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In deiner Gegenwart

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Anna ist eine attraktive Frau, die ihr Volontariat beginnt. Zusammen mit der besten Freundin bewohnt sie endlich ihre eigenen vier Wände. Doch was wie ein schönes Leben als junger Erwachsener klingt, ist in Wahrheit mit großen Problemen verbunden: Täglich wird Anna von ihrem Chef gemobbt. Als wäre das nicht schon genug, führt ihre aufbrausende Art nicht nur zu Spannungen zu Hause, sondern auch zu weit gefährlicheren Konflikten. Anna begegnet Mark. Und es dauert nicht lange, bis sie sich wünscht, ihn nie getroffen zu haben…

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L E S E P RO B E

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„Der Wahnsinn war wohl eine Krankheit,die von ihren Opfern unbemerkt blieb.“

Walter MoersDER SCHRECKENSMEISTER

Entschuldigend für meinen Wahnsinn:Gewidmet meinem Christopher

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Inhalt:Segment 1: Erlebe! S. 4Segment 2: Gehorche! S. 52Segment 3: Verzichte! S. 92Segment 4: Entdecke! S. 124

LeseprobeSeite 34 bis 50

1. Auflage, März 2010. Printed in Germany.Weitere Infos: www.experienze.com

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Segment 1: Erlebe!

Sei gegrüßt, wir befinden uns am Anfang einer Reisedurch die Welt zweier besonderer Menschen und ih-rer gemeinsamen Geschichte...Passend zum Beginn des Stücks haben wir für dieerste Illustration ein düstereres Motiv gewählt. Eszeigt Annas wahre Stimmung. Oft ist sie traurig oderunsicher. Aber dann gibt sie sich jedes Mal offensiv,um es zu vertuschen. Nie würde sie sich freiwilligzeigen, wie man sie auf diesem Bild sieht. Das ist un-ser kleines Geheimnis, ja?

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„Ich bin gleich wieder da.“*

Dunkel war es in dem Raum. Dunkel und lautlos. Als wärees ein Abgrund gewesen. Windstill, kalt und dünn fühltesich die Luft hier an. Eine gewisse Distanz bringen Neben-zimmer von Natur aus mit sich, fand Anna. Dass sich gera-de noch eine feiernde Menge um sie getummelt hatte,verstärkte die Wirkung. Der eben noch spürbare Lärmhatte sich in das Rauschen der Stille verwandelt. Imgroßen Saal ging das Fest munter weiter. Aber hier, indem kühlen Bürozimmer, das dunkelbraun glänzte undnach den edlen Ledermöbeln roch, hier fand Anna endlichRuhe. Für kurze Zeit wollte sie alleine sein. Sie wolltedurchatmen, in der Hoffnung, dadurch die Wut zu ver-drängen.'Warum klopft mein Herz so schnell? Hübsche Männer se-he ich ständig... Unverschämte erst recht.'Anna verstand die Welt nicht mehr. Ihre eigene Welt, inder sonst alles seinen Platz zu haben pflegte. Sie hoffte,dass sich ihr Kreislauf beruhigen sollte, würde sie sich nuroft genug sagen, dass dieser Mark nichts besonderes, garabstoßend wäre. Stark und schön war er zweifellos. SeinCharakter allerdings ließ offensichtlich zu wünschen üb-rig, und genau darauf musste Anna sich jetzt konzentrie-ren, wollte sie nicht den Verstand verlieren. Auch mochtesie ihre beste Freundin nicht noch einmal grundlos an-schnauzen. Das durfte sich nicht wiederholen. Es mussteaufhören. Sofort.

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Als hätte sie zu jemand anderem als sich selbst geredet,fuchtelte Anna mit den Händen herum. 'Geht es hier gera-de um Kara, oder um Mark? Um beide? Na, wer ist wohlwichtiger?' Sie war sich aber nicht mehr sicher. 'Erstmalgeht es um mich', dachte sie dann.Zaghaft trat die junge Frau weiter in den Raum hinein. Siefühlte sich wohl in dem Zimmer, doch es gehörte nichtihr. Es gehörte dem Vater von Joshua. Dem Vater einesBekannten, der im Elternhaus gerade eine riesige, unper-sönliche Party schmiss. Dieser flüchtige Freund... Annakonnte nicht sagen, woher sie ihn überhaupt kannte. Ir-gendwann war er da gewesen, als kleiner Teil ihres Le-bens. Seitdem machte er ab und zu mit Kara rum. Joshuawar in Ordnung. Er war ein Draufgänger, doch er tat nie-mandem weh. Nicht soweit Anna wusste. Nein, eigentlichwar dieser Bekannter Joshua okay. Er war nur ausgerech-net der beste Freund von Mark.Anna entglitt ein tiefer Seufzer, als dadurch Mark in ihreGedanken zurückfand. Nicht, weil sie ins Schwärmen ge-riet. Vielmehr musste sie feststellen, dass sie es für keineeinzige Minute ausgehalten hatte, nicht an den schönenFremden zu denken. Obwohl sie sich genau das vorge-nommen hatte. Oder gerade deswegen."Oh Gott!", rief sie vor Entsetzen über sich selbst. Sieschlug die Hände vor den Kopf, um sich darin zu vergra-ben. Schließlich seufze sie erneut, diesmal lauter."Klingt es immer so, wenn du stöhnst?“, hörte sie eineMännerstimme fragen.Anna erschrak.

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Abgesehen davon, dass ein Fremder anmaßend zu ihr ge-sprochen hatte, hörte es sich an, als würde er sich direkthinter ihr befinden. Ganz nah. Anna nahm an, Gespensterzu sehen, als sie sogar seinen warmen Atem im Nacken zuspüren meinte.„Hm, was?!“ Sie drehte sich um.Dabei hätte sie den Mann fast geschlagen, so nahe war eran sie herangetreten. Gekonnt machte er einen Satz nachhinten, bevor sie ihn mit dem in der Bewegung ausholen-den Arm hätte treffen können. Ein paar Schritte nochging er rückwärts, ohne den Blick von ihr abzuwenden.Ohne eine deutbare Mimik zu zeigen. Nun stand er imdunklen Türrahmen des noch dunkleren Zimmers. Die ei-ne Hand war in die Hosentasche gesteckt, die andere anden Rahmen gelehnt. Annas Schock fand seinen Höhe-punkt, als sie erkannte, dass es niemand anderes als Markwar, der vor ihr stand. Ausgerechnet er. Ausgerechnetjetzt. Ausgerechnet hier. Ausgerechnet überhaupt. Undwas hatte er da eben gesagt?„Was...“ Anna musste sich besinnen. Sie durfte sich nichtsanmerken lassen. „Du hier? Was...“ Sie brauchte eine Wei-le. „Was willst du?!“, fragte sie letztendlich zornig.Anna wollte ihn schnell loswerden. Jede Sekunde in An-wesenheit dieses Mannes schien gefährlich. Seine Gegen-wart machte sie verrückt und genervt zugleich – ebenwahnsinnig. Doch wenn er oder jemand anderes davon er-fahren hätte... niemals hätte Anna sich das verzeihen kön-nen. Nun sah er sie hier, zurückgezogen und ganz alleinauf der coolsten Party des Monats. Nicht einmal ihre beste

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Freundin war jetzt noch bei ihr. Sie mochte gar nicht dar-an denken, wie das für ihn aussehen musste.Die Unsicherheit breitete sich weiter aus. Ein Grund mehr,abweisend zu werden. Verletzen oder verletzt werden,lautete die Devise, die Anna als Kind eingetrichtert wor-den war. Ein für die junge Frau durchaus plausibles Le-bensmotto, welches ihrer Ansicht nach schmerzfreieJahre versprach.Dennoch hielt Anna es für klug, einen durchtrainiertenfremden Mann nicht unnötig zu verärgern. Darum wie-derholte sie ihre unfreundliche Frage nicht, sondern war-tete ab. Mark wirkte leicht reizbar. So wie Anna, und dochauf seine eigene Weise. Die Frau wollte es nicht riskieren,schon wieder angegriffen zu werden. Die vier Lüstlingevon neulich hatten ihr gereicht.Anna wartete ab. Mit jeder Sekunde, die verstrich, verlorsie an Selbstbewusstsein. Sie war sich nicht sicher, wie siesich geben sollte. Welchen Blick sie aufsetzen sollte. Siewünschte, er würde nur irgendetwas antworten und ge-hen. Einfach gehen. Jetzt. Für immer.Mark aber stand still. Weder regte er den Körper, nochlegte er einen Gesichtsausdruck an den Tag, der Anna hät-te weiterhelfen können. Einzig allein den durchbohren-den Blick behielt er. Die klaren Augen schienen tief in sievorzudringen. So fühlte es sich für sie an. Unter anderenUmständen hätte er sie damit fesseln können. Ein Liebha-ber mit solchen Augen und solch einem Blick hätte sie zu-tiefst erregt. Bei Mark hingegen wirkte das Schauspielmusternd und wertend. Das gefiel Anna nicht.

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Es machte sie nervös. Doch Mark blieb still. Keine Bewe-gung, kein Wort.Der jungen Frau wurde das allmählich zu viel. Sie begannan ihren zarten Fingern zu spielen.'Was passiert hier?', fragte sie sich. 'Hat er mich geradewirklich nach meinem Stöhnen gefragt?'Schon immer hatte Annas sanfte, ruhige Stimme auf Män-ner jeden Alters anziehend gewirkt. Erst recht taten es ih-re lustvollen Ausrufe. Sie bezweifelte jedoch, dass es Markwirklich darum ging. Nur zu gut konnte sie sich vorstel-len, dass er bei der Bemerkung gegrinst hatte. Dass er sieheimlich ausgelacht hatte, als er hinter ihr gestanden hat-te. Anna wusste nicht viel, aber sie war sich sicher, ihmging es darum, sie zu hassen. Oder einfach zu ärgern. Wo-mit er ihr mehr Bedeutung zusprechen würde, als sie er-wartet hätte. Überfordert von den eigenen Gedankenbegann sie an einer ihrer Locke zu drehen.Ein paar Mal zog sie an ihrem Haar, bis Mark die Span-nung endlich löste, indem er etwas von sich gab, das dieSpannung allerdings gleich danach wieder fest anzog.„Du hast mich schon verstanden, oder nicht?“Für Anna fühlte es sich an, als hätte ihr jemand einenStein an den Kopf geworfen. Sie konnte nicht anders, alserneut nachzufragen. „Wie bitte?!“Plötzlich verließ Mark den Türrahmen und ging einenSchritt auf sie zu. „Du brauchst dich doch nicht zu schä-men. Klang niedlich, dein Stöhnen.“'Was ist niedlich, hm? Was? Was willst du? Was soll dieScheiße? Verdammt nochmal!' In Annas Kopf war viel los.

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Sie konnte nicht sagen, ob sie genervt, verwirrt oder wü-tend sein sollte. Klar war ihr bloß: Schmeicheln wollte erihr nicht. Ganz sicher nicht.„Was soll das, hä?!“, meinte sie schließlich, nachdem siesich selbstsicherer hingestellt hatte. „Du redest komi-sches Zeug. Geh wen anders nerven.“ Sie achtete darauf,es laut und abwertend herüberzubringen. Er sollte schleu-nigst von hier verschwinden.Die Masche funktionierte insofern, dass Mark defensiv dieHände hob. „Hey, ganz ruhig, ja?“ Er wagte einen nächs-ten, kleineren Schritt Richtung Anna. „War doch nurSpaß.“Sie zeigte ein aufgesetztes Lächeln. „Ja, sehr witzig...“„Reden wir lieber über was anderes“, hieß es mit einemMal von ihm. Ihre offensive Art konnte ihn anscheinendnicht beirren.Anna schaute auf.Er fuhr fort: „Du schuldest mir immer noch eine Erklä-rung. Und dem Jungen eine Entschuldigung.“Anna verdrehte die Augen so, dass er es sehen konnte.„Meine Güte, das Thema also wieder?! Vergiss es!“„Sicher?“„Ja.“„Ich soll's vergessen, Anna?“„Ja, Mann!“Mark zeigte Unverständnis. „Was bist du denn so zickig?“Er konnte genauso abwertend sein wie sie.Wenn Anna eins hasste, dann war es, 'zickig' genannt zuwerden. Weil es in den meisten Fällen stimmte.

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Vor lauter Empörung blieb Anna stumm.„Beruhig dich einfach“, meinte er daraufhin in sanftemTon, „Ist doch alles gut.“'Gut? Alles ist gut? Was ist gut?' Sie ging einen Schritt zu-rück.Ihr grimmiger Ausdruck war erschlafft. Zurückgebliebenwar ein Gesicht der Unsicherheit. Anna hatte Angst. Angstvor dem, was Mark ihr noch alles sagen wollte in diesemRaum. Vielleicht waren sie beide müde. Vermutlich warensie erschöpft. Womöglich hatte einer von ihnen heute zuviele Cocktails zu sich genommen. Ihrer Meinung nachwar es definitiv dieser unverschämte Herr gewesen.„Du sprichst wirr daher“, sagte sie schließlich wieder.„Ach, tu ich das?“ Er grinste. Als wäre es nur ein Spiel.„J-Ja... Ja schon.“ Sie murmelte es mit zittriger Stimme.Darauf konzentriert, ihm zu folgen und zu kontern, be-merkte Anna nicht, dass Mark sich ihr weiter näherte.Achtete sie mal nicht auf die Worte, die seinen Mund ver-ließen, verlor sie sich in dem atemberaubenden Anblick,den er ihr bot. Selbst die Art und Weise, wie sich seine fei-nen Lippen bewegten, fand sie anziehend.Ob er wusste, wie schön er war? Ob es ihm wichtig war,gut auszusehen? Ob er gerne umschwärmt wurde? Ob eroberflächlich war? Ob er deswegen viel trainierte? Ob ersie gerne verunsichert sah?Wieder war es passiert: Anna war abgedriftet, hin zu posi-tiven Empfindungen für ihn. Während er vor ihr standund sie auch noch mit seltsamen Sätzen kirre werdenließ.

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Sie hasste es, sich Schwächen eingestehen zu müssen. Siewar doch stark. Unnahbar. Schwer beeindruckbar war sie.Eigentlich. Annas Vorhaben hatte darin bestanden, dieZuneigung zu vertuschen. Doch die Frage, wie es über-haupt dazu kommen konnte, Zuneigung aufzubauen, ließsie nicht mehr los.„Tu ich das?“, wiederholte Mark flüsternd und sah ihr indie Augen. Er spitzte die Lippen, ganz leicht. Die Augenwaren halb geschlossen. „Spreche ich wirr daher?“Erst jetzt, da er leiser geworden war, bemerkte Anna, dasser direkt vor ihr stand. Wie nah er ihr gekommen war.Wieder einmal. Diesmal frontal. Da war er wieder, derwarme Atem. Der durchdringende Blick. Die Nähe, die sieerschaudern ließ.Ein kaum hörbarer Seufzer war alles, was Anna von sichgab. Wie gelähmt war sie. Von der Kälte des Zimmers warnichts mehr zu spüren. Anna war heiß geworden. Es fühl-te sich schrecklich an.Im nächsten Moment war Mark ihr so nahe, dass er nacheiner ihrer langen Locken greifen und damit spielenkonnte. Er streifte ihr eine Strähne aus dem Gesicht undfuhr ihr durch das dicke Haar. Ganz langsam, mit Genuss.Für keine Sekunde unterbrach er den Blickkontakt, derAnna gefesselt hielt. Mark deutete ein Lächeln an. Ihrschnürte es die Kehle zu. Da hatte sie endlich eine Mimikvon ihm entdeckt. Aber was für eine? Nicht zu wissen, ober mit ihr spielte oder gar auf sie herabsah – das war grau-sam für sie. Weil es um Mark ging.

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Das nächste, was Anna wahrnahm, war seine Hand auf ih-rer Wange. Er war dabei, sie anzufassen. Sie festzuhalten.Wie bei der ersten Bewegung für einen Kuss.„Hey“, sagte sie und wich zurück. Bei dem Körperkontaktbesann sie sich. Er hatte die Grenze überschritten.Weit kam sie allerdings nicht. Längst hatte er sie an denHüften gepackt. Geistesgegenwärtig festigte er den Griffsofort, als er den Fluchtversuch bemerkte. Dadurch warder Versuch zum Scheitern verurteilt, ehe er wirklich be-gann.Anna presste sich weg, doch es half nichts. Sie war einenormal gebaute Frau ohne Fitness, er dagegen stark undbestimmend. Das nutzte er aus. Es schien, als wüsste ergenau, was er will. Obwohl sie schimpfte und tobte, ließ ernicht locker. Sie gegen ihren Willen zu berühren, sogarfestzuhalten, störte ihn nicht. Mark beging damit eineStraftat. Ihm war es egal. Scheinbar wollte er es so.'Warum nur, warum?', schoss es der Gefangenen durchden Kopf. 'Was geschieht mit mir?'Es gelang ihr, den Kopf wegzudrehen und sich hinter ih-ren Locken zu verstecken. Mark ging die Sache härter an.Für einen kurzen Augenblick rüttelte er sie leicht, damitsie ihren Blick wieder auf ihn richtete.Mit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an. Da packte ersie mit der einen Hand an der Schulter – die andere bliebum ihre Hüfte geklammert. Der zügige Griffwechsel er-möglichte es ihr nicht, die Gelegenheit zu nutzen und zufliehen. Mark war schnell. Stark. Dominant. Zu gut für An-na. Weit überlegen. Ein Grund mehr für sie, sich zu fra-

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gen, was er wollte. Und warum er es sich auf diese Art ho-len musste. Hätte er sie nicht harmloser verletzen kön-nen? Konnte er sie nicht einfach beleidigen und gehen?Weshalb schenkte er ihr überhaupt Beachtung? Warumhier, wo sie doch offensichtlich ungestört sein wollte?'Ungestört' war vielleicht das richtige Stichwort.'Ist er ein Lustmolch? Ein Trophäensammler, der die will,die er nicht haben kann?'„Oh Gott...“, kam aus der geschwächten Frau heraus. Dies-mal nicht, weil sie nachdachte.Denken konnte Anna nicht mehr. Mark hatte sie soebenam Hals berührt. Erst war es ein sanftes Streicheln mitdem Zeigefinger gewesen. Jetzt liebkoste er sie an selberStelle mit diesen schmalen, warmen Lippen.„Hör... Hör auf...“, sagte sie leise, fast wimmernd.Sie war nicht in der Lage, sich zu bewegen, geschweigedenn ihn anzusehen. Sie schämte sich für das, was geradepassierte. Dass er sie verletzlich erleben durfte. Dennochkonnte sie sich nicht wehren. Hätte er sie nicht festgehal-ten, so hätte sie immer noch der Schock gelähmt. Annawar nicht nur überfordert, sie war überwältigt. Von Ge-fühlen und Erlebnissen, Sehnsüchten und Ängsten zu-gleich. Vor ihren Augen spielte sich eine Lichtshow ab, dienur sie sah.Dem Mann entglitten beim Liebkosen sanfte Laute – alsGegensatz zu seiner fordernden Position. Mit Leichtigkeitnahm er sie ein. Ganz für sich. Bei den nächsten Liebko-sungen kam die Zunge mit ins Spiel.Sie rief: „Mark! Nein! Ah, Mark!“

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„Ja. Sag ruhig meinen Namen.“ Er blieb leise. „Das gefälltmir.“ Mark grinste kurz.„Nein! Ah, nein... Lass das! Geh weg von mir!“Sie versuchte sich loszureißen. Es war zu spät. Er hatte esgetan. Am Kinn hatte er sie gepackt, an sich herangezo-gen und geküsst. Auf den Mund. Seine Lippen auf ihren.Fest presste er sie an sich heran, die Augen geschlossen,das Gesicht gewohnt ausdruckslos. Anna hingegen starrtegeradeaus und gab gequälte Geräusche von sich.Um sie besser halten zu können, fasste Mark ihr an denHinterkopf. Anna wollte etwas sagen. Irgendetwasschimpfen. Fordern, dass er loslässt. Mark nutzte die Gele-genheit, die sich dadurch bot, und steckte seine Zunge inihren geöffneten Mund.Anna riss die Augen weiter auf. Ihr Gesicht verzerrte sich,so weit es ihr bei diesem Kuss nur möglich war. Sie fühlteeinen Wechsel aus Überraschung, Ekel und Furcht.'Mit der Zunge? Hat er denn gar keine Skrupel?' Sie konn-te nicht fassen, wie weit er ging, bloß um sie zu kränken –war ein Zungenkuss doch zu intim für einen Streich.„Zier dich nicht.“Als er das sagte, schnappte sie nach Luft. Ehe sie sich wie-der fassen konnte, war er auch schon wieder drin. Dasfeuchte Spiel sollte noch nicht zu Ende sein.Wieder machte sie Geräusche. Sie wurden länger, lauter.Ein neues Empfinden kam hinzu: Gefallen. Anna gefiel,was er da machte. Wie er es machte. Anna gefiel Mark. Indiesem Moment. Sie fragte sich, ob er ähnlich für sie emp-fand. Laut ihrer neuesten Hoffnung war es mehr als nur

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ein Spiel. Für eine Albernheit zeigte er zu viel Einsatz –davon war sie nun überzeugt. Fest stand: Küssen, daskonnte er. Das konnte er richtig gut. Anna spürte einKribbeln, das sich zu größerer Unvernunft zu entwickelndrohte.Einmal noch sagte sie seinen Namen – leise und unter-würfig zart. Es war soweit. Sie war ihm verfallen. Nun sahsie keine Chance mehr, zu entkommen. Anna gab auf, gabsich hin. Darum entspannte sich ihr Körper plötzlich. Siefasste ihm an die Ellenbogen und krallte sich daran fest.Damit erwiderte sie seine Geste. Annas Zunge brachteneue Bewegung ins Spiel. Sekunden später wagte sie es,mit der Handfläche über seinen harten Oberarm zu fah-ren. Wie stark er doch war...Aber so plötzlich wie sie sich ergeben hatte, so schlagartigänderte Mark dann seine Stellung. Er lockerte den Griff,ließ sie schließlich los und drückte sie sanft nach hinten.Der Kuss war vorbei. Mark hatte es ihr damit höflich, aberdirekt zu verstehen gegeben.Anna atmete durch. Dabei sah sie ihn erschrocken an. 'OhMann, was kommt jetzt?'Doch es kam nichts. Mark stand einfach da. Zwar sah ersie immer noch an, aber Anna konnte nicht heraussehen,was er dabei dachte. So blieb die Erwartung hoch. Siewollte warten, sehen, was als nächstes kam. Sie wolltenicht weglaufen oder schreien. Sie wartete ab. Vielleichtwürde er sie nochmal küssen. Ein Teil von Anna hofftedas.

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Auch Mark schnaufte einmal durch. Anna deutete es alsMischung aus Erregung und Erschöpfung. Schließlich hat-te sie es ihm nicht gerade leicht gemacht, die Szene ge-schehen zu lassen. Es war anzunehmen, dass es ihnkörperlich beansprucht, aber auch angemacht hatte.„Also doch“, sagte er auf einmal. Das Flüstern war ver-schwunden, die normale Lautstärke zurückgekehrt. „Soklingt es, wenn du stöhnst.“Anna zuckte zusammen. „Hm?“Er hatte es matt gesagt. Stumpf. Anteilnahmslos. Für sieklang es sogar... unbeeindruckt.Sie zog die eine Augenbraue hoch. „Wie?!“„Tja, na ja“, kam bloß von Mark.Sie wiederholte: „Was, bitte?!“ Dabei ging sie einen halbenMeter auf ihn zu. Mit prüfendem Blick. Die selbstsichere,herabsehende Anna war wieder da. Kurz: Die Zicke.Mark steckte beide Hände zurück in die Hosentaschen sei-ner Jeans. „Was denn?“ Längst hatte er sich von ihr abge-wandt. Zur Zeit beobachtete er den abgedunkelten Raum.„Was soll das heißen?“, fragte sie laut. Anna wusste, dasssie unfreundlich wirkte. Sie war es für einen guten Zweck.Als Maßnahme. Aufgetragen vom hoheitlichen Selbst-schutz. „Antworte!“Ein jeder Mensch trägt Scharen von Gegensätzen in sich.So auch Mark. Auch Anna. Sie war wieder die Alte. Als wä-re die Szene von eben nur ein Aussetzer gewesen. Wahr-lich eine Ausnahmesituation. Ein Ausrutscher, über denman nicht weiter nachzudenken braucht.Mark warf ihr ein leichtes Kopfnicken zu. „Bleib locker,

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ja? Was ist denn nun mit dem Jungen? Wirst du dich ent-schuldigen?“Anna kochte vor Wut. Intuitiv ballte sich ihre Hand zu ei-ner Faust. Sie zitterte am ganzen Körper.„Du...“ Sie pausierte, um sich zu sammeln. Der Zorn wurdenur noch größer. Sie knurrte: „Es war alles... nur ge-spielt?!“Er fragte nach, was sie meine.„Tu nicht so unschuldig! Ich hab dich durchschaut...Mark.“„Hä, was? Ich...“„Ach, halt die Klappe!“, unterbrach sie ihn. „Du bist wi-derlich... erbärmlich.“Sie schrie in den Raum. Es musste raus. Nun ärgerte siesich über sich selbst. 'Ich dummes Ding!'„Autsch“, gab er von sich. „So denkst du über mich? Ichbin widerlich?“„Boah, lass endlich das Frage-Spielchen! Alle Spielchen!“Stampfend ging sie dabei auf ihn zu.Schlagen wollte sie ihn nicht. Sie wollte brüllen und umsich hauen. Sie wollte ihn beleidigen. Bis aufs Äußerste. Ersollte verletzt werden. Härter als sie gerade. Mark hatte estatsächlich gewagt, Anna willenlos zu machen, um siedann vor den Kopf zu stoßen. Er hatte sie blamiert. In ei-nem intimen Moment, welcher nur vorgespielt gewesenwar. Was für eine Schande für sie beide.Wieder hob er die Hände, um sie zu beruhigen. Mit dieserPose kannte er sich anscheinend aus. „Hey, hey! Kommrunter.“

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Kurz wartete er, bis er sich sicher war, dass sie still bliebund er wirklich sprechen durfte. „Ich geb zu,“, begann er,nachdem er seine Hände wieder gesenkt hatte, „dass dieSache aus dem Ruder gelaufen ist. Aber ich wollte...“„Die Sache?! So nennst du das also?! Oh Mann!“So schrill und krächzend wie sie hatte er noch keine Frauschimpfen gehört. Tatsächlich kannte er keine einzige,die ihre Gefühle im Wechsel dermaßen stark verbarg undzum Ausdruck brachte. Wäre sie eine völlig Fremde gewe-sen, hätte er glatt Angst bekommen können. Aber war siedas denn nicht – eine Fremde?Erneut brachte er zum Ausdruck, dass er nicht verstand:„Also jetzt bist du diejenige, die wirres Zeug labert.“ Erblieb so ruhig und geduldig, wie es ihm nach diesem emo-tionalen Auftritt ihrerseits möglich war. „Wovon sprichstdu eigentlich, Mädchen?“Genauso ungern wie 'zickig' wurde Anna 'Mädchen' ge-nannt. Besonders in so einer Situation von einem solchenfrauenhassenden Casanova.„Hmpf!“, machte sie.Nun war Anna es, die an ihr Gegenüber herangetretenwar, um ihm tief in die Augen zu sehen. Mark schien dasins Schwitzen zu bringen, denn er pustete sich selbst insGesicht, und damit einzelne dunkle Strähnen aus demBlickfeld. Erst jetzt bemerkte Anna den Schweiß auf sei-ner Stirn. Anschließend registrierte sie die Ruhe in seinenAugen.'Will er vielleicht wirklich, dass ich mich beruhige?'Wieder einmal hatte Mark es scheinbar geschafft, die 21-

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Jährige zu verunsichern, ohne bewusst etwas dafür getanzu haben. Und wieder einmal stand sie regungslos da.Schließlich sagte er mit ruhiger Stimme: „Bitte entschul-dige. Es musste sein.“Das traf Anna wie ein Stich ins Herz. Sie verstand, dass erseine Schandtat dadurch gerade gestanden hatte. Esstimmte also: Mark hatte mit Anna gespielt, um sie bloß-zustellen. Aus Rache für den kleinen Jungen – daran be-stand für sie jetzt kein Zweifel mehr. Er fand also, es hatteeinfach sein müssen.Ohne weiter darüber nachzudenken, holte Anna aus, umihm eine kräftige Ohrfeige zu verpassen. Sie tat es alsodoch. Beim Aufprall knallte es einmal laut. In ihrer Wahr-nehmung schien sich der Knall ewig hinzuziehen. Gut so.Er hatte es verdient.Sogleich hielt Mark sich die Wange, denn es branntefürchterlich. Mit Wucht war er getroffen worden. Doch ersagte erst keinen Ton.Er starrte nur zu Boden, bis er noch einmal verlauten ließ,nur wesentlich leiser: „Bitte entschuldige.“Ihr Gesicht verfinsterte sich, als sie meinte: „Was bist du?Ein selbsternannter Richter gegen Unhöflichkeit? DerJunge von der Straße hat mich doch längst vergessen!“Einen letzten vorwurfsvollen Blick schenkte sie ihm noch.Dann drückte sie ihn weg, Schulter gegen Schulter, umdas Zimmer zu verlassen. Mark gab sofort nach.Keiner von ihnen drehte sich noch einmal zum anderenum. Niemand verlor ein Wort. Mark drehte den Kopf umeinige Grad, wagte es jedoch nicht, ihr nachzusehen.

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Auch wenn er es nur zu gern getan hätte. Er hatte es nichtanders verdient. Immer noch schmerzte die Stelle, an derer geschlagen worden war. Zu Recht.Anna war auf dem Weg zurück zur Feier. Im Hauptsaalwollte sie sich verlieren. Die Menge sollte sie retten. Hierwürde Mark es nicht wagen, sie noch einmal anzuspre-chen, geschweige denn anzufassen.Eine Weile noch blieb er stehen, bis er sich umdrehte unddurchatmete. Er blickte zum Türrahmen, welcher weicheLichtstrahlen ins Zimmer fallen ließ. Kurz ging er das Er-lebnis von eben noch einmal durch. Erst rieb er sich dieAugen, anschließend fuhr er sich durchs ansatzweise ver-schwitzte Haar. Wieder schnaufte er. Mit gesenktem Kopftrottete er aus dem Zimmer. Lange hielt der Schwermutallerdings nicht an: Zurück beim Türrahmen verpasste erder Zimmerwand einen ordentlichen Hieb. Mark schrie.Er war verärgert.'Bitte entschuldige', wiederholte er in Gedanken. 'Ent-schuldige, Mädchen, dass ich nicht härter zu dir war. Hät-te ich mich besser angestellt, wärst du mir nicht so leichtentwischt.'

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