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Kinder psychisch kranker Eltern Albert Lenz Silke Wiegand-Grefe Leitfaden Kinder- und Jugend- psychotherapie

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Kinder psychisch kranker Eltern

Albert LenzSilke Wiegand-Grefe

Leitfaden Kinder- und Jugend- psychotherapie23

Kinder psychisch kranker Eltern

Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus A. Lenz und S. Wiegand-Grefe: Kinder psychisch kranker Eltern (9783840925894) © 2017 Hogrefe Verlag, Göttingen.

Leitfaden Kinder- und JugendpsychotherapieBand 23Kinder psychisch kranker ElternProf. Dr. Albert Lenz, Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe

Herausgeber der Reihe:

Prof. Dr. Manfred Döpfner, Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann, Prof. Dr. Franz Petermann

Begründer der Reihe:

Manfred Döpfner, Gerd Lehmkuhl, Franz Petermann

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Albert LenzSilke Wiegand-Grefe

Kinder psychisch kranker Eltern

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Prof. Dr. Albert Lenz, geb. 1951. Seit 1994 Professor für Klinische Psychologie und Sozialpsychologie an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn, Fachbereich Sozialwesen, Leiter des Instituts für Gesundheitsforschung und Soziale Psychiatrie.

Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe, geb. 1964. Seit 2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik und seit 2011 Inhaberin der Professur für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der MSH Medical School Hamburg.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digi-talen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag überneh-men infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warenna-men (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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Satz: ARThür Grafik-Design & Kunst, Weimar1. Auflage 2017© 2017 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2589-4; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2589-5)ISBN 978-3-8017-2589-1http://doi.org/10.1026/02589-000

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Einleitung: Grundlagen und Aufbau des Buches

Psychische Erkrankungen sind keine Seltenheit, sondern kommen in der Gesamtbe-völkerung häufig vor. Sie gehören nach dem Bundesgesundheitssurvey (BGS) zu den häufigsten Erkrankungen insgesamt. Man kann davon ausgehen, dass in Deutschland 31 % der Erwachsenen im Laufe eines Jahres unter einer psychischen Störung leiden (Jacobi, 2009). Die Häufigkeitsraten unter den Frauen betragen 37 % und fallen damit wesentlich höher aus als unter den Männern mit 25 %. Diese Raten entsprechen denen in vergleichbaren internationalen Studien. Es ist also davon auszugehen, dass ein Vier-tel bis ein Drittel der Erwachsenen im Verlaufe eines Jahres die diagnostischen Kri-terien für das Vorliegen einer psychischen Störung erfüllen. Zudem weisen etwa 39 % der Personen, bei denen eine psychische Störung diagnostiziert wurde, mehr als eine psychische Störung auf.

Die häufigsten Störungen sind Angststörungen (14,5 %), affektive Störungen, vor allem Depressionen (11,9 %), somatoforme Störungen, also körperliche Beschwer-den, für die keine hinreichenden organischen Ursachen gefunden werden (11 %), Störungen durch psychotrope Substanzen, vor allem Alkoholmissbrauch bzw. -ab-hängigkeit (4,5 %) und psychotische Störungen (2,6 %). Persönlichkeitsstörungen treten häufig komorbid mit anderen Störungen, wie z. B. Depressionen, Angststörun-gen, substanzinduzierten Störungen, Essstörungen oder posttraumatischen Belastungs-störungen auf, die in aller Regel den Anlass für eine Behandlung darstellen. In der Allgemeinbevölkerung kann von einer Prävalenzrate (unbehandelte Prävalenz) von ca. 10 % und in klinischen Populationen sogar von bis zu 40 % (behandelte Präva-lenz) ausgegangen werden.

Aus angloamerikanischen Studien wissen wir, dass psychisch kranke Menschen im Durchschnitt genauso häufig Kinder haben wie psychisch Gesunde (Lenz, 2014). Be-zogen auf den stationären psychiatrischen Versorgungsbereich kommen im deutsch-sprachigen Raum mehrere Studien übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass ca. 30 % der mit schweren psychischen Erkrankungen behandelten Patientinnen und Patien-ten Eltern von minderjährigen Kindern sind (Mattejat, 2014). Der überwiegende Teil der Erkrankten lebt zudem mit ihren minderjährigen Kindern zusammen. Hierbei kann ein signifikanter geschlechtsspezifischer Unterschied festgestellt werden. So zeigte sich in einer Studie von Lenz (2005, 2014), dass 60 % der erkrankten Väter und ca. 77 % der erkrankten Mütter mit ihren minderjährigen Kindern im selben Haushalt wohnten. Betrachtet man die Diagnosen, so wird deutlich, dass unter den erkrankten Eltern mit Kindern unter 18 Jahren alle großen Diagnosegruppen vertreten sind. Am häufigsten kamen depressive und affektive Störungen (ca. 36 %), Persönlichkeitsstö-rungen (ca. 26 %) und psychotische Erkrankungen (ca. 23 %) vor. Menschen mit einer emotional instabilen oder einer anderen Persönlichkeitsstörung sind also in etwa ge-nauso häufig Eltern wie depressiv und affektiv erkrankte oder psychoseerkrankte Men-schen. Diese Ergebnisse konnten auch in Stichtagserhebungen an vier psychiatrischen Kliniken bestätigt werden (Kölch & Schmid, 2008).

Beschränkt man sich nicht auf die stationäre Psychiatrie, sondern bezieht zusätzlich den gesamten psychosomatischen und psychotherapeutischen Versorgungsbereich

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Einleitung: Grundlagen und Aufbau des BuchesVI

ein, so dürfte die Elternschaftsrate bei psychisch erkrankten Menschen vermutlich wesentlich höher liegen. Erste empirisch fundierte Hinweise dafür liefert die Auswer-tung von Basisdokumentationsdaten dreier großer Fachkliniken für Psychotherapie und Psychosomatik mit einem Akut- und Reha-Bereich im Zeitraum von 2008 bis Mitte 2012 (Christiansen, unveröffentlicht). Es zeigte sich, dass in allen drei Klini-ken zwischen 60 bis 70 % der Patienten Kinder hatten. Die Mehrzahl der Patienten hatte ein bis zwei Kinder, 20 bis 30 % aber auch drei Kinder und mehr. 50 bis 97 % der Kinder lebten mit den Eltern in einem gemeinsamen Haushalt. Angststörungen und Depression waren die häufigsten Störungen, unter denen diese Eltern litten. Le-diglich bei den Patienten mit Essstörungen hatte die überwiegende Mehrzahl (80 %) keine Kinder.

Verlässliche Daten, die Aufschluss über die tatsächliche Zahl der Kinder geben, die bei psychisch erkrankten Eltern aufwachsen, liegen bislang nicht vor. Wir sind daher auf Schätzungen angewiesen. Eine plausible Schätzung hat Fritz Mattejat (2014) vor-genommen. Mattejat geht in seiner Hochrechnung von den epidemiologischen Daten aus der Allgemeinbevölkerung aus und nimmt in seiner Abschätzung konservativ an, dass im Verlauf eines Jahres 15 % (also der halbierte Prozentsatz) der Bevölkerung unter einer psychischen Störung leidet. Geht man weiter davon aus, dass psychisch kranke Menschen im Durchschnitt etwa genauso häufig Kinder haben wie psychisch gesunde Menschen, kommt Mattejat auf etwa drei Millionen Kinder, die im Verlauf eines Jahres einen Elternteil mit einer psychischen Störung erleben. Bei Berücksich-tigung der stationären Versorgungsdaten – in Deutschland gibt es etwa 56.000 Betten in psychiatrischen Kliniken und psychiatrischen Abteilungen – kann nach Mattejat von ca. 175.000 Kindern ausgegangen werden, die im Verlauf eines Jahres die Erfah-rung machen, dass ein Elternteil stationär psychiatrisch behandelt wird.

Das erhöhte Risiko der Kinder, selbst eine psychische Störung zu entwickeln, sowie die Belastungen, die sich für die Kinder durch das Zusammenleben mit einem psy-chisch erkrankten Elternteil ergeben, konnten in zahlreichen Studien aufgezeigt wer-den (vgl. z. B. die Übersicht in Wiegand-Grefe, Mattejat & Lenz, 2011). Dabei zeigte sich, dass ein sehr junges Alter von Kindern bei der Erstmanifestation der elterlichen Erkrankung ein wesentlicher Risikofaktor ist, da die elterliche Erkrankung einen maß-geblichen Einfluss auf die Beziehungs- und Erziehungskompetenzen hat. Die Zahlen und Forschungsergebnisse machen die Relevanz des Themas Kinder psychisch kran-ker Eltern für die Kinder- und Jugendpsychotherapie deutlich.

Der Leitfaden unterteilt sich in insgesamt fünf Kapitel:

1 Im ersten Kapitel des Buches wird der Stand der Forschung hinsichtlich Epi-demiologie und Prävalenz von Kindern psychisch erkrankter Eltern, Belastun-gen, Risikofaktoren und der elterlichen psychiatrischen Erkrankungen und deren Folgen für die Kinder zusammenfassend dargestellt. Die sich in der Dar-stellung anschließenden Befunde der Resilienz- und Copingforschung sind von besonderer Relevanz für die Formulierung von Leitlinien.

2 Im zweiten Kapitel, dem Kernstück des Leitfadens, werden die Leitlinien zur Diagnostik, zur Indikationsstellung und zu den Interventionen dargestellt.

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Einleitung: Grundlagen und Aufbau des Buches VII

3 Empfehlenswerte deutschsprachige diagnostische Verfahren und Interventions-programme werden im dritten Kapitel ausführlich vorgestellt.

4 Das vierte Kapitel enthält hilfreiche Materialien für den Praxisalltag.

5 Im fünften Kapitel wird die Umsetzung der Leitlinien in die therapeutische Praxis anhand eines ausführlichen Fallbeispiels illustriert.

Dieser Band wird durch den Ratgeber Kinder psychisch kranker Eltern ergänzt (Lenz & Wiegand-Grefe, 2016). Dieser Ratgeber enthält hilfreiche Informationen für Eltern, Erzieher und Lehrer, stellt Unterstützungs- und Therapiemöglichkeiten dar und gibt Anregungen zur Selbsthilfe.

Paderborn und Hamburg, Dezember 2016 Albert Lenz und Silke Wiegand-Grefe

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Inhaltsverzeichnis

1 Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

1.1 Epidemiologie und Prävalenz von Kindern psychisch erkrankter Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

1.2 Die subjektiven Belastungen von Kindern psychisch kranker Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

1.3 Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1.3.1 Risikofaktoren der Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1.3.2 Risikofaktoren der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

1.3.3 Allgemeine psychosoziale Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

1.4 Gefährdungen des Kindeswohls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

1.4.1 Formen und Folgen von Kindesmisshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

1.4.2 Psychisch erkrankte Eltern – eine Risikogruppe für Kindeswohl-gefährdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

1.4.3 Risikofaktoren für Kindeswohlgefährdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

1.5 Allgemeine und spezifische psychische Erkrankungen und ihre Folgen für die Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

1.5.1 Schizophrene Erkrankungen der Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

1.5.2 Affektive Erkrankungen der Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

1.5.3 Angst- und Zwangserkrankungen der Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

1.5.4 Elterliche Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

1.5.5 Alters- und geschlechtsspezifische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

1.6 Resilienz – psychische Robustheit und Widerstandsfähigkeit . . . . . 34

1.6.1 Resilienz und protektive Faktoren bei Kindern psychisch kranker Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

1.6.2 Familiäre Resilienz – ein Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

1.7 Coping – von protektiven Faktoren zu Bewältigungsprozessen . . . . 42

1.7.1 Copingverhalten von Kindern psychisch kranker Eltern . . . . . . . . . 42

1.7.2 Familiäres Coping in Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

1.8 Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

1.8.1 Übersicht zu multimodalen Interventionsprogrammen . . . . . . . . . . 48

1.8.2 Präventionsgruppen für Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

1.8.3 Familienintervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

1.8.4 Befunde zur Wirksamkeit der Interventionsprogramme . . . . . . . . . . 50

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InhaltsverzeichnisX

2 Leitlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

2.1 Leitlinien zur Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

2.1.1 Exploration psychischer Störungen von Eltern und ihrer Auswirkungen auf die Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

2.1.2 Exploration der Auffälligkeiten jedes Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

2.1.3 Exploration der Belastungen in der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

2.1.4 Exploration der Gefährdungen für Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

2.1.5 Umgang mit Anhaltspunkten für Kindeswohl gefährdung . . . . . . . . 69

2.1.6 Exploration der Ressourcen des Kindes und der Familie . . . . . . . . 70

2.2 Leitlinien zur Indikationsstellung und Interventionsplanung . . . . . . 74

2.2.1 Indikationsstellung und Interventionsplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

2.2.2 Besonderheiten bei Kindern im Säuglings- und Kleinkindalter: Mutter-Kind-Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

2.2.3 Indikation für kombinierte und aufeinander abgestimmte Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

2.3 Leitlinien zu den Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

2.3.1 Psychoedukation für Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

2.3.2 Begleitende Familientherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

2.3.3 Bindungsbezogene Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

2.3.4 Präventive familienorientierte Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

3 Verfahren zur Diagnostik und Interventions programme . . 114

3.1 Verfahren zur Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

3.1.1 Verfahren zur Familiendiagnostik und klinischen Diagnostik . . . . . 114

3.1.2 Diagnostische Verfahren zu Erfassung familiärer Belastungen und Gefährdungen der Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

3.2 Interventionsprogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

3.2.1 Multimodale Interventionsprogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

3.2.2 Gruppeninterventionen für Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

4 Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

M01 Fragen zur diagnostischen Einschätzung von Belastungen und Gefährdungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

M02 Fragen zur Ressourcenexploration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

M03 Symbolisch-metaphorische Instrumente zur Erfassung des sozialen Netzwerkes: Netzwerkkarte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

M04 Leitfaden zur Förderung der Bewältigungskompetenz . . . . . . . . . . . 142

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Inhaltsverzeichnis XI

M05 Krisenplan für das Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

M06 Familiäre Kommunikationsregeln für Eltern und Kinder . . . . . . . . . 145

M07 Formulierungshilfen für eine kindgerechte Psychoedukation . . . . . 146

5 Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148

6 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

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1 Stand der Forschung

1.1 Epidemiologie und Prävalenz von Kindern psychisch erkrankter Eltern

Epidemiologie. Die psychische Erkrankung von Eltern ist ein bis heute oftmals tabuisierter Hochrisikofaktor für die kindliche Entwicklung. Die Risikokonstellation von Kindern psychisch kranker Eltern weist die Be-sonderheit auf, dass sie nicht allein durch die Symptomatik der betrof-fenen Kinder charakterisiert wird, sondern per Definition die gesamte familiäre Situation mit einbezieht. Im Unterschied zu kinder- und ju-gendpsychiatrischen Krankheitsbildern, die zumeist ausgehend von einer individuellen Symptomkonstellation des Kindes definiert werden, hat die Risikokonstellation von den Kindern psychisch kranker Eltern von Anfang an eine hohe Komplexität der Problemstellung zur Folge. Die Berücksichtigung der elterlichen Erkrankung als zentrales Kriterium er-fordert eine familiäre, häufig über die Elterngeneration hinausgehende, transgenerationale Betrachtungsweise. Diese hat oftmals ein komplexes, von vielen psychischen Erkrankungen und Traumatisierungen über meh-rere Generationen geprägtes Beziehungsgefüge zum Gegenstand (vgl. Plass & Wiegand-Grefe, 2012).

Eine Abschätzung epidemiologischer Kennwerte muss deshalb aus ver-schiedenen Blickrichtungen erfolgen, dazu zählen: (a) die Häufigkeit psy-chischer Erkrankungen bei Erwachsenen, (b) wie häufig Psychiatrie-Pa-tienten Kinder haben und schließlich (c) über Angaben zur Häufigkeit psychischer Erkrankungen bei Kindern, die sich bereits in Behandlung befinden.a) Etwa 30 % der deutschen Bevölkerung erleiden im Laufe ihres Lebens

eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung, wenn man die Er-gebnisse des aktuellen bundesdeutschen Gesundheitssurveys zugrunde legt. Nimmt man an, dass bei etwa 25 % der oben angeführten Betrof-fenen eine unbedingte Behandlungsnotwendigkeit vorliegt, benötigen im Jahr etwa 4,5 Millionen erwachsene Menschen in Deutschland pro-fessionelle psychiatrische und/oder psychotherapeutische Hilfe.

b) Wie viele dieser Patienten Eltern sind, ist nur schwer abschätzbar, da sich über die Prävalenz psychisch kranker Eltern bislang keine ver-lässlichen Angaben machen lässt (Jungbauer & Lenz, 2008; Schnei-der, 2009). Dies liegt vor allem darin begründet, dass unterschiedli-che Populationen untersucht wurden (Plass & Wiegand-Grefe, 2012). Einige Studien haben den Anteil psychisch kranker Eltern bei statio-när aufgenommenen Psychiatrie-Patienten erfasst. Diesen Arbeiten zufolge sind zwischen 17 und 45 %, also rund ein Drittel aller statio-nären psychiatrischen Patienten, Eltern minderjähriger Kinder (Grube & Dorn, 2007). Von den 964 stationär behandelten Patienten der psy-

Elterliche Erkrankung ein Hoch-risikofaktor für die kindliche Entwicklung

Prävalenz psychisch kranker Eltern

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Kapitel 12

chiatrischen Universitätsklinik Hamburg Eppendorf, die in der Studie über neun Monate erfasst wurden, waren insgesamt 271 Eltern (28 %), davon waren 167 (17 %) Eltern minderjähriger Kinder und 104 (11 %) hatten Kinder über 18 Jahre (Wiegand-Grefe et al., 2009). Diese Er-gebnisse konnten auch in anderen Studien bestätigt werden (Kölch & Schmid, 2008; Lenz, 2005). Etwa 70 % der Eltern lebten mit den Kindern zusammen oder hatten regelmäßigen Kontakt zu ihnen (Lenz, 2005). Es zeigte sich allerdings, dass schizophren erkrankte Eltern häu-figer von ihren Kindern getrennt leben. Im Rahmen der multizentri-schen Studie „Schizophrenie und Elternschaft“ (Lenz et al., 2011) wur-den die Daten von n = 370 stationär behandelten Patienten ausgewertet. Es zeigte sich, dass 41 % der Patienten zusammen mit ihren Kindern in einem Haushalt lebten und 59 % getrennt von ihnen. Sichtbar wurde darüber hinaus ein signifikanter geschlechtsspezifischer Unterschied. So betrug der Anteil der schizophrenieerkrankten Väter, die mit ihrem Kind zusammenlebten, lediglich 29 %, während immerhin rund 47 % der schizophrenieerkrankten Mütter ihre Kinder zu Hause versorgten.Beschränkt man sich nicht auf die stationäre Psychiatrie, sondern be-zieht noch zusätzlich den gesamten psychosomatischen und psychothe-rapeutischen Versorgungsbereich mit ein, so dürfte die Elternschafts-rate bei psychisch erkrankten Menschen vermutlich wesentlich höher liegen. Erste empirisch fundierte Hinweise dafür liefert die Auswertung von Basisdokumentationsdaten dreier großer Fachkliniken für Psycho-therapie und Psychosomatik, die Akut- und Reha-Bereiche vorhalten und deren Daten des Zeitraums 2008 bis Mitte 2012 betrachtet wurden (Christiansen, unveröffentlicht). Es zeigte sich, dass in allen drei Kli-niken zwischen 60 bis 70 % der Patienten Kinder hatten.Die Rate der Elternschaft bei psychisch Kranken variiert auch in Ab-hängigkeit vom psychiatrischen Krankheitsbild und elterlichen Ge-schlecht. Die höchste Elternschaftsrate weisen mit knapp 70 % affektiv Erkrankte auf (35 % Mütter, 23,5 % Väter). Schizophrene Erkrankun-gen weisen eine Elternschaftsrate von knapp 47 % auf (32 % Mütter, 15 % Väter) und bei den Persönlichkeitsstörungen sowie neurotischen Störungen lässt sich eine Elternschaftsrate von 44 % ermitteln (33 % Mütter, 11 % Väter) (Grube & Dorn, 2007). Die Elternschaftsrate psy-chisch Kranker allgemein ist aufgrund verschiedenster Faktoren, wie geringerer Fertilität und stärkerer psychosozialer Belastungen, gerin-ger als in der Gesamtbevölkerung. Aufgrund verbesserter psychiatri-scher Behandlung jedoch steigt die Rate psychisch Kranker, die Kin-der haben, an (Leverton, 2003).

c) Die in einem systematischen Literaturüberblick ermittelte mittlere Prä-valenzrate psychischer Auffälligkeiten bei Kindern in Deutschland liegt bei etwa 17 % (Barkmann & Schulte-Markwort, 2004). Etwa jedes fünfte bis zehnte Kind leidet zu einem gegebenen Zeitpunkt unter einer psychischen Störung (Petermann, 2005). In der aktuellen Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS

Etwa 70 % der Eltern

lebt mit Kindern

zusammen

Höchste Eltern-

schafts-raten wei-

sen affektiv Erkrankte

auf

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Stand der Forschung 3

Welle 1) zeigten sich bei jedem fünften Kind (20,2 %) zwischen 3 und 17 Jahren Hinweise auf psychische Störungen. Jungen (23,4 %) sind dabei häufiger betroffen als Mädchen (16,9 %). Bei 12,4 % der Kin-der und Jugendlichen sind zusätzlich deutliche Beeinträchtigungen im familiären und sozialen Umfeld festzustellen (Hölling et al., 2014). Kinder im Vorschulalter sind dabei genauso häufig von psychischen Auffälligkeiten betroffen wie ältere Kinder und weisen außerdem auch ähnliche Komorbiditätsmuster auf (Egger & Angold, 2006).

Prävalenz von Kindern psychisch erkrankter Eltern. Eine psychische Er-krankung der Eltern erhöht das Risiko für die Kinder signifikant, selbst eine psychische Störung zu entwickeln. Vostanis et al. (2006) fanden, dass bei den Kindern psychisch kranker Eltern ein viermal höheres Erkran-kungsrisiko im Vergleich zu Kindern psychisch gesunder Eltern besteht. Das Erkrankungsrisiko der Kinder steigt außerdem mit der empfundenen psychischen Belastung der Eltern an. Studien zeigten, dass je psychisch belasteter sich die erkrankten Eltern selbst erlebten, desto höher das Ri-siko war, dass auch die Kinder Symptome psychischer Störungen aufwie-sen (Vostanis et al., 2006; Wiegand-Grefe et al., 2009; Wille et al., 2008).

Verlässliche Daten, die Aufschluss über die tatsächliche Zahl der betrof-fenen Kinder geben, die bei psychisch erkrankten Eltern aufwachsen, lie-gen bislang nicht vor. Wir sind daher auf Schätzungen angewiesen. Eine plausible Schätzung hat Fritz Mattejat (2014) vorgenommen. Mattejat geht in seiner Hochrechnung von den epidemiologischen Daten aus der Allgemeinbevölkerung aus und nimmt in seiner Abschätzung konserva-tiv an, dass im Verlauf eines Jahres 15 % (also der halbierte Prozentsatz) der Bevölkerung unter einer psychischen Störung leidet. Geht man wei-ter davon aus, dass psychisch kranke Menschen im Durchschnitt etwa genauso häufig Kinder haben wie psychisch gesunde Menschen, kommt Mattejat auf etwa drei Millionen Kinder, die im Verlauf eines Jahres einen Elternteil mit einer psychischen Störung erleben. Bei Berücksichtigung der stationären Versorgungsdaten – in Deutschland gibt es etwa 56.000 Betten in psychiatrischen Kliniken und psychiatrischen Abteilungen – kann nach Mattejat von ca. 175.000 Kindern ausgegangen werden, die im Verlauf eines Jahres die Erfahrung machen, dass ein Elternteil statio-när psychiatrisch behandelt wird.

1.2 Die subjektiven Belastungen von Kindern psychisch kranker Eltern

Die subjektive Sichtweise auf die Belastungen von Kindern psychisch kranker Eltern bietet einen Einblick in ihre unmittelbaren Erlebniswei-sen, ihre Gefühle und ihren Umgang mit den Alltagsanforderungen. Eine genaue Kenntnis der subjektiven Perspektive ermöglicht ein differenzier-

Etwa ein viermal höheres Er-krankungs-risiko bei den Kindern

Schätzungs-weise drei Millionen Kinder im Verlauf eines Jahres betroffen

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Kapitel 14

tes Verständnis dafür, auf welche Weise sich die weiter unten beschrie-benen Belastungsfaktoren auf die Kinder auswirken und zu psychischen Beeinträchtigungen führen. Diese Erkenntnisse eröffnen einen Zugang zu den Mechanismen der Weitergabe psychischer Belastungen innerhalb der Familie (Jungbauer & Lenz, 2008; Wiegand-Grefe et al., 2009).

In mehreren Interviewstudien wurde das subjektive Erleben der Kinder qualitativ analysiert (Dunn, 1993; Lenz, 2005; Müller, 2008). Die Inter-views wurden teilweise auch mit Erwachsenen geführt, die als Kind selbst bei einem psychisch kranken Elternteil aufgewachsen waren. Die Ergeb-nisse zeigen, dass die Kinder häufig Schuldgefühle und Angst hatten, Wut empfanden und unter Loyalitätskonflikten litten. Starke emotionale Be-lastungen, wie beispielsweise schmerzliche Verlusterfahrungen durch eine Klinikeinweisung des psychisch erkrankten Elternteils, wurden in den Schilderungen deutlich. Auch zeigt sich, dass diese Kinder ihre El-tern sensibel beobachteten und schnell lernten, Frühwarnzeichen für eine Verschlechterung des elterlichen Zustandes zu erkennen und ihr Verhal-ten gegebenenfalls darauf abzustimmen. Auf der Gefühlsebene wiesen die Kinder häufig Trennungsängste und massive Sorgen auf. Diese bezo-gen sich zum Beispiel auf eine weitere Verschlimmerung der elterlichen Krankheit. Jugendliche sorgten sich zudem häufig um die Möglichkeit der Entwicklung einer eigenen psychischen Erkrankung. Auch empfan-den sie Schuldgefühle bei getätigten Abgrenzungs- und Distanzierungs-schritten. Ferner war das Wissen der Kinder über die psychische Erkran-kung ihrer Eltern oft sehr ungenau. In den Interviews wird deutlich, dass sich die Kinder genauere Informationen über die Erkrankung ihrer El-tern gewünscht hätten. Zudem zeigt sich, dass eine elterliche psychische Erkrankung das gesamte Familiensystem destabilisiert, indem beispiels-weise die Grenzziehung zwischen den Generationen undeutlich wird und die Kinder wichtige Verantwortlichkeiten in der Familie übernehmen, also parentifiziert werden.

Die vorliegenden Studien zeichnen ein vielschichtiges Bild der individu-ellen und familiären Problemkonstellation und Belastungsanforderungen dieser Familien. Diese subjektive Perspektive bietet wertvolle Ansatz-punkte, um die Bedürfnisse und den individuellen Unterstützungsbedarf der betroffenen Kinder und Jugendlichen bei der Entwicklung und Durch-führung von präventiven und therapeutischen Hilfs- und Unterstützungs-angeboten zu berücksichtigen. Die Ergebnisse der vorliegenden Studien lassen sich in folgende Bereiche subjektiver Belastungen von Kindern psychisch kranker Eltern unterteilen:• elterliche Erkrankung;• Tabuisierung, Isolierung und Kommunikationsverbot;• soziale Unterstützung;• familiärer Alltag;• Parentifizierung und• Gefühlslagen der Kinder.

Schuld-gefühle,

Ängste und oftmals Wut

Elterliche Erkrankung

destabili-siert das ge-samte Fami-

liensystem

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Stand der Forschung 5

Elterliche Erkrankung. Krankheitsbedingte Veränderungen der Eltern werden von ihren Kindern meist sehr früh und genau wahrgenommen, da die Kinder mit ihren Eltern emotional eng verbunden sind und die El-tern genau wahrnehmen und beobachten. Ihr Belastungserleben scheint wesentlich durch die akuten Symptome sowie durch die Dauer, den Krankheitsverlauf und die damit verbundenen Persönlichkeitsverände-rungen beeinflusst zu werden. Bei einer depressiven elterlichen Erkran-kung beispielsweise sind Kinder häufig mit einem Rückzugsverhalten des erkrankten Elternteils konfrontiert, das mit Antriebslosigkeit, Inter-essenverlust, Hoffnungslosigkeit, Ermüdung und Grübeln sowie einer Vernachlässigung der Alltagsaufgaben einhergeht (Lenz, 2008; Wiegand-Grefe, Halverscheid & Plass, 2011). Eine besonders belastende Situation entsteht, wenn ein Elternteil im Zuge seiner Depression suizidal wird. Bei psychotischen Störungen erleben die Kinder, wie der erkrankte El-ternteil sich plötzlich verwirrt und unverständlich verhält, misstrauischer wird, nicht mehr ansprechbar ist oder sich zeitlich und räumlich nicht mehr orientieren kann. Der erkrankte Elternteil erscheint in seinem Wesen stark verändert, er wird von den Kindern als fremd, bisweilen sogar als unheimlich erlebt (Sollberger, 2012). Wird ein Kind in das Wahnerleben eines Elternteils einbezogen, kann dies als besonders beeinträchtigend er-lebt werden. Kinder von Eltern, die unter einer Borderline-Persönlich-keitsstörung leiden, sind mit deren Impulsivität und Instabilität in allen Lebens- und Beziehungsbereichen konfrontiert und müssen beispielsweise häufige Umzüge und damit verbundene Beziehungsabbrüche und Tren-nungen etc. verarbeiten (Wiegand-Grefe, Halverscheid & Plass, 2011). Als besonders belastend schildern Kinder zumeist die Klinikeinweisung der psychisch kranken Eltern und die damit verbundenen häufig dramati-schen Umstände. Die Klinikeinweisung stellt für viele Kinder ein trau-matisches Ereignis dar, mit dem sie zusätzlich das Gefühl verbinden, al-lein gelassen zu werden (Lenz, 2014). Hinzu kommt die Erfahrung des Verlustes von Autonomie und Autorität des erkrankten Elternteils, die bei den Kindern zu einer Erschütterung ihres Elternbildes und der Beziehung zum erkrankten Elternteil führen. Allerdings schildern Kinder auch, dass die Klinikeinweisung eine Entlastung darstellen kann, wenn sie nach einer längeren akuten Krankheitsphase stattfand, die mit einer angespannten und von Unsicherheiten belasteten Familienatmosphäre verbunden war.

Tabuisierung, Isolierung und Kommunikationsverbot. Viele Kinder haben den häufig begründeten Eindruck, dass sie mit niemanden über ihre Fa-milienprobleme sprechen dürfen. Sie haben die Befürchtung, dass sie ihre Eltern verraten und etwas „Böses“ tun, wenn sie sich an Personen außerhalb der Familie wenden. Während Eltern häufig angeben, sie woll-ten ihre Kinder schützen, indem sie mit den (insbesondere jüngeren) Kin-dern nicht über ihre Erkrankung sprechen, muss man davon ausgehen, dass die von den Kindern wahrgenommenen Veränderungen ganz beson-ders irritierend sind, wenn sie von den Eltern nicht thematisiert werden.

Kinder sind genaue Beobachter ihrer erkrankten Eltern

Klinik-einweisung ein trauma-tisches Ereignis für Kinder

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Kapitel 16

Die Tabuisierung verhindert eine offene Auseinandersetzung mit der psy-chischen Erkrankung und damit eine durch Aufklärung mögliche Res-sourcenmobilisierung bei den Kindern.

Die Gründe für die Tabuisierung der Erkrankung können vielschichtig sein. Sie können in gegenseitiger Schonung und Rücksichtnahme, in der elterlichen Krankheitsverleugnung, in der Angst vor Stigmatisierung oder in Scham- oder Schuldgefühlen liegen. Oftmals befürchten Eltern auch, in ihrer Elternrolle infrage gestellt zu werden oder das Sorgerecht für ihre Kinder abgesprochen zu bekommen (Lenz, 2014).

In der Studie von Sollberger (2012) berichtete nur ein Viertel der Kinder, in der Familie regelmäßig und offen über die elterliche Erkrankung ge-sprochen zu haben. Mehr als die Hälfte (53 %) gaben an, wenig bis gar nicht im Familienkreis, und fast zwei Drittel (62 %) gaben an, wenig bis gar nicht mit familienexternen Personen über die elterliche Erkrankung gesprochen zu haben. Es werden zwei Familientypen beschrieben: Beim ersten Typ wird ein offener Gesprächsstil gepflegt und die Kinder in die familiären Geschehnisse, die im Zusammenhang mit der elterlichen Er-krankung stehen, einbezogen. Die Kinder vertrauen sich auch familie-nexternen Personen an und erhalten eine entsprechende soziale Unter-stützung. Der Großteil der Familien mit psychisch kranken Eltern gehört jedoch einem zweiten Typ an: Hier wird ein offenes Gespräch in der Fa-milie verhindert und damit auch die familienexterne soziale Unterstüt-zung erschwert.

Das Rede- und Kommunikationsverbot bezieht sich also nicht nur auf die Familie, sondern auch darauf, mit Außenstehenden über die psychische Erkrankung und deren Auswirkungen auf das familiäre Zusammenleben zu sprechen. Die Kinder sind häufig überzeugt, dass sie ihre Eltern ver-raten, wenn sie sich dem Schweigegebot widersetzen und sich doch je-mandem anvertrauen. Sie sind hin- und hergerissen zwischen Gefühlen der Loyalität ihren Eltern gegenüber, ihrem Schamgefühl darüber, einen psychisch kranken Elternteil zu haben und dem Bedürfnis danach, mit jemandem sprechen zu können (Lenz, 2014). Sie haben niemanden, mit dem sie darüber sprechen können, woraus Gefühle des Alleingelassen-seins resultieren.

Fehlende soziale Unterstützung. Erwachsene Kinder psychisch kranker Eltern beschreiben retrospektiv, dass sie sich in der Kindheit generell nicht ausreichend sozial unterstützt gefühlt haben, obwohl sie sich sozi-ale Unterstützung gewünscht hätten (Sollberger, 2012). Dieser Befund ist umso schwerwiegender, als soziale Unterstützung eindeutig als pro-tektiver Faktor für die Entwicklung von Kindern psychisch kranker El-tern identifiziert wurde.

Offensichtlich besteht eine Wechselwirkung zwischen dem oben be-schriebenen Kommunikationsverbot über die Erkrankung und der Mög-

Tabuisie-rung verhin-

dert offene Auseinan-

dersetzung und Res-

sourcenmo-bilisierung

Loyalitäts-gefühle und

Scham-gefühle

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Stand der Forschung 7

lichkeit, soziale Unterstützung zu mobilisieren: Besteht eine Tabuisie-rungstendenz innerhalb der Familie, fällt es Kindern besonders schwer und es gelingt kaum, familienexterne Personen um Unterstützung zu bit-ten. Gleichzeitig wird es für familienexterne Personen deutlich erschwert, Unterstützung zu leisten, wenn ihnen Informationen über die Familien-situation, insbesondere die Erkrankung eines Elternteils, fehlen.

Darüber hinaus führt die starke emotionale Verstrickung der Kinder dazu, dass sie weder den äußeren noch den inneren Freiraum zur Verfügung haben, soziale Beziehungen außerhalb der Familie aufzubauen und auf-rechtzuerhalten. Sie fühlen sich zu Hause unentbehrlich und müssen be-fürchten, dass ihre Abwesenheit für die Familie katastrophale Folgen haben könnte. In der Konsequenz spielen außerfamiliäre Kontakte und Aktivitäten für sie nur eine untergeordnete Rolle. Die Mehrzahl der Kin-der verfügt zwar über ein gewisses, meist kleines Geflecht sozialer Be-ziehungen zu Verwandten, Schulkameraden und Freunden, vermeidet es aber meist, diese für die Bewältigung der Alltagssorgen heranzuziehen (Lenz, 2014).

Familiärer Alltag. Als belastend beschreiben die Kinder die Auswirkun-gen der psychischen Erkrankung eines Elternteils auf das alltägliche Leben. Verlässliche Strukturen und Abläufe können in Krisensituationen oft nicht aufrechterhalten werden und so erleben Kinder das Zusammen-brechen vertrauter Alltagsstrukturen. Dazu kann gehören, dass die Mut-ter aufgrund einer depressiven Erkrankung morgens das Bett nicht mehr verlassen kann, zu erschöpft ist, um mit den Kindern zu spielen und auch die Arbeiten im Haushalt nicht bewältigt. Eine solche Krisensituation kann zu Veränderungen der familiären Rollenverteilung führen. Beispiels-weise übernimmt der Vater Aufgaben der Mutter, oder oft werden auch die Kinder vermehrt in die Aufgabenbewältigung eingebunden. Dies ist besonders dann der Fall, wenn Kinder allein mit einem psychisch kran-ken Elternteil leben.

Häufig leiden Kinder unter weiteren Zusatzbelastungen, die sie durch die elterliche Erkrankung bewältigen müssen. Zum Beispiel müssen sie zahl-reiche Aufgaben im Haushalt übernehmen, durch die sie sich überfordert fühlen und die ihre eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund drängen (Knutsson-Medin et al., 2007). Befindet sich der erkrankte Elternteil in stationärer Behandlung, nehmen diese Belastungen weiter zu. Häufig geht die psychische Erkrankung eines Elternteils mit einem Betreuungs-defizit der Kinder einher. Meist fehlt es den Kindern an gezielter Zuwen-dung und Aufmerksamkeit durch ihre Eltern.

Parentifizierung. Durch die psychische Erkrankung werden die Grenzen zwischen den familiären Subsystemen diffus und das System Familie gerät durcheinander. Insbesondere die Generationengrenzen, die für die Funktionalität einer Familie von großer Bedeutung sind und sich nach Minuchin und Fishman (1983) vor allem aus der Anerkennung von Un-

Kinder haben weder einen äußeren noch einen inneren Freiraum

Zusammen-bruch vertrauter Strukturen und Routi-nen

Generatio-nengrenzen in der Familie verwischen

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Kapitel 18

terschieden in elterlichen und kindlichen Rollen und deren Einhaltung sowie aus den Interaktionsregeln des elterlichen und kindlichen Subsys-tems ergeben, verwischen. Die Störungen der Generationengrenzen wer-den häufig mit dem Bild der „verstrickten Familie“ verknüpft. Eine be-sondere Form der Generationengrenzenstörungen ist die Parentifizierung, eine Rollenumkehr, in der Kinder Eltern- oder Partnerfunktionen für ihre Eltern übernehmen (Boszormenyi-Nagy & Spark, 2013). Derartige Rol-lenumkehrungen sind in der Mehrzahl der Familien mit psychisch kran-ken Eltern zu beobachten (Lenz, 2014). Es zeigt sich häufig, dass sowohl der psychisch kranke, als auch der gesunde Elternteil den Kindern ihre jeweilige Bedürftigkeit signalisieren und ihnen somit die Verantwortung für das eigene Wohlbefinden aufbürden. Dadurch werden Kinder zu Ver-trauten und Ratgebern ihrer Eltern, zur primären Quelle von Unterstüt-zung und Trost.

Denkbar sind auch andere Ausformungen dieser unangemessenen Rol-lenzuweisungen:• Kinder werden zu Friedensstiftern und Schiedsrichtern in konfliktrei-

chen Partnerschaften,• Kinder übernehmen Verantwortung für Haushaltsführung, Tagesstruk-

turierung und Medikamenteneinnahme,• Kinder sind zuständig für die Versorgung und Pflege jüngerer Ge-

schwister,• Kinder sind gezwungen, nach der Trennung der Eltern schneller er-

wachsen zu werden und mit einem Elternteil den Verlust zu teilen,• Kinder sollen den nicht verfügbaren kranken Partner ersetzen und• Kinder sollen den Lebenstraum der Eltern realisieren.

Sind die „Aufträge“ der beiden Elternteile widersprüchlich oder gar un-vereinbar, wenn z. B. der kranke Elternteil vom Kind verlangt, als inti-mer Gesprächspartner und Versorger im Alltag zur Verfügung zu stehen und der gesunde Elternteil zugleich vom Kind die Erfüllung eigener Le-bensträume erwartet, gerät das Kind zudem in kaum auflösbare Loyali-tätskonflikte.

Für Kinder ist es jedoch unmöglich, solchen Rollenzuweisungen gerecht zu werden. Sie ordnen vielmehr ihre persönlichen Bedürfnisse denen der Eltern bzw. eines Elternteils unter, und zwar auf Kosten ihrer eigenen Entwicklung. Charakteristisch für die Parentifizierungsprozesse der Kin-der ist die Erfahrung, dass sie letztlich den Wünschen und Erwartungen der Eltern niemals genügen können. Sie müssen damit rechnen, dass sich die Mutter bzw. der Vater oder sogar beide Elternteile aus Enttäuschung über die unerfüllt gebliebenen Wünsche aggressiv abwenden oder sogar gegen sie verbünden. Sie geraten dabei häufig in die Rolle eines Sünden-bocks, der für die Probleme und Konflikte in der Familie verantwortlich gemacht wird. Das betroffene Kind fühlt sich in einer solchen Bezie-hungskonstellation unwichtig, emotional unterversorgt und ausgestoßen.

Eltern sig-nalisieren

den Kindern oftmals ihre

Bedürf-tigkeit

Kinder können Auf-

trägen und Rollenzu-

weisungen nicht

gerecht werden

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Stand der Forschung 9

Gefühle der Kinder. Gefühle, die von Kindern im Zusammenhang mit einer elterlichen psychischen Erkrankung häufig genannt werden, sind Ängste, das Gefühl des Verlustes, der Schuld und der Trauer. Die Ängste der Kinder beziehen sich oftmals darauf, vom erkrankten Elternteil ge-trennt zu werden oder diesen zu verlieren, beispielsweise krankheitsbe-dingt durch einen stationären Aufenthalt oder selbstschädigendes/suizi-dales Verhalten (Lenz, 2014). Die Kinder berichten außerdem von der Sorge, dass dem erkrankten Elternteil etwas zustoßen könnte, oder auch, dass er nicht die Behandlung bekommen könnte, die er benötigt (Knuts-son-Medin et al., 2007). Auch die Angst, dass sich die Erkrankung des Elternteils verschlimmern oder erneut auftreten könnte, begleitet viele Kinder, die sich außerdem – vor allem im jugendlichen Alter – meist dif-fuse Sorgen darüber machen, ob auch sie selbst später von dieser Erkran-kung betroffen sein könnten (Plass & Wiegand-Grefe, 2012). Schuldge-fühle beziehen sich häufig darauf, dass Kinder glauben, die psychischen Probleme der Eltern ausgelöst zu haben (Mattejat & Remschmidt, 2008). Diese Gefühlslage wird durch Gefühle von Wut und Enttäuschung kom-plizierter, die sich auf die ungenügende Präsenz und Verfügbarkeit des erkrankten Elternteils beziehen, aber meist unbewusst bleiben müssen, da der erkrankte Elternteil geschont werden soll (Plass & Wiegand-Grefe, 2012).

Insbesondere nach einem längeren Krankheitsverlauf eines Elternteils er-leben Kinder Gefühle der Hoffnungslosigkeit, der Resignation und De-moralisierung und reagieren darauf ihrerseits mit depressivem Rückzug und dem Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit, weil sie dem kranken El-ternteil nicht helfen können. In dieser Situation vermischen sich häufig Gefühle der Schuld und der eigenen Unzulänglichkeit mit Ärger und sogar Wut über die erkrankten Eltern. Diese enge Verwobenheit von Schuld, Trauer und Ärger bzw. Wut führt nicht selten zu erhöhter Reiz-barkeit (Lenz, 2005).

1.3 Risikofaktoren

Die Risikoforschung verfolgt das Ziel, Gruppen mit hohem Erkran-kungsrisiko genauer zu beschreiben und zu untersuchen, in welchen Merkmalen sich diese Risikogruppen von unbelasteten Vergleichsgrup-pen unterscheiden. Neben genetischen Faktoren müssen biologische und psychosoziale Risikofaktoren berücksichtigt werden. Meist kommen diese Risikofaktoren nicht isoliert vor, sondern haben die Tendenz, ge-häuft aufzutreten und miteinander zu interagieren. Beim Vorliegen einer oder mehrerer Risikofaktoren variiert die Vulnerabilität in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht. Sie hängt aber auch davon ab, wie lange ein Risikofaktor anhält oder ob Risikofaktoren sequenziell oder simultan auf-treten. Kumulative Modelle zeigen ein höheres Risiko für psychische Stö-

Diffuse Sorge, spä-ter selbst zu erkranken

Risikofak-toren treten gehäuft auf und inter-agieren mit-einander

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Kapitel 110

rungen, wenn mehrere Risikofaktoren zusammen auftreten (Wiegand-Grefe, Halverscheid & Plass, 2011).

Genetische Faktoren. Forschungsergebnisse weisen einen wichtigen ge-netischen Einfluss bei der Entstehung psychischer Störungen nach. Diese Ergebnisse können aber nicht in dem Sinne interpretiert werden, dass bei einer hohen Heritabilität die Entwicklung einer psychischen Erkrankung unbeeinflussbar ist. Vielmehr belegen wissenschaftliche Studien, dass ge-netische und Umwelteinflüsse sich gegenseitig bedingen. So untersuchte eine internationale Forschergruppe um Caspi und Kollegen in einer re-präsentativen Längsschnittstudie an einer Geburtenkohorte (N > 800), warum belastende Lebensereignisse bei manchen Menschen zu Depres-sionen führen und bei anderen nicht. Frühere Studien weisen nach, dass das Serotonin-Transporter-Gen einen entscheidenden Einfluss auf den Serotonin-Stoffwechsel im Gehirn hat und dass eine Unterversorgung mit Serotonin zur Entwicklung einer Depression führen kann. Das Sero-tonin-Transporter-Gen kann verschiedene Merkmalsausprägungen haben, entsprechend derer Caspi und Mitarbeiter die Personen unterschiedlichen Gruppen zuwiesen: (a) Personen mit zwei kurzen Allelen auf dem Sero-tonin-Transporter-Gen, (b) Personen mit zwei langen Allelen sowie (c) Personen mit einem kurzen und einem langen Allel. Alle Personen wur-den nach belastenden Lebensereignissen wie z. B. Misshandlung befragt. Anschließend wurde untersucht, ob es bei den Personen, die belastenden Erlebnissen ausgesetzt waren, zwischen den Gruppen (a) bis (c) zu Un-terschieden hinsichtlich einer Depressionsentwicklung gekommen war. Es zeigte sich, dass Menschen mit zwei kurzen Allelen eine um 60 % er-höhte Wahrscheinlichkeit hatten, in der Folge belastender Lebensereig-nisse an einer Depression zu erkranken. Bei Personen mit zwei langen Allelen hingegen konnte keine erhöhte Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, im Laufe des Lebens eine Depression zu entwickeln. Diese Stu-die belegt, dass verschiedene genetische Merkmale zu einer unterschied-lich hohen Vulnerabilität der Personen für Umweltbedingungen führen, dass also Konsequenzen belastender Lebensereignisse von der geneti-schen Ausstattung einer Person abhängen. Stressreiche und belastende Lebensereignisse führen in dieser Studie nur bei Personen mit einer be-stimmten genetischen Ausstattung zu einer Depression (Caspi et al., 2003).

Es bleibt festzuhalten, dass genetische Einflüsse bei der Entwicklung psychischer Störungen zwar eine Rolle spielen, jedoch ausschließlich eine Vulnerabilität vererbt wird. Die weitere Entwicklung, insbesondere die Entwicklung einer psychischen Störung, hängt von Umweltfaktoren ab. Es wird also lediglich der Genotyp und nicht der Phänotyp vererbt (Davison et al., 2007). Der Beleg der gegenseitigen Interaktion von Ge-netik und Umwelt legt nahe, dass für Menschen mit einer erhöhten ge-netischen Vulnerabilität der Einfluss von – sowohl funktionalen als auch dysfunktionalen – Umweltfaktoren eine besonders wichtige Rolle spielt

Genetische und Um-weltein-

flüsse be-dingen sich gegenseitig

Vererbt wird die Vulne-

rabilität

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Stand der Forschung 11

(Mattejat & Remschmidt, 2008). Daher sind die Umweltbedingungen, die nachfolgend genauer dargestellt werden, für die Risikogruppe Kin-der psychisch kranker Eltern besonders relevant (Mattejat, 2014).

Umweltfaktoren. Neben den genetischen Faktoren stellt die psychische Erkrankung von Eltern einen zusätzlichen psychosozialen Risikofaktor dar, der die Entwicklung der Kinder potenziell gefährdet. Viele psychi-sche Erkrankungen beeinträchtigen Eltern substanziell in ihrer Eltern-rolle und führen zu einer Akkumulation von Belastungsfaktoren in der Familie, deren Auswirkungen sich nicht nur addieren, sondern gegensei-tig beeinflussen und gleichsam multiplizieren. Deshalb gelten Familien mit psychisch kranken Eltern als Hochrisikofamilien. Bei der Betrach-tung der Risikofaktoren von Kindern mit psychisch kranken Eltern wird im Folgenden zwischen Faktoren der Eltern, der Familie, der Kinder und allgemeinen psychosozialen Risikofaktoren unterschieden.

1.3.1 Risikofaktoren der Eltern

Krankheitsbezogene Faktoren als Risikofaktor. Bestimmte Merkmale der elterlichen Erkrankung sind mit einem besonders hohen Entwicklungs-risiko für die Kinder verbunden. Vielfach untersucht wurde der Zusam-menhang spezifischer elterlicher Diagnosen mit einer ungünstigen Ent-wicklung der Kinder, der aber bisher nicht stringent nachgewiesen werden konnte. Einige Autoren konstatieren unterschiedliche Auswir-kungen der elterlichen Erkrankungen auf die psychische Gesundheit der Kinder entsprechend der Diagnosegruppe (Lenz, 2014; Mattejat et al., 2000). Anderen Studien zufolge unterscheidet sich die Gesamtbelastung psychischer Störungen bei Kindern von Eltern verschiedener Diagnose-gruppen nicht. In den meisten Studien wirkt sich allerdings eine Persön-lichkeitsstörung der Eltern besonders beeinträchtigend auf die betroffe-nen Kinder aus (Wiegand-Grefe, Halverscheid & Plass, 2011). Manche Studien berichten von zusätzlichen negativen Auswirkungen elterlicher Störungen, wenn Persönlichkeitsstörungen komorbid vorliegen. Komor-bidität verstärkt den Grad der sozialen Beeinträchtigung, erhöht das Su-izidrisiko und führt häufiger zu Hospitalisierung, Isolation und Arbeits-losigkeit der Betroffenen. Zahlreiche Studien belegen, dass komorbide Störungen mit einer höheren Belastung und mehr DSM-5-Diagnosen bei den Kindern verbunden sind. Trotz widersprüchlicher Studienergebnisse sprechen viele Befunde dafür, dass Kinder von Eltern mit Persönlich-keitsstörungen und Suchterkrankungen sowie von Eltern mit komorbi-den Störungen ein besonders hohes Risiko für psychische Auffälligkei-ten haben (Plass & Wiegand-Grefe, 2012).

Davon abgesehen scheinen allgemeine, unspezifische Merkmale der Er-krankung für die Entwicklung der Kinder relevant zu sein. Diese Befunde ergeben jedoch ein uneinheitliches, inkonsistentes Bild. So sind in einer

Hohes Stö-rungsrisiko bei Eltern mit Persön-lichkeitsstö-rungen und Suchter-krankungen

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Kapitel 112

Studie die Beeinträchtigung und das Störungsrisiko bei den Kindern umso größer, je länger die elterliche Erkrankung andauert, je mehr Krankheits-episoden auftreten und je schwerer die Erkrankung ausgeprägt ist (Ham-men et al., 2004). Einige Studien haben den Einfluss störungsunspezifi-scher Merkmale wie Schweregrad und Chronizität auf die Gesundheit der Kinder innerhalb bestimmter elterlicher Diagnosegruppen nachge-wiesen. Die Auswirkungen einer elterlichen psychischen Erkrankung sind auch umso gravierender, je intensiver die Kinder in die psychische Sym-ptomatik des kranken Elternteils einbezogen werden. Insbesondere Kin-der, die Opfer aggressiver Ausbrüche oder feindseliger Verhaltensweisen ihrer Eltern werden, die in das Wahnsystem oder eine andere Symptoma-tologie der Eltern einbezogen werden, gelten als besonders gefährdet (Mattejat & Remschmidt, 2008).

Insbesondere die subjektive elterliche Belastung zeigt relevante Zusam-menhänge zur psychischen Gesundheit der Kinder: Je höher die sub-jektive Belastung der Eltern ist, desto höher wird auch die psychische Auffälligkeit der Kinder eingeschätzt und desto schlechter auch deren Lebensqualität (Wiegand-Grefe et al., 2009).

Krankheitsverarbeitung als Risikofaktor. Auch die elterliche Krankheits-verarbeitung scheint für die Entwicklung der Kinder relevant zu sein. Ein tabuisierender und verleugnender Umgang mit der eigenen Erkrankung wird als ein folgenreiches Risiko für die emotionale Befindlichkeit der Kinder betrachtet (Beardslee et al., 2003). Eltern, die eine wenig akzep-tierende Einstellung zur Krankheit zeigen oder sogar zu Verleugnung und einer fatalistischen Haltung neigen und auch mit Rückzug und Passivi-tät auf die Auseinandersetzung mit der Erkrankung reagieren, stellen für die Kinder eine zusätzliche Belastungsquelle dar. Dieser Befund findet sich wiederholt in retrospektiven qualitativen Studien und ist aus der Er-lebensperspektive der Kinder auch sehr gut nachvollziehbar. Allerdings wurde die Bedeutung der Krankheitsverarbeitung für die Gesundheit und Lebensqualität der Kinder empirisch bisher wenig untersucht. Wiegand-Grefe et al. (2010) konnten in einer quantitativen Studie einen Zusam-menhang zwischen depressivem elterlichen Copingstil und einer schlech-teren gesundheitsbezogenen Lebensqualität der Kinder nachweisen.

Bindungs- und Beziehungsstörungen als Risikofaktoren der Eltern. Psy-chisch kranke Eltern zeigen im Umgang mit ihren Kindern eine Reihe von Einschränkungen, die sich in der Beziehung zu ihren Kindern direkt auswirken. Bereits im Säuglingsalter werden Störungen der elterlichen Fähigkeit beschrieben, eine stabile Bindung herzustellen (Deneke & Lü-ders, 2003; Ramsauer, 2011). Dies geht mit signifikanten elterlichen In-teraktionsdefiziten wie mangelnder Responsivität, eher passivem Verhal-ten, einer begrenzten Ausdrucksfähigkeit sowie Formen der emotionalen Nicht-Erreichbarkeit einher. Die Bindung stellt einen spezifischen As-pekt der Beziehung zwischen Eltern und Kindern dar und bezieht sich

Schwere-grad und

Verlauf der elterlichen

Erkrankung beeinflus-sen kindli-ches Stö-

rungsrisiko

Elterliche Krank-

heitsverar-beitung

beeinflusst kindliche

Entwicklung

Signifikante Defizite in der Eltern-Kind-Inter-

aktion

Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus A. Lenz und S. Wiegand-Grefe: Kinder psychisch kranker Eltern (9783840925894) © 2017 Hogrefe Verlag, Göttingen.