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308 Pflegezeitschrift 6/2007 Viele Heimbewohner leiden an Demenz. In einer Untersuchung von Jakob et al. (2002) wiesen 64,3 Prozent aller Pflege- heimbewohner in Leipzig eine Demenz auf, 28,7 Prozent litten sogar an einer schweren Demenz. Formen der schwe- ren Demenz sind gekennzeichnet durch einen umfassenden Verlust verschiede- ner Funktionsfähigkeiten. Beeinträchtigt ist unter anderem die Fähigkeit, Sprache zu verstehen und selbst zu sprechen (Zaudig & Möller 2005). Dadurch entstehen erhebliche Probleme. Eines betrifft die Einschätzung, ob ein Betroffener Schmerzen hat. Eigentlich gilt, dass nur der Betroffene selbst seine Schmerzen beurteilen kann und die Fach- kräfte auf seine Auskunft angewiesen sind (McCaffery & Pasero 1999). Wäh- rend Menschen mit einer leichten bis mittleren Demenz Auskunft geben und oft auch mit Schmerzskalen umgehen können, sind Personen mit schwerer De- menz dazu nicht mehr in der Lage (Had- jistavropoulos 2005). Daraus ergibt sich ein bedeutsames Problem, bedenkt man, dass schätzungsweise 45 bis 80 Prozent al- ler Bewohner von Pflegeheimen Schmer- zen haben (AGS 2002). Verhaltensbeobachtung Ohne die Auskunft des Bewohners bleibt Pflegenden nichts anderes übrig, als aus seinem Verhalten auf mögliche Schmer- zen zu schließen. Das ist nicht einfach, denn auffällige Verhaltensweisen bei Menschen mit Demenz können vielfälti- ge Ursachen haben (Halek & Bartholo- meyczik 2006). Allerdings scheint eine „globale“, nicht auf Kriterien gestützte Fremdeinschätzung des Schmerzes durch Pflegekräfte nicht besonders zuverlässig zu sein (vgl. Hadjistavropoulos 2005), ebenso wie die Einschätzung durch Ärz- te oder Angehörige. Es wurde daher ver- sucht, schmerztypische Verhaltensindi- katoren zu entwickeln. Im Kasten findet sich eine Zusammenstellung der ameri- kanischen Gesellschaft für Geriatrie (AGS 2002). International wurden zahlreiche Ein- schätzungsbögen entwickelt, die die Pfle- genden bei der Verhaltensbeobachtung unterstützen sollen. Ziel ist es, die für Schmerzen typischen Verhaltensweisen zu erfassen und sie von anderen Verhal- tensauffälligkeiten zu unterscheiden. Diese Bögen stimmen nur zum Teil mit der Empfehlung der AGS überein und sind unterschiedlich gut fundiert und er- forscht. Einen Überblick über die meis- ten international vorhandenen Instru- mente und ihre Qualität geben Herr et al. (2006) und Zwakhalen et al. (2006). Zwei der Instrumente aus dem Ausland liegen auch in deutscher Fassung vor. Beurteilung von Schmerzen bei Demenz (BESD) BESD wurde unter dem Namen Pain As- sessment in Advanced Dementia (PAI- NAD) in den USA von Warden et al. (2003) entwickelt. Neben der deutschen Fassung (Basler et al. 2006) gibt es eine italienische Version (Costardi et al. 2007). Erarbeitet wurde die deutsche Version vom Arbeitskreis Alter und Schmerz der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS). Im Arbeitskreis vertreten sind Ärzte, Psychologen und Pflegefachpersonen. Erhältlich ist das In- strument samt einer Anleitung unter www. dgss.org/service.asp. ••Aufbau und Anwendung: BESD besteht aus den Items Atmung, negative Lautäußerung, Gesichtsaus- druck, Körpersprache und Trost (die Fähigkeit des Patienten, getröstet zu werden). Je nach beobachtbarem Ver- halten werden pro Item zwischen null und zwei Punkte vergeben,was eine Ge- samtpunktzahl zwischen null und zehn ergibt. Das Instrument wird von einer Pflegefachkraft angewandt, nachdem sie den Betroffenen für einige Minuten beobachtet hat. Eine Vorgabe, in wel- cher Situation die Beobachtung zu er- folgen hat, gibt es nicht. In welchem Umfang BESD in Deutschland bereits im Einsatz ist, ist nicht bekannt. •• Studienlage: Für die amerikanische Ursprungsver- sion wird von einer moderaten inter- nen Konsistenz und guter Inter-Rater- Mit zunehmender Erkrankungsschwere verlieren demenziell erkran- kte Menschen Fähigkeiten, die es ihnen erlauben, ihre Empfindungen und Eindrücke anderen Menschen unmittelbar mitzuteilen. Dies gilt auch für die Äußerung von Schmerzen. > Instrumente für die Schmerzeinschätzung bei Personen mit schwerer Demenz: Hilfsmittel für die Beobachtung, aber kein Ersatz der Fachlichkeit Thomas Fischer pflegepraxis •• Interne Konsistenz (Homogenität) Sie ist ein Kriterium der Reliabilität (Zuverlässigkeit) und gibt an, inwieweit die einzelnen Items oder Subskalen das Merkmal oder Konzept erfassen, das mit der gesamten Skala erhoben werden soll. •• Inter-Rater-Reliabilität Sie sagt aus, inwieweit die mit dem Instrument ermittelten Werte überein- stimmen, wenn dieses gleichzeitig von mehreren Beurteilenden bei einer Person angewandt wird. •• Test-Retest-Reliabilität Hiermit wird angegeben, in welchem Maße die mit dem Instrument ermittel- ten Werte durch äußere Umstände be- einflusst werden. Es wird geprüft, wie sie sich bei einer zweiten Anwendung im Vergleich zur ersten ändern. Bei der Bestimmung dieser Form der Reliabi- lität muss berücksichtigt werden, dass das erfasste Phänomen in seinen Ausprägungen schwanken kann. •• Validität (Gültigkeit) Sie ist ein wichtiges Gütekriterium für Beobachtungsinstrumente und bringt zum Ausdruck, inwieweit mit dem Instrument das Merkmal oder Konzept erfasst wird, das beurteilt werden soll. Glossar

InstrumentefürdieSchmerzeinschätzungbeiPersonenmitschwerer ... · Instrument ermittelten Werte überein-stimmen, wenn dieses gleichzeitig von mehreren Beurteilenden bei einer P

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308 Pflegezeitschrift 6/2007

VieleHeimbewohner leiden anDemenz.In einer Untersuchung von Jakob et al.(2002) wiesen 64,3 Prozent aller Pflege-heimbewohner in Leipzig eine Demenzauf, 28,7 Prozent litten sogar an einerschweren Demenz. Formen der schwe-ren Demenz sind gekennzeichnet durcheinen umfassenden Verlust verschiede-ner Funktionsfähigkeiten. Beeinträchtigtist unter anderemdie Fähigkeit, Sprachezu verstehen und selbst zu sprechen(Zaudig &Möller 2005).

Dadurch entstehenerhebliche Probleme.Eines betrifft die Einschätzung, ob einBetroffener Schmerzen hat. Eigentlichgilt, dass nur der Betroffene selbst seineSchmerzenbeurteilenkannunddie Fach-kräfte auf seine Auskunft angewiesensind (McCaffery & Pasero 1999). Wäh-rend Menschen mit einer leichten bismittleren Demenz Auskunft geben undoft auch mit Schmerzskalen umgehenkönnen, sind Personenmit schwerer De-menz dazu nicht mehr in der Lage (Had-jistavropoulos 2005). Daraus ergibt sichein bedeutsames Problem, bedenktman,dassschätzungsweise45bis80Prozental-ler Bewohner von Pflegeheimen Schmer-zen haben (AGS 2002).

Verhaltensbeobachtung

OhnedieAuskunft des Bewohners bleibtPflegenden nichts anderes übrig, als ausseinemVerhalten aufmögliche Schmer-zen zu schließen. Das ist nicht einfach,denn auffällige Verhaltensweisen beiMenschenmitDemenz könnenvielfälti-ge Ursachen haben (Halek & Bartholo-meyczik 2006). Allerdings scheint eine„globale“, nicht auf Kriterien gestützteFremdeinschätzungdesSchmerzesdurchPflegekräfte nicht besonders zuverlässigzu sein (vgl. Hadjistavropoulos 2005),ebenso wie die Einschätzung durch Ärz-te oder Angehörige. Es wurde daher ver-sucht, schmerztypische Verhaltensindi-katoren zu entwickeln. ImKasten findetsich eine Zusammenstellung der ameri-kanischen Gesellschaft für Geriatrie(AGS 2002).International wurden zahlreiche Ein-

schätzungsbögenentwickelt, diedie Pfle-genden bei der Verhaltensbeobachtungunterstützen sollen. Ziel ist es, die für

Schmerzen typischen Verhaltensweisenzu erfassen und sie von anderen Verhal-tensauffälligkeiten zu unterscheiden.Diese Bögen stimmen nur zum Teil mitder Empfehlung der AGS überein undsindunterschiedlich gut fundiert under-forscht. Einen Überblick über die meis-ten international vorhandenen Instru-menteund ihreQualität gebenHerr et al.(2006) und Zwakhalen et al. (2006). Zweider Instrumente ausdemAusland liegenauch in deutscher Fassung vor.

Beurteilung von Schmerzen beiDemenz (BESD)BESDwurde unter demNamen Pain As-sessment in Advanced Dementia (PAI-NAD) in den USA von Warden et al.(2003) entwickelt. Neben der deutschenFassung (Basler et al. 2006) gibt es eineitalienischeVersion (Costardi et al. 2007).Erarbeitet wurde die deutsche VersionvomArbeitskreis Alter und Schmerz derDeutschen Gesellschaft zum Studiumdes Schmerzes (DGSS). Im Arbeitskreisvertreten sind Ärzte, Psychologen undPflegefachpersonen. Erhältlich ist das In-strument samt einer Anleitung unterwww. dgss.org/service.asp.••Aufbau und Anwendung:BESD besteht aus den Items Atmung,negative Lautäußerung, Gesichtsaus-druck, Körpersprache und Trost (dieFähigkeit des Patienten, getröstet zuwerden). Je nach beobachtbarem Ver-haltenwerden pro Item zwischen nullundzweiPunktevergeben,waseineGe-samtpunktzahl zwischennullundzehnergibt. Das Instrument wird von einerPflegefachkraft angewandt, nachdemsie denBetroffenen für einigeMinutenbeobachtet hat. Eine Vorgabe, in wel-cher Situation die Beobachtung zu er-folgen hat, gibt es nicht. In welchemUmfang BESD in Deutschland bereitsim Einsatz ist, ist nicht bekannt.

••Studienlage:Für die amerikanische Ursprungsver-sion wird von einer moderaten inter-nen Konsistenz und guter Inter-Rater-

Mit zunehmender Erkrankungsschwere verlieren demenziell erkran-kte Menschen Fähigkeiten, die es ihnen erlauben, ihre Empfindungenund Eindrücke anderen Menschen unmittelbar mitzuteilen. Dies giltauch für die Äußerung von Schmerzen.

> Instrumente für die Schmerzeinschätzung bei Personenmit schwerer Demenz:

Hilfsmittel für die Beobachtung,aber kein Ersatz der FachlichkeitThomas Fischer

pflegepraxis

•• Interne Konsistenz (Homogenität)Sie ist ein Kriterium der Reliabilität(Zuverlässigkeit) und gibt an, inwieweitdie einzelnen Items oder Subskalen dasMerkmal oder Konzept erfassen, dasmit der gesamten Skala erhobenwerden soll.

•• Inter-Rater-ReliabilitätSie sagt aus, inwieweit die mit demInstrument ermittelten Werte überein-stimmen, wenn dieses gleichzeitig vonmehreren Beurteilenden bei einerPerson angewandt wird.

•• Test-Retest-ReliabilitätHiermit wird angegeben, in welchemMaße die mit dem Instrument ermittel-ten Werte durch äußere Umstände be-einflusst werden. Es wird geprüft, wiesie sich bei einer zweiten Anwendungim Vergleich zur ersten ändern. Bei derBestimmung dieser Form der Reliabi-lität muss berücksichtigt werden, dassdas erfasste Phänomen in seinenAusprägungen schwanken kann.

•• Validität (Gültigkeit)Sie ist ein wichtiges Gütekriterium fürBeobachtungsinstrumente und bringtzum Ausdruck, inwieweit mit demInstrument das Merkmal oder Konzepterfasst wird, das beurteilt werden soll.

Glossar

Reliabilität berichtet (Glossar). Ebensogibt es Hinweise auf eine genügendeValidität, weitere Studien sind jedocherforderlich (Warden et al. 2003, Herret al. 2006). Die deutsche Fassungwur-debisher inzweiStudiengeprüft.Dabeizeigten sich guteWerte für die interneKonsistenz sowie die Interrater- undRetest-Reliabilität (Schuler et al., ein-gereicht). Eine erste Prüfung der Kon-struktvalidität erbrachte ebenfalls po-sitive Resultate (Basler et al. 2006). Eineweitere, umfassendereTestungderVa-lidität ist inVorbereitung.Die ItemsAt-mung und Trost erwiesen sich bisherin allen Studien als problematisch.

Beobachtungsinstrument für dasSchmerzassessment bei alten Men-schen mit Demenz (BISAD)BISADwurdevon1992anunter demNa-menECPA (Echelle comportemental de ladouleur pour personnes âgées non com-municantes) in Frankreich in mehrerenSchritten entwickelt (Desson et al. 1999).Im Laufe der Zeitwurde die Skala vonbiszu elf Items auf acht Items gekürzt. Eineerste schweizerische Version in deut-scher Sprache stammt von Kunz (2002).Sie beruht auf einer alten ECPA-Fassungmit elf Items. Die deutsche Fassung BI-SAD mit acht Items wurde im Rahmeneiner Doktorarbeit durch den Autor die-ses Artikels am Graduiertenkolleg Mul-timorbidität im Alter und ausgewähltePflegeprobleme (GradMAP) der Charité –

Universitätsmedizin Berlin erarbeitet,unterstützt durch die Robert Bosch Stif-tung (www.gradmap.de). Der Abschlussder Studie ist für die zweite Hälfte 2007vorgesehen.Der vorläufige BISAD-Bogenist auf der Internetseite derArbeitsgrup-pe Pflegerische Versorgungsforschungder Charité –Universitätsmedizin Berlinunter www.charite.de/pvf abrufbar.••Aufbau und Anwendung:BISAD besteht aus insgesamt achtItems. Die ersten vier Items (Gesichts-ausdruck, spontane Ruhehaltung, Be-wegung und Beziehung zu anderen)werden erfasst, wenn sich der Betrof-fene in einer ruhigen Position befin-det, also etwa im Bett liegt oder aufdemStuhl sitzt. Hinsichtlichder Bewe-gung und der Beziehung zu anderenwird geprüft, ob es eine Veränderungzumüblichen Verhalten gibt. Die rest-lichen vier Items (ängstliche Erwar-tungen bei der Pflege, Reaktionenwährend der Bewegung, Reaktionenwährend der Pflege schmerzender Be-reiche und Klagen) werden bei Bewe-gung erhoben, also etwa beim Trans-fer, beim Umlagern oder Laufen. Fürjedes Item werden zwischen null undvier Punkten vergeben,was insgesamteinenWert zwischennullund32ergibt.BISAD wurde im Rahmen der deut-schen Studie in einem Pflegeheim aufihre Praxistauglichkeit getestet undfand gute Akzeptanz. Das Ausfüllendes Bogens dauert etwa eine Minute.

Viele Einrichtungennutzen bereits die– streng genommen veraltete und un-nötig lange– schweizerischeECPA-Ver-sionvonKunz (2002).Münch&Schwer-mann (2005) haben diese Version imRahmen einer Diplomarbeit in einemAltenheim erfolgreich eingeführt.

••Studienlage:Für dieOriginalversion (acht Items) be-richtendieVerfasser sowohl vonguterReliabilität als auch Validität (persön-licheMitteilung). Anders als die BESD-Skala berücksichtigt die BISAD-SkaladieVeränderungenvonBeweglichkeitund Sozialkontakten als Schmerzindi-katorenundgreift damitdieAGS-Emp-fehlungen (AGS2002) auf. Zudemwirdimmer eine Bewegungssituation beo-bachtet,wasdieValidität zusätzlich er-höhen könnte, da Schmerzen im Alterhäufig bewegungsabhängig sind. ZurschweizerischenFassung(elf Items)vonKunz (2002) liegen keine Studien vor.Die Studie zur deutschen Fassung (achtItems) ist noch nicht abgeschlossen.

Praktische Umsetzung

In den deutschen Studien zu beiden In-strumentenhat sich gezeigt, dass die Be-urteilung einzelner Indikatoren in realenPflegesituationen schwierig sein kann.So kannmanbeimTransfer eines Patien-ten oft nicht sein Gesicht sehen, was je-doch bei beiden Skalennotwendig ist. Eskann erforderlich sein, im Zweifelsfall

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pflegepraxis

Gesichtsausdruckzum Beispiel verzogenes, trauriges, ängstliches Gesicht, gerunzelte Stirn,geschlossene oder zusammengekniffene Augen, verzerrter Ausdruck, schnel-les Blinzeln

Verbalisierungen und Vokalisierungenzum Beispiel Stöhnen, Jammern, Heulen, um Hilfe bitten, Schimpfen

Körperbewegungenzum Beispiel starre Körperhaltung, gesteigerte Bewegung, eingeschränkteBewegung, Veränderungen des Gangbildes

Veränderungen der interpersonalen Interaktionzum Beispiel aggressiv, sich gegen die Versorgung wehrend, vermindertersozialer Kontakt, störend, zurückgezogen

Veränderungen der Aktivitätsmuster oder GewohnheitenNahrungsverweigerungen, veränderter Appetit, gesteigertes Ruhebedürfnis,plötzliche Veränderung von Gewohnheiten, gesteigertes Umherlaufen

Veränderungen des mentalen Zustandeszum Beispiel Weinen, gesteigerte Verwirrtheit

Kasten: Häufige schmerzbezogene Verhaltensweisen bei kognitiv eingeschränkten alten Personen(AGS 2002, Übersetzung des Autors, gekürzt)

Foto:D

r.Lubo

mirTükör

••die Aufmerksamkeit für Schmerzenschärfenunddabei helfen, Schmerzenzu erkennen

••dazubeitragen, schmerztypischesVer-halten systematisch zu erfassen

••dabei unterstützen, die Wirksamkeitpflegerischer, ärztlicher oder sonstigerMaßnahmen zur Schmerzlinderungzu überprüfen

••die Kommunikation im multiprofes-sionellen Team unterstützen, da esleichter wird, sich über das Verhalteneines Patienten und mögliche Ursa-chen dafür auszutauschen

••die Dokumentation von Schmerzver-halten erheblich verkürzen und er-leichtern.

Gleichzeitig erfordert deren Einsatz je-doch auch eine kritische Reflexiondurchdie Fachkräfte. Denn die bisherige For-schungkannnicht belegen, dass Schmer-zen sich auch immer in beobachtbaremVerhaltenwiderspiegelnunddass diesesVerhalten dannauch in jedemFall durchdie Instrumente erfasst wird. Mit ande-renWorten: Betroffene können Schmer-zenhaben, obwohl sowohl auf der BISADals auch auf der BESD-Skala null Punkteermittelt werden. Dies kann zum Bei-spiel bei Patientenmit Lähmungen odermit anderen neurologischen Ausfällenzutreffen.Denkbar ist auch, dass demen-zielle Prozesse selbst zu einemRückgangdes Schmerzverhaltens führen, wie un-ter anderem aus ersten Ergebnissen derBISAD-Studie geschlussfolgert werdenkann. Ebenso möglich erscheint es, dassgeringe Reaktionen aus der Umgebungbeim Betroffenen den „Lerneffekt“ ha-ben, bestimmte Verhaltensweisen nichtmehr zu zeigen, weil sie bislang folgen-los blieben.Pasero&McCaffery (2005)warnenda-

her davor, die mithilfe von Beobach-tungsinstrumenten ermittelten Wertemit der durch Selbstauskunft ermittel-ten Schmerzstärke gleichzusetzen oderauch nur davon auszugehen, dass jederSchmerz sich auf den Instrumenten ab-bildet. Stattdessen vertreten sie die Auf-fassung, dass diese Instrumente dazudienen, Verhalten bei Schmerzen (nichtSchmerzenoder Schmerzstärke) zuerfas-sen.UnterdiesemBlickwinkelwirddeut-lich, dass die Instrumentealleinenicht inallenFällen zur SchmerzeinschätzungbeiMenschenmit schwererDemenz ausrei-chen.Auchwenn kein Schmerzverhalten zu

beobachten ist, aber trotzdem Gründefür mögliche Schmerzen vorliegen (Er-

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eine zweite Pflegeperson zur Unterstüt-zung hinzu zu bitten. Personelle Konti-nuität ist in jedem Fall wichtig, da an-dernfalls Verhaltensänderungen kaumzu erkennen sind. Es gibt keine Empfeh-lung dafür, wie häufig die Skalen anzu-wenden sind, vielmehr muss für jedenBetroffenen individuell eine Entschei-dung getroffen werden. Auch wenn dieSkalenweitgehend selbsterklärend sind,ist eine Einweisung in den Gebrauchempfehlenswert. DieDiskussionderVer-haltensbeobachtungenund ihrer Bewer-tung auf den Bögen festigt das einheit-liche Vorgehen. Vorteilhaft ist es auch,wenn in der Dokumentation die gesam-te Skala hinterlegt und nicht nur der Ge-samtwert dokumentiert wird. So lassensich Veränderungen in den Verhaltens-weisen des Patienten über einen Zeit-raum besser nachvollziehen.

Aus der Forschung lässt sich nicht ablei-ten,wie genaudieGesamtpunktzahl derbeidenBögen zubewerten ist. Es gibt kei-ne Empfehlungen, wann zum Beispielein Schmerzmittel gegeben werden sol-lte. Unter Berücksichtigung der Gesamt-situationmuss daher jeweils eine Einzel-fallentscheidung getroffen werden. Klaristaber, dasseinAnstiegderPunktzahlalsIndikator für die Zunahme von Schmer-zen, eine verminderte Punktzahl als Hin-weisaufwenigerSchmerzenbzw.aufdenErfolg der Schmerztherapie zuwerten ist.

Nutzen und Limitationen

Beobachtungsinstrumente sind nur einHilfsmittel, ummögliche Schmerzenvonschwer demenziell erkrankten Men-schen genauer in den Blick zu nehmen.Ihre Anwendung kann:

AGS Panel on Persistent Pain inOlder Persons(2002) The Management of Persistent Pain inOlder Persons. Journal of the AmericanGeriatrics Society 50, S205–S224.

Archibald C. (2007)Menschen mit Demenz imKrankenhaus. Kuratorium Deutsche Altershilfe,Köln

Basler H., Hüger D., Kunz R., Luckmann J.,Lukas A., Nikolaus T. et al. (2006) Beurtei-lung von Schmerz bei Demenz (BESD). DerSchmerz 20, 519–526.

Costardi D., Rozzini L., Costanzi C., GhiandaD., Franzoni S., Padovani A. et al. (2007) TheItalian Version of the Pain Assessment in Advan-ced Dementia Scale. Archives of Gerontologyand Geriatrics 44, 175–180.

Desson J.,Morello R., AlixM. (1999) Pain Assess-ment in Non-Communicating Elderly Patients –Description of the First Validated Behaviouralscale (ECPA). Zeitschrift für Gerontologie undGeriatrie 32, Suppl II, 245.

Hadjistavropoulos T. (2005) Assessing Pain inOlder Persons with Severe Limitations in Abilityto Communicate. In: Gibson S. & Weine D.(Hrsg) (2005) Pain in Older Persons. Progress inPain Research and Management 35. IASP Press,Seattle, WA.

HalekM.& Bartholoemeyczik S. (2006)Verstehen undHandeln. Forschungsergebnisse zurPflege vonMenschenmit Demenz und herausfor-derndemVerhalten. Schlütersche, Hannover.

HerrK.,BjoroK.,Decker S. (2006) Tools for Assess-ment of Pain inNonverbal Older Adults withDementia: A State-of-the-Science Review. Journalof Pain and SymptomManagement 31, 170–192.

Jakob A., Busse A., Riedel-Heller S., PavlicekM.,AngermeyerM. (2002) Prävalenz undInzidenz von Demenzerkrankungen in Alten-und Altenpflegeheimen im Vergleich mit

Privathaushalten. Zeitschrift für Gerontologieund Geriatrie 35, 474–481.

Kunz R. (2002) Schmerzerfassung bei Patientenmit Demenzerkrankungen. Geriatrie Journal 2,14–21.

McCaffery M. & Pasero C. (1999) Pain –Clinical Manual. 2nd Ed., Mosby, St. Louis, MO.

MünchM.& SchwermannM. (2005) Schmerz-assessment für dementiell erkrankte, kommunika-tionseingeschränkte Menschen – Einführungvon Schmerzerfassungsinstrumenten in einemAltenpflegeheim.Diplomarbeit FachhochschuleMünster. www.hb.fh-muenster.de/opus/fhms/volltexte/2006/136/, Zugriff am15.Mai 2007.

Pasero C.&McCafferyM. (2005)No Self-ReportMeans No Pain-Intensity Rating: Assessing pain inpatients who cannot provide a report.AmericanJournal of Nursing 105 (10), 50–53.

SchulerM., Becker S., Kaspar R. (eingereicht)Psychometric Properties of a Scale for thebehavioral Assessment of Pain in Nursing HomeResidents with Advanced Dementia (PAINAD –G).

Warden V., Hurley A., Volicer L. (2003)Development and psychometric evaluation ofthe Pain Assessment in Advanced Demetia(PAINAD) Scale. Journal of the AmericanMedical Directors Association 4, 9-15.

Zaudig M. & Möller H. (2005) HistorischerHintergrund, Klinik und Verlauf der Alzheimer-Demenz. In: Bergener M., Hampel H., MöllerH., Zaudig M. (Hrsg.) (2005) Gerontopsychia-trie.Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft,Stuttgart, 187–233.

Zwakhalen S.,Hamers J.,Abu-SaadH.,BergerM.(2006) Pain in elderly peoplewith severe dementia. Asystematic reviewof behavioural pain assessmenttools.BMCGeriatrics 6:3,www.biomedcentral.com/1471-2318/6/3. Zugriffam15.Mai 2007.

Literatur

pflegepraxis

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Zusammenfassung

Durch den Verlust der Sprachfähigkeit ist die Schmerzeinschätzung bei Men-schen mit schwerer Demenz stark erschwert. Pflegefachkräfte sind daraufangewiesen, das Verhalten des Betroffenen in Bezug auf Schmerzindikatorenzu beobachten. In Deutschland liegen zwei Instrumente zur standardisiertenErfassung des Schmerzverhaltens vor: die Skala „Beurteilung von Schmerzenbei Demenz“ (BESD) und das „Beobachtungsinstrument für das Schmerzassess-ment bei alten Menschen mit Demenz“ (BISAD). Die Reliabilität, Validität undpraktische Anwendbarkeit der Instrumente sind teilweise nachgewiesen,dennoch können diese nicht als alleinige Grundlage für die Erkennung undBeurteilung von Schmerzen dienen.

Schlüsselwörter: Schmerzerfassung, Demenz, Altenpflege

Zum Autor:

Thomas Fischer,MPH, Diplom-Pflegewirt(FH), Charité – Universitätsmedizin Berlin,Arbeitsgruppe Pflegerische Versorgungsfor-schung, Charitéplatz 1, 10117 Berlin. Kon-takt: [email protected]

krankungen, Unfälle, medizinische oderpflegerischeMaßnahmen), sollte die Ein-leitung einer Schmerztherapie in Erwä-gunggezogenwerden, soPasero&McCaf-fery (2005). Eine andereMöglichkeit sindgestufte Verfahren wie die sogenannte„Serial Trial Intervention“ (STI)*.

Anwendbarkeit imKrankenhaus

BESDundBISADwurden indenOriginal-fassungen fürdasPflegeheimentwickelt.Für den Krankenhausbereich liegen kei-neausreichendenStudienergebnissevor.Lediglich die deutsche BESD-Skala wur-de in einer Reliabilitätsstudie bei Patien-ten in geriatrischen Abteilungen getes-tet (Basler et al. 2006). BESD, aber vorallemBISAD setzen darauf, dass die Pfle-gefachkraft den Betroffenen kennt. Dasist eine Bedingung, die im Krankenhausnicht immer erfüllt ist, etwa wenn derPatient neu aufgenommen oder verlegtwird. Bezugspflegesysteme sind in derPraxis häufignicht umgesetzt, sodass diekontinuierliche Einschätzungdes Patien-tenverhaltens erschwert ist. AuffälligeVerhaltensweisendes Patienten könnenauch durch die ungewohnte Kranken-hausumgebung und fremde Menschenausgelöst werden. Krankenhäuser sindderzeit kaum an den Bedarf von Men-schenmitDemenz angepasst (vgl. Archi-bald 2007). Vermutlich wird es dadurchkomplizierter zu erkennen, ob eine Ver-haltensweise durch Schmerz oder durch

pflegepraxis

andere Faktoren ausgelöstwird. Solangezu diesem Bereich keine Forschungser-gebnisse vorliegen, ist es empfehlens-wert, BESD und BISAD im Krankenhausnur zurückhaltend einzusetzen und dieermittelten Skalenwerte kritisch zu hin-terfragen. Besondere Priorität sollte derpersonellenKontinuität eingeräumtwer-den. Angehörige oder Pflegefachkräfteaus dem Heim des Patienten sollten ge-zielt danach befragt werden, wie sichSchmerzen bei dem Betroffenen typi-scherweise äußern und welche Schmer-zen bzw. Schmerzursachen bereits be-kannt sind.Derzeit sind international keine Beob-

achtungsinstrumente bekannt, mit de-nen Schmerzen bei alten Menschen mitschwerer Demenz im Krankenhaus zu-verlässig und valide eingeschätzt wer-den können. In Frankreich wird jedochan einemsolchen Instrument (Algoplus)gearbeitet. Algoplus soll bei allen kom-munikativ eingeschränkten alten Men-schen im Krankenhaus Hinweise aufSchmerzen liefern, unabhängig von derUrsache der Spracheinschränkung. Ins-

besondere für den Bereich von Notauf-nahmen und Akutstationen soll so eindeutlich besseres Schmerzmanagementmöglichwerden.DieArbeitsgruppe Pfle-gerischeVersorgungsforschungder Cha-rité – Universitätsmedizin Berlin koope-riertmit den französischen Entwicklern,um eine deutsche Fassung des Algopluszu erarbeiten und zu testen.

Ausblick

International und auch in Deutschlandbeschäftigen sich verschiedene Fachleu-teund Institutionenmit der Schmerzein-schätzung bei Menschen mit schwererDemenz. Dennoch scheint für die kom-menden Jahre ein umfassender Durch-bruch nicht realistisch zu sein. Ein Instru-ment, das in allen Lagen und Situationenzuverlässig Schmerzen bei den Betroffe-nen zu erfassenvermag, ist nicht in Sicht.Für Pflegefachkräfte bleibt es deshalb

wichtig, das für den jeweiligen Patientenoder Betroffenen am besten geeigneteVerfahrenoder Instrument für die jewei-lige Situation auszuwählen. Mit ihrerfachlichen Kompetenz und vor allem ih-rer Kenntnis des Patienten und der Situ-ationmuss die Pflegekraft die Ergebnisseder Instrumente kritisch reflektierenund bewerten. Auch in Zukunft gilt: DerEinsatz eines Erhebungsinstrumentesunterstützt die Pflegende in ihrer Fach-lichkeit, ersetzt eigene fachliche Überle-gungen aber nicht. <<

*Die „Serial Trial Intervention“ (STI), ein strukturier-tesVerfahren zumUmgangmit herausforderndenVerhaltensweisen vonMenschenmit Demenz, dasinsbesondere auch Schmerzen berücksichtigt undden Einsatz von Psychopharmaka auf einMindest-maß reduzieren soll, wird in der nächsten Ausga-be der Pflegezeitschrift (7/2007) vorgestellt.

Vom 27. bis 28. Juni findet in Friedrichsha-fen der zweite Internationale PalliativeCare Kongress statt. „Gemeinsam Grenzenüberwinden“ lautet dasMotto. Referentenaus Großbritannien, den Niederlanden, Ita-lien, der Schweiz, Österreich, Frankreich,den USA und Deutschland werden Einbli-cke in die derzeitigen Entwicklungen in ih-

ren Ländern geben. Besonders zu nennenist die Auseinandersetzung mit ethischenFragen bei der Behandlung und Begleitungschwer kranker und sterbender Menschen.So wird Prof. Dr. Jean-Gustave Hentz vonder Universität Straßburg, Frankreich, dieKonflikte zwischen Lebens- und Sterbehil-fe in der Medizin erörtern. Daneben wirdProf. Dr. GuyWiddershofe, Maastricht, dieSterbehilfediskussion in den Niederlandenthematisieren. Weitere, zum Teil internati-onal betrachtete Themen sind Fragen der„Family Care“, des Schmerzmanagementsund der Bildung in palliativer Betreuung.Auch die Diskussion gesundheitspoliti-scher Entscheidungen wird nicht zu kurzkommen: www.home-care-kongress.de/

2. Internationaler Palliative Care Kongress amBodensee