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Jürgen Flenker: Ebers Ende

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Das Dorf Osterup im Münsterland. Es ist Spargel- und Schützenfestzeit. Klemens Schmölling hat es aus kleinen Anfängen zu einem der größten Spargelbauern der Gegend gebracht. Der Bistrup-Hof, den er bewirtschaftet, gehört seiner Frau Gertrud. Als „Eingeheirateter“ hat man ihn sein Außenseitertum immer spüren lassen, aber Schmölling liegt viel daran, zu den Honoratioren des Dorfes gezählt zu werden.

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Prolog

Es ist sternenklar. Die Grashalme zittern hin und wieder in der

fast windstillen Nacht. Der Mond pinselt seine bleiche Farbe an

den Himmel. Die Konturen von Feldern, Wald und Horizont flie-

ßen ineinander, als wären sie mit einem Weichzeichner behandelt

worden. Schon den ganzen Tag lang liegt der Gestank von Gülle

über den Äckern, aber erst jetzt, mit den geschärften Sinnen der

Nacht, nimmt sie den Geruch bewusst wahr. Irgendwo ist das

Fauchen eines umherstreunenden Katers zu hören. Am Waldrand

raschelt es.

Er geht ohne nachzudenken. Die Abkürzung durch den Wald fin-

det er auch im Dunkeln. Die Kälte spürt er nicht. Obwohl der Al-

kohol seinen Körper etwas wanken lässt, fühlt er sich klar wie sel-

ten. Das Gerede der anderen an der Theke ist ihm zum Schluss

gewaltig auf die Nerven gegangen, und er war froh rauszukom-

men. Aber er hat wenig Lust, nach Hause zu gehen. Er sieht das

Gesicht seiner Frau vor sich, diesen Blick, aus dem in letzter Zeit

nur noch Verachtung spricht. Und wieder packt ihn diese dumpfe,

ohnmächtige Wut.

Ihre Füße schmerzen. Zwischen dem Klackern ihrer Absätze auf

dem Asphalt meint sie, ihren Herzschlag zu hören, und plötzlich

spürt sie den starken Drang zu laufen. Aber sie zwingt sich,

gleichmäßig zu gehen und versucht, ihren Atem zu beruhigen. Die

Stille ist unheimlich. Seitdem sie das Dorf verlassen hat, ist ihr

kein Auto begegnet. Ein Buswartehäuschen taucht in ihrem Blick-

feld auf. Dahinter liegt ein kleines Waldstück, durch das schwach

die Lichter eines Bauernhofes glimmen.

Seine Finger krallen sich in der Hosentasche um das Jagdmesser,

das er immer bei sich trägt. Der Griff aus Hirschhorn drückt sich

in die Innenfläche seiner Hand. Er zieht an der Zigarre, aber sie

will ihm jetzt nicht schmecken. Er hat es immer gewusst, die

Thekenkameraden sind nichtsnutzige Idioten. Saufen und Sprüche

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machen – das können sie. Aber ein Kerl muss mehr können als

dumm rumlabern. Ein Kerl muss handeln. Und die armseligen Fi-

guren dort im Zelt? Nichts als heiße Luft. Dabei haben sie sich

doch fast die Augen aus dem Kopf gestiert, als dieses Flittchen

getanzt hat, einer gieriger als der andere. Er holt das Messer aus

der Tasche und lässt die Klinge auf- und zuschnappen.

Sie horcht. Ist da ein Keuchen zu hören oder ist es nur ihr eigener

rascher Atem? Sie dreht sich nach allen Seiten um. Ihre rechte

Faust umschließt unwillkürlich den Schlüsselbund, den sie in der

Jackentasche trägt. Sie bleibt stehen und hält den Atem an, horcht.

Alles scheint ruhig. Im Weitergehen zuckt sie zusammen. Auf

dem Hof hinter dem Wald schlägt ein Hund an, ein kurzes, tro-

ckenes Bellen. Ein nervöses Lachen entfährt ihr und sie atmet ge-

räuschvoll weiter.

Die erleuchtete Bushaltestelle liegt kurz vor ihr. Die Plexiglas-

scheiben sind zerkratzt und vollgeschmiert wie ein missbrauchtes

Schwarzes Brett.

Langsam tritt er aus dem Schutz der Bäume heraus und horcht.

Von links nähert sich das klickende Geräusch von Absätzen auf

dem Asphalt. Er schnuppert. Noch ehe die Silhouette eines Men-

schen auftaucht, steigt ihm dieser Geruch in die Nase, ein süßli-

cher Geruch von einem billigen Parfüm. Er spuckt ein paar Ta-

bakkrümel aus und leckt sich die Lippen. Dann tritt er zurück in

den Wald. Der Hund auf dem Nachbarhof bellt. Rombergs Hund.

Romberg, der geölte Lackaffe, auch so ein elender Schwätzer. In

letzter Zeit kommt er auffällig oft zu Besuch, und dann diese

Scheißfreundlichkeit. Seit langem schon fragt er sich, was die zu

bedeuten hat. Romberg war es doch auch, der dieser verdammten

Schlampe am längsten auf den Hintern gestarrt hat. Ein Weiber-

held war der schon immer. Aber Romberg und seine Frau? Kann

das sein? Würde sich jemand freiwillig mit seiner abgetakelten

Alten einlassen? Ein verächtliches Schnaufen entfährt ihm. Er

zieht die Mütze tief ins Gesicht. Seine Hand tastet wieder nach

dem Messer.

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Auf Höhe der Bushaltestelle beginnt sich ihr Atem zu beruhigen.

Plötzlich knacken Zweige, und ehe sie wieder nach dem Schlüs-

selbund greifen kann, bricht eine Gestalt aus dem Wald heraus.

Sie will schreien, doch eine grobe, schwielige Männerhand presst

ihr den Mund zu. „Keinen Mucks! Und dreh dich bloß nicht

um.“ Metall blitzt auf und etwas Spitzes, Kaltes legt sich an ihren

Hals. Eine beängstigende Kraft liegt in diesen Händen. Die Hände

stoßen sie in das Wartehäuschen hinein, zwingen sie, sich auf die

Bank zu knien. Ihr Gesicht wird hart gegen die Plexiglasscheibe

gestoßen, Blut läuft ihr aus der Nase. Sie ist unfähig, sich zu be-

wegen. Die Hand riecht nach Nikotin. Der Hund auf dem Bauern-

hof schlägt wieder an. Irgendwann splittern die Neonröhren, ein

feiner Glasregen geht auf sie nieder, und um sie herum wird es

dunkel.

Ein Glassplitter ist unter seinen Hemdkragen gerutscht. Als er

seine Hand auf die Stelle drückt, ist sie voller Blut. Er nestelt

nach einem Taschentuch. Unbeholfen bringt er die Blutung zum

Stillstand. Sein weißes Hemd, das Jackett und die helle Sommer-

hose sind voller Blutflecken. Er flucht und schleudert den Stein,

mit dem er das Licht gelöscht hat, mit voller Kraft in den Wald.

Das Messer schiebt er in die Hosentasche zurück. Ohne sich noch

einmal umzusehen, geht er davon, zügig, aber ohne Hast. Immer

noch presst er das blutige Taschentuch gegen die Wunde. Er spürt

keinen Schmerz. Schweiß läuft ihm in den Nacken und trotzdem

ist ihm kalt. Er schlägt den Kragen seines Jacketts hoch. Sein

Mund füllt sich mit einem komischen Geschmack. Er hat das Ge-

fühl, dass er seine Wut heruntergeschluckt, aber noch lange nicht

verdaut hat.

Sie schließt die Augen. Ein gleichmäßiges Rauschen umgibt sie.

Sie befindet sich in einer Luftblase. Die Außenwelt ist ausgesperrt.

Da ist die Ostsee, ein graues Band an einem verregneten Sonntag,

der menschenleere Strand, und da ist sie, gebückt gegen den

Sturm, der an ihren nassen Haaren zerrt, und da ist er, der weit vo-

rausläuft und nur noch als Punkt erkennbar ist, ihr Freund, und

der Wind bläst ihr mit solcher Macht ins Gesicht, dass sie keine

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Luft bekommt, und ihre Lippen werden rissig und schmecken

nach Salz, und da sind die Möwen mit ihren heiseren Stimmen,

und eine der Möwen taucht tief ein ins Meer und taucht wieder

auf, schießt nach oben, immer wieder, und sie ruft nach ihrem

Freund, aber der ist weit weg und kann sie nicht hören, und sie

will laufen, aber ihre Absätze bleiben stecken im aufgeweichten

Sand und sie kommt nicht von der Stelle, und dann sieht sie in der

Ferne den Hof, den verfallenen Hof mit seinen alten Mauern, und

der Sturm wird heftiger und fegt über die Gebäude hinweg, deckt

die Dächer ab und reißt die Mauerreste ein, und Wolken von

Staub und Dreck hüllen sie ein, bis alles schwarz wird und sie

endlich ganz in der Dunkelheit verschwindet.

Alle paar Meter spuckt er aus. Er hat noch Lust auf einen Ab-

sacker, aber ins Zelt kann er nicht mehr zurück. Die Klamotten

sind hin, daran ist diese Schlampe schuld. Er muss die Sachen un-

auffällig loswerden. Hauptsache, es sieht ihn so niemand. Aber

das ist unwahrscheinlich. Bis zum Hof sind es nur noch ein paar

Minuten, und seine Frau erwartet ihn nicht. Wahrscheinlich weiß

sie nicht einmal, dass er weg war. Kein Mensch vermisst ihn. Was

soll´s. Immer noch dieser verdammte Geschmack im Mund. Den

wird er einfach nicht los. Da kann er ausspucken, soviel er will.

Sie sitzt auf der Bank des Wartehäuschens, und ihr Körper zittert

vor Kälte, doch es ist eine Kälte, die den Kopf nicht erreicht. Sie

hat die Beine angezogen und hält ihre Knie eng umschlungen. Ihr

Make-up ist zerlaufen, verkrustetes Blut klebt unter der Nase. Ihre

Bluse ist zerrissen, der Kragen blutverschmiert. Ihr Körper wiegt

vor und zurück, immer wieder, wie einem inneren Rhythmus fol-

gend, aber sie spürt die Bewegung nicht. Sie hört nichts mehr, und

in ihr ist eine vollkommene Leere. Sie ist jetzt nur noch Körper,

nichts weiter als ein hohles Gefäß, dessen Inhalt jemand ausge-

schüttet hat. Und was da geschehen ist, das ist nichts als eine

dumpfe Erinnerung, nur ein verschwommener Schwarzweißfilm,

der in einem leeren Kino abgespielt wird, ohne Inhalt, ohne Ton.

Ein Film, der nichts mit ihr zu tun hat, in dem sie nur eine stum-

me Beobachterin ist, still und unbeteiligt.

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Die Plexiglasscheiben des Buswartehäuschens sind beschlagen.

„Freibier für alle“, hat jemand dort hingekritzelt. Ein zerfledderter

Anschlag wirbt für ein Nachttaxi. Glassplitter bedecken den Bo-

den, dazwischen liegt ein kalter Zigarrenstummel. Der Mann hat

irgendwann den Mantelkragen hochgeschlagen und ist gegangen,

wortlos und ohne Eile. Mit der größten Selbstverständlichkeit,

wie einer, der seine Arbeit erledigt hat.

Ein alter Opel mit polnischem Kennzeichen rast Richtung Dorf.

Er fährt an ihr vorbei. Der Wagen hat ein defektes Rücklicht. Ihr

wird schlecht, und ihr Mund füllt sich mit Erbrochenem.

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Osterup

Der Spargelbauer Klemens Schmölling aus Osterup im westlichen

Westfalen gehörte zu jenen Menschen, die an jeder Sache grund-

sätzlich einen Haken vermuten.

Inwieweit dies mit der Tatsache zusammenhing, dass er Münster-

länder war, ist schwer zu sagen. Fest stand, er war ein von Natur

aus argwöhnischer Mensch, und von denen gab es nicht wenige in

diesem flachen Landstrich zwischen Ruhrgebiet und norddeut-

scher Tiefebene. Die Beharrlichkeit des Regens hatte hier eine

grüne, fruchtbare Landschaft geschaffen, die in einem auffälligen

Kontrast zur Wortkargheit und Gefühlsknauserigkeit seiner Be-

wohner stand. Die Emotionen schossen nicht ins Kraut, aber in

punkto Sturheit konnten es viele Münsterländer mit dem Regen

aufnehmen.

Auch Klemens Schmöllings Misstrauen wurzelte tief. Alles Neue,

alles Ungewohnte hatte sich an dieser Skepsis zu messen, und

zumeist prallte es, noch bevor es Eingang in seinen Kopf fand, an

seiner breiten Stirn ab wie ein exotischer Vogel an einer knorrigen

westfälischen Eiche.

Nun war sein Argwohn keinesfalls das Resultat einer vorsichtigen,

behutsam abwägenden Lebenshaltung. Sie entsprang nicht jener

gesunden Skepsis, wie man sie bei Menschen findet, die allem

Unbekannten zunächst abwartend gegenübertreten. Solche Veräs-

telungen in seinem Charakter zu vermuten, wäre durchaus über-

trieben gewesen. Nein, Klemens Schmölling war, und damit wi-

dersprach er dem gängigen Bild des Münsterländers, eine stumpfe,

ichbezogene Natur. Er war ein Mensch, der sich hinter einem Wall

aus dumpfem Misstrauen verschanzte und dort den Großteil sei-

nes Lebens verbrachte, seit er vor dreiundfünfzig Jahren das Licht

der Münsterländer Parklandschaft erblickt hatte.

Dieser Wall schützte ihn davor, sich auf irgendwen oder irgend-

was näher einzulassen, als es ihm für sein persönliches Fortkom-

men wichtig erschien. Denn Schmölling war nicht ohne Ehrgeiz.

Er hatte es im Dorf zu etwas gebracht, hielt diverse Ehrenämter

besetzt und scheute sich nicht, am Stammtisch lauthals seine

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Meinung zu verkünden. All das tat er jedoch nicht um der Dorf-

gemeinschaft willen, sondern immer mit dem Ziel, sein Revier

abzustecken, Konkurrenten auf Distanz zu halten und sich seiner

Autorität zu versichern. Sah er die in Gefahr – und Schmölling

witterte instinktiv alle potenziellen Feinde –, reagierte er barsch

und aufbrausend und neigte zu heftigen Wutausbrüchen.

Klemens Schmölling war nicht nur Spargelbauer, er war auch

Bier- und Korntrinker, Tabakpflanzer, Zigarrenraucher, Hob-

byschweinezüchter; weiterhin Kassierer im landwirtschaftlichen

Ortsverein, Schützenbruder der ersten Stunde und – gelegentlich

– schwadronierender Stammtischpolitiker vor ausgewähltem Pub-

likum.

Der von ihm bewirtschaftete Bistrup-Hof trug den Namen der

Familie seiner Frau. Schmölling hatte hier eingeheiratet. Seine

Frau Gertrud, obwohl sie den Namen ihres Mannes angenommen

hatte, war für die Leute immer die Bistrupsche geblieben. Er

selbst würde nie ein Bistrup werden. So war das hier, und

Schmölling wusste das. Dennoch bestand er stets darauf, zu den

Honoratioren gezählt zu werden, zu denen die einfachen Dorfbe-

wohner aufzublicken hatten.

Über die Jahre hatte Klemens Schmölling sich einen gewissen

Ruf im Dorf erarbeitet. Man mochte ihn nicht, viele rümpften die

Nase über ihn, aber man nahm ihn, wie er war. Und die meisten

hatten Respekt vor dem, was er als Landwirt erreicht hatte.

Aber Klemens Schmölling hatte sich verändert. Seit einiger Zeit

schon war er unruhiger, unsicherer geworden. Wer ihn genauer

kannte, konnte diesen schleichenden Wandel nicht übersehen.

Sein Blick hatte nicht mehr die Klarheit früherer Tage, sein Gang

war gebeugter, seine Stimme weniger scharf, als man es von ihm

gewohnt war, neu war auch das Zittern seiner Hände; Klemens

Schmöllings Fassade begann zu bröckeln. Zwar gab er in Gesell-

schaft und auf Festen immer noch gerne den gewohnten Polterer,

aber seine dröhnenden Auftritte wirkten nur noch gezwungen,

seine Lautstärke wie das Grollen eines Gewitters, das längst vor-

beigezogen war.

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Jakob Sandow erwachte von einem plötzlichen Ruckeln und

schreckte hoch. Er öffnete die Augen und brauchte einen Moment,

um sich und seine Gedanken zu sortieren. Er befand sich immer

noch im Zug. Das heißt, nach dreimal Umsteigen war dies für ihn

mittlerweile der vierte Zug. Zum Glück war es auch der letzte, ein

Nahverkehrszug, der ihn von Münster nach Osterup, einem klei-

nen Dorf im westlichen Münsterland bringen sollte. Wie es aussah,

war es einer von den Zügen, die an jeder Milchkanne hielten. Ihm

gegenüber saß ein älteres Ehepaar, das eingestiegen sein musste,

während er geschlafen hatte. Jakob blickte in zwei zerfurchte, ein

wenig mürrische Gesichter. Die beiden hatten die Mäntel nicht

ausgezogen. Jeder zwei Plastiktüten und einen Regenschirm auf

den Knien balancierend, blickten sie wortlos in seine Richtung.

Jakob nickte den beiden zu, erntete aber keine Reaktion.

Er stand auf und öffnete das Abteilfenster. Der Zug stand mitten

in der flachen Landschaft. In der Ferne erkannte er ein rot ver-

klinkertes Stallgebäude mit zwei Silotürmen. Ein paar Pferde

grasten auf einer Weide, dahinter zog sich ein schmaler Streifen

Wald. Über den Bäumen hingen dunkle Wolken. Häuser oder gar

ein Bahnhof waren weit und breit nicht zu sehen. Bummelzüge

war er von zu Hause gewöhnt. Warum es aber jetzt hier auf freier

Strecke plötzlich nicht mehr weiterging, vermochte er nicht zu

ergründen.

Die ganze Fahrt über war er angespannter gewesen, als er wahr-

haben wollte, und obwohl er in der Nacht die meiste Zeit wach

gelegen hatte, fand er im Zug lange keinen Schlaf. Erst jetzt, ganz

zum Schluss seiner Reise, hatte die Müdigkeit gesiegt und ihm

kurz die Augen geschlossen.

In den letzten Jahren hatte Jakob nicht gerade das durchlebt, was

man eine unbeschwerte Jugend nennt. Dennoch hatte er sich sein

lebenslustiges, aufgeschlossenes Wesen bewahrt; das Grübeln ge-

hörte nicht unbedingt zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Wäh-

rend der langen Stunden im Zug freilich fehlte ihm die Ablenkung,

und so war er ganz automatisch ins Brüten geraten, hatte lange

aus dem Fenster geschaut und Gedanken und Erinnerungen in die

Bilder der sich verändernden Landschaft gemischt. Er kam aus

einem staubigen Dorf in der Mark Brandenburg, hatte zuletzt ei-

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nige Monate in Berlin gelebt. Von dort war er am Morgen losge-

fahren, einmal quer durch die Republik. Zuerst mit der S-Bahn

zum Hauptbahnhof dann mit dem Intercity Richtung Ruhrgebiet.

Hinter der Stadtgrenze Berlins ging es lange durch die menschen-

leere Weite seiner märkischen Heimat, durch riesige Kiefernwäl-

der und sandige Heidelandschaften. Zwischendurch wurde es ge-

birgiger, dann kamen sie in dichter besiedeltes Gebiet. Hinter

Hamm schließlich wurde es wieder einsamer, und das Münster-

land mit seinem Flickenteppich aus Weiden, Äckern, Streuobst-

wiesen und kleinen Wäldern begann.

Dass es ihn hierher zog, war reiner Zufall. Und von Ziehen konnte

im Grunde auch keine Rede sein. Sein Leben steckte in einem

Loch fest. Er hatte Stress mit seinem Vater, einem arbeitslosen

Melker, der nur noch von Alkohol und schlechter Laune lebte.

Seine Mutter war schon vor Jahren mit ihrem neuen Typen nach

Berlin gezogen und hatte freiwillig auf das Sorgerecht verzichtet.

Jakob konnte den Neuen seiner Mutter ohnehin nicht ausstehen

und so blieb er beim Vater. Das hatte immerhin den Vorteil, dass

er in Ruhe die Schule abschließen konnte, auch wenn ihn die Ler-

nerei schon lange anödete. Am Ende stand er sogar mit einem

ganz annehmbaren Abitur da, und alles hätte gut sein können.

Aber dann hatte er seine Freundin Sarah ausgerechnet auf der

Abiparty knutschend mit dem Sohn des Dorfbonzen erwischt. Da

war er kurz mal ausgetickt. Es gab einen Tumult mit viel Geschrei,

zwei blutigen Nasen und einem heulenden Mädchen. Am Ende

dieser ganzen verdammten Geschichte wollte Jakob nur noch weg,

und zwar so schnell wie möglich. Sein Vater machte keine Anstal-

ten, ihn daran zu hindern. Wahrscheinlich war er ganz froh, einen

Esser weniger im Haus zu haben.

Jakob fuhr nach Berlin und quartierte sich bei seiner Mutter ein.

Er fand einen Job in einer Großküche. Die Arbeit war zwar an-

strengend und schlecht bezahlt, aber Jakob war nicht anspruchs-

voll und er verdiente zum ersten Mal in seinem Leben sein eige-

nes Geld. Zusammen mit seinem Ersparten hatte er nach einem

halben Jahr genug Geld, um sich einen großen Wunsch zu erfüllen

und den Führerschein zu machen. Das Zusammenleben mit seiner

Mutter und ihrem Lebensgefährten allerdings wurde bald uner-

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träglich. Die anfängliche Freude über das Wiedersehen mit dem

„verlorenen Sohn“ hielt nicht lange an. Die Wohnung war klein,

und immer öfter kam es zu Spannungen. Eines Nachts brachte Ja-

kob nach einer Party ein Mädchen mit nach Hause. Am nächsten

Morgen begegnete der Freund seiner Mutter dieser Fremden im

Badezimmer und machte eine Riesenszene. Er schrie wild herum

und wollte Jakob aus der Wohnung werfen, worauf seine Mutter

abwechselnd ihren Freund und den Sohn anschrie, und das Mäd-

chen schließlich heulend auf die Straße lief. Jakob ließ sie laufen.

Es war sowieso nichts Ernstes. Aber er hatte keine Lust mehr auf

den ewigen Stress und zog freiwillig aus. Für eine Weile kam er

bei einem befreundeten Kollegen aus der Großküche unter.

Auf Dauer war das alles natürlich keine Lösung. Er hatte keine

eigene Wohnung und einen Job ohne Perspektive. Pläne machen,

vorausdenken – das war nie seine Sache gewesen. Er hatte immer

gerne in den Tag hineingelebt; irgendwie hatte sich immer etwas

ergeben. Aber jetzt spürte er, dass er endlich ein paar Weichen in

seinem Leben stellen musste. Er erinnerte sich, wie er als Kind

davon geträumt hatte, Bauer zu sein, und er hatte bis heute nie das

Interesse an der Landwirtschaft verloren. Außerdem hatte ihm die

Zeit in Berlin gezeigt, dass er nicht für die Großstadt gemacht war.

Warum also nicht Landwirtschaft studieren? Jakob machte sich

schlau und beschloss, sich zunächst einmal für ein Praktikum zu

bewerben. Und, um den Schnitt radikaler zu machen, am liebsten

irgendwo möglichst fern der Heimat. Er antwortete auf einige

Annoncen in der Landwirtschaftlichen Wochenzeitung. Der

Bistrup-Hof in Osterup, ein kleiner Spargelhof, der einer gewis-

sen Gertrud Schmölling gehörte, sagte als erster zu. Jakob trug

den Brief mit der Zusage in der Innentasche seiner Jacke. Es

wunderte ihn ein bisschen, dass das Papier nur von Gertrud

Schmölling unterschrieben war. Führte sie den Hof alleine? Gab

es keinen Bauern? Das machte ihn neugierig. Als er seine zwei

Taschen packte, war es Ende Februar. Das Frühjahr stand vor der

Tür; eine gute Zeit zum Aufbruch, fand Jakob. Und jetzt saß er

hier und fuhr, gegen Kost und Logis und ein paar Euro Taschen-

geld, für ein Jahr nach Westfalen.

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„Na, dann viel Spaß“, hatte ihm der Kumpel aus Berlin, der Ver-

wandte in Bielefeld hatte, ironisch mit auf den Weg gegeben. Ja-

kob wisse hoffentlich, dass die Westfalen in punkto Sturheit die

Brandenburger locker in den Schatten stellten. Langsam und be-

häbig seien die Menschen, außerdem maulfaul und ungesellig.

„Bevor du da mit jemandem warm wirst, muss viel Korn die Keh-

le hinunterfließen“, hatte der Freund gemeint und ihm prophezeit,

er werde es kein Jahr dort aushalten.

Jakob hatte sich inzwischen wieder hingesetzt. Er sah auf die Uhr.

Planmäßig brauchte der Zug vierzig Minuten bis Osterup. Aber

wer wusste schon, wie lange sie hier noch standen.

„Soll wohl nachher noch Regen geben.“

Jakob blickte auf, unsicher, ob die Worte ihm gegolten hatten.

Aber der Mann, der sie gesprochen hatte, blickte unverändert auf

den Boden und machte nicht den Eindruck, dass er dringend einen

Kommentar zu seiner Bemerkung erwartete.

„Haben Sie eine Ahnung, warum der Zug hier hält?“, fragte Jakob

ein paar Minuten später. Anstelle einer Antwort raschelte der

Mann mit den Einkaufstüten. Dann war es wieder eine Weile still.

„Gut, dass ich die Wäsche noch reingeholt habe“, meinte die Frau

und nickte heftig mit dem Kopf. Wem oder was das Kopfnicken

galt, blieb allerdings im Dunkeln.

Jakob überlegte, ob er seine Frage wiederholen sollte, aber als er

die unbeteiligten Gesichter des Paares sah, ließ er es sein und

schloss die Augen. Das gleichmäßige Tuckern des stehenden Zu-

ges machte ihn wieder schläfrig. Durch das Fenster drang das

Wiehern eines Pferdes. Ein leichter Geruch nach Schweinestall

wehte herein.

„Ist normal. Muss erst der Gegenzug durch sein. Dann geht`s hier

auch weiter. Interregio nach Münster. Soll aber wohl gleich kom-

men.“ Der Mann sah jetzt plötzlich hoch und nickte Jakob zu.

Sein Gesicht hatte beinahe freundliche Züge angenommen. „So

schnell geht das hier bei uns nicht. Oder haben Sie es eilig? Wo-

hin soll´s denn gehen, junger Mann?“

„Osterup“, antwortete Jakob.

„Soso“, meinte der Mann und raschelte wieder mit den Tüten.

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„Da kommt der gute Spargel her“, gab jetzt die Frau zum Besten

und nickte erneut mit dem Kopf. „Bald ist es wieder so weit. Wir

mögen ihn ja am liebsten mit Butter und Schinken. Bloß nicht

diese holländische Soße. Und beim Schinken: Nur der gute west-

fälische Knochenschinken, luftgetrocknet. Alles andere taugt

nichts. Sie sind aber nicht von hier, oder?“

Jakob schüttelte den Kopf, erstaunt über den plötzlichen Wort-

schwall. „Ich komme aus Brandenburg. Mache ein landwirtschaft-

liches Praktikum in Osterup. Übrigens auf einem Spargelhof. Da

kann ich Ihre Tipps dann ja gleich mal in die Tat umsetzen.“

„Wenn Sie mich fragen, alles Blödsinn“, sagte der Mann und

machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wird alles maßlos

übertrieben. Der ganze Aufwand für die paar Stangen Gemüse.

Und Ende Juni ist der ganze Zauber sowieso wieder vorbei.“

„Aber essen tut er sie doch gerne“, meinte die Frau und zwinkerte

Jakob zu.

In diesem Moment fuhr der Zug wieder an. Jakob schloss das

Fenster. Draußen war inzwischen alles grau in grau. Die Wolken

hingen so tief, dass es aussah, als wollten die Baumkronen jeden

Moment in sie hineinpieksen. Ein paar Minuten später begann es

zu regnen. Als die nächste Station angesagt wurde, griffen die

beiden alten Leute nach ihren Einkaufstüten und Schirmen und

standen auf.

„Übernächste müssen Sie auch raus“, meinte der Mann. „Haben

Sie einen Regenschirm dabei?“, fragte die Frau. „Also wenn es

sich hier erst einmal eingeregnet hat … So ein westfälischer

Landregen, ich kann Ihnen sagen, der ist hartnäckig.“ Der Mann

sah seine Frau missbilligend an. „Nu lass mal. Der junge Mann

kommt schon zurecht.“ Die beiden nickten Jakob zu und schlurf-

ten aus dem Abteil.

„Gut, dass ich die Wäsche noch reingeholt habe“, hörte Jakob die

Frau noch einmal sagen, bevor sich die Tür geräuschvoll schloss.

Jakob stieg aus dem Zug und stellte die Taschen ab. Der Bahn-

steig war menschenleer. Es regnete immer noch; nicht stark, aber

in dichten, sprühfeinen Fäden, und natürlich hatte er keinen

Schirm dabei. Das einzige Gebäude, das er hier auf diesem winzi-

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gen Bahnhof erkennen konnte, war eine Ruine, die nur noch aus

ihren Außenmauern bestand. Nicht gerade ein idealer Ort, um sich

unterzustellen. Jakob hatte ohnehin nicht viel Hoffnung, dass sich

das Wetter schnell bessern würde. Der vielbeschworene westfäli-

sche Landregen – er musste lachen. Die erste Lektion in Landes-

kunde hatte er schon gelernt.

Er zog den Reißverschluss seiner Jacke zu und machte sich auf

den Weg, ohne eine Ahnung zu haben, wo der Bistrup-Hof lag.

Deshalb beschloss er, erst einmal ins Dorf zu gehen und dort nach

dem Weg zu fragen. Es war früher Nachmittag, und auf der Straße

begegnete ihm eine ganze Weile kein Mensch. Einmal kam ihm

ein Radfahrer mit aufgespanntem Regenschirm entgegen. Jakob

sprach ihn an, aber der Mann hielt den Schirm tief vor das Ge-

sicht und konnte oder wollte ihn nicht hören.

Im Dorf gab es eine Gaststätte mit dem Namen „Osteruper Baum“.

Erleichtert ging Jakob auf die Eingangstür zu. Er war inzwischen

völlig durchnässt. Hier würde er sicher Auskunft bekommen. Au-

ßerdem konnte er ein wärmendes Getränk gebrauchen. Das Schild

„Montags Ruhetag“ war allerdings nicht geeignet, seine Laune zu

verbessern. Jakob ließ die Taschen auf das nasse Pflaster knallen

und atmete geräuschvoll aus. „Scheiße!“, zerriss sein Fluch die

betuliche Stille des Dorfnachmittags.

„Nananana, wer wird sich denn so aufregen? Morgen ist ja wieder

geöffnet.“ Jakob blickte hoch. Im ersten Stock des Gebäudes war

ein Fenster aufgestoßen worden. Eine Frau schaute neugierig und

ein wenig spöttisch auf ihn hinunter. Sie hatte ein waches, som-

mersprossiges Gesicht. Jakob betrachtete es aufmerksam und für

einen Fremden eine Spur zu lange.

„Ist sonst noch was?“, fragte die Frau misstrauisch.

„Ja, also“, meinte Jakob, „ich habe das Schild gelesen ...“

„Schön“, sagte die Frau, „und welchen Teil von montags Ruhetag

haben Sie nicht verstanden?“

„Es ist so, ich komme vom Bahnhof und wollte eigentlich nur

nach dem Weg zum Bistrup-Hof fragen. Ich fange dort heute an

zu arbeiten, Jahrespraktikum. Und dann hätte ich gerne etwas

Heißes getrunken. Der Regen hier bei euch ist ja gemeingefähr-

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lich.“ Zum Beweis schüttelte er seine blonde Mähne und ließ die

Regentropfen spritzen.

Die Frau lachte. „Vom Bahnhof kommen Sie? Na, da sind Sie ja

in die völlig verkehrte Richtung marschiert. Vom Bahnhof rechts

aus dem Dorf heraus, da wären Sie direkt auf den Bistrup-Hof zu-

gekommen.“

„Na, klasse. Heute ist wohl mein Glückstag.“

„Könnte stimmen. Wir müssen gleich noch einmal in die Stadt

zum Großmarkt. Da kommen wir bei Bistrups vorbei und können

Sie mitnehmen. Warten Sie, ich schließe auf und mache Ihnen ei-

nen Tee mit was drin. Sie holen sich ja sonst den Tod da draußen.“

Ein paar Minuten später saß Jakob in der Schankstube des

„Osteruper Baums“ und nippte an seinem Heißgetränk. Die Wirtin

hatte es gut mit ihm gemeint; es war eher Rum mit Tee als umge-

kehrt. Mit jedem Schluck floss eine wohltuende Wärme durch

seinen Körper. Jakob musterte die Wirtin aus den Augenwinkeln.

Sie war eine attraktive Frau. Zwar um einiges älter als er, aber das

hinderte seinen Flirtinstinkt nicht an der Arbeit. Er wollte gerade

zu einem Kompliment ansetzen, da erschien ein hagerer, fast

kahlköpfiger Mann mit einem Stapel leerer Gemüsekisten im

Raum, brummte einen Gruß und sah fragend in Jakobs Richtung.

„Wir haben hier einen unverhofften Gast, der sich ein wenig ver-

laufen hat“, erklärte die Wirtin. „Ein Praktikant. Muss zum

Bistrup-Hof. Wir nehmen ihn gleich mit und setzen ihn dort

ab.“ Der Mann zuckte knapp mit den Schultern, sagte aber nichts.

„Wie heißen Sie überhaupt, Herr Praktikant?“, fragte die Wirtin.

„Jakob Sandow, aber Jakob genügt.“

„Also, Herr Jakob, es geht gleich los. Ich heiße übrigens Christine

Kappenberg, meinetwegen auch nur Christine.“

Auf der Fahrt zum Bistrup-Hof sprachen nur Jakob und Christine.

Jakob erzählte ein bisschen was über seine Herkunft und was ihn

hierher ins Münsterland verschlagen hatte. Der Mann hatte sich

stumm ans Steuer gesetzt und schwieg beharrlich. Jakob saß hin-

ter dem Fahrer und sah auf dessen Glatze. Er bemühte sich, seine

Blicke möglichst von Christine fernzuhalten. Seine Lust am Flir-

ten hatte einen kleinen Dämpfer erhalten. Natürlich, die besten

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Frauen waren immer vergeben. Warum sollte das hier in Westfa-

len anders sein als zu Hause?

An der Einfahrt zum Bistrup-Hof stieg Jakob aus und bedankte

sich. „Lass dich nicht ärgern, Herr Praktikant“, sagte Christine

und zwinkerte Jakob zu. „Wenn es geht, halte dich an die Bäuerin.

Gertrud ist ein lieber Mensch. Ihr Mann Klemens dagegen – na,

du wirst ihn kennenlernen. Mein Bruder kennt ihn auch. Stimmt´s

Georg?“

Der Mann nickte. „Halt dich an Gertrud. Viel Glück“, sagte er

knapp und fuhr los.

Erstaunt sah Jakob dem Wagen nach. „Bruder“ hatte sie gesagt.

Und er Hornochse hatte geglaubt … Ein Lächeln erschien auf sei-

nem Gesicht. Mal sehen, vielleicht ging da ja was. Das Dorf war

klein genug. Früher oder später würde man sich wieder über den

Weg laufen.

Jakob schritt die lange Auffahrt entlang. Es kam ihm so vor, als

hätte der Regen ein wenig nachgelassen, aber vielleicht hatte er

sich auch nur an ihn gewöhnt. Der Hof lag versteckt hinter Bäu-

men und einer hohen Hecke. Dicht hinter dem Anwesen erhob

sich wie ein riesenhaftes Begrüßungskommando ein halbes Dut-

zend Windräder in den Himmel. Die Leuchten der Rotoren blink-

ten schwach in der trüben Wolkensuppe. Das Einfahrtstor, ein aus

Sandsteinen gemauerter Rundbogen, wirkte recht imposant. Das

schmiedeeiserne Gitter allerdings war rostig und hing schief in

den Angeln. Jakob trat durch das Tor. Kein Mensch war zu sehen.

Rechts gab es eine marode Scheune, dahinter ein Gewächshaus.

Links lag ein halb verfallenes Speichergebäude, geradeaus das

Wohnhaus, daneben eine Maschinenhalle. Zwischen den Gebäu-

den führte ein gepflasterter Weg auf einen Platz, um den sich

mehrere umgebaute Stallgebäude und ein zum Hofladen umfunk-

tioniertes Fachwerkgebäude gruppierten.

Jakob blieb ratlos in der Mitte des Platzes stehen. Gerade, als er

wieder zurück Richtung Wohnhaus gehen wollte, hörte er ein

Quietschen. Er drehte sich um. In einem der ehemaligen Stallge-

bäude öffnete sich ein Schiebetor, ein gedrungener Mann mit ei-

ner Zigarre im Mund zwängte sich durch den Spalt und trat mit

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gesenktem Kopf auf den Platz. Jakob befürchtete, der Mann be-

merke ihn überhaupt nicht, also setzte er an, etwas zu sagen. Der

Mann hob plötzlich den Kopf und stieß ein paar Rauchwolken aus.

Sein Gesicht war stark gerötet, die Blicke aus den kleinen, wäss-

rigen Augen hefteten sich fast feindselig an Jakob. „Und Sie? Wie

kommen Sie auf den Hof? Was haben Sie hier zu suchen?“

Jakob sah den Mann verblüfft an. Mit dieser Begrüßung hatte er

nicht gerechnet. War das jetzt die Ungastlichkeit der Westfalen

oder lag hier ein Missverständnis vor? Er hatte jedenfalls seine

Ankunft für heute angekündigt. Entschlossen griff er in die Innen-

tasche seiner Jacke, zog den Brief mit der Zusage hervor und hielt

ihn dem Mann hin. „Ich bin Jakob Sandow und soll heute mein

Praktikum hier antreten.“

Der Mann schnaufte und riss Jakob das Papier aus der Hand.

Während er las, nahm die Röte in seinem Gesicht merklich zu.

„Melden Sie sich bei meiner Frau. Im Hofladen.“ Damit klatschte

er Jakob den feucht gewordenen Brief in die Hand und ver-

schwand wieder in der Scheune.

Aus dem Hofladen drang ein warmer Lichtschein auf den Platz.

Ein heller Glockenton erklang, als Jakob die Tür öffnete. Er betrat

einen freundlich gestalteten Raum mit Dielenboden und einer

niedrigen Holzbalkendecke. An den Wänden reihten sich Regale

mit Fleisch- und Wurstwaren, Eiern, Milch- und Käseprodukten,

Obst und Gemüse, Brot und Kuchen, Honig, Marmeladen und

Gläsern mit eingelegten Früchten. Jakob warf einen sehnsuchts-

vollen Blick auf die Sachen. Sie erinnerten ihn daran, dass er seit

dem Morgen nichts Richtiges gegessen hatte. Hinter der Laden-

theke tauchte eine Frau auf, die etwa so alt sein musste wie seine

Mutter. Sie war klein gewachsen, trug eine Pagenfrisur mit rötlich

schimmernden Haaren und sah ihm freundlich ins Gesicht. Dann

sah sie die Taschen, kam hinter der Theke hervor und gab ihm die

Hand. „Sie müssen Jakob sein. Ich bin Gertrud Schmölling. Will-

kommen auf unserem Hof. Tut mir leid, dass niemand Sie vom

Bahnhof abholen konnte, aber mein Mann war mit dem Auto weg,

und ich hatte ja Ihre Telefonnummer nicht.“

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„Halb so wild“, sagte Jakob, „zwei nette Menschen aus dem Dorf

haben mich hergefahren. Aber beim nächsten Mal sollten Sie et-

was besseres Wetter bestellen.“

Gertrud Schmölling lachte. „Jetzt kommen Sie erst einmal mit ins

Haus. Ich schließe hier so lange ab. Um diese Zeit kommen selten

Kunden. Es ist ja noch früh im Jahr. Richtig los geht es erst mit

der Spargelsaison. Dann herrscht hier Hochbetrieb, das werden

Sie dann auch merken.“

Sie gingen über den Platz. Die Bäuerin zeigte auf die ehemaligen

Stallgebäude. „Früher war das hier ein reiner Schweinemastbe-

trieb. Die Ställe sind aber inzwischen alle umgebaut. Na ja, fast

alle. Es gibt noch einen kleinen Hühnerstall. Einen anderen Teil

nutzt mein Mann für seine Zuchteber. Ist aber nur noch ein Hobby

von ihm. Zurzeit steht dort allerdings nur Thilo, ein prämiertes

Tier und sein ganzer Stolz.“ Gertrud Schmölling hielt einen Mo-

ment lang inne. Sie fixierte einen imaginären Punkt in der Ferne.

„Am besten, Sie halten sich fern vom Eberstall. Mein Mann ist da

sehr eigen. Wir haben jetzt eine Lager- und Sortierhalle, Kühl-

räume und natürlich die Unterkünfte für die Saisonarbeiter. Für

Sie habe ich übrigens ein Dachzimmer im Haus fertig gemacht.

Die Arbeiter werden ab nächster Woche nach und nach eintrudeln.

Dann ist es hier nicht mehr so ruhig.“

„Kann man denn allein vom Spargelanbau leben, wenn ich mal so

frech fragen darf.“

„Normalerweise nicht“, sagte Gertrud Schmölling. „Ist ja ein

klassisches Saisongeschäft. Aber sehen Sie die Windräder dort?

Die Grundstücke gehören auch zum Hof. Sind an einen Energie-

konzern verpachtet. Zusammen mit den Einnahmen daraus kom-

men wir ganz gut zurecht.“

In diesem Moment meldete sich Jakobs Magen zu Wort. Die Bäu-

erin lachte. „Jetzt aber erst einmal in die Küche. Sonst bricht mir

mein Praktikant schon am ersten Tag vor Hunger zusammen. Ich

mach uns schnell was fertig. Bratkartoffeln mit Speck, das mögen

Sie hoffentlich.“

Auch wenn er nicht so hungrig gewesen wäre, Jakob hätte ge-

schworen, noch nie bessere Bratkartoffeln gegessen zu haben.

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Während er aß, versorgte Gertrud Schmölling ihn mit weiteren

Informationen über den Hof, erklärte, welche Arbeiten sie für ihn

vorgesehen hatte und wie sein Tagesablauf in den kommenden

Monaten aussehen würde. Sie selbst trank nur einen Kaffee. „Ich

mache eine Diät“, erklärte sie. „Zwei Kilo habe ich schon ge-

schafft.“

„Diät?“, fragte Jakob kauend, „das haben Sie doch nun wirklich

nicht nötig – also ganz im Ernst, wenn ich das sagen darf, Sie ha-

ben doch eine Topfigur. Es sei denn natürlich, Sie streben eine

Karriere als Magermodel an.“

„Danke für die Blumen“, murmelte Gertrud Schmölling, während

sie rasch aufstand und die Tasse in die Spüle stellte. Jakob

schluckte den letzten Bissen hinunter, und als er hochschaute

schien es ihm, als sei ihre Nackenhaut leicht gerötet.

Vom Flur kamen plötzlich Geräusche. Die Haustür wurde aufge-

schlossen, man hörte ein Rumpeln, als lasse jemand seine Schuhe

auf den Boden fallen. Dann wurde die Tür mit Vehemenz geöffnet,

und der Bauer betrat auf Socken die Küche.

Gertrud Schmölling drehte sich um und räusperte sich. Einen

Moment lang wirkte sie verunsichert. Aber dann schien es Jakob,

als ginge ein Ruck durch ihren Körper. Sie deutete auf Jakob.

„Das ist Jakob Sandow. Er macht hier sein Praktikum und wird

ein Jahr bei uns verbringen.“

Jakob stand vom Tisch auf und wollte dem Bauern die Hand ge-

ben. Aber dieser blieb auf Distanz. Wieder fixierten ihn die klei-

nen, wässrigen Augen.

„Schön, dass ich das auch mal erfahre“, zischte Schmölling. „Ist

ja auch zu viel verlangt, dass der Hausherr weiß, was auf seinem

Hof vorgeht.“

„Einer muss ja schließlich die Arbeit machen“, entgegnete Ger-

trud Schmölling spitz.

„Na wunderbar“, sagte der Bauer. „Ich sehe, du hast alles im

Griff.“ Damit riss er die Kühlschranktür auf, griff sich eine Fla-

sche Bier und verschwand schnaubend aus der Küche.

Gertrud Schmölling sah Jakob an und zuckte mit den Schultern.

„Das war Klemens, mein Mann.“

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Jakob nickte. „Dachte ich mir schon. Wir hatten draußen bereits

das Vergnügen.“