Antenne dafür haben.«

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Also diese Antenne habe er nicht, versicherte Barnet. »Wie könnte ein Mann, der mit Immobilien handelt, eine solche Antenne haben?«

Scarletts Blick verriet einen leisen Zweifel. »Immerhin hast du aber ein sehr sicheres Gespür dafür, ob ein Haus eine gute oder eine böse Ausstrahlung hat.«

Das sei richtig, räumte Barnet widerstrebend ein. »Aber das ist eher Routine, schätze ich.«

Scarlett war da anderer Ansicht. »Das hat doch mit Routine nichts zu tun!« widersprach sie lebhaft. Nach kurzem Nachdenken setzte sie noch hinzu: »Ich überlege jetzt nur, wenn Häuser böse oder gute Ausstrahlungen haben, dann müßte es ja eigentlich auch gute und böse Geister geben, oder?«

Wenn sie das so sehe, sei das wohl anzunehmen, räumte Barnet zögernd ein. Man merkte ihm deutlich an, daß dieses Thema ihm suspekt war und daß er es lieber nicht weiter erörtern wollte. »Dann wären es wohl gewisse Einflüsse, denen wir unterliegen?« vermutete er. »Die bösen Geister wären wohl so etwas wie Dämonen oder Hexen.«

»Kannst du dir vorstellen, daß ich eine Hexe bin, Barnet?« unterbrach Scarlett ihn bedrückt.

»Du? Eine Hexe?« rief Barnet empört. »Nein, das kann ich mir nicht vorstellen! Warum fragst du nur so etwas Törichtes, Lettie?«

»Weil die Dämonen und Hexen sicher kein Schild umhängen haben, auf dem geschrieben steht, daß sie böse Geister sind«, antwortete Scarlett leise. »Und vielleicht wissen sie es selbst nicht einmal, daß sie böse Geister sind?«

Es lag etwas im Ton ihrer Stimme und auch in ihrem Gesichtsausdruck, das Barnet seltsam vorkam und ihn erschreckte. Es war fatal, daß er an seine Mutter denken mußte, die Scarlett immer eine ›irische Hexe‹ nannte.

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Gleichzeitig fiel ihm auch ein, daß Scarlett manche Dinge, die später tatsächlich eintrafen, schon im voraus wußte. Bisher hatte er sich darüber amüsiert, vor allem über ihren abwesenden Blick, den sie in solchen Momenten immer hatte.

Nun irritierte ihn das plötzlich, aber er dachte, daß es sicher auch gute Hexen gab, und er bat schnell: »Verrate mir lieber, wer wohl die guten Geister sind?«

»Vielleicht unsere Schutzengel?« vermutete Scarlett nachdenklich.

Das alles war Barnet zu hoch. »Ach, ich komme damit nicht zurecht«, wehrte er. »Und ich mag das auch nicht vertiefen. Ich bin nun einmal Realist, wie du weißt.«

Scarlett respektierte seine Scheu, über derlei Dinge zu reden, und sie meinte fürsorglich: »Trinke deine Schokolade, Barnet, solange sie noch heiß ist. Mit hat sie gutgetan. Es geht mit jetzt schon sehr viel besser.« Sie unterdrückte ein Gähnen. Auf einmal war sie wohltuend müde.

Draußen wurde es schon hell. Es war kurz nach vier Uhr in der Frühe.

Die Nacht war vorüber. »Wir sollten versuchen, noch etwas Schlaf zu erwischen«,

meinte Barnet. »Ja«, stimmte Scarlett zu, und sie mußte wieder herzhaft

gähnen. »Gehen wir. Sonst läutet Mrs. Dorothy schon nach dem Frühstück!«

*

Das Frühstück stand zur gewohnten Zeit auf dem Tisch. Scarlett und Barnet waren beide ein bißchen blaß um die Nase,

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doch sie erwähnten das unheimliche nächtliche Zwischenspiel nicht mehr.

Barnet erzählte Scarlett vielmehr ausführlich von dem Projekt, das er am Vortag im Club mit seinem Freund Randy zusammen ausgetüftelt hatte. Er barst schier vor Mitteilungsdrang, zog seine Neuigkeiten wie aus einer Wundertüte und breitete sie auf dem Küchentisch zwischen Porridge, Toast und Orangenkonfitüre aus.

Scarlett, die ihm aufmerksam zuhörte, war sehr blaß, und sie hatte auch keinen Appetit. Sie rührte ihren Teller mit Porridge kaum an, krümelte an einem Stück Toast herum und trank nur durstig eine Tasse Tee.

Barnet bemerkte das wohl, und es erfüllte ihn mit Sorge, aber er dachte, daß es sicher besser sei, Scarlett nicht darauf anzusprechen. Was sie in der vergangenen Nacht zusammen erlebt hatten, war ihm einfach zu unheimlich, um daran zu rühren, und so konzentrierte er sich lieber auf die großartige Idee, die ihn ungeheuer beschäftigte.

»Die Idee hat freilich Randy gehabt und nicht ich!« gestand er ehrlich, denn er war kein Typ, der sich mit fremden Federn schmückte. »Aber ich finde sie einfach genial. In dem Testament steht nämlich nicht, in wessen Besitz das Schloß verrotten muß. Das ist doch eine tolle Chance für uns, wenn du verstehst, was ich meine?«

Scarlett hatte schon verstanden und sie staunte. »Soll das vielleicht heißen, daß du das Schloß…«

»Genau das!« fiel Barnet ihr aufgeregt ins Wort, und er platzte mit dem Knalleffekt der genialen Idee heraus. »Wir werden das Schloß dem Emir unter den Burnus jubeln! Wie findest du das?«

»Gut! Falls du das Geschäft ohne deine Mutter machst!« »Jawohl, das werde ich tun!« Barnet rieb sich tatendurstig die

Hände. »Ich sehe das auch als meine ganz persönliche Chance,

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und wir werden einen schönen Batzen dabei verdienen. Randy will sich mit seinem Anteil in die Südsee absetzen.«

»Und du wirst mit deinem Anteil deine Mutter auszahlen und die Firma künftig allein führen!« ergänzte Scarlett energisch.

»Du machst also mit?« »Ich? Was soll ich denn dabei machen?« »Du sollst einfach bei mir sein, Lettie!« erklärte Barnet

treuherzig. »Mit dir zusammen werde ich es nämlich schaffen!« Das war durchaus die Wahrheit, aber außerdem ging es ihm auch darum, in Scarletts Nähe zu bleiben und sie nicht das ganze Wochenende über allein zu lassen. Er mußte sie doch beschützen, wenn der schreckliche Traum wiederkam! »Ehrlich, ich brauche deine Hilfe, Lettie!«

»Wenn du das meinst, Barnet?« »Ja, das meine ich!« bekräftigte er. »Ich bin stärker, wenn du

bei mir bist.« »Und wie soll die Sache laufen?« »Randy hat alles schon eingefädelt. Wir treffen uns am

Freitag mit dem Emir und der Prinzessin in Schloß Cliffwood.«

»Und zu diesem Treff soll ich mitkommen?« »Ja.« Barnet hatte in aller Frühe bereits mit Lord Randolph

telefoniert und ihm vorgeschlagen, doch Scarlett mitzunehmen. »Randy freut sich, wenn du dabei sein wirst.«

»Und was wird deine Mutter dazu sagen?« »Nichts.« Es war erstaunlich, welche Tatkraft Barnet

plötzlich entwickelte. Den rettenden Einfall hatte freilich wieder Lord Randolph gehabt. »Ich werde Mama klarmachen, daß Randy und ich, gemäß der Landessitte des Emirs wegen der Prinzessin in weiblicher Begleitung erscheinen müssen.«

»Das wird deine Mutter aber freuen!« unkte Scarlett. »Sie wird eure Begleitung sicher mit Vergnügen übernehmen!«

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»Das geht nicht!« frohlockte Barnet, und Lettie dachte, daß Lord Randolphs Phantasie unerschöpflich sein mußte. »Unsere Begleitperson, sagt Randy, muß nämlich eine unverheiratete Frau sein!«

»Das ist natürlich eine Lösung!« Scarlett mußte ein wenig lachen. Sie war ja so glücklich darüber, daß Barnet sich endlich dazu aufraffte, eigene Wege zu gehen, ohne sich von seiner Mutter gängeln zu lassen. Sie sah darin wirklich eine echte Chance für ihn. »Freitag findet der Treff statt, sagst du? Aber das ist doch schon morgen?«

»Ja, und ich habe noch wahnsinnig viel zu tun!« Barnet beendete sein Frühstück hastig und sprang auf. »Du kommst also mit nach Cliffwood?«

»Habe ich dich je im Stich gelassen?« »Noch nie, nein. Das ist wahr. Danke, Lettie!« »Und wann willst du es deiner Mutter sagen?« »Ich rufe sie von meinem Büro aus an.« Als er schon unter der Tür stand, sagte Scarlett noch rasch:

»Ich habe übrigens auch eine Idee, Barnet.« Sie wurde einen Schein blasser, als sie nun doch auf das unheimliche nächtliche Intermezzo zurückkam. »Wie wäre es, wenn ich in dem Gästezimmer schlafe, das neben deinem Zimmer liegt? Dann müßte ich dir dein Bett nicht wegnehmen…«

»Ach, das wäre mir egal«, unterbrach Barnet ehrlich. »Aber die Idee ist gut. Dann können wir nämlich die Verbindungstür zu meinem Zimmer offenlassen, und ich bin unmittelbar in deiner Nähe. Das wäre echt eine Beruhigung für mich! Ich werde es auch Randy sagen, daß wir in Cliffwood-Castle zwei Zimmer mit einer Verbindungstür bekommen.« Er überlegte kurz. »Ich sage einfach, du fürchtest dich vor Lord Henry!«

Die Einfallsfreude des phantasiebegabten jungen Lords schien auf Barnet abzufärben, stellte Scarlett fest, und sie mußte abermals lachen.

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Es erleichterte Barnet sehr, daß Scarlett mit dem schlimmen Erlebnis ihres grausigen Traums recht gut fertigzuwerden schien. »Also, bis dann!« verabschiedete er sich. »Jetzt sause ich erstmal in mein Büro.«

Schon während der Fahrt in die City legte er sich seinen Plan für den Tag zurecht. Es war unglaublich, was er alles bedenken und veranlassen mußte, wenn er den Verkauf des Schlosses schnellstmöglich hieb- und stichfest unter Dach und Fach bringen wollte.

Deshalb pflegte er auch einen ständigen Telefonkontakt mit Lord Randolph, der sich bereits in Cliffwood-Castle aufhielt. Sie durften nichts übersehen, oder vergessen und keinen Paragraphen außer acht lassen, damit der Verkaufs vertrag so korrekt abgefaßt wurde, daß Cliffwood-Castle unverzüglich nach Lord Henrys Erscheinen für viele Millionen den Besitzer wechseln konnte.

Just Lord Henrys Erscheinen aber war es, das Barnet Sorge bereitete.

Als er in seinem Büro angekommen war, rief er sofort wieder in Cliffwood-Castle an. »Mich plagt der casus knacksus der Geschichte, Randy«, formulierte er salopp. »Was machen wir, wenn Lord Henry nicht erscheint? Es ist zwar Freitag, aber kein Vollmond!«

»Und wenn schon?« Lord Randolph tat so, als sei er seines spukenden Ahnherrn absolut sicher. Aber Barnet kannte den Freund zu gut, und er traute ihm nicht recht. Deshalb hakte er nach. »Was meint denn Timothy dazu?«

»Oh, Timothy meint, auf den Vollmond komme es nicht unbedingt an!« beteuerte Lord Randolph etwas hohl.

»Er meint also, daß Lord Henry unberechenbar ist«, brachte Barnet es auf den Punkt. »Oder mit anderen Worten, daß er nicht regelmäßig spukt?«

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»Nein, das nicht gerade«, räumte Lord Randolph ein. »Regelmäßig tut er es nicht. Das wäre ja auch langweilig, oder? Der unselige Henry liebt Überraschungseffekte und setzt auf zeitliche Zwischenräume. Wir haben ja gerade einen Zwischenraum gehabt, denn seit Onkel Halifax’ Tod ist er nicht mehr erschienen. Aber die Spuren seiner letzten Attacke sind noch deutlich sichtbar!«

Das sei ja immerhin etwas, meinte Barnet, und er seufzte. »Weißt du, es wäre recht peinlich für mich, wenn ich Cliffwood als Gespensterschloß anpreise, und nachher wird Lord Henry gar nicht aktiv!« Er hatte noch ein anderes brennendes Problem auf dem Herzen. »Hast du mit Sir Wilmont inzwischen endlich über unseren Plan gesprochen?«

Vor dem heiklen Gespräch mit dem Anwalt und Freund seines Onkels hatte Lord Randolph sich nämlich bisher gedrückt.

»Noch nicht, Barnet«, bekannte er zerknirscht. »Das heißt, ich habe natürlich versucht, ihn zu erreichen, aber er war immer gerade nicht da, ob du es glaubst oder nicht.«

Barnet glaubte es nicht. »Dann versuche es noch einmal!« empfahl er dringend. »Ich möchte keinen Reinfall erleben, falls wir irgendeine juristische Finesse des Testaments übersehen haben sollten und das Schloß doch unverkäuflich ist.«

Lord Randolph warf den Ball des Vorwurfs geschickt zurück. »Und hast du inzwischen mit deiner Mutter gesprochen?«

»Noch nicht«, mußte Barnet zugeben. »Aber ich erledige das gleich. Ich rufe sie sofort an.«

Das tat er auch, und er gab sich telefonisch so ungewöhnlich energisch und entschlossen, daß Mrs. Dorothy nichts anderes übrig blieb, als zu akzeptieren, daß sie bei dieser Sache außen vor blieb.

»Du wirst natürlich die irische Hexe als Begleitung mit nach Cliffwood-Castle nehmen, nicht wahr?« stichelte sie.

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Es reizte Barnet maßlos, daß seine Mutter wieder ›irische Hexe‹ sagte, doch er blieb ruhig. »Richtig, Mama. Lettie wird mich begleiten.«

»Na fein!« zischte Mrs. Dorothy beleidigt, und sie legte grußlos auf.

Barnet trug es mit Fassung. Er rief Lettie an und sagte ihr, daß die Sache mit seiner Mutter gelaufen sei. »Sie weiß Bescheid, und du kannst schon einmal unsere Weekend-Koffer packen.«

»Ja, ist gut, mache ich, Barnet.« »Ist sonst noch was?« forschte er besorgt, weil Scarletts

Stimme irgendwie bedrückt klang. »Ich überlege nur, wie du dich aus der Affäre ziehen kannst,

falls Lord Henry nicht spuken sollte?« Das überlegte Barnet auch schon pausenlos. »Wir sollten

positiv denken«, schlug er vor. »Lord Henry wird schon spuken! Er muß es einfach tun!«

»Geister lassen sich nichts befehlen«, warnte Scarlett. »Aber mir macht auch noch etwas anderes Sorgen, Barnet.«

»Und was?« »Der Wetterbericht. Zu einem Gespensterschloß gehören nun

einmal Nebel, Wind und Regen. Wenn das Wetter schön ist, sieht Cliffwood-Castle bestimmt freundlich, harmlos und friedlich aus. Das wird dem Emir nicht gefallen. Und der Wetterbericht prophezeit für das ganze Wochenende Windstelle, Wärme, blauen Himmel und Sonnenschein!«

»Dann«, trumpfte Barnet auf, »wird es genau richtig! Denn der Wetterbericht stimmt nie!«

*

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Bis zum Morgen behielt der Wetterdienst recht. Doch am Freitag gegen Mittag zogen Wolken auf, es regnete

sich allmählich ein, und als die Dämmerstunde nahte, brodelten die Cornwall-Nebel wie giftige Dämpfe in einer Hexenküche.

Lord Randolph war mit dieser Gruselkulisse der Natur sehr zufrieden.

»Ist alles zum Empfang unserer Gäste bereit, Timothy?« erkundigte er sich unternehmungslustig.

»Sehr wohl, Mylord.« Timothy war seit dem Tod seines Herrn richtig

zusammengeschrumpft, war noch hagerer und ein bißchen kleiner geworden. Lord Randolph hatte ihn ins Vertrauen gezogen, und er wußte Bescheid, um was es ging.

Mit besorgter Miene warnte er: »Ohne Vollmond funktioniert das aber wahrscheinlich nicht! Und Lord Henry spukt sowieso nie auf Befehl. Einmal war drei Monate lang ein Parapsychologe hier, um ihm auf die Schliche zu kommen. Aber Lord Henry hat ihm etwas gehustet. Kaum war der Parapsychologe fort, war Lord Henry da!«

Lord Randolph ließ sich davon nicht entmutigen. »Timothy! Wenn alles wie geplant klappt, sorge ich dafür, daß Sie das kleine Gärtnerhaus beziehen können, das außerhalb der Gefahrenzone liegt. Und ich werde auch dafür sorgen, daß es Ihnen an nichts für einen geruhsamen, schönen Feierabend fehlt.«

Dafür hatte schon Lord Halifax in seinem Testament gesorgt. Doch darauf kam es Timothy gar nicht an. »Das mit dem Gärtnerhaus ist sehr freundlich von Ihnen, Mylord«, murmelte er dankbar. »Ich glaube, mir würde das Herz brechen, wenn ich Cliffwood-Castle verlassen müßte.«

»Dann helfen Sie mir, Timothy! Wissen Sie nicht irgendeinen Trick, wie man Lord Henry dazu bringen kann zu spuken?«

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»Leider nein, Mylord.« Betrübt schüttelte Timothy den Kopf. »Lord Henry macht, was er will. Man kann da gar nichts tun.«

»Na schön, dann werde ich ihn mir mal zur Brust nehmen«, entschied Lord Randolph.

Entschlossen trat er vor das Portal hinaus, schlug den Kragen seiner Samtjoppe hoch, damit es ihm nicht ins Genick nieselte, blickte konzentriert in den Nebel und sprach: »Hey, Henry Cliffwood! Wir müssen miteinander reden!«

Der Nebel wallte, doch sonst tat sich nichts. Beschwörend fuhr Lord Randolph fort: »Du weißt so gut wie

ich, daß Onkel Halifax uns durch sein Testament ein Bein gestellt hat. Er hat uns ausgetrickst! Ich bin die Millionen los, und du wirst bald das Schloß los sein. Wir sollten uns arrangieren. Findest du nicht auch?«

Gespannt wartete er auf eine Reaktion des Hausgespenstes, auf ein Zeichen oder so etwas.

Als sich nichts tat, probierte er es auf die kumpelhafte Tour. »Köpfchen, Henry! Wenn wir zusammenhalten, tricksen wir Onkel Halifax lässig aus. Du machst dein Spiel, ich verhökere das Schloß, und wir sind beide aus dem Schneider.«

Wo immer das Hausgespenst von Cliffwood-Castle sich aufhalten mochte, es reagierte nicht.

Lord Randolph nahm mutig einen dritten Anlauf. Er ließ alle Hemmungen beiseite und riskierte es, respektlos zu werden.

»Es ist schließlich kein Geheimnis, Henry Cliffwood, daß du zu deinen Lebzeiten hinter Geld, Gewinn und Macht hergewesen bist wie der Teufel hinter armen Seelen. Man erzählt sich noch heute, daß du in der Wahl deiner Mittel nicht gerade zimperlich gewesen bist…«

Plötzlich funkelten ihn runde gelbe Augen bösartig an. Der eben noch so kühne junge Lord wurde ziemlich kleinlaut und verstummte abrupt. Die Augen bewegten sich, kamen näher, und der Nebel blies sie wie Gummibälle auf.

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Lord Randolph räusperte sich. War er zu weit gegangen? Hatte er die Gefühle seines spukenden Ahnherrn verletzt? »Nichts für ungut, Henry Cliffwood«, murmelte er. »Ich will ja nur dein Bestes. Und mein Bestes natürlich auch.«

Es war ihm recht peinlich, als er merkte, daß die gelben Augen die Nebellampen der Gästeautos waren, die den Hügel heraufkamen.

Timothy hörte die Wagen kommen und schaltete die Außenbeleuchtung ein.

Die Lichter verfingen sich in den auf und nieder wogenden Nebelschwaden wie Fledermäuse in einem Spinnennetz. Schloß Cliffwood mit seinen Zimmern und Türmen sah wie die Gruselkulisse eines Horrorfilms aus.

Lord Randolph eilte die Freitreppe hinunter, um seine Gäste zu begrüßen. Mit riesigen Gästeschirmen bewaffnet, kam Timothy hinter ihm her gehumpelt.

Der Emir chauffierte seinen Rolls selbst, und er war beileibe nicht in einen Burnus gehüllt, unter den man ihm das Schloß hätte jubeln können, sondern war in britische Maß-Eleganz gewandet. Er war ein geistvoller, kultivierter Mann, der in England studiert hatte und sein kleines Emirat am Persischen Golf klug und umsichtig regierte.

Seine Lieblingstochter Yasemine trug freilich den landesüblichen Shador, und sie bewegte sich darin mit zauberhafter Anmut.

Der berühmte ›Schleier‹, der außer den Augen alles verhüllte, faszinierte Lord Randolph. Er ertrank schier in der rätselvollen Glut der dunklen Mädchenaugen der Prinzessin aus dem Morgenland. Bei jeder ihre graziösen Gesten deutete der weite Faltenwurf ihres Gewandes an, welche Köstlichkeiten es verbarg.

Das mußte ja, erkannte. Lord Randolph, die Neugier eines Mannes bis zum Wahnwitz reizen!

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Beinahe vergaß er in seiner Verzückung, seine zwei anderen Gäste zu begrüßen.

Barnet hatte, wie es abgesprochen war, Scarlett mitgebracht. Lord Randolph und Scarlett kannten sich flüchtig, und der junge Lord hieß sie herzlich in Cliffwood-Castle willkommen.

Unter den gewaltigen Regenschirmen vollzog sich feierlich der Einzug der Gäste in das Schloß.

Der Emir war beeindruckt. Die Prinzessin gab einen leisen Kehllaut des Entzückens von

sich, als sie die riesige Wohnhalle betraten und Lord Randolph auf die Spuren der letzten Sintflut hinwies, die sein spukender Ahnherr heraufbeschworen hatte.

Barnet fühlte sich angesichts dessen unbehaglich. Eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken. Die feuchten Flecken an der stuckverzierten Decke, die Risse in den aufgequollenen Seidentapeten, die schadhaften Stellen auf dem Parkett und der leise Modergeruch, der in der Luft hing, all dies flößte ihm Furcht ein.

»Das ist ziemlich unheimlich, findest du nicht auch?« flüsterte er Scarlett zu.

Sie reagierte nicht. Besorgt stellte er fest, daß sie vollkommen abwesend wirkte.

Sie schien unter irgendeinem Bann zu stehen. Ihre Augen waren weit geöffnet, die Pupillen wirkten etwas verengt, gläsern und starr.

Barnet berührte sanft ihren Arm, und sie schrak zusammen. »Was ist denn los mit dir?« forschte er beunruhigt. »Nichts«, versicherte Scarlett erstaunt. »Was sollte denn mit

mir los sein?« »Ich weiß nicht. Du hast nur eben so merkwürdig

ausgesehen. Es geht dir bestimmt gut, ja?« »Ja, natürlich.«

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Lord Randolph bat zu Tisch. Man habe schließlich eine lange und hoffentlich aufregende Nacht vor sich, meinte er launig, und deshalb sei es wichtig, sich tüchtig zu stärken.

Auch das an die Wohnhalle angrenzende Speisezimmer trug deutliche Spuren von Lord Henrys letztem nassen Besuch im Schloß, doch ganz so schlimm wie in der Wohnhalle war es hier nicht.

Die Tafel war festlich gedeckt. Rosen aus den Cliffwood-Gärten, Silber, Kristall und edles Porzellan sorgten für eine festliche Umrahmung des Mahles. Timothy hatte sich angestrengt! Zu dem unvermeidlichen Freitags-Huhn gab es erlesene Beilagen, Safranreis und Kürbissalat. Lord Randolph bot an Getränken das Edelste aus dem Cliffwood-Keller auf. Zu seinem Bedauern tranken seine morgenländischen Gäste jedoch keinen Alkohol, sondern begnügten sich mit Orangensaft und Sodawasser.

Die Unterhaltung bestritt vor allem der Emir amüsant und geistreich.

Lord Randolph und Prinzessin Yasemine kamen mit den Augen nicht voneinander los, und ihr Umfeld versank für die beiden irgendwie.

Scarlett wirkte zu Barnets Erleichterung nun gelöst und ganz locker, aber er selbst fühlte sich absolut nicht wohl in seiner Haut.

Natürlich war er mit seinem Freund Randy zusammen schon wiederholt zu Gast in Cliffwood-Castle gewesen, und eigentlich hatte er immer den Eindruck gehabt, daß dieses Haus trotz Lord Henrys gelegentlichem Wüten eine gute Ausstrahlung besaß. Nun war er sich dessen auf einmal nicht mehr so sicher.

Der Emir bemerkte beiläufig sehr liebenswürdig, daß er, nachdem seine Geschäfte in London abgewickelt waren, der Suche nach einem Gespensterschloß zu seinem Bedauern nicht

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mehr viel Zeit widmen könne. »Allzulange sollte man seinen Freunden und seinem Volk nicht fernbleiben.«

Barnet begriff den freundlichen Wink, während sein Freund Randy, der von dem Charme der Prinzessin hingerissen war, überhaupt nicht reagierte. Auch die Prinzessin schien von dem jungen Lord entzückt zu sein und hörte ihrem Herrn Papa überhaupt nicht zu.

Ihr Vater hingegen behielt einen kühlen Kopf, denn schließlich ging es bei dem Kauf des Schlosses ja um einen Millionen-Deal. Deshalb stellte er auch nüchterne und sachliche Fragen nach dem Hausgespenst, das er mit dem Schloß zusammen käuflich erwerben wollte.

Barnet stieß seinen Freund unter dem Tisch an, hatte aber wenig Erfolg, denn wenn Lord Randolph leicht entflammbares Herz Feuer fing, war er nicht mehr ansprechbar.

»Wir sind überzeugt, Hoheit«, wich Barnet, der über das Hausgespenst nicht so genau Bescheid wußte, deshalb flugs diplomatisch aus, »daß die kommende Nacht alle Ihre Fragen beantworten wird.«

Jetzt stieß Scarlett ihn unter dem Tisch an, damit er keine zu großen Versprechungen machte, aber was hätte er denn anderes tun sollen?

Der Mocca wurde in der Sitzgruppe am Kamin der Wohnhalle serviert.

Neben dem Kamin stand noch immer der mit schwarzem Leder bezogene Kippsessel von Lord Halifax, an dem sein Stock mit dem Elfenbeinknauf lehnte. Barnet dachte, daß es genauso aussah, als komme der selige Lord jeden Augenblick herein, um in seinem Lieblingssessel Platz zu nehmen. Auch diese Vorstellung jagte ihm wieder einen gelinden Schauer über den Rücken.

Die Zeit verrann.

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Außer für Lord Randolph und Prinzessin Yasemine tat sie es quälend langsam.

Kurz vor Mitternacht verstummten die Gespräche, und erwartungsvolle Stille breitete sich aus.

Timothy, der gerade frisch gepreßten Orangensaft für die Prinzessin servierte, dachte unglücklich, daß dies doch gar nichts nützte! Lord Henry hielt sich nie an die übliche Gespensterzeit, und wahrscheinlich lachte er sich überhaupt kaputt und dachte gar nicht daran, in Aktion zu treten.

Schließlich kannte Timothy sich mit den Vorzeichen des grausigen Spektakels aus, aber weder tuschelten die Flammen des Kaminfeuers aufgeregt miteinander, noch sandte das kupferne Kohlebecken durch ein merkwürdiges Blinken Warnsignale aus.

Nur die Kerzen in dem Silberleuchter auf dem Tisch weinten Honigtränen und brannten langsam herunter, doch das taten sie immer, und es hatte nichts weiter zu bedeuten.

Endlich schlug es Mitternacht. Und nichts passierte. Barnet sah seine sämtlichen Felle davonschwimmen. Was ihn

am meisten erboste, war die Tatsache, daß sein Freund Randy so ausschließlich damit beschäftigt war, die zauberhafte Prinzessin aus dem Morgenland zu bewundern, daß er sich gar nicht groß darum bemühte, seinen erlauchten Gast wenigstens angemessen zu vertrösten.

Der Emir wirkte freilich nicht verärgert, sondern eher etwas belustigt.

Als die Geisterstunde vorüber war, ohne daß Lord Henry sich die Ehre gegeben hatte, erbot er sich sogar, dem Hausgespenst von Cliffwood-Castle noch eine weitere Chance einzuräumen.

»Wie ich schon gehört habe, sollen die englischen Gespenster recht eigenwillig sein. Auf einen Tag und eine Nacht kommt es bei unserer Rückkehr in die Heimat nun auch nicht mehr an«,

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entschied er liebenswürdig. »Wenn Seine Lordschaft damit einverstanden ist, werden meine Tochter und ich die Gastfreundschaft des Hauses gern noch für eine weitere Nacht in Anspruch nehmen.«

Seine Lordschaft war entzückt. Prinzessin Yasemines unergründliche Märchenaugen

strahlten. Der Emir machte ein zufriedenes Gesicht. Nur Barnet war furchtbar niedergeschlagen, als die Runde

sich gegen zwei Uhr morgens trennte und er mit Scarlett zusammen ihre Gästezimmer aufsuchte. Es waren, so wie Barnet seinen Freund gebeten hatte, zwei nebeneinander liegende Zimmer mit einer gemeinsamen Verbindungstür.

Unter der Verbindungstür blieb er stehen und fragte unglücklich: »Was sagst du dazu, Lettie, daß Lord Henry nicht erschienen ist?«

»Nicht viel. Weißt du, ich habe eigentlich nichts anderes erwartet. Geister spuken nun einmal nicht auf Kommando, das habe ich dir doch gleich gesagt!«

»Ja, aber ich habe eben gehofft, Lord Henry könne es trotzdem tun«, gab Barnet zu. »Mir liegt doch soviel daran, daß aus dem Geschäft etwas wird, Lettie! Unseretwegen, wenn du verstehst, was ich meine.«

Wie immer verstand sie ihn sofort, und sie tröstete ihn. »Wenn es mit dem Abschluß nicht klappt, weil Lord Henry nicht erscheint, ist das nicht deine Schuld, Barnet, und das ist auch nicht der Punkt. Mir kommt es einzig und allein darauf an, daß du dich endlich vom Gängelband deiner Mutter befreien wirst und selbständig handelst.«

Seine Augen leuchteten auf. »Danke, Lettie.« Er hätte ihr so gern gesagt, wie sehr er sie liebte, doch er dachte, daß dies nicht der richtige Augenblick für eine Liebeserklärung sei. Außerdem machte er sich schon wieder andere Sorgen. »Wir

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lassen die Verbindungstür weit offen, Lettie, und wenn irgend etwas ist, bin ich sofort bei dir.«

»Wenn du in meiner Nähe bist, Barnet«, versicherte Scarlett, »bin ich ganz ruhig, denn dann wird der Traum nicht wiederkommen!«

*

Der Traum kam wieder, am hellen Tag und ohne daß Scarlett schlief, und Barnet war nicht in ihrer Nähe, um sie zu beschützen.

Er leistete dem Emir Gesellschaft, der sich in den Räumlichkeiten des Schlosses umsehen wollte, während Prinzessin Yasemine in der Bibliothek mit Lord Randolph flirtete.

Draußen brauten noch immer die Cornwall-Nebel, und es nieselte unablässig.

Scarlett war in der Schloßküche und half Timothy, weil sonnabends das Zugehpersonal nicht kam und der gute Alte ihr leid tat. Außerdem wollte sie nicht müßig herumsitzen. Sie befürchtete nämlich, daß es ein ›Fliegenleimtag‹ werden würde. So nannte sie Tage, an denen man ständig auf etwas wartete und nichts passierte und die Minuten deshalb wie an Fliegenleim festklebten.

Timothy nahm ihre Hilfe dankbar an, obwohl sich das ja eigentlich nicht gehörte, wie er treuherzig versicherte. Aber er gab kleinlaut zu, daß er es allein kaum schaffte, wenn auch noch Gäste zu bedienen waren.

Scarlett räumte erst einmal die Spülmaschine aus und das Frühstücksgeschirr hinein, und ganz nebenbei versuchte sie, von Timothy etwas über Lord Henry zu erfahren.

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»Was hat es mit dem Spuk nun wirklich für eine Bewandtnis, Timothy?«

Der gute Alte überlegte lange und sehr gründlich, bevor er zögernd antwortete: »Ich weiß es nicht.«

»Sie wissen es nicht?« »Ehrlich«, beteuerte Timothy. »Aber es muß doch irgendeine Erklärung dafür geben?«

beharrte Scarlett. »Es gibt eine Menge Erklärungen dafür«, versicherte

Timothy, »und Sie können sich diejenige davon aussuchen, die Ihnen am besten gefällt. Es stimmt keine so richtig.«

»Und was für Erklärungen sind das?« Timothy überlegte wieder. »Seine Lordschaft, der selige Lord

Halifax, war kein besonders gespensterfürchtiger Mensch, müssen Sie wissen. Er ließ sich so schnell nicht ins Boxhorn jagen, auch von Lord Henry nicht! Deshalb hat er zuerst einmal einen Geologen kommen lassen, der sich mit der Beschaffenheit des Bodens befaßte, auf dem das Schloß steht.«

»Und was hat er herausgebracht?« »Daß unterirdische Quellen den Boden durchziehen und daß

genügend Wasser für eine Sintflut vorhanden ist. Nur liegen die Quellen akkurat nicht in Richtung der Wohnhalle, die ja Lord Henrys Revier ist.«

Scarlett seufzte. »Vielleicht hat der Geologe sich geirrt?« »Das hat Lord Halifax auch gehofft, und deshalb ließ er einen

Mann mit einer Wünschelrute kommen.« »Der fündig wurde?« »Natürlich! Das Wasser ist ja da. Er ging sogar davon aus,

daß es sich nicht nur um Quellen, sondern um einen ganzen Grundwassersee handelt. Das hätte erklärt, warum das Spektakel meistens bei Vollmond stattfindet. Es hänge mit Ebbe und Flut zusammen, hat der Wünschelrutenmann gesagt.«

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»Aber?« drängte Scarlett, die aus Timothys Tonfall heraushörte, daß hinter dieser Erklärung noch ein ›Aber‹ steckte.

»Aber Ebbe und Flut finden jeden Tag statt, nicht wahr?« »Ja, allerdings.« »Und Vollmond ist nicht immer freitags, oder?« »Nein, das ist wahr.« »Lord Henry spukt aber doch mit Vorliebe freitags bei

Vollmond!« erinnerte Timothy. Scarlett grübelte. »Nun, das könnte vielleicht mit dem

Wasserstand zusammenhängen. Bei einer großen Trockenheit beispielsweise sinkt der Grundwasserspiegel doch ab?«

»Und wenn ich Ihnen jetzt sage, daß Lord Henry auch schon in einem Dürresommer freitags bei Vollmond gespukt hat, was sagen Sie dann?«

Scarlett sagte nichts. Nach einer Weile gab sie zögernd zu, daß dies freilich merkwürdig sei. »Hat Lord Halifax denn nicht einmal einen Experten berufen, der das Wasser in dem Spukzimmer untersucht hat?«

»Oh, von der Sorte sind ein paar hier gewesen. Sie sind alle zu dem gleichen Ergebnis gekommen, nämlich, daß es ganz normales Wasser ist.«

»Und was haben die Parapsychologen dazu gemeint?« »Die haben es am wichtigsten gehabt!« Timothy winkte ab.

»Wochenlang haben die sich hier eingenistet, und das mußten sie ja wohl auch, um den passenden Moment zu erwischen. Aber Lord Henry kam immer erst wieder, wenn die Herren fort waren. Ach, und fragen Sie mich nicht, was er dann jedesmal angestellt hat. Er hat sich genauso aufgeführt, als wolle er sich dafür rächen, daß Lord Halifax ihm diese Burschen auf den Hals gehetzt hatte.«

»Das klingt alles«, äußerte Scarlett vorsichtig, »als seien Sie von Lord Henrys Existenz absolut überzeugt?«

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Timothy wiegte den Kopf hin und her. »Sehen Sie, eigentlich glaube ich nicht an Gespenster. Sie passen ja auch gar nicht mehr in unsere Zeit. Da findet sich doch für alles eine Erklärung! Und Wunder gibt es schon lange keine mehr. Aber vielleicht, denke ich manchmal, hat Lord Halifax nur die falschen Leute erwischt, oder diese Leute haben falsche Schlüsse gezogen. Andererseits…« Er verstummte.

»Andererseits«, ergänzte Scarlett, »gibt es zwischen Himmel und Erde wohl doch Dinge, von denen unsere Schulweisheit sich nichts träumen läßt!«

»Den Spruch kenne ich!« Timothy nickte bedeutungsvoll. »Lord Halifax hat den immer aufgesagt, wenn wieder einer seiner Versuche, dem Spuk auf die Schliche zu kommen, schiefgelaufen ist. Einmal hat er freilich auch gesagt, ›Timothy‹, hat er gesagt, ›auch wenn die Sache eines Tages aufgeklärt wird und eine ganz normale Lösung finden sollte, ich sage es dir – ein Rest von Geheimnis wird bleiben!‹«

Das Geschirr war versorgt. Scarlett wischte den Küchentisch sauber. Wenn Timothy damit einverstanden sei, wolle sie sich gern um den Lunch kümmern, schlug sie vor.

Timothy war gerührt. Er zeigte ihr die Vorräte in der Speisekammer, im Kühlschrank und in der Gefriertruhe und erbot sich, frische Kräuter, Tomaten, Salat und die berühmten kleinen Cliffwood-Zwiebeln aus dem Gemüsegarten zu holen. Mit einem großen Korb am Arm machte er sich auf den Weg.

Scarlett überlegte, was sie an guten Sachen auf den Tisch bringen könnte, und sie blickte dabei, ohne es richtig wahrzunehmen, auf das Wandbrett, an dem die Kupferpfannen hingen.

Es waren alte, riesige Pfannen, die nicht mehr benutzt wurden, sondern nur noch als Zierat dienten. Sie waren so blank poliert, daß sich das Licht der Deckenleuchte darin spiegelte.

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Die Küche war zwar mit modernsten Geräten ausgerüstet, aber eben doch eine alte Schloßküche. Sie lag im Souterrain. Durch die hochgelegenen kleinen Fenster sickerte nur spärlich das Tageslicht herein, und an solch grauen Tagen wurde es in der Küche überhaupt nicht richtig hell. Deshalb brannte immer die Lampe an der Decke. Der Raum war sehr groß und verwinkelt, und in den Winkeln waren die Schatten zu Hause.

Erst schenkte Scarlett dem leisen, kratzenden Geräusch, das sie vernahm, keine Beachtung. Sie entschied sich, Roastbeef mit Remouladensauce zu servieren, und puzzelte an dem Rezept der Sauce herum, den Blick noch immer gedankenverloren auf das Wandbrett mit den Kupferpfannen gerichtet.

Das kratzende Geräusch wurde lauter. War da irgendeine Katze, die hereinwollte?

Als das Ächzen und Stöhnen anfing, wollte Scarlett davonlaufen, aber sie konnte es nicht. Ihr Blick kam nicht von den kupfernen Spiegeln los. Sie sah darin das Haus, Captain O’Conells böses Haus, und die Küche, mit den leeren Bierdosen und zerfledderten Zeitungen in der Ecke und dem rostigen Spülbecken, in das der lecke Wasserhahn tropfte. Plop-Plop. Sie hörte das Geräusch ganz deutlich, auch das wimmernde Wehklagen, Keuchen und Röcheln.

Es waren viele Leute in der Küche. Sie selbst war nicht dabei. Sie erkannte Pastor Cormac. Die anderen kannte sie nicht. Sie mußten Handwerker sein, denn sie hantierten mit Werkzeugen. Alle gestikulierten und redeten, aber Scarlett hörte ihre Stimmen nicht. Sie hörte nur die schrecklichen Geräusche, und die Angst kam. Diese furchtbare Angst. Sie wollte schreien, aber sie brachte keinen Ton über die Lippen.

Sie schlief doch nicht? Wie konnte der Traum dann kommen? Oder war es gar kein Traum?

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Die Geräusche, ihre Angst, das steigerte sich bis zur Unerträglichkeit. Die Männer schlugen mit Hämmern gegen die Mauer in der verwahrlosten Küche von Captain O’Conells Haus, Mörtel splitterte, Steine fielen heraus, und dann brach die Mauer mit einem gräßlichen Knirschen auf.

Das Knirschen hörte Scarlett ganz deutlich, doch danachbreitete sich Stille aus. Das unheimliche Ächzen, Stöhnen, Wimmern und Röcheln verstummte.

Aus der Maueröffnung fiel ein zugeschnürter Sack. In derÖffnung kauerten die Gebeine eines Skeletts, und ein Totenschädel grinste Scarlett an.

Es wurde ihr schwarz vor Augen. Gleichzeitig empfand sie jedoch ein unbeschreibliches

Gefühl der Erleichterung. Die Schwärze vor ihrem Blick dauerte nur Bruchteile von

Sekunden. Dann konnte sie wieder Umrisse erkennen, die erst grau und verschwommen waren, nur langsam feste Konturen annahmen und wieder von Farbe durchdrungen wurden. Ihr Blick ging immer noch in die gleiche Richtung, doch da hingen an einem Wandbrett nur ganz normale Kupferpfannen.

Sie fing zu zittern an. Eine tiefe Erschöpfung überkam sie, und sie setzte sich schnell auf den Hocker, der vor dem langen Küchentisch stand. Sie legte ihre Hände auf die Platte des Tisches und hielt den Kopf ein wenig vorgeneigt, machte, für ein paar Atemzüge nur, die Augen zu.

Die Küchentür ging auf. Timothy kam zurück. Der Korb an seinem Arm war gefüllt

mit reicher Ernte, und der Duft nach frisch gepflücktem Dill und Thymian, nach Petersilie, Tomaten und Zwiebeln breitete sich aus. Scarlett machte die Augen wieder auf und wandte langsam den Kopf zu Timothy hin.

Er stellte den Korb am anderen Ende des langen Tisches ab und sah Scarlett an. Ihr Gesicht war weiß, wie erloschen.

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Dieses Gesicht, das kannte er doch? So war es doch schon einmal gewesen, vor vielen Jahren, fast einem Vierteljahrhundert, hier in dieser Küche, an diesem Tisch.

Timothy rührte sich nicht, weil das zu ungeheuerlich war und er es nicht glauben konnte. Er war schon ein sehr alter Mann, da verwischten die Erinnerungsbilder zuweilen, und man fand sich manchmal nicht mehr darin zurecht. Muriel, wollte er sagen, da bringe ich die Sachen aus dem Gemüsegarten.

»Jetzt habe ich vergessen, das Roastbeef aus dem Kühlschrank zu nehmen«, sagte Scarlett. Sie bekam wieder etwas Farbe ins Gesicht, und sie lächelte ein wenig. »Ich werde Remouladensauce dazu machen und kann die Kräuter gut gebrauchen. Vielen Dank, Timothy.«

Das war nicht Muriels Stimme! Timothy nahm sich zusammen. Er mußte wieder einen kleinen Aussetzen gehabt haben, wie er es nannte, wenn er ein bißchen durcheinander war. »Brauchen Sie für die Remoulade frische Eier, Miß O’Conell?« Beinahe hätte er ›Muriel‹ gesagt. »Dann hole ich welche aus dem Hühnerstall.«

»Das wäre nett von Ihnen, Timothy.« Nein, es war nicht Muriels Stimme, sie hatte auch ganz

anders geredet, hatte einen leichten irischen Akzent gehabt. »Dann gehe ich gleich mal.« Timothy machte, daß er

hinauskam. Scarlett stand auf und nahm das Roastbeef aus dem

Kühlschrank. Sie fühlte sich immer noch grenzenlos erleichtert, wie befreit von einer schweren Bürde, und sie sah zu dem Wandbrett hinüber. »Es sind nur Pfannen«, sagte sie laut. »Alte Kupferpfannen, sonst nichts.«

Aber das stimmte nicht ganz, und sie wußte es, obwohl die Pfannen gewiß nichts dafür konnten, denn sie hatten nur etwas reflektiert, das Scarlett wie in einer Horrorvision gesehen hatte.

Eine Mauer war eingebrochen, dachte sie, und ich bin frei.

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Sie schüttelte den Kopf, weil das keinen Sinn machte, doch es war nun einmal so. Sie spürte es auch, daß der Traum niemals mehr wiederkommen würde, und sie dachte, daß sie das gleich Barnet sagen mußte.

*

Barnet beendete gerade die Führung durch das Schloß, und er war ziemlich entmutigt, weil der Emir zwar durchaus beeindruckt schien, aber nicht die Miene eines Mannes machte, der bereit war, viele Millionen für das, was er gesehen hatte, hinzublättern.

Es hing soviel für Barnet davon ab, daß dieses Geschäft zustande kam, und deshalb betonte er noch einmal, was für ein wundervoller Besitz Cliffwood-Castle doch sei.

Der Emir nickte zustimmend, und er lächelte jovial, doch er äußerte sich nicht dazu.

Sie kehrten in die Bibliothek zurück, in der Prinzessin Yasemine und Lord Randolph noch immer, wenn auch in durchaus züchtiger Weise, miteinander turtelten.

Lord Randolph stand in Flammen! Diesmal schien es ihn ernsthaft erwischt zu haben, stellte

Barnet bestürzt fest. Aber auch dem Emir konnte nicht entgehen, was da lief.

Barnet hätte seinen Freund schütteln mögen. Merkte Randy denn nicht, was er da anrichtete? In jeder Illustrierten konnte man doch lesen, wie empfindlich morgenländische Väter bezüglich der Ehre ihrer Töchter waren! Wie allergisch mochten sie erst reagieren, wenn es um eine Lieblingstochter ging, und der Emir machte da garantiert keine Ausnahme!

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Was nur, fragte Barnet sich, sollte er tun, wenn der Emir mit dem Schwert heiligen Vaterzorns zwischen das Turtelpärchen fuhr?

Doch der Emir ließ das Schwert des Vaterzorns in der Scheide und tat, als bemerke er nichts. Liebenswürdig schlug er vor, doch einen kleinen Spaziergang durch den Park von Cliffwood-Castle zu unternehmen. »Es hat aufgehört zu regnen, und die Sonne kommt sogar hervor.«

Das war richtig, nur waren die Wege von dem Nieselregen ziemlich aufgeweicht, so daß jeder Schritt beschwerlich war. Wie zufällig suchte Prinzessin Yasemine an Barnets Arm einen Halt, doch er argwöhnte, daß sie einem Zornesblitz aus dem erzürnten Vaterauge gehorchte. Jedenfalls ging er mit der Prinzessin zusammen voraus.

Der Emir und Lord Randolph folgten ihnen in einigem Abstand.

Nie war der Cliffwood-Park reizvoller und schöner, als wenn nach Nebel und Nieselregen die Sonne wieder hervorkam. Die weitläufigen Spazierwege des typischen englischen Parks luden dazu ein, sich an dem frischen Grün zu erfreuen und die herbe, reine Luft zu genießen.

Dies tat der Emir auch eine geruhsame Weile, wobei er mit dem jungen Schloßherrn liebenswürdig über dies und jenes plauderte, bis er unvermittelt zur Sache kam.

In wohlgesetzten Worten und nicht ohne geistvolle Schnörkel teilte er, nachdem er sich blumenreich für die Gastfreundschaft bedankt hatte, seinem Gastgeber mit, daß er von dem beabsichtigten Erwerb des Schlosses zurücktreten wolle.

Ohne das Schloßgespenst nicht in Aktion erlebt zu haben, könne er sich zu einem Kauf nicht entschließen, führte er aus, und leider könne er auf das Erscheinen Lord Henrys nicht länger warten.

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»So wichtig mir die Wünsche meiner Tochter sind, darf ich ihre Erfüllung doch nicht über meine Pflichten stellen. Ich bin schließlich nicht nach England gekommen, um ein Gespensterschloß für meine Tochter zu erwerben, sondern um mit höchsten Regierungsstellen Zukunftspläne für mein Land auszuarbeiten.«

Lord Randolph war derart niedergeschmettert, daß er kein Wort hervorbrachte, sondern nur stumm nicken konnte.

»Auch wäre es vielleicht nicht klug«, fuhr der Emir mit etwas erhobener Stimme fort, »Mädchenwünsche allzu nachgiebig zu erfüllen. Ein arabisches Sprichwort sagt: ›Immer Sonnenschein machte die Wüste‹.«

Ohne sich noch weiter mit liebenswürdigen Floskeln aufzuhalten, erklärte er, daß er unverzüglich nach London zurückkehren wolle.

Just bei diesem Punkt seiner Rede angelangt, erreichten sie eine Gabelung des Weges, und dort warteten Barnet und Prinzessin Yasemine.

Ein Blick in das Gesicht des Freundes genügte, und Barnet wußte Bescheid.

»Mein Kind«, erklärte der Emir in einem Tonfall nachsichtiger Strenge, der jedoch jeden Widerspruch verbot, »wir reisen unverzüglich ab!«

Barnet hatte es ja kommen sehen, aber er fiel trotzdem in das tiefe schwarze Loch der Enttäuschung. Jetzt haben wir uns solche Mühe gegeben, dachte er unglücklich, die ganz großen Trickser zu sein, und haben ein solches Pech!

Was keiner ahnte – auch der Emir trickste! Nach dem Spaziergang durch den Park ging dann alles

ziemlich schnell. Der Emir und die Prinzessin verließen Cliffwood-Castle nach

einem ernüchternd kurzen Abschied.

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Die Zurückgebliebenen nahmen noch gemeinsam den Lunch ein, bevor auch sie ihre Bündel schnürten.

Zu Scarletts Freude war es Barnet, der tapfer versuchte, den unglücklichen Lord Randolph aufzurichten. »Nun verliere doch nicht den Mut, Randy, nur weil diese Sache schiefgelaufen ist. Ich werde sofort alle Anstrengungen unternehmen, um einen, anderen Interessenten für Cliffwood aufzugabeln.«

Der geknickte Erbe nickte trübselig. »Nett von dir, Barnet, wirklich nett.«

In der allgemeinen Niedergeschlagenheit fiel nicht auf, wie verstört der gute, alte Timothy war, irgendwie durcheinander, als bedrücke ihn ein schweres Problem, mit dem er nicht zurechtkam.

Als sie mit Barnet auf der Rückfahrt nach London allein war, sagte Scarlett ihm, daß sie glaube, der schlimme Traum werde nie mehr wiederkommen. Sie hoffte, ihn dadurch ein wenig aufzumuntern, doch er hörte ihr, so herzlich erleichtert er darüber war, doch nur zerstreut zu. Deshalb erzählte Scarlett ihm auch nicht, wie das gewesen war mit der Szene, die sie in den Kupferpfannen der alten Schloßküche von Cliffwood-Castle zu sehen geglaubt hatte.

Vielleicht, entschied sie bei sich, war es auch besser so, denn sonst hätte sie Barnet ja auch gestehen müssen, daß sie in dem bösen Haus des Captain O’Conell schon einmal gewesen war und was es damit für eine Bewandtnis hatte.

Eine vergnügliche Fahrt wurde es jedenfalls nicht, und sie waren beide wie gerädert, als sie endlich in London ankamen.

Natürlich nahm Mrs. Dorothy ihren heimgekehrten Sohn sofort in Beschlag, und sie triumphierte unverhohlen, als er sie von dem Fehlschlag des Unternehmens unterrichtete.

»Das war ja vorauszusehen«, quittierte sie seinen Bericht impertinent und mit unverhohlener Schadenfreude. »Hättest du

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deine Mutter mitgenommen anstelle der irischen Hexe, wäre die Sache anders gelaufen!«

Das war der Auftakt zu einer schlimmen Zeit, denn von dieser Stunde an wurde Mrs. Dorothy noch unerträglicher als zuvor. Sie wurde es auch nicht müde, ihrem Sohn seine Niederlage so lange unter die Nase zu reiben, bis Barnet wieder ganz klein war und es nicht mehr riskierte, gegen seine Mutter aufzubegehren.

Scarlett ertrug das fast nicht mehr. Dabei kränkte Mrs. Dorothys Verhalten Barnet gegenüber sie noch viel mehr als die gezielten Nadelstiche, die ihr selbst von der fülligen Lady verpaßt wurden. Allen Ernstes überlegte Scarlett, ob sie nicht ihren Dienst quittieren und einfach fortgehen sollte.

Natürlich war sie den Barneys zu Dank verpflichtet, denn sie hatte nach dem Tod ihrer Mutter ein Zuhause bei ihnen gehabt, und Mister Barney hatte dafür gesorgt, daß sie eine sehr gute Ausbildung auf einer renommierten Privatschule erhalten hatte.

Aber, so fragte sie sich nun, war sie deshalb dazu verpflichtet, sich ihr ganzes Leben lang für schlechten Lohn von Mrs. Dorothy schikanieren zu lassen und mitansehen zu müssen, wie tyrannisch die despotische Frau mit ihrem Sohn umsprang?

Wenigstens kam der schlimme Traum nicht wieder. Allerdings begegnete sie in ihren Träumen auch dem Pirat nicht mehr.

Noch vor Ablauf der Woche, die dem Weekend auf Cliffwood-Castle folgte, war ihr Entschluß jedenfalls gefaßt. Sie wollte abheuern und gehen.

Aber bevor sie ihren Entschluß in die Tat umsetzen konnte, geschah Unerwartetes.

Es war genauso, als würden zeitgleich mehrere Fäden zusammenlaufen, aus ganz verschiedenen Ecken und scheinbar

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vollkommen unabhängig voneinander, doch sie schienen auf geheimnisvolle Weise miteinander verknüpft zu sein und ein gemeinsames Ziel zu haben.

Es war ein kühler Tag auf der Insel vor der irischen Küste. Die See gebärdete sich dramatisch. Wie Ungeheuer stürmten riesige Wogen mit weit aufgerissenen Rachen auf das kleine Eiland zu, als wollten sie es verschlingen. Das graue Wolkenkleid des Himmels hing in Fetzen, und die Möwen sangen ihre Klagelieder. Es war einer jener Tage, an denen selbst Menschen, die ihre Insel liebten, wünschten, irgendwo anders zu sein.

In dem Büro des Chief-Constable roch es nach Gurkensandwiches wie immer.

Der Chief-Constable war ein gewichtiger Mann, durch dessen rotblonden Bart sich krause Silberfäden zogen. Er war etwas kurzsichtig und mußte sich deshalb Dinge, die er genau besehen wollte, dicht vor die Nase halten.

Trotzdem zwinkerte er noch, als er laut vorlas, was auf der Liste geschrieben stand, die er sich vor die Nase hielt: »Zwei Pässe, auf verschiedene Namen lautend, drei Paar Socken, zwei Unterhemden, eine Uniformjacke, ein Kapitänspatent, etcetera, etcetera…« Er unterbrach sich. »Wichtig für Sie ist ja nur der Inhalt der Ledermappe, Pastor, die in dem Seesack zwischen der Unterwäsche steckte. Ich habe Ihnen von den Dokumenten Fotokopien anfertigen lassen.«

»Danke, Chief Constable.« Pastor Cormac sah noch bekümmerter aus als sonst. Er nahm die Papiere entgegen. Es waren Fotokopien eines Vertrages und zweier Quittungen.

Seit bei dem Umbau des alten Hauses der O’Conells der grausige Fund aus der Mauer gebrochen war, hatte sich das Leben auf der kleinen Insel irgendwie verändert. Einerseits herrschte Erleichterung vor, weil man nun ganz sicher war, daß der Captain nie mehr auf die Insel zurückkehren würde.

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Andererseits standen die Menschen seitdem wie unter einem Schock.

Der Pastor hoffte, daß sich das wieder geben würde, wenn erst eine gewisse Zeit vergangen war.

Der Chief-Constable musterte ihn aufmerksam. »Sie haben es gewußt, Pastor, nicht wahr? Sie haben es gewußt, daß der alte O’Conell seinen Enkel erschlagen hat!«

»Es war Notwehr! Der Captain hatte einen Streit vom Zaun gebrochen, er ist gewalttätig geworden, wie immer. Der alte O’Conell war ein kranker, schwacher Mann…«

»Immerhin hat er damals noch mit dem Schürhaken zuschlagen und die Leiche in der Mauer verscharren können«, brummte der Chief-Constable. Es paßte ihm nicht, daß ein solches Kapitalverbrechen sozusagen unter seinen wachsamen Augen passiert war und daß er keine Ahnung davon gehabt hatte. »Wann hat der alte O’Conell es Ihnen gesagt?«

»In seiner Sterbestunde. Er wollte mir auch noch sagen, wo er die Leiche vergraben hat, aber der Tod war schneller.«

Nun sei sowieso nichts mehr zu ändern, meinte der Chief-Constable deprimiert. Er hielt es aber für keine gute Idee, aus dem Haus des Verbrechens einen Spielort für Kinder zu machen.

Pastor Cormac war da anderer Meinung. »Im Gegenteil, Chief-Constable! Wenn das Haus erst fertig umgebaut und renoviert ist, wird nichts mehr an das schreckliche Geschehen erinnern, sondern es wird neues, fröhliches Leben darin einziehen.« Er seufzte. »Vielleicht hilft das den armen Seelen, die einmal in diesem Haus gelebt haben.«

Der Chief-Constable äußerte sich nicht dazu. Mit armen Seelen wußte er nichts anzufangen. Er hielt sich an Tatsachen.

»Tatsache ist, daß Scarlett O’Conell nicht die Tochter des Captains, sondern ein uneheliches Kind ist«, führte er aus. »Ihre Mutter hat sich, vermutlich von der Abfindung, die sie

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von dem unbekannten Kindesvater erhalten hat, den Captain O’Conell als Ehemann gekauft, damit das Kind nicht unter dem Makel einer unehelichen Geburt zu leiden hatte. Das geht aus dem Vertrag zwischen der Kindesmutter und dem Captain eindeutig hervor, und die Durchschrift der Quittungen, die der Captain für die erhaltene Summe ausgestellt hat, belegt es.«

»Die arme Frau hätte sich mit dem Geld ein schönes Leben machen können«, murmelte der Pastor. »Es war ein kleines Vermögen. Aber statt dessen hat sie sich kurz nach der Geburt eine Eheurkunde gekauft, damit ihr Kind offiziell einen Vater hatte.«

»Warum sie das nicht vor der Geburt des Kindes gemacht hat?« überlegte der Chief-Constable und gab sich die Antwort auf seine Frage selbst. »Wahrscheinlich, weil sie niemand gefunden hat, der auf den Handel eingegangen ist!«

»Oder weil sie bis nach der Geburt des Kindes gehofft hat, der Kindesvater könne ihrer Tochter doch noch seinen Namen geben!« vermutete Pastor Cormac.

»Nachdem er eine solche Summe berappt hatte, um sie und das Kind loszuwerden?« zweifelte der Chief-Constable, der die Dinge nun einmal realistisch sah. Er werde jedenfalls von Amts wegen alles Notwendige veranlassen, damit die vermeintliche Tochter des Captain O’Conell die Wahrheit erfahre, versicherte er. »In Anbetracht des Verbrechens, das geschehen ist, duldet das keinen Aufschub.«

Der Pastor bat ihn, trotzdem nichts zu überstürzen. »Ich möchte es der jungen Frau gern persönlich mitteilen. Sie ist ein sehr liebes Menschenkind. In jedem Fall wird die Eröffnung ein Schock für sie sein.«

Das sah der Chief-Constable anders. »Vielleicht, Pastor«, meinte er, »ist es besser, keinen Vater zu haben, als die Tochter Captain O’Conells zu sein!«

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*

Um die gleiche Zeit grübelte Sir Wilmont in seiner Kanzlei darüber nach, was er noch unternehmen könnte, um die Tochter seines Freundes, des seligen Lord Halifax, ausfindig zu machen. Wenn man keinerlei Anhaltspunkte besaß, war eine solche Suche ziemlich aussichtslos. Das Mädchen konnte überall und nirgends stecken.

Aber Sir Wilmont war wild entschlossen, nicht aufzugeben, wußte er doch, wieviel seinem Freund daran gelegen war, daß seine Tochter in den Besitz ihres rechtmäßigen Erbes kommen würde.

In London war der Tag freundlich und mild. Im Hyde-Park tummelten sich junge Mütter mit ihren Kindern, genossen ältere Spaziergänger geruhsam den Sonnenschein. Die Anwaltspraxis Sir Wilmonts befand sich in einem viktorianischen Prachtbau ganz in der Nähe des Hyde-Parks.

Von dem Fenster seines holzvertäfelten Arbeitszimmers aus konnte Sir Wilmont zu dem Park hinüberblicken. Seine Augen freuten sich an dem frischen Grün der Bäume, Rasenflächen und Sträucher, doch sein Herz wurde davon nicht froh.

Er hatte seit dem Tod seines Freundes schon gewaltige Anstrengungen unternommen, um herauszufinden, wo die späte Liebe des seligen Lord Halifax seinerzeit untergetaucht war, als sie das Schloß hatte verlassen müssen, und wo sie sich nun aufhielt.

Allerdings bestand auch die Möglichkeit, daß sie gar nicht mehr unter den Lebenden weilte, obwohl sie ja sehr viel jünger als Seine Lordschaft gewesen war.

Sir Wilmont kam gerade von einer Reise nach Irland zurück. In dem Heimatort jener Frau hatte er versucht, etwas in

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Erfahrung zu bringen. Das Ergebnis seiner Bemühungen war enttäuschend gewesen.

In dem irischen Dorf erinnerte man sich kaum mehr an das Mädchen, das blutjung ausgezogen war, um in der weiten Welt sein Glück zu machen. Man hatte nie mehr etwas von ihr gehört, wußte nur noch, daß sie davon geredet hatte, nach Australien zu gehen.

Die Geburt ihres Kindes hatte die Mutter Lord Halifax seinerzeit von England aus noch mitgeteilt, aber danach war nie mehr ein Lebenszeichen von ihr gekommen.

Sir Wilmont vermißte den Freund sehr. Es wurde kühl um einen, spürte er, wenn einer nach dem anderen der Freunde ging, und Lord Halifax war Sir Wilmonts bester Freund gewesen.

Die grauhaarige Sekretärin, die seit vielen Jahren in seinen Diensten stand und sein volles Vertrauen besaß, kam kurz herein, um ihm zu sagen, daß ein dringendes Telefongespräch für ihn vorliege. Sie wußte, daß er nicht gestört werden wollte. »Es scheint aber wirklich dringend zu sein, vielleicht sollten Sie den Anruf doch entgegennehmen, Sir.«

»Wer ist es denn?« fragte Sir Wilmont ungeduldig. »Wieder der alte Timothy von Cliffwood-Castle. Er hat,

während sie in Irland gewesen sind, wiederholt angerufen, und er redet ein bißchen wirr. Ich werde nicht schlau aus dem, was er sagt.« Die Miene der Sekretärin verriet Besorgnis. »Er gibt mir auch keine Antworten auf meine Fragen. Er will nur mit Ihnen selbst sprechen, Sir.«

»Ach, du meine Güte!« entfuhr es Sir Wilmont. »Da wird Lord Henry doch nicht schon wieder am Werk gewesen sein?«

Er nahm das Gespräch sofort entgegen. »Was gibt es denn, Timothy?«

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»Oh, wie gut, daß Sie endlich da sind, Sir Wilmont!« rief Timothy erleichtert. »Ich muß mit Ihnen reden. Es ist so wichtig!« Er redete los wie ein Wasserfall.

Zunächst wurde Sir Wilmont aus dem Gestammel des guten Alten freilich auch nicht schlau. Um Lord Henry, hörte er zu seiner Erleichterung heraus, ging es jedenfalls nicht. Er bemühte sich, ganz ruhig zu bleiben, um Timothy nicht noch mehr durcheinander zu bringen. »Wenn ich Sie recht verstehe, Timothy, dann geht es um ein Mädchen, das am Wochenende in Cliffwood-Castle zu Besuch gewesen ist. Was hat sie denn angestellt?«

»Nichts, Sir. Sie saß am Küchentisch.« »Und was hat sie da gemacht?« »Nichts, Sir. Sie saß nur da.« Timothy redete sich frei und

jetzt fand er auch den Faden seiner Geschichte. »Das war so, Sir, daß Miß O’Conell so freundlich gewesen ist, mir ein wenig zu helfen, obwohl sie Gast des Hauses war, weil doch am Wochenende das Zugehpersonal nicht kommt und ich allein nicht fertig werden kann, wenn Gäste da sind.«

»Sie hat Ihnen also in der Küche geholfen?« faßte Sir Wilmont zusammen.

»Ja, Sir. Sie wollte den Lunch zubereiten, und ich bin in den Garten gegangen, um Kräuter, Tomaten und die kleinen Cliffwood-Zwiebeln zu holen. Als ich mit meinem Korb wieder hereingekommen bin, sitzt sie an dem langen Küchentisch mit einem weißen, leeren Gesicht und sieht mich an, und da wußte ich es…« Er konnte vor Aufregung nicht weiterreden.

»Was wußten Sie, Timothy?« »Sie saß da wie Muriel, damals, als sie Seiner Lordschaft

gesagt hatte, daß sie das Kind bekommt und er zu ihr gesagt hat, dann solle sie sich zum Teufel scheren. Das war das

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gleiche leere weiße Gesicht, und es waren Muriels Augen, die mich angesehen haben!«

Sir Wilmont wurde es kalt und heiß. »Sie glauben, das Mädchen hat irgend etwas mit Muriel zu tun?«

»Ja, Sir. Sie sieht ihr ja auch so ähnlich. Mir ist das nur nicht gleich aufgefallen, weil sie die Haare anders trägt und natürlich eine ganz andere Stimme und keinen irischen Akzent hat. Aber sie ist auch rothaarig und hat Sommersprossen und grüne Augen wie Muriel. Oh, sie ist es bestimmt, Sir! Sie ist Lord Halifax’ Tochter!«

Sir Wilmont konnte es nicht glauben. Aber er hoffte natürlich von ganzem Herzen, daß Timothy mit seiner Vermutung recht hatte!

»Versuchen Sie jetzt bitte ruhig zu bleiben, Timothy, und beantworten Sie mir meine Frage. Wie heißt das Mädchen?«

»Scarlett O’Conell.« »Das ist aber nicht der Name Muriels?« »Nein, Sir. Klingt aber irisch. Könnte doch sein, daß Muriel

später noch geheiratet hat?« Das war natürlich möglich. »Wie alt ist das Mädchen,

Timothy?« »Genauso alt wie die Tochter Seiner Lordschaft jetzt sein

muß, fünfundzwanzig, Sir.« Das war nicht unbedingt ein Beweis dafür, daß diese junge

Frau Muriels und Lord Halifax’ Tochter war. Sir Wilmont bemühte sich, sachlich zu bleiben, obwohl er so gern gejubelt hätte. »Wo kann ich die junge Frau erreichen, Timothy?«

»Sie führt die Hauswirtschaft bei den Immobilien-Barneys, hat mir Lord Randolph gesagt.«

»Sie haben dem jungen Lord gegenüber nichts von Ihrer Vermutung erwähnt, Timothy?«

»Nein, Sir. Das habe ich nicht getan, Sir. Ich mußte doch zuerst mit Ihnen darüber sprechen!«

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»Das war richtig, Timothy, und bewahren Sie bitte auch weiter Stillschweigen, bis ich die Sache abgeklärt habe. Sie hören wieder von mir!«

Er rief seine Sekretärin herein. »Ich muß sofort wieder weg. Lassen Sie meinen Wagen vorfahren! Und suchen Sie bitte die Privatadresse von Barney, Immobilien, heraus! Und Beeilung bitte!«

*

Um die gleiche Zeit trafen sich Barnet und Lord Randolph in ihrem Club zum Lunch.

Ihre Stimmung war immer noch furchtbar niedergedrückt, obwohl sie zunächst beide kräftig so taten, als sei die Welt inzwischen wieder hell und in Ordnung.

»Ich bin eigentlich echt gut drauf!« versicherte Lord Randolph. »Man muß Niederlagen wegstecken, oder?«

»Klar doch!« tönte Barnet. »Das Leben geht allemal weiter!« »Du sagst es!« Nach einer kurzen Pause murmelte Lord

Randolph kleinlaut: »Es fragt sich nur, wie es weitergeht! Hast du vielleicht etwas erreicht?«

»Habe ich nicht, leider.« Kein Mensch wollte plötzlich ein Gespensterschloß haben, der Markt war wie leergefegt. »Ich probiere es natürlich weiter!«

»Ja, natürlich. Wie geht es dir denn so?« »Miserabel«, rückte Barnet mit der Wahrheit heraus, und sie

ließen das falsche Getue sein. »Meine Mutter hat mich wieder gnadenlos unter ihrer Fuchtel.«

»Himmel, das solltest du aber nicht zulassen!« regte Lord Randolph sich auf. »Denk an Scarlett! Sie ist eine ganz bezaubernde Person, aber sie läßt sich garantiert nicht ihr

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Leben lang von deiner Mutter schikanieren! Wenn du nicht bald Nägel mit Köpfen machst, läuft sie dir noch davon, und sage dann nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!«

Barnet zog den Kopf ein wenig ein. Er wußte ja, daß es nicht richtig von ihm gewesen war, wieder vor seiner herrischen Mama zu kuschen. Aber nach der Niederlage in Cliffwood-Castle war er in sein altes Rollenklischee zurückgefallen und seitdem wieder ganz der gehorsame Sohn seiner Mutter. Das war ein scheußliches Dilemma, denn er liebte doch seine Lettie von ganzem Herzen.

Schleunigst lenkte er ab. »Bist du wenigstens übet das Intermezzo mit der Prinzessin weg, Randy?«

»Nein«, antwortete Lord Randolph kurz und bündig. »Nein, bin ich nicht. Und ein Intermezzo war es auch nicht. Es ist die ganz große Liebe!«

»Randy!« Barnet verdrehte die Augen ein bißchen. »Du weißt ja nicht einmal genau, wie das Mädchen aussieht. Und die Sache ist nun mal gelaufen. Du solltest versuchen, darüber hinwegzukommen.«

»Das kann ich nicht!« behauptete Lord Randolph eigensinnig. »Barnet, es hat mich erwischt! Ich kann die Prinzessin nicht vergessen!«

»Das mußt du aber! Von einer festen Bindung willst du ja sowieso nichts wissen, und die Prinzessin lustwandelt längst wieder in den Palastgärten am persischen Golf und lauscht dem Gesang der Nachtigallen.«

»Gibt es denn dort Nachtigallen?« fragte Lord Randolph. Als ob es darauf angekommen wäre! Ein livrierter Page näherte sich, ein schnurloses Telefon auf

silbernem Tablett balancierend, diskret dem Tisch der Freunde. »Da wäre ein Anruf für Mylord. Seine Hoheit, der Emir, wünschen Mylord zu sprechen!«

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*

Es war nicht Freitag und nicht Vollmond, als Lord Henry seine letzte Chance erhielt.

Die Gäste trafen gegen Abend in Cliffwood-Castle ein, zuerst der Emir und die Prinzessin.

Lord Randolph, überwältigt von dem Wiedersehen mit der Angebeteten, geleitete die Prinzessin in die Bibliothek, während der Emir sich in seine Gästesuite zurückzog, um sich von der Reise zu erfrischen.

Nun war die Bibliothek nicht gerade der gemütlichste Aufenthaltsort des Schlosses. Der Raum war zu hoch, zu düster, auch im Sommer viel zu kalt, und die vielen Bücher in den deckenhohen Regalen machten strenge Gesichter. Aber für den entzückten jungen Lord war die Bibliothek in diesem Augenblick das Paradies.

Er, der sonst doch so redegewandt war, brachte keinen Ton heraus. Stumm, wie magisch voneinander angezogen und gleichsam in Zeitlupe, bewegten die beiden Verliebten sich aufeinander zu.

Lord Randolph wußte, daß es Wahnsinn war, doch er konnte nicht anders! In einer leidenschaftlichen Aufwallung zog er die Prinzessin in seine Arme, und sie leistete ihm nicht den geringsten Widerstand! Seine Lippen suchten ihren Mund, wobei der verflixte Schleier fürchterlich hinderlich war. Er mußte sie tatsächlich durch dieses Ding hindurch küssen. Es wurde trotzdem ein brillanter Kuß, in dessen Süße sie beide ertranken, da das leidige Schleierhindernis die Glut ihres Verlangens noch lodernd entfachte.

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So versunken waren sie in die Wonnen zärtlicher Liebkosungen, daß die Umwelt für sie versank, einfach nicht mehr vorhanden war.

Bis plötzlich der Emir vor ihnen stand und von heiligem Vaterzorn ergriffen fassungslos ausrief: »Oh, meine Tochter!«

Innig in Lord Randolphs Arme geschmiegt, hauchte die Prinzessin hold errötend: »Oh, mein Vater! Wir haben uns soeben verlobt.«

Lord Randolph zuckte zusammen. Bei allen lustvollen Gefühlen, die ihn durchpulsten, fürchtete er Ehefesseln doch wie der Teufel das Weihwasser. So sehnlich er die Prinzessin auch begehrte, an eine Bindung auf Zeit und Ewigkeit hatte er dabei nicht gedacht.

Verstört blickte er den Emir an, und schlagartig wurde ihm alles klar, denn dessen Zornesmiene hätte sich nicht nur aufgehellt, sondern verriet auch noch unverhohlene Genugtuung. ›Ich habe es geschafft, mein Töchterchen unter die richtige Haube zu bringen‹, las Lord Randolph in den beredten Vaterzügen. ›Der Weg, über ein Gespensterschloß einen leibhaftigen Lord zu angeln, war zwar zeitraubend und wird teuer, doch die Mühen werden sich lohnen!‹

Laut erklärte der Emir poetisch: »Ein altes Sprichwort sagt, daß Liebende sich vereinen wie Morgentau und Rose!« Ein altes Sprichwort sagte auch, daß eine unverheiratete Tochter einen gebrochenen Flügel hat. »So ihr euch denn liebt, meine Kinder, will ich euch meinen väterlichen Segen nicht versagen!« Er wollte das wirklich nicht, denn sein Lieblingstöchterchen konnte eine recht kleine Viper sein und hatte ihm schon etliche Scherereien gemacht. Feierlich fügte er die Hände der Liebenden ineinander, um sinnbildlich Morgentau und Rose, also flugs das Verlöbnis zu besiegeln.

Dabei löste sich, wie zufällig, der Schleier der Prinzessin.

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Unter dem Shador kam eine Robe zum Vorschein, deren raffinierte Eleganz die üppigen Formen der morgenländischen Schönen schmeichlerisch verhüllte. Eine orientalische Schönheit war die Prinzessin wirklich! Sie hatte nur etwas kurze Beine, ein bißchen plumpe Oberarme und ein recht streitlustiges Kinn.

»Wenn es nach meinen Wünschen geht«, erklärte der Emir, »und wenn ihr damit einverstanden seid, meine Kinder, werdet ihr hinkünftig in Paris leben.«

Lord Randolph liebte Paris. Er hatte nicht das Geringste dagegen einzuwenden, in Paris zu leben.

»Ich besitze in Paris ein entzückendes kleines Palais, das mein Hochzeitsgeschenk für euch sein soll«, erklärte der Emir weiter und wandte sich mit gesenkter Stimme und in vertraulichem Tonfall an Lord Randolph. »Im übrigen wird mein Pariser Bankier dafür sorgen, eure finanziellen Wünsche zu erfüllen, Schwiegersohn.«

»Und was wird aus Lord Henry?« rutschte es dem überrumpelten Bräutigam heraus.

Auch dies hatte der Emir schon bedacht. »Sollte Seine Lordschaft heute geruhen zu spuken, werde ich das Schloß wie abgemacht erwerben.«

Das wäre Lord Randolph ja nun sehr recht gewesen, denn welcher Mann ging schon gern mit leeren Taschen in die Ehe mit einer reichen Frau? Aber in jedem Falle, entschied er bei sich, war ein Palais in Paris besser als eine feuchte Ruine in Cornwall und ein Fürstentöchterlein in seiner Hand erfreulicher als Lord Henry auf dem Dach von Cliffwood-Castle.

Inzwischen waren auch Scarlett und Barnet eingetroffen. Timothy flatterte so verscheucht um sie herum wie ein

Glucke, die ihr Hinkel verloren hat, denn Sir Wilmont hatte sich noch nicht gemeldet! Das begriff der gute Alte nicht.

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Konnte es denn so lange dauern, bis rechtliche Fragen abgeklärt und Formalitäten erledigt waren?

Barnet, der unterwegs Pech mit dem Wagen gehabt hatte und einen Reifen hatte wechseln müssen, sah ziemlich deprimiert aus. Deshalb zog er sich auch gleich zurück, um sich erst mal wieder manierlich herzurichten.

Scarlett, die nach der Fahrt ein wenig frische Luft schöpfen wollte, spazierte in den Park hinaus.

Der Sommerabend war mild und freundlich. Die Dämmerung breitete schon ihre silbergrauen Schleier aus, und in die tiefe Stille hinein drang nur von fern das Rauschen der Brandung.

Scarlett ergab sich der eigenartigen Stimmung, die sie umfing. Eine unbeschreibliche Sehnsucht erfüllte ihr Herz, und eigentlich überraschte es sie nicht, als sie merkte, daß sie nicht allein war. Im Silberlicht der Dämmerung lehnte, halb verborgen von den tief herunterreichenden Zweigen, eine vertraute Gestalt an dem knorrigen Stamm eines alten Weidenbaumes.

»Pirat!« rief sie glücklich. »Oh, wie schön, daß wir uns wiedersehen! Ich habe dich so sehr vermißt.«

»Ich habe dich auch vermißt, Scarlett!« »Es ist inzwischen so viel geschehen!« »Ja, ich weiß.« Er wußte ja immer alles, Scarlett erstaunte das nicht mehr, es

war eben einfach so. »Der böse Traum ist nicht mehr wiedergekommen, nicht

wahr?« fragte er leise. »Seit der schrecklichen Geschichte, die ich in dieser alten

Pfanne in der Schloßküche gesehen habe, nicht mehr, nein.« »Was bedrückt dich dann?« Sie seufzte. »Barnet macht mir Kummer. Vielleicht schafft er

es doch nicht, endlich erwachsen zu werden! Seit das mit dem Verkauf des Schlosses schiefgelaufen ist, hat seine Mutter ihn

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wieder fest im Griff, und Mrs. Dorothy ist eine böse Frau! Sie hat in letzter Zeit auch irgendwelche Geheimnisse vor ihm. Es ist verschiedentlich ein Anwalt zu ihr gekommen, ein Sir Wilmont, und die beiden haben lange Unterredungen miteinander gehabt, streng geheim, natürlich!«

»Und du hast natürlich nicht gelauscht!« »Doch! Aber sie haben so leise miteinander geredet, daß ich

nichts verstehen konnte.« Der Pirat lächelte amüsiert. »Ich wußte gar nicht, daß du eine

so neugierige kleine Person bist.« »Ach, Neugier war das nicht, es geht mir doch nur um

Barnet. Ich will nicht, daß seine Mutter irgend etwas gegen ihn ausheckt.«

»Du solltest ein wenig mehr Vertrauen zu Barnet haben, Scarlett«, mahnte der Pirat. »Er ist auf dem richtigen Weg. Nur braucht er jetzt deine Hilfe und deine Liebe.«

»Liebe?« fragte Scarlett, und sie schüttelte den Kopf ein wenig. »Barnet und ich, wir sind doch wie Bruder und Schwester. Ich glaube jedenfalls, daß Liebe etwas anderes ist, nicht das, was ich für Barnet empfinde.« Eher, dachte sie, hätte sie der sehnsüchtigen und zärtlichen Zuneigung, die sie für den Pirat empfand, den Namen Liebe gegeben.

»Nein, das ist nicht so, wie du denkst, Scarlett«, widersprach er, obwohl sie ihren Gedanken doch gar nicht ausgesprochen hatte. »Die Liebe hat viele Gesichter, genauso wie das Glück. Barnet und du, ihr beide gehört zusammen.«

»Barnet meint es sicher ehrlich mit mir«, gab Scarlett zu. »Aber was wird sein, wenn Lord Henry nicht spukt und das Geschäft mit dem Emir endgültig platzt? Dann hat Mrs. Dorothy doch wieder das Sagen! Und heute ist weder Freitag noch Vollmond! Da macht es Lord Henry bestimmt keinen Spaß, herumzuspuken.«

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»Ach, weißt du, vielleicht macht es ihm überhaupt keinen Spaß mehr, herumzuspuken, weder freitags bei Vollmond noch sonst irgendwann.«

»Weißt du denn etwas über ihn?« fragte Scarlett wie elektrisiert.

»Nun, er war ein wüster Bursche, der auf den Sieben Meeren sein Unwesen trieb, dadurch freilich zu Macht und Reichtum kam. In der Gerüchteküche seiner Zeit brodelten pikante Süppchen über ihn. Er war ein Mannskerl und ein Weiberheld. Einmal soll er das Schiff eines holländischen Kaufherrn gekapert und dessen einzige Tochter nach Cliffwood-Castle verschleppt haben.«

»Weiter!« drängte Scarlett, als der Pirat verstummte. »Er hat sie gezwungen, ihm zu Willen zu sein, und als sie

sich ihm widersetzte, ließ er sie foltern und in den Turm werfen?«

»Falsch! Die holländische Kaufmannstochter war ihm gern zu Willen, denn sie hatte sich in ihn verliebt, schlimmer noch, sie liebte ihn innig und mit großer Zärtlichkeit! Aber er wurde ihrer schnell überdrüssig, suchte bei anderen Frauen die Befriedigung seiner Lüste und vergaß sie schlicht und einfach. In den Mauern von Cliffwood-Castle welkte sie als seine Gefangene dahin, gebar ihm eine Tochter, die nur wenige Tage lebte, und soll eines unschönen Tages an gebrochenem Herzen gestorben sein.«

»Und deshalb muß er noch immer herumspuken?« »Deshalb auch, ja. Und vielleicht vor allen anderen

Missetaten, die er begangen hat, denn er hatte sich wider die Liebe vergangen, und das ist eines der schlimmsten Vergehen.«

»Also, wenn er sowieso noch herumspuken muß«, meinte Scarlett unglücklich, aber praktisch, wie sie nun einmal war,

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»dann könnte er es heute ja auch noch einmal tun! Das wäre bestimmt ein gutes Werk.«

»Ja, vielleicht. Und vielleicht wäre er dankbar dafür, wenn er endlich seinen Frieden finden könnte.« Der Pirat verstummte kurz, sagte dann leise: »Ich wünsche dir viel Glück, Scarlett!«

»Das wünsche ich dir auch, Pirat!« War es die Dämmerung, die ihn sanft in ihre Silberschleier

hüllte, so daß seine Gestalt sich vor Scarletts Blicken auflöste und verschwand?

Eine Trauer überkam sie, die tief und unendlich schmerzlich war. Sie spürte genau, daß etwas Endgültiges geschehen war. Der Pirat war aus ihrem Leben fortgegangen. Unwillkürlich streckte sie beide Arme aus, um ihn festzuhalten.

»Du meine Güte, was machst du denn da?« fragte Barnets Stimme etwas ärgerlich. »Gymnastische Übungen, oder was? Ich habe mir schon wieder Sorgen um dich gemacht. Ständig mache ich mir Sorgen um dich!«

»Das tut mir leid, Barnet«, murmelte Scarlett. »Ehrlich!« »Ach, so schlimm ist es nun auch wieder nicht«, wehrte er

ab, »ich mache mir ja gern Sorgen um dich.« »Das ist lieb von dir, Barnet!« Scarlett kämpfte mit den

Tränen. Dieses Wiedersehen mit dem Pirat war ihr letztes Wiedersehen gewesen, es war ein Abschied für immer, den sie genommen hatten, und sie hatte etwas Köstliches verloren, das sie nie ganz besessen hatte.

Barnet legte den Arm um ihre Schultern. »Komm jetzt mit zurück ins Schloß«, bat er gutmütig. »Es wird Zeit. Oder willst du vielleicht in Jeans zum Dinner erscheinen?«

*

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Das Dinner verlief ohne Zwischenfälle. Auf Wunsch des Emirs blieb das Verlöbnis der Prinzessin mit

Lord Randolph noch geheim, denn er wollte das Bündnis erst in der Heimat offiziell bekanntgeben. Deshalb trug die Prinzessin auch wieder züchtig den Shador.

Der Mokka wurde in der Wohnhalle getrunken. In der Wärme des Kaminfeuers stand der schwarze Kippsessel, in dem Lord Halifax seinen letzten Atemzug getan hatte, und immer noch lehnte sein Stock mit dem Elfenbeinknauf an der Lehne des Sessels.

Barnet unterhielt sich angeregt mit dem Emir, der Interesse für einige seiner Projekte zeigte. Scarlett beobachtete Barnet unauffällig, und er gefiel ihr so gut wie noch nie! Er wirkte männlicher, härter und zielbewußter, fand sie. Die steile Denkerfalte in seiner Stirn rührte sie, und der energische Zug um seinen Mund war ihr noch gar nicht aufgefallen. Das machte sie recht nachdenklich. Vielleicht, überlegte sie, hatte die Liebe wirklich viele Gesichter, und man mußte manchmal einen Umweg gehen, um zu erkennen, zu wem man wirklich gehörte?

An der Freitreppe fuhr ein Wagen vor, aber niemand achtete darauf. Alle blickten deshalb erstaunt auf, als Timothy Besuch anmeldete. »Sir Wilmont und Mrs. Dorothy Barney.«

Barnet sprang auf, blaß vor Zorn. »Mama! Ich finde es unerhört, daß du hierher kommst, obwohl du genau weißt, daß ich diese Sache allein zum Abschluß bringen will!«

Mrs. Dorothy segelte mit ausgebreiteten Armen an ihm vorbei auf Scarlett zu. »Aber ich komme doch nur, um unsere geliebte Lettie zu umarmen! Ja, glaubt ihr denn, ich sei blind gewesen, Kinder?« flötete sie. »Natürlich habe ich längst bemerkt, daß ihr beide euch liebt, und es ist mir ein Bedürfnis, euch unverzüglich meinen mütterlichen Segen zu geben!«

»Was willst du uns geben?« stotterte Barnet verdutzt.

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Sir Wilmont verneigte sich vor Scarlett, und er beugte sogar sein Rheumaknie ein wenig, was scheußlich weh tat, aber in seiner Ergriffenheit merkte er das nicht. »Im Namen meines verstorbenen Freundes begrüße ich Sie, Lady Scarlett, auf Cliffwood-Castle als Lord Halifax’ Tochter!«

»O nein, nein!« wehrte Scarlett bestürzt ab. »Das muß ein Irrtum sein! Mein Vater ist Captain O’Conell…«

»Der Captain ist nicht Ihr Vater«, unterbrach Sir Wilmont. »Aber das ist eine lange Geschichte, die wir in Ruhe miteinander bereden müssen. Vielleicht genügt es Ihnen zunächst, wenn ich Ihnen sage, daß ich Ihnen einen Brief von Pastor Cormac überbringe, in dem er Ihnen die Zusammenhänge erklärt, soweit die Geschichte Captain O’Conell betrifft.«

Scarlett wurde sehr blaß, und sie nahm den Brief, den Sir Wilmont ihr feierlich überreichte, nur zögernd entgegen. Hilfeflehend blickte sie zu Barnet.

Aber Barnet begriff überhaupt nichts mehr. Lord Randolph hingegen begriff sehr schnell, und er rief

erfreut: »Scarlett ist Onkels verschwundene Tochter? Kompliment, Sir Wilmont! Wie haben Sie das nur herausgebracht?«

»Der Applaus gebührt Timothy, nicht mir!« erwiderte Sir Wilmont. »Ich habe nur die notwendigen Ermittlungen zur Wahrheitsfindung angestellt, und das hat leider ein paar Takte gedauert. Timothy aber ist die Ähnlichkeit Lady Scarletts mit Muriel gleich aufgefallen…«

»Muriel?« rief Scarlett. »O ja, Muriel, so hieß meine Mutter!«

»Und du bist nun eine Lady Cliffwood und eine Millionenerbin noch dazu!« brachte Mrs. Dorothy die Geschichte hochzufrieden auf den Punkt.

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Niemand achtete auf das Kaminfeuer. Die Flammen tuschelten aufgeregt miteinander, und das kupferne Kohlebecken sandte durch sein Blinken deutliche Warnsignale aus. Der schwarzlederne Kippsessel fing ein bißchen zu schaukeln an, aber der Stock, der daran lehnte, fiel nicht um, so, als werde er von einer unsichtbaren Hand festgehalten.

Der Emir blickte plötzlich zur Decke, als prüfe er, ob es hereinregnet, denn ihm waren Wassertropfen auf die Hand gefallen.

Auch auf die Hände der Prinzessin fielen einige Tropfen, und sie gurrte ihre leisen Kehllaute des Entzückens.

Mrs. Dorothy hingegen schrie hysterisch auf, als die kalten Tropfen ihr Dekollete berührten.

Doch das war nur das Vorspiel gewesen! Denn nun trat Lord Henry voll in Aktion!

Was macht er denn nur, fragte Sir Wilmont sich erschrocken? Auch Timothy war entsetzt und konnte es sichtlich nicht fassen!

Lord Henry ließ es nämlich weder von der Decke tropfen, weder von den Wänden rieseln, noch setzte er das Parkett kielunter. Er hantierte vielmehr mit einem einzigen armdicken Wasserstrahl und schien es ausschließlich auf Mrs. Dorothy abgesehen zu haben.

Sie hüpfte verzweifelt im Kreis herum, um ihrem Verfolger zu entkommen, Sie quiekte vor Schrecken, wurde von Grauen geschüttelt, wollte davonlaufen, doch sie entkam Lord Henry nicht. Er trieb sie durch die ganze riesige Wohnhalle vor sich her. Sie kreischte immer schriller, und Lord Henry lachte.

Nur Scarlett, freilich, hörte sein Lachen. Oh, sie wußte, wer so lachte, so tief und dröhnend! Und auf einmal wußte sie alles.

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Barnet wollte seiner Mutter zu Hilfe eilen, doch er schaffte es einfach nicht, sie zu erreichen, weil er durch den Wasserstrahl nicht hindurchkam.

Lord Henry zog einen Bannkreis aus Wasser um die glucksende, nach Luft schnappende, jammernde Mrs Dorothy. Ihr wallendes Gewand troff vor Nässe, der Stoff klebte an ihr fest und modellierte ihre schwellenden Formen grausam deutlich heraus. Kein einziges Fettpölsterchen blieb unsichtbar. Ihr hochtoupiertes, gefärbtes Haar klatschte zusammen, und das Wasser wusch die blonde Farbe so lange heraus, bis es wie gelbgraue Holzwolle um das pausbackige Gesicht hing. Mrs. Dorothy fing an mit den Armen zu rudern, als versuche sie zu schwimmen, und schaffte es doch nicht, gegen die Wassermassen anzukommen.

Wie gelähmt verfolgten alle das aberwitzige Spektakel, starrten auf die dicke Frau, die schon blaue Lippen bekam und um ihr Leben flehte, weil sie nahe daran war, zu ertrinken.

»Jetzt ist es aber genug!« schrie Scarlett. »Aufhören! Sofort aufhören, Pirat! Schluß mit der Vorstellung!«

Es zischte noch ein paarmal, als werde ein Wasserschlauch abgestellt. Der Wasserstrahl zuckte in die Höhe und traf die stuckverzierte Decke, malte dort merkwürdige Hieroglyphen hin, Striche, Kringel und Kreise, scheinbar ohne Sinn, feuchte Flecken, die sich rasch ausbreiteten.

Dann war der Spuk vorbei. Aller Augen blickten nun wie gebannt an die Decke. Nur Timothy bückte sich und hob Lord Halifax’ Stock mit

dem Elfenbeinknauf auf, der von der Lehne des Kippsessels gerutscht war, als habe die unsichtbare Hand ihn losgelassen.

Niemand außer Scarlett vermochte es freilich, die Wasser-Hieroglyphen zu entziffern. Es waren Buchstaben, und Scarlett konnte lesen, was da geschrieben stand. Es war nur ein einziges Wort.

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Barnet kümmerte sich rührend um seine Mutter, die nur noch ein nasses Häuflein Elend war, und Scarlett half ihm. Gemeinsam hüllten sie die zitternde Mrs. Dorothy in eine wärmende Decke, die Timothy herbeibrachte, und führten sie in ihre Suite. Sie war zu Tode erschöpft, zitterte noch immer und hatte eine furchtbare Angst.

Barnet beruhigte sie, auch Scarlett redete beschwichtigend auf sie ein. Timothy brachte einen dampfenden Grog, alle taten alles, um der verstörten Frau zu helfen.

Aber Mrs. Dorothy konnte sich nicht beruhigen. »Das wird mir eine Lehre sein«, murmelte sie nur immer wieder. »Oh, ja, ja, eine Lehre! Das werde ich nicht vergessen! Nie wieder werde ich dich bevormunden, Barnet! Und dich, Lettie, werde ich nie mehr schikanieren.«

»Ist ja schon gut, Mutter«, murmelte Barnet, der von der Dauer und Wirksamkeit ihrer guten Vorsätze nicht so ganz überzeugt war, aber im stillen doch fand, daß die kalte Dusche ihr bestimmt nicht geschadet hatte.

Später, als er mit Scarlett allein war, lasen sie Pastor Cormacs Brief zusammen, und Scarlett erzählte Barnet alles, genau so wie sie es erlebt hatte und wie es gewesen war.

»Nun bist du also eine reiche junge Lady!« Barnet sah traurig aus. »Das ändert natürlich alles.«

»Und was?« Er wurde ein wenig verlegen. »Ich meine den Antrag, den ich

dir gemacht habe. Vergiß ihn am besten.« Treuherzig fügte er hinzu: »An meiner Liebe zu dir wird sich freilich nie etwas ändern, mein Leben lang nicht.«

»Gut«, entschied Scarlett, »wenn das so ist, dann sage ich dir etwas: Ich nehme deinen Antrag an!«

»Soll das heißen, daß du meine Frau werden willst?« stammelte Barnet überwältigt.

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»Ja, genau das soll es heißen«, antwortete Scarlett liebevoll. Die Wehmut des Abschieds von dem Piraten zitterte noch in ihr nach, doch die lebendige Gegenwart war stärker als die Erinnerung an einen Traum.

Der erste Kuß, den sie sich schenkten, war rührend scheu und süß. Zärtlich hielten Barnet und Scarlett einander umschlungen, küßten sich wieder und wieder, als hätten sie unheimlich viel nachzuholen.

Als sie ein wenig zu Atem kamen, fragte Barnet plötzlich: »Du hast es lesen können, was Lord Henry an die Decke geschrieben hat, ich habe es deinem Gesicht abgesehen! Was hieß es denn?«

»Over«, antwortete Scarlett. »Das Wort hieß ›Over‹. Es bedeutet, daß Lord Henry nie mehr wiederkommen wird. Es ist für alle Zeit vorbei.«

»Der Spuk«, korrigierte Barnet ernsthaft. »Der Spuk ist für alle Zeit vorbei. Aber unsere Zeit fängt jetzt erst an.«

»Ja, das ist wahr«, stimmte Scarlett innig zu. Draußen leuchtete ein freundlicher Sternenhimmel über

Cliffwood-Castle, und die Magie der dunklen Mächte war für immer gebannt.

ENDE