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Jan Assmann Steinzeit und Sternzeit

Jan Assmann Steinzeit und Sternzeitdownload.e-bookshelf.de/download/0000/3709/30/L-G...Jan Assmann Steinzeit und Sternzeit Altägyptische Zeitkonzepte Wilhelm Fink F5028 Assmann.indd

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  • Jan Assmann

    Steinzeit und Sternzeit

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  • Jan Assmann

    Steinzeit und Sternzeit

    Altägyptische Zeitkonzepte

    Wilhelm Fink

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  • Umschlagabbildung:Der Sonnengott Re-Harachte im Horizontberg über den

    Schriftzeichen Neheh (Zeit als ewige Erneuerung) zwischen dem Löwenpaar „Gestern“ und „Morgen“.

    Deckenmalerei im Grab des Nefer‘abu (TT5) in Der el-Medine, 13. Jh. v. Chr.

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

    sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die

    Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier,

    Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten.

    © 2011 Wilhelm Fink Verlag, München(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

    Internet: www.fink.de

    Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, MünchenPrinted in Germany

    Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

    E-Book ISBN 978-3-8467-5028-5ISBN der Printausgabe 978- 3-7705-5028-9

  • IN MEMORIAM

    EBERHARD OTTO

    (1913-1974)

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  • Inhalt

    Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

    I. Neheh und Djet – die beiden Gesichter der Zeit . . . . . . . . . . . 13

    1. Lebenszeit diesseits und jenseits der Todesschwelle . . . . . . 19 2. Weltzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

    2.1 Grenzen der Zeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2.2 Das Geheimnis der Schlange: die rückläufige Zeit . . . 45 2.3 Die Zeit/Ewigkeit als kosmogonische Energie . . . . . . 62 3. Der Doppelaspekt der Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

    II. Kosmische und moralische Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

    1. Sternzeit: Kult und Kalender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 2. Steinzeit: Erinnerung und Rechenschaft . . . . . . . . . . . . . . 109 2.1 Die moralische Konstruktion der Zeit als

    ‚Konnektive Gerechtigkeit‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 2.2 Zeit und Geschichte in der inschriftlichen

    Selbstpräsentation der Grabherren . . . . . . . . . . . . . . 116

    III. Königszeit: Zeit und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

    1. Der Ka und die Idee einer dynastischen oder genealogischen Kontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

    2. Annalen und Königslisten: die dynastische Zeit als Konstruktion von Dauer und Kontinuität . . . . . . . . . . 144

    3. Königsinschriften: Gegenwart als zukünftige Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

    4. Leidenszeiten und Heilswenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

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  • 8 INHALT

    IV. Das Ende der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

    1. Zyklische und lineare Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 2. Das Ende in der zyklischen Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 2.1 Das Ende als ‚Grenze-zwischen‘ und seine

    rituelle Begehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 2.2 Kontinuität und Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 3. Das Ende in der linearen Zeit: Resultativität –

    Endlichkeit und Erzählbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 4. Das absolute Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 4.1 Urzeit und Endzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 4.2 Die Unwiederbringlichkeit des Goldenen Zeitalters

    und das Ende der ägyptischen Welt . . . . . . . . . . . . . 225

    V. Wendepunkte der ägyptischen Zeitkultur . . . . . . . . . . . . . . . 231

    1. Die Entdeckung der Zeit als Werk Gottes . . . . . . . . . . . . . 233 2. Die Zeit in der Amarna-Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 2.1 Kosmische Dimension und menschliches Dasein . . . . 241 2.2 Der König als Gott des Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . 246 3. Zeit und Ewigkeit im Zusammenhang einer Theologie

    des Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 3.1 „Sorge dich nicht um den morgigen Tag“:

    Die „Zeit in Gottes Hand“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 3.2 Die „Ewigkeit in Gottes Bewusstsein“ . . . . . . . . . . . . 258 4. Die Entdeckung der Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

    Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

    Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

    Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

    Verzeichnis der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

    Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319

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  • Vorwort

    Die Frage nach der Zeit gehört zu den zentralen Problemen der Kul-turwissenschaft: nicht die Frage nach ihrer physikalischen Messbarkeit, sondern die nach ihrer kulturellen Deutung und Gestaltung. Dabei richtet sich das Interesse gerade auf solche kulturellen Zeitgestalten, die von den uns vertrauten besonders weit entfernt sind. Die altägypti-schen Vorstellungen von der Zeit verdienen in doppelter Weise unser Interesse: zum einen, weil sie uns in der Tat mit ganz anderen Formen kultureller Zeitgestaltung konfrontieren, zum anderen aber und ganz im Gegenteil, weil wir, was das Kalenderwesen angeht, auf den Schul-tern der alten Ägypter stehen. So verwundert es nicht, dass mich das Thema „Zeit“ durch vierzig Jahre meiner ägyptologischen Arbeit be-gleitet hat. Das begann im Jahre 1971 mit meinem Habilitationsvor-trag über „Die Zeit als Werk Gottes“ und dessen Ausarbeitung in Form der Abhandlung über „Zeit und Ewigkeit im Alten Ägypten“ (1975). Weitere Stationen dieser Arbeit am ägyptischen Zeitbegriff sind, neben vielen kleineren Aufsätzen, die Studie „Das Doppelgesicht der Zeit im altägyptischen Denken“ (1983), der Beitrag „Denkformen des Endes in der altägyptischen Welt“ zu dem von Karlheinz Stierle und Rainer Warning herausgegebenen Band XVII der Arbeitsgruppe Poetik und Hermeneutik von 1996 und mein Beitrag „Zeitkonstruktion, Vergan-genheitsbezug und Geschichtsbewusstsein im alten Ägypten“ zu dem von Klaus E. Müller und mir herausgegebenen Band Der Ursprung der Geschichte. Archaische Kulturen, das Alte Ägypten und das frühe Grie-chenland von 2005. Die vorliegende Schrift fasst die Ergebnisse dieser Studien zu einem Buch zusammen. Die Abhandlung von 1975 liegt dem ersten Teil (I) und den ersten drei Kapiteln des fünften Teils (V) zugrunde, der vierte Teil (IV) übernimmt Teile der Studie über Denk-formen des Endes (1996c), und von dem Beitrag „Zeitkonstruktion, Vergangenheitsbezug und Geschichtsbewusstsein im alten Ägypten“ wurden größere Abschnitte in den dritten Teil (III) und das zweite Ka-pitel des zweiten Teils (II) übernommen (2005b). Durch gründliche

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  • 10 VORWORT

    Umarbeitung in Auseinandersetzung mit neuerer Literatur ist aus die-sen älteren Studien ein neues Buch entstanden, ohne dass ich mich allerdings gezwungen sah, meine ursprünglichen Deutungen grund-legend zu revidieren. Ich danke der Heidelberger Akademie der Wis-senschaften, dem C. Winter Verlag, dem Verlag Klett-Cotta und dem W. Fink Verlag für die Erlaubnis, wesentliche Teile der bei ihnen er-schienen Publikationen in dieses Buch übernehmen zu dürfen.

    Besonders dankbar bin ich Erik Hornung für seine kritisch weiter-führende Aufnahme meiner Thesen. Für die kulturwissenschaftliche Ausweitung meiner Perspektiven sorgte vor allem die Zusammenarbeit mit Aleida Assmann an dem Themenkreis um Kultur und Gedächtnis. Die Ergebnisse dieser Zusammenarbeit, soweit sie sich auf das altägyp-tische Geschichtsbewusstsein beziehen, in diese Studie einzuarbeiten, hätte deren Rahmen gesprengt. Sie sind vor allem in mein Buch Ägyp-ten – eine Sinngeschichte (München 1996) eingegangen.

    Unter dem Begriff „Zeitkonzepte“ möchte ich die verschiedenen Formen zusammenfassen, in denen eine Kultur mit der Zeit umgeht: ihre begriffliche Artikulation, ihre religiöse Deutung, ihre kalendari-sche und chronologische Ordnung, ihre Vergegenwärtigung in Erinne-rung und Erwartung und ihre Konkretion in Biographie und Ge-schichtsschreibung. Alle diese Aspekte einer „Zeitkultur“ gehören zu einer kulturwissenschaftlichen Erforschung des Themas „Zeit“. Kul-turwissenschaftliche Forschung in diesem prägnanten Sinne bildete aber vor 35 bis 40 Jahren, als ich mich zuerst mit Fragen der altägypti-schen Zeitkultur beschäftigte, noch keinen aktuellen Forschungsrah-men. Sie war vielmehr eine Sache der Vergangenheit und der Erinne-rung, vor allem an die bahnbrechenden Arbeiten der Warburg-Schule, die mir immer als ein unerreichbares Vorbild vor Augen standen. Diese Situation aber hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten gründlich ver-ändert. Maßgeblich beteiligt an dieser kulturwissenschaftlichen Wende war der Arbeitskreis Poetik und Hermeneutik, dessen Bände in den 1970er Jahren zu erscheinen begannen und verschiedene Fächer wie vor allem Literaturwissenschaft, Linguistik, Philosophie, Soziologie und Religionswissenschaft um jeweils ein gemeinsames Thema versam-melten. Das Vorbild dieser Bände und später die gelegentliche Mitar-beit in diesem Kreis gehörten ebenfalls für mich zu den entscheiden-den Anstößen, das Thema Zeit im Auge zu behalten.

    Die Anregung, das Thema der altägyptischen Zeitkonzepte noch einmal zusammenfassend zu behandeln, kam von Raimar Zons. Ihm und seinen Mitarbeitern danke ich für alle Sorgfalt bei der Herstellung des Buches.

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  • 11VORWORT

    Die Dankesschulden gegenüber meinem im Jahre 1974 allzu früh verstorbenen Lehrer und Vorgänger auf dem Heidelberger Lehrstuhl, Eberhard Otto, die ich im damaligen Vorwort zum Ausdruck gebracht habe, gelten ebenso wie für die ursprüngliche Akademie-Abhandlung auch für diese Neubearbeitung, die daher ebenfalls seinem Andenken gewidmet ist.

    Konstanz, im Januar 2011 JAN ASSMANN

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  • F5028 Assmann.indd 12F5028 Assmann.indd 12 12.05.11 07:4512.05.11 07:45

  • I.

    Neheh und Djet – die beiden Gesichter der Zeit

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  • Nichts kennzeichnet die altägyptische Kultur so eindeutig wie die Sehnsucht nach Unvergänglichkeit. Wenn die Zeit im altägyptischen Denken eine so beherrschende Rolle spielt, so geht es dabei vor allem um ihre Überwindung. Es gibt wohl keine zweite Kultur auf der Welt, die sich der Zeit als Vergänglichkeit mit solcher Leidenschaft entgegen-gestemmt hat. Andere Kulturen haben metaphysische Gegenwelten entworfen zur Vergänglichkeit des Menschlichen und Irdischen, die Ägypter aber haben alles daran gesetzt, ihre menschliche und irdische Welt ins Unvergängliche zu transformieren. Aus der Distanz und gleichsam mit zugekniffenen Augen betrachtet erscheint uns das Alte Ägypten als ein Komplex aus Pyramiden, Mumien und Hieroglyphen, und alle drei Phänomene sind Ausdrucksformen dieser Sehnsucht nach Unvergänglichkeit. Von den Pyramiden meinte schon der mittelalterli-che Gelehrte Makrizi, dass vor ihnen sogar die Zeit sich fürchte, wo doch sonst alles in der Welt die Zeit fürchtet, in der Mumifizierung findet der Widerstand gegen Verfall und Verwesung seine eindeutigste Ausdrucksform und die Hieroglyphen stellen als eine eigens den stei-nernen Monumenten der Selbstverewigung vorbehaltene Sonderschrift selbst das Vergänglichste von allem, die menschliche Rede, auf Dauer, in dem sie sie ins Steinerne, den Inbegriff des Dauerhaften, übertragen. Monument und Inschrift gehen im Alten Ägypten eine einzigartige Verbindung ein; es gibt kaum ein Monument, das nicht beschriftet ist. Auf die Frage des Pilatus, „Was ist Wahrheit?“, hätten die Ägypter ver-mutlich geantwortet: das Beständige, Bleibende, Immerwährende, das sich durch Unvergänglichkeit be-„währt“.

    Unvergänglichkeit strebten die Ägypter aber nicht nur in der Form der Fortdauer an, für die ihnen der Stein der Inbegriff und das steinerne Monument die ideale Ausdrucksform war, sondern auch in der Form der Erneuerung, für die ihnen der Himmel mit seinen sich ewig wieder-holenden Gestirnsbewegungen als ideales Vorbild galt. Durch die Er-richtung steinerner Monumente wollten sie Anteil an der steinernen Form von Unvergänglichkeit gewinnen, und durch die Fülle und Präzi-sion der rituellen Begehungen strebten sie danach, die menschlichen Lebensprozesse in die himmlische Form von Unvergänglichkeit zu inte-grieren.

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  • 16 NEH. EH. UND DJET – DIE BEIDEN GESICHTER DER ZEIT

    Das Ägyptische hat sogar ein eigenes Wort für jeden dieser beiden Aspekte der Zeit oder vielmehr Ewigkeit, denn es handelt sich ja eigent-lich um aufgehobene, überwundene Zeit. Die Unvergänglichkeit durch unaufhörliche Erneuerung, also die iterative und regenerative Unver-gänglichkeit, nannten sie Neheh und die Unvergänglichkeit durch un-wandelbare Fortdauer, also die durative Unvergänglichkeit, nannten sie Djet. Diese beiden Vokabeln sind in ägyptischen Texten tausendfach belegt. Schon daraus wird klar, dass es der altägyptischen Kultur vor al-lem darum ging, die Vergänglichkeit zu überwinden und Ewigkeit her-zustellen, durch ständige Erneuerung und durch unwandelbare Dauer-haftigkeit. Die gesamte ägyptische Kultur, um das noch einmal zu betonen, ist in einem ungewöhnlichen Maße von der Sehnsucht nach Dauer und Erneuerung bestimmt. Dieser Grundzug der altägyptischen Kultur drückt sich sowohl in der Fülle und Größe der Monumente aus, die in Ägypten der Zeit getrotzt haben und die Kultur vor dem Versan-den und Vergessen bewahrt haben, als auch in einem extremen Ritualis-mus, von dem wiederum die steinernen Tempelwände Zeugnis ablegen. Die Tempeldekoration der griechisch-römischen Epoche hat sich offen-bar zum Ziel gesetzt, alle Rituale auf den Tempelwänden, Säulen, Ar-chitraven, Durchgängen und Decken zu verewigen. Dahinter stand ver-mutlich die Angst, die Riten, Mythen und Theologien der Tempel könnten in Vergessenheit geraten. Solches vermutet Ammianus Marcel-linus von der Dekoration der Königsgräber im Tal der Könige:

    Es gibt auch Syringen, das heißt unterirdische und gewundene Gänge. Der Überlieferung zufolge ließen die in die alten Riten Eingeweihten sie an verschiedenen Orten mit ungeheurem Aufwand aushauen, da sie die Heraufkunft einer Flutkatastrophe voraussahen und fürchteten, die Ze-remonien könnten in Vergessenheit geraten. Auf die dergestalt aus dem Felsen geschlagenen Wände ließen sie alle möglichen Arten von Vögeln und Tieren einmeißeln: das nennen sie „Hieroglyphen“.1

    Trotz aller Missverständnisse hat Ammianus Marcellinus den zentralen Punkt erfasst: die Sehnsucht nach Dauer und den Wunsch nach Ret-tung vor dem Vergessen und Verschwinden durch die Allianz von Mo-nument und Inschrift. Genau das haben die Ägypter auch erreicht. Zwar sind die Zeremonien in Vergessenheit geraten und die Schrift ist für anderthalb Jahrtausende unlesbar geworden. Die Faszination aber, die gerade von dieser Verbindung von Schrift und Monumentalität ausging, hat die altägyptische Kultur im kulturellen Gedächtnis des Abendlandes präsent gehalten.

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  • 17NEH. EH. UND DJET – DIE BEIDEN GESICHTER DER ZEIT

    Wie lassen sich nun Neheh und Djet, die beiden Wörter für Zeit/Ewigkeit in ihrer Bedeutung gegeneinander abgrenzen und was für ein Begriff von Ewigkeit liegt ihnen zugrunde? Das sind die Fragen, denen sich der erste Teil dieser Untersuchungen zur ägyptischen Zeitkultur widmet. Wenn man die Frage nach dem Zeitbegriff der alten Ägypter noch mit Sinn stellen kann, ohne zuvor in eine Erörterung darüber einzutreten, was wir selbst unter Zeit verstehen, so ist das bei der Frage nach dem ägyptischen Ewigkeitsbegriff ganz anders. Die Zeit ist, wie Borges sagt2, ein „natürliches Mysterium“, das außerhalb jeder einzel-kulturellen Eigenbegrifflichkeit besteht, im Gegensatz zu der „von Menschen erschaffenen Ewigkeit“, die nur innerhalb der Begrifflich-keit einer Kultur, einer Religion oder Philosophie vorfindlich und be-stimmbar ist. Bei dieser Lage der Dinge wird man es einerseits nicht anders als selbstverständlich finden, dass den alten Ägyptern unser Ewigkeitsbegriff unbekannt war, und doch andererseits die Frage nicht für unberechtigt halten, ob sie nicht einen anderen, eigenen Ewigkeits-begriff entwickelt haben. Hierfür muss aber vorab geklärt sein, was man als Ewigkeitsbegriff in einem so allgemeinen Sinne ansetzen will, dass alle möglichen einzelkulturellen Ewigkeiten darunter zusammen-gefasst werden können.

    Man könnte in einem sehr allgemeinen Sinne Ewigkeit bestimmen als die Negation oder das Gegenteil von Zeit. Zeit, im physikalischen Sinne, ist jedoch nichts, was man negieren oder was ein Gegenteil ha-ben kann. Negierbar ist die Zeit nicht „an sich“, als „natürliches Myste-rium“, sondern als kulturelle Konstruktion und von Menschen er-schaffener Begriff. Denken wir die Zeit als endlich, dann ist Ewigkeit unendlich, denken wir sie uns als linear, dann ist Ewigkeit kreisförmig, denken wir sie uns als bewegt, dann ist Ewigkeit Ruhe usw. usw. Die Ewigkeit, so viel wird vielleicht klar, ist eine Funktion des (einzelkultu-rellen) Zeitbegriffs und überall dort möglich und wissenschaftlicher Analyse zugänglich, wo Zeit als eine Größe mit bestimmten Eigen-schaften gedacht wird, die man negieren kann. Der platonische Ewig-keitsbegriff 3, der für das gesamte Abendland als konstitutiv gelten kann, negiert z. B. eine Eigenschaft der Zeit, die das platonische Sys-tem ihr zuschreibt. Da für Platon auch die Zeit unendlich ist4, scheidet der Gegensatz endlich/unendlich zur Bestimmung der Ewigkeit aus. Es ist die Direktionalität der Zeit, das in die Zukunft gerichtet sein des „war – ist – wird sein“, was durch die Ewigkeit negiert wird. Die Ewig-keit ist die gleichsam punktartige Gleichzeitigkeit dessen, was die Zeit als Nacheinander entfaltet. Dieser Ewigkeitsbegriff ist deswegen so ein-drucksvoll, weil er auf einem abstrakten und einleuchtenden Zeitbe-

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  • 18 NEH. EH. UND DJET – DIE BEIDEN GESICHTER DER ZEIT18

    griff basiert. Für die Zwecke unserer Untersuchung würde man sich seiner jedoch auf eine wenig förderliche Art bedienen, wollte man ihn etwa als „die“ Definition der Ewigkeit ansehen und fragen, ob die Ägypter wohl Ähnliches gekannt haben. Dabei kann kaum etwas ande-res herauskommen als die Feststellung, entweder, dass die alten Ägyp-ter keinen Begriff von Ewigkeit hatten, und dass die von uns meist zu Unrecht mit „Ewigkeit“ übersetzten Wörter in Wirklichkeit „nichts Absolutes sind im Sinne abendländischer Metaphysik“, sondern viel-mehr auf die Seite der Zeit gestellt werden müssen5, oder, wie unlängst von F. Servajean behauptet, dass bereits die alten Ägypter genau diesen Unterschied gemacht und in dem Begriffspaar Neheh (Zeit) und Djet (Ewigkeit) zum Ausdruck gebracht hätten.6

    Was hier vielmehr als Gegenbegriff zur Zeit bestimmt und für das alte Ägypten erfragt werden soll, hat weniger etwas mit Philosophie und Physik, als mit Religion zu tun im Sinne eines umfassenden Welt-verhältnisses und Daseinsverständnisses. Auf derselben Ebene, auf der sich in diesem Daseinsverständnis der Raum in ein „Diesseits“ und ein „Jenseits“ gliedert, hat man auch die Gliederung der Zeit in „Zeit“ und „Ewigkeit“ zu suchen. Ewigkeit ist das „Jenseits“ in der zeitlichen Di-mension.7 Dieser Gegensatz kann sich auf verschiedenste Weise reali-sieren: als Lebenszeit und Unsterblichkeit, als die Zeit der Menschen und die Zeit der Götter, als die „lineare“ Zeit der Geschichte und die „zyklische“ Zeit der Natur, als „Alltagszeit“ und „mythische Zeit“ …8 überall dort, wo das Mysterium der Zeit in der Form eines Gegensatzes dargestellt wird, als die in Bezug auf den Menschen und das endliche Dasein im Diesseits bestimmte Zeit im Gegensatz zu der „anderen“ Zeit, lässt sich, so meinen wir, auf den Begriff der Ewigkeit schwer ver-zichten. Denn neben dem „Absoluten“, das dieser Begriff im Zusam-menhang bestimmter Traditionen abendländischer Metaphysik be-zeichnet, steht in einem viel allgemeineren und umfassenderen Sinne das „Numinose“, das mysterium tremendum und fascinans der „anderen Zeit“, und es ist dieser umfassende Sinn, in dem wir das Wort „Ewig-keit“ in dieser Untersuchung verwenden und zum Ausgangspunkt der Frage nach entsprechenden Vorstellungen und Begriffen im alten Ägypten machen wollen.

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  • 1. Lebenszeit diesseits und jenseits der Todesschwelle

    Die Fähigkeit, der Endlichkeit seiner Existenz inne werden und über die Eckdaten seines Lebens hinausdenken zu können, scheint den Menschen vor anderen Lebewesen auszuzeichnen. Er verdankt diese Fähigkeit seinem Gedächtnis, das es ihm möglich macht, sich nicht nur in der biologischen Zeit seiner Biorhythmen und der sozialen Zeit seiner antrainierten Routinen und Koordinationsleistungen zu orien-tieren, sondern sich jenseits dieser auch von den meisten Tieren geteil-ten Zeitformen und Gedächtnisleistungen die ganz anderen, Jahrtau-sende umfassenden Räume der mythischen und geschichtlichen Zeit zu erschließen und sein Selbstbild vor diesem weiten Zeithorizont zu entwickeln. Das Bewusstsein der Endlichkeit, die Sehnsucht nach Dauer und das dem Menschen eigene „kulturelle Gedächtnis“ wirken zusammen bei der Ausbildung einer Begrifflichkeit, die das begrenzte Leben und die Zeitfülle der unbegrenzten Dauer und ewigen Wieder-kehr einander gegenüberstellen. So ist die irdische Existenz des Men-schen vielleicht der nächstliegende Horizont, jenseits dessen sich eine andere Zeitlichkeit denken lässt. Genau auf diesen Horizont bezieht sich das Wort ‘h‘w (aha’u9) einer der zahlreichen Zeitbegriffe des Ägyp-tischen.10 aha’u ist, in Ingeborg Bachmanns Worten, die „gestundete Zeit“, d.h. die „Lebenszeit“ eines sterblichen Wesens innerhalb der Grenzen, die Geburt und Tod ihm setzen.

    Als ideale Dauer einer menschlichen Lebenszeit galt die Spanne von 110 Jahren. Das ist die Lebenszeit, auf die der Mensch angelegt ist, auch wenn widrige Umstände es wohl keinem je gestatteten, dieses Ziel zu erreichen.11 Diese 110 Jahre gliederten sich in zehn Jahre Kindheit, in der der Mensch noch nicht für seine Verfehlungen als verantwortlich galt, und die restlichen 100 Jahre, in denen der Mensch damit rechnen musste, sich vor dem Totengericht für seine Taten verantworten zu müssen.12 So heißt es in der Nachschrift zu Spruch 228 der Sargtexte bzw. Totenbuch Kap. 70:

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  • 20 NEH. EH. UND DJET – DIE BEIDEN GESICHTER DER ZEIT

    Was jeden anbetrifft, der diesen Spruch kennt:der wird 110 Lebensjahre verbringen,indem zehn Jahre im Bereich seiner Belastung und seiner Unreinheit,seiner Verfehlungen und seiner Lüge liegen,wie sie ein Mensch begeht, der unwissend war und wissend wird.13

    Der Mensch, heißt es im demotischen Papyrus Insinger, einer Lebens-lehre aus der Ptolemäerzeit, verbringt zehn Jahre als Kind, bevor er Le-ben und Tod unterscheiden kann.14 „Leben und Tod“, das heißt in die-sem Zusammenhang soviel wie „gut und böse“. Es handelt sich dabei um ein Unterscheidungsvermögen, das den Menschen nicht, wie in der Bibel, gottgleich, sondern schlichtweg zum Menschen macht, zum verantwortlichen, zurechnungsfähigen Mitglied der zivilisierten Ge-sellschaft.

    Die Dekadenlehre des Papyrus Insinger teilt das Leben folgender-maßen ein: Bis zum zehnten Jahr: Torheit, von zehn bis zwanzig: Aus-bildung, von zwanzig bis dreißig: Erwerben und Sparen, von dreißig bis vierzig: „zehn Jahre bis zur Erreichung des Alters, während man noch keine Ratschläge erteilt“, von vierzig bis sechzig: Diese Jahre müs-sen die Zeit der Reife umfassen, die zum Ratgeben legitimiert. Ab sech-zig geht es bergab: „Wer die sechzig Jahre überschritten hat, hat alles (,was) vor ihm (lag,) überschritten.“ Die letzten vierzig Jahre bis zur vollen Hundert werden nur „einem unter Millionen zuteil“.15

    Damit lässt sich die Dekadenlehre des Traktas Abot der Mischna vergleichen:

    Mit fünf Jahren zur Bibel,mit zehn zur Mischna,mit dreizehn zur Gebotsbeobachtung,mit fünfzehn zum Talmud,mit achtzehn ins Brautgemach,mit zwanzig zum Erwerbsleben,mit dreißig: Vollkraft,mit vierzig: Einsicht,mit fünfzig: Rat,mit sechzig: Alter,mit siebzig: Greisenalter,mit achtzig: Höchstalter,mit neunzig: Gebücktsein,mit hundert: „wie gestorben und fortgegangen und geschwunden aus der Welt“.16

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  • 21LEBENSZEIT DIESSEITS UND JENSEITS DER TODESSCHWELLE

    Der Gegenbegriff zu aha’u als dem Zeitraum des Sterblichen müsste sich auf den Zeitraum der Unsterblichkeit beziehen, ein Zeitraum, der unabhängig von der Frage, ob ihm seinerseits Grenzen zukommen oder nicht, gegenüber der begrenzten Zeit alles Sterblichen als das Un-begrenzte erscheint, aus dem aha’u einen begrenzten Ausschnitt dar-stellt.17 Die Ägypter nennen ihn nhh (Neheh). Unsterblich sind Wesen, deren „Zeitraum“ (‘h’w ) Neheh ist:

    die aha’u-Zeit des Unas ist Neheh die Grenzen des Unas sind Djet.18

    Diese Formulierung ist kühn, ja paradox. Denn hier wird nicht einfach ein relativ kleiner Zeitraum einem relativ großen gleichgesetzt, sondern die Zeit „hier“ der Zeit „dort“, das Begrenzte dem (praktisch oder schlechthin) Unbegrenzten, Grenzenlosen. Solche Paradoxien sind in Bezug auf das Königtum und seine Ausnahmestellung in der Zeitlich-keit üblich, und im Zusammenhang mit dieser Topik hat man auch die häufige Rede von den „Grenzen des Neheh“ zu verstehen.19 Daraus geht nicht hervor, dass aha’u und Neheh sich nur nach der Quantität unterscheiden: das eine als eine beliebig große, das andere als die schlechthin größte Größe, die aber doch ihre wohldefinierten Grenzen hätte. Die „Grenzen des Neheh“ stellen vielmehr eine Art Adynaton dar, es sind Grenzen, die nie erreicht werden können. In der Amarna-zeit, als man sich um eine natürlichere, von den Konventionen der tradi-tionellen offiziellen Schriftsprache möglichst freie Ausdrucksweise be-mühte, hat man dann diese Wendungen auch durch blumige Adynata ersetzt:

    Gib ihm soviel Jahre wie die Zahl der Sandkörner am Ufer, wie die Schuppen der Fische im Fluß,wie die Haare des Viehs.Lass ihn hier sein, bis der Ibis schwarz und der Rabe weiß wird,bis die Berge aufstehen, zu gehen,bis das Wasser stromauf fließt.20

    Das hat man als eine Paraphrase zu verstehen jenes oben zitierten Zwei-zeilers aus den Pyramidentexten: die Unendlichkeit des diskontinuier-lichen, nach Einheiten zählbaren Aspekts der Zeit, das ist Neheh, die Unbegrenztheit des kontinuierlichen Aspekts der Zeit, das ist Djet.

    Die Neheh-Zeit oder Ewigkeit „hier“21 zu verbringen, als der dem Lebenden zugemessene aha’u, das kennzeichnet die Ausnahmesituati-

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  • 22 NEH. EH. UND DJET – DIE BEIDEN GESICHTER DER ZEIT

    on der Unsterblichen, die dem König zuzuschreiben zum Stil höfischer Rede gehört. Den normalen Sterblichen aber eröffnet sich die Neheh-Dimension der Zeit „dort“, jenseits der Todesschwelle. „Neheh aber ist das Dortsein“ heißt es in einem Abschnitt der Lehre für Merikare, der ebenfalls auf der Opposition von aha’u und Neheh, irdischem Dasein und Unsterblichkeit, Diesseits und Jenseits basiert:22

    Die Richter, die den Bedrängten richten, du weißt, dass sie nicht milde sindan jenem Tag des Richtens des Bedrückten, in der Stunde des Erfüllens der Vorschrift. Schlimm ist er, der als ein Wissender anklagt.

    Vertraue nicht auf die Länge der Jahre!Sie sehen die ›Lebenszeit‹ (‘h‘w) als eine Stunde an.23

    Wenn der Mensch übrig bleibt24 nach dem ›Landen‹werden seine Taten neben ihn gelegt als Endbetrag (‘h‘w).25

    Das Dortsein aber ist ewig (nhh).Ein Tor, wer tut, was sie tadeln.Wer zu ihnen gelangt ohne Übertretung,der wird dort sein als ein Gott,frei schreitend wie die Herren der Ewigkeit (nhh).26

    Man hat die Übersetzung des Wortes Neheh durch „Ewigkeit“ auch mit dem Hinweis darauf angefochten, dass diesem Wort „der Begriff des Furchtbaren“ nicht anhaftet.27 Gewiss: Neheh ist kein „Donnerwort“. Aber dieser Text macht doch den numinosen Klang, den Appell-Cha-rakter sehr deutlich, der auch diesem Wort im Zusammenhang der ägyptischen Vorstellung vom Jenseitsgericht zuwächst. Es ist ein Aufruf zum Handeln. In den Königsinschriften, wo das Totengericht nicht der bestimmende Faktor ist, geht es um ein Handeln, das der Vergänglich-keit des Irdischen und Diesseitigen entgegenwirkt, indem es sich als ein Handeln für Gott versteht:

    Meine ›Tugend‹ wird erinnert werden in seinem Hause: mein Name ist die Pyramide,mein Denkmal der See.Ewigkeit ist es, das Wohlgefällige zu tun.28

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  • 23LEBENSZEIT DIESSEITS UND JENSEITS DER TODESSCHWELLE

    Der Inbegriff dieses königlichen Handelns sub specie aeternitatis ist das Bauen. Die Bauwerke der Könige wollen die Ewigkeit im Diesseits und den Himmel auf Erden verwirklichen. Der heilige Ort des Gottes, den der König mit Bauwerken schmückt, ist „das Lichtland auf Erden, der erlauchte Urhügel des Anbeginns, das Lichtauge des Allherrn“29, ja: die „Ewigkeit“ (nhh), eine Stätte, von der ein König, die Lehre für Merika-re zitierend, sagen konnte: „Dort zu sein ist Ewigkeit“.30 Für den ge-wöhnlichen Sterblichen gewinnt das Wort Neheh seine appellierende Kraft durch den Gedanken des Totengerichts, als Aufruf zu einem Handeln, das vor dem Urteil der Jenseitsrichter bestehen kann. Weise ist, wer „auf die Ewigkeit blickt“31, wer „das Morgen kennt“32, „die Zukunft bedenkt“.33 Solche Formeln und Epitheta sind sehr häufig (Griffiths 1960). Viele beziehen sich allerdings auf das Diesseits; auf die Fähigkeit der Prognose, die den in den Lauf der Dinge eingedrun-genen gelehrten Beamten auszeichnet.34 „Gelassenen Herzens beim Blicken in die Zukunft, kundig des Gestern, das Morgen bedenkend, gerüsteten Herzens bei dem, was geschehen wird“. 35 Diesem Selbstbe-wusstsein stand andererseits das skeptische, oft wiederholte Wort ent-gegen: „man weiß nicht, was geschehen wird“:36

    Plane nicht37 das Morgen, bevor es gekommen ist –man kann nicht wissen, was darin kommen wird.38

    Später – wir werden darauf noch zurückkommen – wird dieser Gedan-ke ins Religiöse gewendet. In seinem allgemeineren und eigentlichen Sinne wird aber das Ideal des Weisen, der sich „die Ewigkeit vor Augen stellt“39 von dieser Kritik nicht betroffen, denn es handelt sich nicht um die diesseitig-irdische Zukunft, sondern um die jenseitige Zeitlich-keit, die anderer Ordnung ist. Es handelt sich um ein Leben in der Verantwortung40 vor dem Gott, zu dem zu gelangen „nach dem Lan-den“ sich der Fromme bewusst ist.41 Dem säumigen Richter Rensi hält der Kläger in der Erzählung des Beredten Bauern entgegen:

    Bedenke das Nahen der Ewigkeit!Strebe an, zu dauern, wie gesagt wird:die Ma‘at zu tun ist Atem für die Nase.42

    Sich die Ewigkeit vor Augen stellen heißt: seiner Sterblichkeit inne werden. Das Bedenken des Todes ist der Anfang des Wissens: Sokrates nannte seine Philosophie eine „Einübung ins Sterben“ (µελέτη ϑανάτου)43, der 90. Psalm bittet: „lehre uns unsere Tage zählen, auf

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  • 24 NEH. EH. UND DJET – DIE BEIDEN GESICHTER DER ZEIT

    dass wir ein weises Herz gewinnen“ und eine ägyptische Theodizee aus der Zeit der Lehre für Merikare lässt den Schöpfergott sagen: „Ich habe bewirkt, dass ihre Herzen unfähig sind, den Westen zu vergessen, auf dass den Göttern (ihrer) Gegend Opfer dargebracht werden.“44 Die ägyptische Form der „Einübung ins Sterben“ ist Gottesdienst, Han-deln für Gott, sei es nun buchstäblich, als Dienst im Tempel45, sei es in der königlichen Form, als Errichten von Bauwerken46, sei es als unta-deliger Lebenswandel, der das Monument des einfachen Mannes ist: „Das Monument eines Mannes ist seine Tugend.“47 All dies liegt für den Ägypter in dem Wort Neheh und macht es zu mehr als einem unter anderen Zeitbegriffen.

    Wenn überhaupt in ägyptischen Texten eine Unterscheidung in der Zeitdimension begrifflich realisiert wird, die wir im oben definierten Sinne als die Opposition von Zeit und Ewigkeit aufzufassen haben, dann bezieht sich das stets auf die Zeit „hier“ und die Ewigkeit „dort“. Die vornehmen Ägypter, die über Mittel verfügen, sich ein monumen-tales Steingrab zu errichten, stellen sich die Ewigkeit in Gestalt ihres Grabes vor Augen, dergegenüber ihnen dann ihre Lebenszeit zu einer kurzen Episode zusammenschrumpft. Der hervorragend informierte Hekataios von Abdera, der gegen Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. ei-nige Jahre in Alexandria verbrachte und eine (bei Diodor in einigen Auszügen erhaltene) Geschichte Ägyptens schrieb, hat diese Einstel-lung zur Zeit mit erstaunlicher Präzision beschrieben:

    Die Einheimischen geben der im Leben verbrachten Zeit einen ganz ge-ringen Wert. Dagegen legen sie das größte Gewicht auf die Zeit nach ih rem Tode, während der man durch die Erinnerung an die Tu gend im Ge dächtnis bewahrt wird. Die Behausungen der Lebenden nennen sie „Ab steigen“ (katalÚseij), da wir nur kurze Zeit in ihnen wohnten. Die Gräber der Verstorbenen bezeichnen sie als „ewige Häuser“ (¢…dioi o‡koi), da sie die unendliche Zeit im Ha des verbrächten. Entsprechend verwenden sie wenig Gedanken auf die Ausrüstung ihrer Häuser, wo-hingegen ihnen für die Gräber kein Aufwand zu hoch er scheint.48

    Ich werde im 2. Kapitel des II. Teils im Zusammenhang der „morali-schen Zeit“ noch einmal auf diese Stelle zurückkommen (S. 115). Hier geht es mir nur um die Gegenüberstellung der „kurzen Zeit“ diesseits und der „unendlichen Zeit“ jenseits der Todesschwelle. Hekataios’ Be-obachtung wird durch ein über 1000 Jahre älteres ägyptisches Zeugnis bestätigt, das uns in einer Grabinschrift aus dem Neuen Reich erhalten ist:49

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  • 25LEBENSZEIT DIESSEITS UND JENSEITS DER TODESSCHWELLE

    Ich errichtete mir ein vortreffliches Grab in meiner Stadt der Ewigkeit.ich stattete vorzüglich aus den Ort meiner Felsgrabanlage in der Wüste der Ewigkeit.50

    Möge mein Name dauern auf ihmim Munde der Lebenden,indem die Erinnerung an mich gut ist bei den Menschennach den Jahren, die kommen werden.

    Ein Weniges nur an Leben ist das Diesseits,die Ewigkeit (aber) ist im Totenreich.

    Ein Gelobter Gottes ist der Edle,der für sich handelt im Hinblick auf die Zukunftund mit seinem Herzen sucht, um sich das Heil zu finden,das Bestatten seines Leichnams und das Beleben seines Namens,und der an die Ewigkeit denkt.

    In Gräbern des fortgeschrittenen Neuen Reichs, ab der Amarna-Zeit (um 1340 v.Chr.) findet sich in Darstellungen eines festlichen Mahls oft eine Szene, in der ein Harfenspieler (seltener auch eine Lautenspie-lerin) dem speisenden Paar ein Lied vorträgt, das zum festlichen Le-bensgenuss auffordert, weil die auf Erden verbrachte Zeit so kurz und im Jenseits das Feiern zu Ende sei. In diesen Liedern wird ein erstre-benswertes Dasein im Jenseits grundsätzlich bezweifelt: die Gräber zer-fallen, die Mumien verschwinden, als hätte es sie nie gegeben. Das be-rühmteste und wohl auch früheste Beispiel dieser Gattung ist das „Anteflied“:

    Das Lied, das im Hause (König) Antefs, des Seligen, steht,vor dem (Bilde des) Sängers zur Harfe:

    Glücklich ist dieser gute Fürst, nachdem das gute Geschick eingetreten ist!Geschlechter vergehen,andere bestehen (/kommen51) seit der Zeit der Vorfahren.Die Götter, die vordem entstanden, ruhen in ihren Pyramiden.Die Edlen und Verklärten desgleichen sind begraben in ihren Pyramiden.

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  • 26 NEH. EH. UND DJET – DIE BEIDEN GESICHTER DER ZEIT

    Die da Häuser bauten – ihre Stätte ist nicht mehr; was ist mit ihnen geschen?Ich habe die Worte gehört des Imhotep und Hordedef, deren Sprüche in aller Munde sind.Wo sind ihre Stätten? Ihre Mauer sind verfallen,sie haben keinen Ort mehr als wären sie nie gewesen.Keiner kommt von dort, von ihrem Ergehen zu berichten, ihren Bedürfnissen zu erzählen,unser Herz zu beruhigen bis auch wir gelangen, wohin sie gegangen sind.

    Du aber erfreue dein Herz und denke nicht daran!Gut ist es für dich, deinem Herzen zu folgen, solange du bist. Tu Myrrhen auf dein Haupt,kleide dich in weißes Leinen, salbe dich mit echtem Öl des Gotteskults,vermehre deine Schönheit, lass dein Herz dessen nicht müde werden! Folge deinem Herzen in Gemeinschaft deiner Schönen,tu deine Dinge auf Erden, kränke dein Herz nicht,bis jener Tag der Totenklage zu dir kommt.Der ,Müdherzige‘ hört ihr Schreien nichtund ihre Klagen holen das Herz eines Mannes nicht aus der Unterwelt zurück.

    Refrain: Feiere den Schönen Tag, werde dessen nicht müde!Bedenke: niemand nimmt mit sich, woran er gehangen,niemand kehrt wieder, der einmal gegangen.52

    Ein anderes Lied gibt sich ausdrücklich als eine Palinodie, eine Gegen-darstellung zu der Vorstellung, die „die Lieder der Vorfahren“ vom Jen-seits geben und veranschaulicht den Gegensatz von diesseitiger und jenseitiger Zeit mit Hilfe eines berühmten, hier vielleicht zum ersten Mal gebrauchten Vergleichs:53

    Ihr trefflichen Edlen alle, o Neunheit der Herrin des Westens, hört, wie dem Gottesvater Lob erwiesen wird,im Preisen seines machtvollen Ba eines vortrefflichen Edlen, nun, da er ein Gott ist, der ewig (nhh) lebtund erhöht ist im Westen,

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  • 27LEBENSZEIT DIESSEITS UND JENSEITS DER TODESSCHWELLE

    damit es eine Erinnerung werde an die Zukunft54

    für jeden, der vorbeikommt!

    Ich habe diese Lieder gehört, die in den Gräbern der Vorfahren stehenund was sie erzählen zur Erhöhung des Diesseits und zur Herabsetzung des Totenreichs.Warum wird dergleichen angetandem Lande der Ewigkeit (nhh),dem gerechten, das keinen Terror kennt,und das den Streit verabscheut?Keiner rüstet sich gegen seinen Nächsten(in) diesem Land, das keinen Widerstand kennt.

    Unsere Leute ruhen darin seit der ersten Urzeit,und die da sein werden in Millionen über Millionen Jahren,sie kommen alle zu ihm.Es gibt kein Verweilen in Ägypten55,keiner ist, der nicht dorthin gelangte.Die Zeit (‘h‘w), die auf Erden verbracht wirdist (nur) ein Traum.56

    Dem aber, der den Westen erreicht hat, sagt man „Willkommen, wohlbehalten und heil!“

    Beide Stimmen sind sich darin einig, dass die Zeit, die uns auf Erden zu verbringen vergönnt ist, verschwindend kurz ist im Vergleich zu der Unendlichkeit des Totseins. Der Widerspruch ergibt sich nur aus der unterschiedlichen Bewertungen der beiden Zeiten. Die eine Stimme entwertet aufgrund ihrer Kürze die Diesseitszeit aha’u und setzt alles auf die unendliche Zeit im Jenseits, die andere wertet im Gegenteil ge-rade wegen ihrer Kürze und Knappheit die Diesseitszeit als das Kost-barste auf, was dem Menschen gegeben ist, da er sich ja im Tod von al-lem trennen muss, woran sein Herz hängt. Das Jenseits im Sinne eines erwünschten Ortes scheint es in dieser pessimistischen Sicht nicht zu geben. Was die pessimistischen Harfnerlieder der Kürze und Kostbar-keit des diesseitigen Lebens gegenüberstellen, ist die Unendlichkeit, aber nicht im Jenseits, sondern im Diesseits:57

    Generationen vergehen seit der Zeit des Gottes,neue treten an ihre Stelle.58

    Re zeigt sich am Morgen,Atum geht unter im Westberg.59

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  • 28 NEH. EH. UND DJET – DIE BEIDEN GESICHTER DER ZEIT

    Männer zeugen, Frauen gebären,jede Nase atmet Luft.Wenn es tagt, gebären sie alleund gelangen an ihre Stätte.

    Dies ist der bemerkenswerte Versuch, der Vergänglichkeit des diesseiti-gen Daseins nicht die Fortdauer im Jenseits, sondern die Fortdauer der Gattung gegenüber zu stellen60, den Begriff einer Gegen-Zeit oder Ewigkeit also im Diesseits zu lokalisieren und über dem Wandel der Generationen die Konstanz des Lebens ins Auge zu fassen, wie sie der Sonnengott verkörpert, der kommt und geht wie die Generationen der Menschen und doch immer da ist. Aber auch im Rahmen dieser Kon-zeption, die ohne das Jenseits auskommt, um „Ewigkeit“ zu denken61, heißt es im folgenden: „Gib Brot dem, der keinen Acker hat, damit dir ein guter Name entstehe für die Zukunft der Ewigkeit“ (nhh).62 Nicht als Verklärter im Jenseits, sondern als Name im Munde der Diesseiti-gen hat der Mensch an dieser Ewigkeit der Gattung Anteil.63 Auch hier aber ist Neheh, die Ewigkeit, die sich jenseits der Todesschwelle auftut, ein Aufruf zum rechten Handeln, zur „Verewigung“ des Andenkens.

    Die „Ewigkeit der Gattung“ im unaufhörlichen Wechsel der Gene-rationen ist allerdings eine andere Ewigkeit als die Ewigkeit der Toten – jedenfalls in pessimistischer Sicht, die eine Fortsetzung diesseitiger Bindung, eine Möglichkeit der Kommunikation und einer Wieder-kehr ans Licht der Sonne grundsätzlich in Frage stellt und im Tod vor allem die Trennung sieht, die Entfernung aus dem vertrauten Leben in ein „anderes Land, das die Menschen nicht kennen“.64 Es ist erstaun-lich, dass die Ägypter diese Stimme immer wieder zu Wort kommen ließen und den Widerspruch zur herrschenden Meinung und Praxis ertrugen. Allerdings darf man nicht übersehen, dass sie literarisch nur in der Form des Dialogs auftritt, also niemals unwidersprochen bleibt.

    In dem berühmten „Gespräch eines Mannes mit seinem Ba“ (Papy-rus Berlin 3024), einem der bedeutendsten Werke der altägyptischen Literatur, das aus der Zeit des Mittleren Reichs (20.-18.Jh.v.Chr.) stammt, geht es um eine ähnliche Streitfrage. Beide, das Ich und sein Ba, wollen aus dem diesseitigen Leben scheiden. Sie haben aber ein ganz unterschiedliches Bild vom Jenseits. Das Ich stellt es sich als Fort-dauer im Grabe in Kommunikation mit seinen Nachkommen vor. So plädiert es dafür, vor dem ersehnten Tod noch ein Grab anzulegen und für einen Erben zu sorgen:

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  • 29LEBENSZEIT DIESSEITS UND JENSEITS DER TODESSCHWELLE

    Ich sagte: ich gehe nicht fort, wenn das Jenseits vernachlässigt wird.Wirklich, du springst davon ohne dich zu kümmern.Auch wenn du tot bist, lebt doch dein Name.Ein Ruhesitz ist das Jenseits,wohin das Herz einen führt.Ein Hafen ist das Totenreich,wenn die Schiffahrt schwierig ist [...]Wenn mein Ba auf mich hört ohne Freveltat,und sein Herz mit mir übereinstimmt, dann wird er glücklich sein.Ich werde veranlassen, dass er das Totenreich erreicht als ein Grabherr („einer der in seiner Pyramide ist“),nachdem sein Hinterbliebener bei seinem Begräbnis aufgetreten war.Wenn du mich von einem derartigen Tod abdrängst,dann wirst du keinen Platz finden, dich darauf niederzulassen.Habe Geduld, mein Ba, mein Bruder,bis dass ein Erbe entsteht, der das Opfer darbringen wird,der am Grab stehen wird am Tag des Begräbnisses,auf dass er die Totenbahre bewache (od. ausstrecke).65

    Davon will aber der Ba (die Körperseele, die als vitales Prinzip zu Leb-zeiten den Körper beseelt und ihn im Tode verlässt) nichts hören:

    Wenn du an das Begräbnis denkst: Ein Herzensjammer ist das,ein Hervorholen der Tränen ist das durch das Betrüben eines Menschen,das Herausholen eines Menschen ist das aus seinem Haus, um ihn in die Wüste zu werfen.Du kannst nicht wieder herauskommen, die Sonnen zu sehen.Die da bauten in Granit,die Kapellen anlegten in schönen Pyramiden,in vollendeter Arbeit,wenn ihre Erbauer zu Göttern geworden sind,blieben ihre Opfersteine leer wie die der Müden,die am Uferdamm gestorben sind aus Mangel an einem Hinterbliebenen.Das Wasser hat sich seinen Teil genommen, die Sonnenglut desgleichen,die Fische des Ufers reden mit ihnen.Höre du auf mich! Hören ist gut für die Menschen.Folge dem schönen Tag! Vergiss die Sorge!66

    Nach Ansicht des Ba ist die Sorge um Grab und Totenkult zur Vorbe-reitung für die unendliche Zeit im Jenseits völlig ungeeignet. Damit

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  • 30 NEH. EH. UND DJET – DIE BEIDEN GESICHTER DER ZEIT

    wird die Lösung des Problems, die noch Hekataios als die herrschende Ansicht der Ägypter darstellt, radikal verworfen.

    Das 175. Kapitel des Totenbuchs, dessen Vorlage möglicherweise aus derselben Zeit stammt, enthält ein Gespräch zwischen Osiris und Atum, in dem Osiris ähnlich pessimistische Ansichten über das Jenseits äußert und von Atum in tröstendem Sinne beschieden wird:

    Osiris:O Atum, was soll es,dass ich zur Wüste des Totenreichs dahineilen soll?Sie hat kein Wasser, sie hat keine Luft,sie ist ganz tief, ganz finster, ganz unendlich!

    Atum:Du lebst dort im Frieden des Herzens.

    Osiris:Aber dort lässt sich ja keine Wollust finden.

    Atum:Ich habe Verklärtheit gegeben an die Stelle von Wasser, Luft und Wollust,und Frieden des Herzens an die Stelle von Brot und Bier.67

    In beiden Texten bleibt also die häretische, jenseits-skeptische Stimme nicht unwidersprochen. Ähnliches gilt auch für die Harfnerlieder (zum Festmahl) und Totenklagen, die solche Töne anklingen lassen. Sie sind jeweils in eine bedeutungshaltige Situation eingebettet und durch sie determiniert. Derart eingebettet in einen übergreifenden Zusammen-hang sind auch die für ägyptische Verhältnisse überraschend kühnen Worte, die eine Frau an ihren Ehemann richtet, aufgezeichnet mit vie-len anderen Texten auf seiner Statue im Tempel von Karnak, und die vielleicht wirklich die Klage des Achill (Od. XI, 489–91) vorwegneh-men:68

    Lass uns nicht in das Land der Ewigkeit (nhh) gehen,damit unser Name nicht vergessen werde.Ein Augenblick (,,t), da man die Strahlen der Sonne sieht,ist mehr wert (,,7) als die Ewigkeit (9t) als Herrscher der Unterwelt.

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