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Kapitel 1 Aussagenlogik Die Aussagenlogik, worunter hier die 2-wertige Aussagenlogik verstanden sei, ent- stand aus der Analyse von Verkn¨ upfungen gegebener Aussagen A, B, wie z.B. A und B, A oder B, nicht A, wenn A so B. Dies sind Verkn¨ upfungen, die sich mit 2-wertiger Logik n¨ aherungsweise beschrei- ben lassen. Es gibt andere Aussagenverkn¨ upfungen mit temporalem oder lokalem Aspekt, wie etwa erst A dann B, oder hier A dort B sowie modale Verkn¨ upfun- gen aller Art, deren Analyse den Rahmen einer 2-wertigen Logik ¨ ubersteigt und die Gegenstand einer temporalen, modalen oder sonstigen Teildisziplin einer mehrwerti- gen oder nichtklassischen Logik sind. Auch die anf¨ anglich erw¨ ahnten Verkn¨ upfungen haben in anderen Auffassungen von Logik und auch in der nat¨ urlichen Sprache oft einen Sinn, der mit 2-wertiger Logik nur unvollst¨ andig zu erfassen ist. Von diesen Ph¨ anomenen wird in der 2-wertigen Aussagenlogik abstrahiert. Das ver- einfacht die Betrachtungen erheblich und hat ¨ uberdies den Vorteil, dass sich viele Begriffe wie der des Folgerns, der Regelinduktion, der Resolution usw. auf einer ein- fachen und durchsichtigen Ebene pr¨ asentieren lassen. Dies spart viele Worte, wenn in Kapitel 2 die entsprechenden pr¨ adikatenlogischen Begriffe zur Debatte stehen. Wir behandeln hier nicht alles, was im Rahmen 2-wertiger Aussagenlogik einer Be- handlung zug¨ anglich ist, etwa 2-wertige Fragmente und Probleme der Definierbarkeit und Interpolation. Der Leser sei diesbez¨ uglich z.B. auf [KK] oder [Ra1] verwiesen. Daf¨ ur wird etwas mehr ¨ uber aussagenlogische Kalk¨ ule gesagt. Es gibt vielf¨ altige Anwendungen der Aussagenlogik. Wir verzichten aber auf die Darstellung direkter technischer Anwendungen, etwa in der Synthese logischer Schal- tungen und dazugeh¨ origen Optimierungsproblemen, sondern beschreiben ausf¨ uhrlich einige n¨ utzliche Anwendungen des Kompaktheitssatzes. 1

Kapitel 1 Aussagenlogik - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/Math.Logik/Kap1.pdfKapitel 1 Aussagenlogik Die Aussagenlogik, worunter hier die 2-wertige Aussagenlogik verstanden

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Kapitel 1

Aussagenlogik

Die Aussagenlogik, worunter hier die 2-wertige Aussagenlogik verstanden sei, ent-

stand aus der Analyse von Verknupfungen gegebener Aussagen A, B, wie z.B.

A und B, A oder B, nicht A, wenn A so B.

Dies sind Verknupfungen, die sich mit 2-wertiger Logik naherungsweise beschrei-

ben lassen. Es gibt andere Aussagenverknupfungen mit temporalem oder lokalem

Aspekt, wie etwa erst A dann B, oder hier A dort B sowie modale Verknupfun-

gen aller Art, deren Analyse den Rahmen einer 2-wertigen Logik ubersteigt und die

Gegenstand einer temporalen, modalen oder sonstigen Teildisziplin einer mehrwerti-

gen oder nichtklassischen Logik sind. Auch die anfanglich erwahnten Verknupfungen

haben in anderen Auffassungen von Logik und auch in der naturlichen Sprache oft

einen Sinn, der mit 2-wertiger Logik nur unvollstandig zu erfassen ist.

Von diesen Phanomenen wird in der 2-wertigen Aussagenlogik abstrahiert. Das ver-

einfacht die Betrachtungen erheblich und hat uberdies den Vorteil, dass sich viele

Begriffe wie der des Folgerns, der Regelinduktion, der Resolution usw. auf einer ein-

fachen und durchsichtigen Ebene prasentieren lassen. Dies spart viele Worte, wenn

in Kapitel 2 die entsprechenden pradikatenlogischen Begriffe zur Debatte stehen.

Wir behandeln hier nicht alles, was im Rahmen 2-wertiger Aussagenlogik einer Be-

handlung zuganglich ist, etwa 2-wertige Fragmente und Probleme der Definierbarkeit

und Interpolation. Der Leser sei diesbezuglich z.B. auf [KK] oder [Ra1] verwiesen.

Dafur wird etwas mehr uber aussagenlogische Kalkule gesagt.

Es gibt vielfaltige Anwendungen der Aussagenlogik. Wir verzichten aber auf die

Darstellung direkter technischer Anwendungen, etwa in der Synthese logischer Schal-

tungen und dazugehorigen Optimierungsproblemen, sondern beschreiben ausfuhrlich

einige nutzliche Anwendungen des Kompaktheitssatzes.

1

2 1 Aussagenlogik

1.1 Boolesche Funktionen und Formeln

Die 2-wertige Logik beruht auf zwei Grundprinzipien, dem Zweiwertigkeitsprinzip,

welches nur zwei Wahrheitswerte in Betracht zieht, namlich wahr und falsch, sowie

dem Extensionalitatsprinzip. Danach hangt der Wahrheitswert einer zusammenge-

setzten Aussage nur von den Wahrheitswerten ihrer Bestandteile ab, nicht aber noch

von deren Sinn. Es ist plausibel, dass durch diese beiden Prinzipien in der Regel nur

eine Idealisierung tatsachlicher Verhaltnisse formuliert wird.

Fragen nach Wahrheitsgraden oder dem Sinngehalt von Aussagen werden in der 2-

wertigen Logik ignoriert. Dennoch oder gerade deswegen ist dies eine erfolgreiche

wissenschaftliche Methode. Man muss nicht einmal wissen, was genau die beiden

nachfolgend mit 1 und 0 bezeichneten Wahrheitswerte wahr und falsch eigentlich

sind. Man darf sie, wie dies im Folgenden auch geschieht, getrost mit den beiden

Symbolen 1 und 0 identifizieren, oder mit anderen gefalligen Symbolen, z.B. > und

⊥, oder t und f. Das hat den Vorteil, dass alle denkbaren Interpretationen von wahr

und falsch offengehalten werden, z.B. auch solche rein technischer Natur, etwa die

beiden Zustande eines Schaltelements in einem logischen Schaltkreis.

Unter einer n-stelligen Booleschen Funktion oder Wahrheitsfunktion verstehe man

eine beliebige Funktion f : {0, 1}n 7→ {0, 1}. Deren Gesamtheit sei mit Bn bezeich-

net. B0 enthalt nur die beiden Konstanten 0 und 1. Die Negation ¬ mit ¬1 = 0 und

¬0 = 1 ist eine der vier 1-stelligen Booleschen Funktionen. Weil es 2n viele n-Tupel

aus 0, 1 gibt, sieht man leicht, dass Bn genau 22nviele Funktionen enthalt.

Die Konjunktion A und B aus den beiden Aussagen A, B, die in formalisierten Spra-

chen meist mit A∧B oder A & B bezeichnet wird, ist nach dem Wortsinn von und

genau dann wahr, wenn A, B beide wahr sind, und sonst falsch. Der Konjunktion

entspricht also eine 2-stellige Boolesche Funktion, die ∧ -Funktion oder et-Funktion

und haufig kurz mit ∧ bezeichnet. Diese ist durch ihre Wertetabelle oder Werte-

matrix( 1 0

0 0

)gegeben. Dabei bezeichne stets

( 1 ◦ 1 1 ◦ 00 ◦ 1 0 ◦ 0

)die Wertematrix einer

2-stelligen Booleschen Funktion ◦, also 1∧1 = 1, sowie 1∧0 = 0∧1 = 0∧0 = 0.

Die Tabelle auf der nachsten Seite enthalt in der ersten Spalte die gebrauchlichen

2-stelligen Aussagenverknupfungen mit Beispielen ihrer sprachlichen Realisierung,

in der zweiten Spalte ihre wichtigsten Symbole und in der dritten die Wertematrix

der entsprechenden Wahrheitsfunktion. Die Disjunktion ist das nichtausschließende

oder. Sie ist klar zu unterscheiden von der Antivalenz (dem ausschließenden oder).

Letztere entspricht der Addition modulo 2, deswegen die Bezeichnung durch +. In

schalttechnischen Systemen werden die Funktionen +, ↓, ↑ oft durch xor, nor und

nand symbolisiert. Die letztgenannte heißt auch die Sheffer-Funktion.

1.1 Boolesche Funktionen und Formeln 3

Man muss eine Aussagenverknupfung und die entsprechende Wahrheitsfunktion

nicht gleichbezeichnen – z.B. konnte man ∧ fur die Konjunktion und et fur die

entsprechende Boolesche Funktion wahlen – aber damit erschafft man nur neue Be-

zeichnungen, keine neuen Einsichten. Die Bedeutung eines Symbols wird stets aus

dem Zusammenhang hervorgehen. Sind α, β Aussagen einer formalen Sprache, so be-

zeichnet z.B. α∧β deren Konjunktion; sind a, b hingegen Wahrheitswerte, bezeichnet

a∧ b eben einen Wahrheitswert. Mitunter mochte man allerdings auch uber die lo-

gischen Symbole ∧ , ∨ ,¬, . . . selbst reden und ihre Bedeutungen vorubergehend in

den Hintergrund drangen. Man spricht dann von den Junktoren ∧ , ∨,¬, . . .

Aussagenverknupfung Symbol Wertematrix

Konjunktion

A und B;

Sowohl A als auch B

∧, &1 0

0 0

Disjunktion (Alternative)

A oder B∨ 1 1

1 0

Implikation (Subjunktion)

Wenn A so B; Aus A folgt B;

A nur dann wenn B

→, ⇒ 1 0

1 1

Aquivalenz (Bijunktion)

A genau dann wenn B;

A dann und nur dann wenn B

↔, ⇔ 1 0

0 1

Antivalenz

Entweder A oder B+

0 1

1 0

Nihilition

Weder A noch B↓ 0 0

0 1

Unvertraglichkeit

Nicht zugleich A und B↑ 0 1

1 1

Aussagen, die mit den in der Tabelle angegebenen oder weiteren Verknupfungen

zusammengesetzt sind, konnen in dem Sinne bedeutungsgleich oder logisch aquiva-

lent sein, dass ihnen bei jeweils gegebenen Wahrheitswerten ihrer Bestandteile stets

derselbe Wahrheitswert entspricht. Dies ist z.B. der Fall bei den Aussagen

A sofern B, A falls B, A oder nicht B.

Diese Verknupfung wird gelegentlich auch mit A ← B bezeichnet und heiße die

konverse Implikation. Sie erschien deswegen nicht in der Tabelle, weil sie durch

Vertauschen der Argumente A, B aus der Implikation hervorgeht. Diese und ahnliche

4 1 Aussagenlogik

Grunde sind dafur verantwortlich, warum nur wenige der 16 zweistelligen Booleschen

Funktionen einer Bezeichnung uberhaupt bedurfen.

Um logische Aquivalenzen zu erkennen und zu beschreiben ist die Schaffung eines

Formalismus oder einer formalen Sprache nutzlich. Die Situation ist vergleichbar mit

derjenigen in der Arithmetik, wo sich allgemeine Gesetzmaßigkeiten bequemer und

klarer mittels gewisser Formeln zum Ausdruck bringen lassen.

Wir betrachten aussagenlogische Formeln genau wie arithmetische Terme als Zei-

chenfolgen, die in bestimmter Weise aus Grundsymbolen aufgebaut sind. Zu den

Grundsymbolen zahlen hier wie dort sogenannte Variablen, die im vorliegenden Falle

Aussagenvariablen heißen und deren Gesamtheit mit AV bezeichnet sei. Meist wahlt

man hierfur einer Tradition entsprechend die Symbole p0, p1, . . . Die Variablennu-

merierung unten beginnt aber mit p1, was einer bequemeren Darstellung Boolescher

Funktionen dient. Zu den Grundsymbolen gehoren ferner gewisse logische Zeichen

wie ∧ , ∨,¬, . . . , die auf der arithmetischen Ebene den Zeichen +, ·, . . . entsprechen.

Schließlich verwendet man meistens gewisse technische Hilfssymbole, nachfolgend

nur die beiden Klammern (, ).

Jedesmal, wenn von einer aussagenlogischen Sprache die Rede ist, muss die Menge

AV ihrer Variablen und die Menge der logischen Symbole, ihre logische Signatur,

vorgegeben sein. So ist fur Anwendungen der Aussagenlogik wie z.B. in Abschnitt

1.5 wichtig, dass AV eine beliebige Menge sein kann und nicht wie oben angedeutet

abzahlbar sein muss. Um konkret zu sein definieren wir ausgehend von den Symbolen

( , ) , ∧ , ∨ ,¬ , p1, p2, . . . eine aussagenlogische Sprache F wie folgt:

Rekursive Formelbestimmung

(F1) Die Variablen p1, p2, . . . sind Formeln, auch Primformeln genannt.

(F2) Sind α, β Formeln, so auch die Zeichenfolgen (α∧β), (α ∨ β) und ¬α.

Diese Erklarung ist so zu verstehen, dass nur die nach (F1) und (F2) bestimmten

Zeichenfolgen in diesem Zusammenhang Formeln sind. Mit anderen Worten, F ist

die kleinste (d.h. der Durchschnitt) aller Mengen Z von Zeichenfolgen aus obigen

Symbolen mit den Eigenschaften

(f1) p1, p2, · · · ∈ Z, (f2) α, β ∈ Z ⇒ (α∧β), (α ∨ β),¬α ∈ Z.

Beispiel. (p1 ∧ (p2 ∨ ¬p1)) ist eine Formel. Deren Anfang (p1 ∧ (p2 ∨ ¬p1) hingegen

nicht, weil eine schließende Klammer fehlt. Denn es ist anschaulich klar und wird

weiter unten streng bewiesen, dass die Anzahl der in einer Formel vorkommenden

Linksklammern identisch ist mit der Anzahl der dort vorkommenden Rechtsklam-

mern. Jeder echte Anfang der obigen Formel verletzt offenbar diese Bedingung.

1.1 Boolesche Funktionen und Formeln 5

Die so definierten Formeln bezeichnen wir etwas genauer als Boolesche Formeln, weil

sie mit der Booleschen Signatur {∧ , ∨,¬} erzeugt wurden. Wenn weitere Junktoren

zur logischen Signatur gehoren sollen wie etwa → oder ↔, muss (F2) entsprechend

erweitert werden. Solange aber nichts anderes gesagt wird, sind (α → β) und (α↔ β)

nur Abkurzungen: (α → β) := ¬(α∧¬β) und (α↔ β) := ((α → β)∧ (β → α)). Einem

solchen Vorgehen liegen naturlich entsprechende logische Aquivalenzen zugrunde.

Gelegentlich ist es nutzlich, Symbole fur das stets Falsche und das stets Wahre in

der logischen Signatur zu haben, etwa ⊥ und >, Falsum und Verum genannt und

auch mit 0 und 1 bezeichnet. Diese sind als zusatzliche Primformeln zu verstehen,

und Klausel (F1) ist entsprechend zu erweitern. In der Booleschen Signatur lassen

sich ⊥ und > etwa durch ⊥ := (p1 ∧¬p1) und > := ¬⊥ definieren.

Vorerst sei F die Menge aller Booleschen Formeln. Doch gilt alles, was nachfolgend

uber F gesagt wird, sinngemaß auch fur Formeln einer beliebigen aussagenlogischen

Sprache. Aussagenvariablen werden im Folgenden mit den Buchstaben p, q, . . . be-

zeichnet, Formeln mit α, β, γ, δ, ϕ, . . . , Primformeln auch mit π, und Formelmengen

mit X, Y, Z, wobei diese Buchstaben auch indiziert sein konnen.

Zwecks Klammerersparnis bei der Niederschrift von Formeln verabreden wir gewisse

Regeln, die in ahnlicher Form auch bei der Niederschrift arithmetischer Terme ver-

wendet werden. Hierin bezeichnet ◦ einen beliebigen 2-stelligen Junktor.

1. Außenklammern in Formeln der Gestalt (α ◦ β) durfen weggelassen werden.

Es darf also z.B. ¬p1 ∨ (p2 ∧p1) fur (¬p1 ∨ (p2 ∧p1)) geschrieben werden;

2. In der Reihenfolge ∧ , ∨, → ,↔ trennt jeder Junktor starker als alle vorange-

henden. Man darf z.B. ¬p1 ∨ p2 ∧p1 statt (¬p1 ∨ (p2 ∧p1)) schreiben;

3. Bei mehrfacher Zusammensetzung mit demselben Junktor wird Rechtsklam-

merung 1) verwendet. So steht α0 → α1 → α2 fur α0 → (α1 → α2). Anstelle von

α0 ∧ . . . ∧αn und α0∨ . . . ∨αn wird auch∧

i6n αi bzw.∨

i6n αi geschrieben.

Solche Verabredungen beruhen auf einer verlasslichen Syntax, in deren Rahmen auch

anschaulich klare Tatsachen – z.B. die Ubereinstimmung der Anzahlen der Links-

und Rechtsklammern in einer Formel – streng beweisbar sind. Derartige Beweise

fuhrt man in der Regel induktiv uber den Formelaufbau. Um dies zu verdeutlichen,

notieren wir das Zutreffen einer Eigenschaft E auf eine Zeichenfolge ϕ einfach durch

Eϕ. Zum Beispiel bedeute E ‘In ϕ kommen gleichviele Rechts- wie Linksklammern

vor’. Dann gilt E trivialerweise fur Primformeln, und gelten Eα, Eβ, so offenbar auch

E(α∧β), E(α ∨ β) und E¬α. Daraus darf man schließen, dass E auf alle Formeln

zutrifft. Denn dies ist ein besonders einfacher Anwendungsfall von folgendem

1)Diese hat gegenuber Linksklammerung Vorteile bei der Niederschrift von Tautologien in → ,siehe 1.3.

6 1 Aussagenlogik

Beweisprinzip durch Formelinduktion. Es sei E eine Eigenschaft von Zeichen-

folgen derart, dass

(o) Eπ fur alle Primformeln π,

(s) Eα, Eβ ⇒ E(α∧β), E(α ∨ β), E¬α, fur alle α, β ∈ F.

Dann gilt Eϕ fur alle Formeln ϕ.

Die Rechtfertigung dieses Prinzips ist einfach: Die Menge Z aller Zeichenfolgen mit

der Eigenschaft E genugt wegen (o) und (s) den Bedingungen (f1) und (f2) Seite 4.

Nun ist F aber die kleinste Menge dieser Art. Also F ⊆ Z, d.h. Eϕ gilt fur alle ϕ.

Man bestatigt induktiv leicht den anschaulich klaren Sachverhalt, dass eine zusam-

mengesetzte Formel ϕ ∈ F (d.h. ϕ ist keine Primformel) entweder von der Gestalt

¬α oder (α ◦ β) mit α, β ∈ F und ◦ ∈ {∧ , ∨} ist. Weniger einfach ist der Nachweis,

dass eine derartige Zerlegung eindeutig ist, auch die eindeutige Rekonstruktionsei-

genschaft genannt. Zum Beispiel hat (α∧β) keine Zerlegung (α′ ∨ β′) mit anderen

Formeln α′, β′. Um aber den Fluss der Dinge nicht aufzuhalten, behandeln wir diese

Sachverhalte mit ausreichenden Hinweisen in den Ubungen,

Bemerkung 1. Klammern werden fur die eindeutige Rekonstruktionseigenschaft nichtwirklich benotigt. Vielmehr lassen sich aussagenlogische Formeln, ebenso wie z.B. aucharithmetische Terme, klammerfrei notieren, und zwar in polnischer Notation, oder auch inumgekehrter polnischer Notation, die in einigen Programmiersprachen Verwendung findet.Die Idee besteht darin, (F2) wie folgt zu verandern: Mit α, β sind auch die Zeichenfolgen∧αβ, ∨αβ, ¬α Formeln. Die umgekehrte polnische Notation unterscheidet sich von derangegebenen nur dadurch, dass die Junktoren den Argumenten nachgestellt werden. DieEntzifferung dieser Notationen ist fur ungeubte Leser etwas muhsam, denn sie habeneine sehr hohe Informationsdichte. Dafur konnen Computer sie besonders schnell lesenund verarbeiten. Die Klammernotation hat gegenuber den klammerfreien im Grunde nurden Vorteil, dass sie die optische Entzifferung durch ”Informationsverdunnung“ erleichtert.Obwohl die eindeutige Rekonstruktion fur die Polnische Notation nicht unmittelbar evidentist, ist der Beweis nicht schwieriger als fur die Klammernotation. Ganz einfach wird dieserNachweis ubrigens dann, wenn man eine Boolesche Formel nicht als Zeichenfolge, sondernals ein spezielles Tupel von Zeichenfolgen definiert, das die Entstehungsgeschichte derFormel kodiert. Es gibt demnach durchaus mehrere Prazisionsmoglichkeiten des Begriffseiner aussagenlogischen Formel.

Anschaulich ist klar, was eine Subformel (oder Teilformel) einer Formel ϕ ist. Zum

Beispiel ist (p2 ∧p1) eine Subformel von (¬p1 ∨ (p2 ∧p1)). Auch sollte jede Formel

Subformel von sich selbst sein. Fur manche Zwecke ist es jedoch bequemer, die

Menge Sf ϕ aller Subformeln von ϕ wie folgt zu kennzeichnen:

Sf π = {π} fur Primformeln π ; Sf¬α = Sf α ∪ {¬α},

Sf(α ◦ β) = Sf α ∪ Sf β ∪ {(α ◦ β)} fur einen 2-stelligen Junktor ◦.

1.1 Boolesche Funktionen und Formeln 7

Hier liegt eine rekursive (oder induktive) Definition uber den Formelaufbau vor. Ahn-

lich erklart man z.B. auch den mit rg ϕ bezeichneten Rang von ϕ, der ein mitunter

bequemeres Komplexitatsmaß fur ϕ darstellt als die Lange von ϕ als Zeichenfolge.

Sei rg π = 0 fur Primformeln π, und wenn rg α und rg β schon definiert sind, sei

rg¬α = rg α + 1, rg(α∧β) = rg(α ∨ β) = max{rg α, rg β}+ 1.

Wir verzichten auf eine allgemeine Formulierung dieses Definitionsverfahrens, weil es

sehr anschaulich ist und durch die obigen und noch folgenden Beispiele ausreichend

verdeutlicht wird. Seine Rechtfertigung beruht, wie man sich denken kann, wesent-

lich auf der eindeutigen Rekonstruktionseigenschaft. Ist eine Eigenschaft durch For-

melinduktion uber den Aufbau von ϕ zu beweisen, wird dies oft schlagwortartig als

Beweis durch Induktion uber ϕ angekundigt. Analog wird die rekursive Definition

einer auf F erklarten Funktion f oft kurz durch die Redewendung wir definieren f

rekursiv (nicht ganz treffend auch induktiv) uber ϕ angekundigt.

Da die Wahrheitswerte zusammengesetzter Aussagen nur abhangen von den Wahr-

heitswerten ihrer aussagenlogischen Bestandteile, durfen wir den Aussagenvariablen

in Formeln ϕ statt Aussagen auch Wahrheitswerte zuordnen, oder wie man zu sa-

gen pflegt, diese mit Wahrheitswerten belegen. Fur jede solche Belegung lasst ϕ sich

auswerten, also ein Wahrheitswert errechnen. Ahnlich wird in der reellen Arithmetik

ein Term ausgewertet, nur ist dessen Wert dann eine reelle Zahl. Ein arithmetischer

Term t in den Variablen x1, . . . , xn beschreibt eine n-stellige reelle Funktion, eine

Formel ϕ in den Variablen p1, . . . , pn hingegen eine n-stellige Boolesche Funktion.

Dabei mussen nicht alle Variablen p1, . . . , pn in ϕ wirklich vorkommen.

Um das Gesagte kurz zu formulieren, heiße eine Abbildung w : AV → {0, 1} eine

aussagenlogische Belegung, auch (aussagenlogisches) Modell genannt. w lasst sich

rekursiv uber den Formelaufbau eindeutig zu einer ebenfalls mit w bezeichneten

Abbildung von ganz F nach {0, 1} fortsetzen: Es sei einfach w(α∧β) = wα∧wβ,

w(α ∨ β) = wα ∨ wβ und w¬α = ¬wα. Dabei bezeichnen ∧ , ∨ , ¬ auf der rechten

Seite dieser Gleichungen naturlich die entsprechenden Booleschen Funktionen. Wenn

vom Wert wα einer Formel α bei der Belegung w der Variablen die Rede ist, meint

man den sich gemaß dieser Fortsetzung ergebenden Wert. Man konnte die erweiterte

Abbildung z.B. auch mit w bezeichnen, doch ist eine Bezeichnungs-Unterscheidung

dieser Abbildung von w : AV→ {0, 1} nicht zwingend.

Enthalt die logische Signatur auch andere Junktoren, ist die Wertbestimmung ent-

sprechend zu erganzen, z.B. durch w(α → β) = wα → wβ. Ist α → β hingegen defi-

niert wie bei uns, muss diese Gleichung beweisbar sein. In der Tat, sie ist es, denn

w(α → β) = w¬(α ∧ ¬β) = ¬w(α ∧ ¬β) = ¬(wα ∧ ¬wβ) = wα → wβ. Auch ⊥ und >

wurden so definiert, dass stets w⊥ = 0 und w> = 1.

8 1 Aussagenlogik

Es bezeichne Fn die Menge der Formeln von F in hochstens den Variablen p1, . . . , pn,

n > 0. Dann ist plausibel, dass wα fur α ∈ Fn lediglich abhangt von den Werten

der p1, . . . , pn. Also (∗) : wα = w′α, wenn wpi = w′pi fur i = 1, . . . , n. Der einfache

Beweis erfolgt durch Induktion uber den Aufbau der Formeln aus Fn: (∗) ist richtig

fur p ∈ Fn, und gilt (∗) fur α, β ∈ Fn, so offenbar auch fur ¬α, α∧β und α ∨ β.

Definition. Die Formel α ∈ Fn reprasentiert die n-stellige Boolesche Funktion f ,

falls wα = fw~p fur alle Belegungen w; dabei sei w~p := (wp1, . . . , wpn).

Weil wα fur α ∈ Fn durch wp1, . . . , wpn schon eindeutig festgelegt ist, reprasentiert

α nur genau eine Funktion f ∈ Bn, die gelegentlich auch mit α(n) bezeichnet wird. So

reprasentieren p1 ∧p2 und ¬(¬p1 ∨ ¬p2) beide die ∧ -Funktion, wie man sich anhand

einer Tabelle leicht klarmacht. ¬p1 ∨ p2 und ¬(p1 ∧¬p2) reprasentieren beide die→ -Funktion, und p1 ∨ p2, ¬(¬p1 ∧¬p2) und (p1 → p2) → p2 allesamt die ∨-Funktion.

Die oder -Verknupfung ist demnach allein durch die Implikation ausdruckbar.

Man beachte hierbei: Da z.B. α := p1 ∨ p2 nicht nur zu F2, sondern auch zu F3 gehort,

wird auch die Boolesche Funktion f : (x1, x2, x3) 7→ x1 ∨ x2 durch α reprasentiert.

Das dritte Argument ist allerdings nur ein”fiktives“, oder anders formuliert, f ist

”nicht wesentlich“ 3-stellig, ebensowenig wie (x1, x2, x3) 7→ x1 ∨ x3.

Bemerkung 2. Allgemein heißt eine Operation f : Mn → M wesentlich n-stellig, wennf keine fiktiven Argumente hat. Dabei heißt das i-te Argument von f ein fiktives, wenn

f(x1, . . . , xi, . . . , xn) = f(x1, . . . , x′i, . . . , xn), fur alle x1, . . . , xn, x′i ∈M.

Die identische und die ¬-Funktion sind die wesentlich einstelligen Booleschen Funktionen,und von den 16 zweistelligen Funktionen sind nur 10 wesentlich zweistellig. Ist vn dieAnzahl aller und wn die Anzahl aller wesentlich n-stelligen Booleschen Funktionen, beweistman unschwer vn =

∑i6n

(ni

)wi. Auflosung nach wn ergibt wn =

∑i6n(−1)n−i

(ni

)vi.

Ubungen

1. f ∈ Bn heißt linear, wenn f(x1, . . . , xn) = a0 + a1x1 + · · · + anxn fur gewisse

a0, . . . , an ∈ {0, 1}. Dabei bezeichne + die Addition modulo 2 (exklusive Dis-

junktion) und es sei aixi = xi fur ai = 1 und aixi = 0 sonst. Man bestimme

fur jedes n die Anzahl der n-stelligen linearen Booleschen Funktionen.

2. Man beweise: ein echter Anfang ξ einer Formel α ist keine Formel.

3. Man beweise mit Hilfe von Ubung 2 die eindeutige Rekonstruktionseigenschaft

fur F: (α ◦ β) = (α′ ◦′ β′) impliziert α = α′, ◦ = ◦′ und β = β′.

4. Sei ξ eine Zeichenfolge. Man zeige, mit ¬ξ ist auch ξ eine Formel. Ahnlich

zeigt man α, (α∧ξ) ∈ F ⇒ ξ ∈ F und α, (α → ξ) ∈ F ⇒ ξ ∈ F.

1.2 Semantische Aquivalenz und Normalformen 9

1.2 Semantische Aquivalenz und Normalformen

Der Buchstabe w bezeichnet bis zum Ende dieses Kapitels immer eine aussagenlogi-

sche Belegung oder ihre Fortsetzung auf ganz F. Formeln α, β heißen (logisch oder

semantisch) aquivalent, auch wertverlaufsgleich, symbolisch α ≡ β, wenn wα = wβ

fur alle w. So ist z.B. α ≡ ¬¬α. Offenbar gilt α ≡ β genau dann, wenn fur ein

beliebiges n mit α, β ∈ Fn beide Formeln dieselbe n-stellige Boolesche Funktion

reprasentieren. Daher konnen hochstens 22nviele Formeln aus Fn paarweise nicht

aquivalent sein, denn es gibt nicht mehr als 22nviele Funktionen f ∈ Bn.

In der Arithmetik schreibt man oft einfach s = t um auszudrucken, dass die Terme

s, t dieselbe Funktion reprasentieren; z.B. soll (x + y)2 = x2 + 2xy + y2 die Wert-

verlaufsgleichheit des linken und rechten Terms zum Ausdruck bringen. Das kann

man sich erlauben, weil die Termsyntax in der Arithmetik eine untergeordnete Rolle

spielt. In der formalen Logik, wie immer dann, wenn syntaktische Betrachtungen im

Vordergrund stehen, benutzt man das Gleichheitszeichen in α = β nur fur die syn-

taktische Ubereinstimmung der Zeichenfolgen α und β. Die Wertverlaufsgleichheit

musste daher anders bezeichnet werden. Offenbar gelten fur alle α, β, γ

(α∧β)∧γ ≡ α∧β ∧γ, (α ∨ β) ∨ γ ≡ α ∨ β ∨ γ (Assoziativitat);

α∧β ≡ β ∧α, α ∨ β ≡ β ∨ α (Kommutativitat);

α∧α ≡ α, α ∨ α ≡ α (Idempotenz);

α∧ (α∨β) ≡ α, α ∨ α∧β ≡ α (Absorption);

α∧ (β∨γ) ≡ α∧β ∨ α∧γ, α ∨ β ∧γ ≡ (α∨β)∧ (α∨γ) (Distributivitat);

¬(α∧β) ≡ ¬α ∨ ¬β, ¬(α ∨ β) ≡ ¬α∧¬β (DeMorgansche Regeln).

Ferner ist α ∨ ¬α ≡ >, α∧¬α ≡ ⊥ und α∧> ≡ α ∨ ⊥ ≡ α. Es ist nutzlich, auch

gewisse Aquivalenzen fur Formeln aufzulisten, die → enthalten, zum Beispiel

α → β ≡ ¬α ∨ β ≡ ¬α ∨ α∧β; α → β → γ ≡ α∧β → γ ≡ β → α → γ.

Eine Verallgemeinerung ist α1 → . . . → αn ≡ α1 ∧ . . . ∧αn−1 → αn. Ferner sei die

”Linksdistributivitat“ von → bezuglich ∧ und ∨ erwahnt, d.h.

α → β ∧γ ≡ (α → β)∧ (α → γ) ; α → β ∨ γ ≡ (α → β) ∨ (α → γ).

Steht das Symbol → hingegen rechts, so gelten

α∧β → γ ≡ (α → γ) ∨ (β → γ) ; α ∨ β → γ ≡ (α → γ)∧ (β → γ).

Bemerkung 1. Diese beiden letzten Aquivalenzen sind verantwortlich fur ein kuriosesPhanomen in der Alltagssprache. Zum Beispiel haben die beiden Aussagen

A: Studenten und Rentner zahlen die Halfte, B: Studenten oder Rentner zahlen die Halfte

offenbar denselben Sinn. Wie lasst sich dies erklaren? Seien die Sprachpartikel Student,Rentner, die Halfte zahlen durch S, R bzw. H abgekurzt. Dann drucken

10 1 Aussagenlogik

α : (S → H)∧ (R → H), β : (S ∨ R) → H

die Sachverhalte A bzw. B etwas praziser aus. Nun sind α und β aber logisch aquivalent.Die umgangssprachlichen Formulierungen A,B von α bzw. β verschleiern den strukturellenUnterschied von α und β durch einen scheinbar synonymen Gebrauch von und, oder.

Offenbar ist ≡ eine Aquivalenzrelation, d.h. es gelten

α ≡ α (Reflexivitat),

α ≡ β ⇒ β ≡ α (Symmetrie),

α ≡ β, β ≡ γ ⇒ α ≡ γ (Transitivitat).

Daruber hinaus ist ≡ eine Kongruenz 2) auf F, d.h. fur alle α, α′, β, β′ gilt

α ≡ α′, β ≡ β′ ⇒ α ◦ β ≡ α′ ◦ β′,¬α ≡ ¬α′ (◦ ∈ {∧ , ∨ }).

Deshalb gilt das sogenannte Ersetzungstheorem: α ≡ α′ ⇒ ϕ ≡ ϕ′, wobei ϕ′ aus ϕ

dadurch hervorgeht, dass man die in ϕ eventuell vorkommende Subformel α an einer

oder mehreren Stellen ihres Vorkommens durch α′ ersetzt. So ergibt sich etwa aus

ϕ = (¬p ∨ ¬q)∧ (p ∨ q) durch Ersetzen der Subformel ¬p ∨ ¬q durch die aquivalente

Formel ¬(p∧q) die zu ϕ aquivalente Formel ϕ′ = ¬(p∧q)∧ (p ∨ q).

Ein ahnliches Ersetzungstheorem gilt ubrigens auch fur arithmetische Terme und

wird bei Termumformungen standig verwendet. Dies fallt deswegen nicht auf, weil

= statt ≡ geschrieben wird und mit der Ersetzung meist richtig umgegangen wird.

Der sehr einfache Beweis des Ersetzungstheorems wird in 2.4 in einem etwas erwei-

terten Rahmen ausgefuhrt. Ausgerustet mit den Aquivalenzen ¬(α∧β) ≡ ¬α ∨ ¬β,

¬(α ∨ β) ≡ ¬α∧¬β und ¬¬α ≡ α konstruiert man mit dem Ersetzungstheo-

rem zu jeder Formel ϕ leicht eine aquivalente Formel, in der das Negationszeichen

nur noch unmittelbar vor Variablen steht. Zum Beispiel ergibt sich auf diese Weise

¬(p∧q ∨ r) ≡ ¬(p∧q)∧¬r ≡ (¬p ∨ ¬q)∧¬r. Solche Umformungen fuhren auch syn-

taktisch zu den unten betrachteten konjunktiven und disjunktiven Normalformen.

Fur den Lernenden ist immer eine gewisse Uberraschung, dass jede Boolesche Funk-

tion durch eine Boolesche Formel reprasentierbar ist. Es gibt dafur unterschiedliche

Beweise. Wir wollen bei dieser Gelegenheit jedoch gewisse Normalformen kennen-

lernen und beginnen daher mit der folgenden

Definition. Primformeln und deren Verneinungen heißen Literale. Eine Disjunktion

α1 ∨ . . . ∨ αn, wobei jedes αi eine Konjunktion von Literalen ist, heiße eine disjunk-

tive Normalform, kurz eine DNF. Eine Konjunktion β1 ∧ . . . ∧βn, wobei jedes βi eine

Disjunktion von Literalen ist, heiße eine konjunktive Normalform, kurz eine KNF.

2)Dieser ursprunglich aus der Geometrie stammende Begriff ist in jeder algebraischen Struktursinnvoll definiert und gehort zu den wichtigsten mathematischen Begriffen, siehe hierzu 2.1.

1.2 Semantische Aquivalenz und Normalformen 11

Beispiele. p ∨ (q ∧¬p) ist eine DNF. Die Formel p ∨ q ist zugleich eine DNF und

eine KNF, wahrend p ∨ ¬(q ∧¬p) weder eine DNF noch eine KNF darstellt.

Satz 2.1 besagt, dass jede Boolesche Funktion durch eine Boolesche Formel reprasen-

tiert wird, sogar durch eine DNF, und auch durch eine KNF. Dazu genugt z.B. der

recht einfache Nachweis, dass es zu vorgegebenem n mindestens 22nviele paarweise

nichtaquivalente DNFs (bzw. KNFs) gibt. Doch fuhren wir den Beweis konstruk-

tiv. Zu einer durch eine Wertetabelle gegebenen Booleschen Funktion wird eine sie

reprasentierende DNF (bzw. KNF) explizit angegeben.

In der Formulierung von Satz 2.1 verwenden wir vorubergehend folgende Notation.

Fur Variablen p sei p1 = p und p0 = ¬p. Wie man sich induktiv uber n (> 1) leicht

klarmacht, gilt fur alle x1, . . . , xn ∈ {0, 1}

(∗) w(px11 ∧ · · · ∧pxn

n ) = 1 ⇔ w~p = ~x (d.h. wp1 = x1, . . . , wpn = xn).

Satz 2.1. Jede Boolesche Funktion f , sagen wir f ∈ Bn, ist reprasentierbar durch

eine DNF, und zwar durch

α :=∨

f(x1,...,xn)=1

px11 ∧ · · · ∧pxn

n . 3)

f ist zugleich reprasentierbar durch die KNF

β :=∧

f(x1,...,xn)=0

p¬x11 ∨ · · · ∨ p¬xn

n .

Beweis. Unter Beachtung der Definition von α gilt fur eine beliebige Belegung w

wα = 1 ⇔ es gibt ein ~x mit w(px11 ∧ · · · ∧pxn

n ) = 1 und f~x = 1

⇔ es gibt ein ~x mit w~p = ~x und f~x = 1(nach (∗)

)⇔ fw~p = 1.

Aus wα = 1 ⇔ fw~p = 1 folgt wegen der Zweiwertigkeit sofort wα = fw~p. Analog

beweist man die Reprasentierbarkeit von f durch β, oder man benutzt Satz 2.3.

Beispiel. Fur die entweder-oder -Funktion + liefert das Konstruktionsverfahren von

Satz 2.1 die reprasentierende DNF p1 ∧¬p2 ∨ ¬p1 ∧p2. Denn (1, 0), (0, 1) sind die

beiden Tupel, fur die + den Wert 1 hat. Die durch den Satz gelieferte KNF hingegen

lautet (p1 ∨ p2)∧ (¬p1 ∨ ¬p2). Die aquivalente Formel (p1 ∨ p2)∧¬(p1 ∧p2) gibt den

Sinn der exklusiven oder-Verknupfung besonders anschaulich wieder.

3)Die Disjunktionsglieder der Formel α seien z.B. gemaß lexikographischer Anordnung der n-Tupel(x1, . . . , xn) ∈ {0, 1}n angeordnet. Falls die Disjunktion leer ist, also f den Wert 1 nicht annimmt,sei α die Formel ⊥ (= p1 ∧¬p1). Analog sei > (= ¬⊥) die leere Konjunktion. Dies entspricht denKonventionen, wonach die leere Summe hat den Wert 0, das leere Produkt den Wert 1 hat.

12 1 Aussagenlogik

Die durch Satz 2.1 gegebene DNF fur → , namlich p1 ∧p2 ∨ ¬p1 ∧p2 ∨ ¬p1 ∧¬p2, ist

langer als die → ebenfalls reprasentierende DNF ¬p1 ∨ p2. Die erstere ist aber da-

durch ausgezeichnet, dass jede ihrer Disjunktionen jede der beiden vorkommenden

Variablen genau einmal enthalt. Eine DNF in n Variablen mit der analogen Ei-

genschaft heißt kanonisch. Satz 2.1 liefert die Reprasentierbarkeit durch kanonische

Normalformen, wobei der Begriff der kanonischen KNF entsprechend erklart sei. So

wird z.B. ↔ durch die kanonische KNF (¬p1∨p2)∧ (p1∨¬p2) reprasentiert.

Eine logische Signatur (eigentlich das ihr entsprechende System Boolescher Funk-

tionen) heißt funktional vollstandig, genauer term-funktional vollstandig, wenn jede

Boolesche Funktion durch eine Formel dieser Signatur reprasentierbar ist. Nach

Satz 2.1 ist {¬, ∧ , ∨ } funktional vollstandig. Wegen p1 ∨ p2 ≡ ¬(¬p1 ∧¬p2) und

p1 ∧p2 ≡ ¬(¬p1 ∨ ¬p2) kann auf ∨ oder aber auf ∧ auch noch verzichtet werden.

Man erhalt damit das

Korollar 2.2. {¬, ∧} und {¬, ∨} sind funktional vollstandig.

Um eine logische Signatur L als funktional vollstandig nachzuweisen, genugt es da-

her, ¬, ∧ oder ¬, ∨ durch Formeln in L zu reprasentieren. Weil z.B. ¬p ≡ p → 0

und p∧q ≡ ¬(p →¬q), ist { → , 0} funktional vollstandig, ebenso wie z.B. { → ,¬}.Dagegen ist z.B. { → , ∧ , ∨ } und erst recht { → } funktional unvollstandig. Denn

induktiv uber den Aufbau von Formeln α in → , ∧ , ∨ folgt leicht wα = 1 fur jedes

w mit wp = 1 fur alle p. Daher gibt es kein derartiges α mit α ≡ ¬p.

Bemerkenswerterweise ist die lediglich ↓ enthaltende Signatur bereits funktional

vollstandig. Denn ¬p ≡ p ↓p, sowie p∧q ≡ ¬p ↓¬q nach der Wertetafel fur ↓ . Analoges

gilt auch fur { ↑}, denn ¬p ≡ p ↑p und p ∨ q ≡ ¬p ↑¬q. Dass mit { ↓} auch { ↑}funktional vollstandig ist, entnimmt man auch dem Dualitatssatz unten.

Es gibt bis auf Termaquivalenz immer noch unendlich viele Signaturen. Dabei hei-

ßen Signaturen termaquivalent , wenn deren Formeln jeweils die gleichen Booleschen

Funktionen reprasentieren wie z.B. die in Ubung 2 genannten Signaturen.

Wir erklaren eine Abbildung δ : F → F rekursiv uber die Formeln von F durch

pδ = p, (¬α)δ = ¬αδ, (α∧β)δ = αδ ∨ βδ, (a ∨ β)δ = αδ ∧βδ.

αδ heißt die zu α duale Formel. Sie entsteht aus α dadurch, dass ∧ und ∨ miteinan-

der vertauscht werden. Fur eine DNF α ist αδ offenbar eine KNF und umgekehrt. Die

zu f ∈ Bn duale Funktion sei definiert durch f δ(x1, . . . , xn) = ¬f(¬x1, . . . ,¬xn).

Offenbar gilt (f δ)δ = f . So ist ∧ δ = ∨ , ∨ δ = ∧ , ↔δ= +, ↓ δ = ↑ , aber ¬δ = ¬. Mit

anderen Worten, ¬ ist selbstdual. Auch d3 : (x1, x2, x3) 7→ x1 ∧x2 ∨ x1 ∧x3 ∨ x2 ∧x3 ist

ein oft zitiertes Beispiel. Wesentlich 2-stellige selbstduale Funktionen gibt es nicht,

wie ein Blick auf die Wertetafeln zeigt. Die Dualisierungsbegriffe verbindet

1.2 Semantische Aquivalenz und Normalformen 13

Satz 2.3 (Dualitatssatz der 2-wertigen Logik). Reprasentiert α die Funktion

f , so reprasentiert die duale Formel αδ die duale Funktion f δ.

Der recht einfache Beweis des Satzes, der sich kurz durch (α(n))δ = (αδ)(n) wieder-

geben lasst, sei hier ubergangen. Statt dessen seien einige Anwendungen vorgestellt.

↔ wird z.B. durch p∧q ∨ ¬p∧¬q reprasentiert, die duale Funktion + = ↔δ also

durch die duale Formel (p ∨ q) ∧ (¬p ∨ ¬q). Die erste ist eine DNF, die letzte eine

KNF. Allgemeiner: wird f ∈ Bn durch eine DNF α reprasentiert, so f δ nach Satz 2.3

durch eine KNF, namlich αδ, und diese ist kanonisch falls α kanonisch ist wie im

vorliegenden Beispiel. Falls wir nur wissen, dass jedes f ∈ Bn durch eine DNF

reprasentierbar ist, so notwendigerweise auch durch eine KNF; denn die Abbildung

f 7→ f δ ist wegen δ2 = idBn eine Bijektion von Bn auf sich.

Bemerkung 2. {∧ , ∨, 0, 1} ist maximal funktional unvollstandig, d.h. ist eine BoolescheFunktion f nicht durch eine Formel in ∧ , ∨, 0, 1 reprasentierbar, so ist {∧ , ∨, 0, 1, f} be-reits funktional vollstandig, Ubung 4. Es gibt bis auf Termaquivalenz nur funf maximalunvollstandige Signaturen wie E. Post 1920 bewies, außer der angegebenen nur {→, ∧}und deren duale, sowie {↔,¬} und {d3,¬}. Die Formeln der letztgenannten Signaturreprasentieren genau alle selbstdualen Booleschen Funktionen. Schreibt man voruberge-hend · statt ∧ , so ist wegen ¬p ≡ 1 + p auch {0, 1,+, ·} funktional vollstandig. Das hateinen tieferen Grund: es ist dies zugleich die Signatur der Korper (siehe hierzu 2.1) und injedem endlichen Korper sind alle Funktionen seines Tragers als Polynome darstellbar. Furendliche Gruppen ist dies in der Regel falsch. Ferner gibt es fur jede endliche Menge Eeine verallgemeinerte 2-stellige Sheffer-Funktion, durch welche man jede Operation uber Ein einem analogen Sinne wie im 2-wertigen Falle erhalt. Die Beweise dieser Behauptungenhaben mehr mit Algebra als mit Logik zu tun. Wir verweisen daher z.B. auf [Ih].

Ubungen

1. Man verifiziere die Aquivalenzen (p → q1)∧ (¬p → q2) ≡ p∧q1 ∨ ¬p∧q2 und

p1 ∧q1 → p2 ∨ q2 ≡ (p1 → p2) ∨ (q1 → q2).

2. Man zeige, die Signaturen {+, 1}, {+,¬} und {↔,¬} sind termaquivalent.

Deren Formeln reprasentieren genau die linearen Booleschen Funktionen.

3. Man beweise, die Formeln in {∧ , ∨, 0, 1} reprasentieren genau die monotonen

Booleschen Funktionen, d.h. die Konstanten aus B0 und die f ∈ Bn mit

f(. . . , xi−1, 0, xi+1, . . . ) 6 f(. . . , xi−1, 1, xi+1, . . . ) (i = 1, . . . , n)

fur alle x1, . . . , xn ∈ {0, 1}.

4. Man zeige, die Signatur {∧ , ∨, 0, 1} ist maximal funktional unvollstandig.

14 1 Aussagenlogik

1.3 Tautologien und aussagenlogisches Folgern

Statt wα = 1 schreibt man auch w � α und sagt w erfullt α. Wir werden dieser

Schreibweise in der Regel den Vorzug geben. Ferner schreibt man w � X, wenn

w � α fur alle α ∈ X, und nennt dann w ein Modell fur die Formelmenge X. Falls es

ein w mit w � α bzw. mit w � X gibt, heißen α bzw. X auch erfullbar. Die Relation

�, auch die Erfullungsrelation genannt, hat offenbar die folgenden Eigenschaften:

w � p ⇔ wp = 1 (p ∈ AV); w � ¬α ⇔ w 2 α;

w � α∧β ⇔ w � α und w � β; w � α ∨ β ⇔ w � α oder w � β.

Im Hinblick auf die Erweiterungen der Erfullungsbedingungen in 2.3 ist wichtig, dass

die Erfullungsrelation w � α fur vorgegebenes w : AV→ {0, 1} auch direkt definiert

werden kann, und zwar rekursiv uber α, entsprechend den soeben niedergeschrie-

benen Klauseln. w ist offenbar eindeutig durch eine Vorgabe daruber festgelegt, fur

welche Variablen w � p gelten soll. Auch ist die Notation w � α fur α ∈ Fn bereits

dann sinnvoll, wenn w nur fur p1, . . . , pn erklart wurde. Ein solches w kann man sich,

wenn gewunscht, zu einer globalen Belegung fortgesetzt denken, indem man wp fur

die in α nicht vorkommenden Variablen z.B. identisch 0 setzt.

Falls die Formeln auch andere Junktoren enthalten, sind fur diese die Erfullungsbe-

dingungen sinngemaß zu formulieren. Zum Beispiel erwarten wir

w � α → β ⇔ wenn w � α, so w � β.

Ist → ein eigenstandiger Junktor, wird dies gefordert. Wir haben → hingegen durch

andere Junktoren so definiert, dass diese Erfullungsklausel beweisbar ist.

Definition. α heißt allgemeingultig oder logisch gultig, auch eine 2-wertige Tauto-

logie genannt, wenn w � α (gleichwertig wα = 1) fur alle w. Wir schreiben dann

� α. Eine nicht erfullbare Formel heißt auch eine Kontradiktion.

Beispiele. Alle Formeln der Gestalt α ∨ ¬α sind Tautologien. ⊥, α∧¬α und α↔¬α

sind hingegen Kontradiktionen. So wird die Russellsche Antinomie auf Seite 58 so

gewonnen, dass fur die”Russellsche Menge“ u die Kontradiktion u ∈ u ↔ u /∈ u

gefolgert wird. In der aussagenlogischen Literatur oft zitiert werden die Tautologien

p → p (Selbstimplikation),

p → q → p (Pramissenbelastung),

(p → q → r) → (q → p → r) (Pramissenvertauschung),

(p → q) → (q → r) → (p → r) (gewohnlicher Kettenschluß),

(p → q → r) → (p → q) → (p → r) (Fregescher Kettenschluß),

((p → q) → p) → p (Formel von Peirce).

1.3 Tautologien und aussagenlogisches Folgern 15

Es ist offenbar entscheidbar, ob eine Formel α eine Tautologie ist oder nicht, in-

dem man z.B. alle Belegungen der Variablen von α durchprobiert. Leider gibt es

bis heute keine wesentlich effizienteren Verfahren. Diese gibt es nur fur Formeln in

gewisser Gestalt, siehe hierzu 4.2. Auch das Prufen einer Aquivalenz kann auf das

Tautologieproblem reduziert werden. Denn offenbar gilt α ≡ β ⇔ � α↔ β.

Definition. Aus X folgt α im aussagenlogischen Sinne, symbolisch X � α, wenn

w � α fur jedes Modell w von X.

Wir benutzen hier � zugleich als Zeichen fur das Folgern als einer Relation zwischen

Formelmengen X und Formeln α. Der Kontext wird stets klar erkennen lassen, was

gemeint ist. Offensichtlich ist α allgemeingultig genau dann, wenn ∅ � α, so dass die

Notation � α auch als verkurzte Schreibweise fur ∅ � α verstanden werden kann.

X � α, β meine in diesem Buch stets X � α und X � β, sowie X � Y stets

X � β fur alle β ∈ Y . Ferner schreiben wir meistens α1, . . . , αn � β anstelle von

{α1, . . . , αn} � β, und ebenso X, α � β anstelle von X ∪ {α} � β.

Bevor wir Beispiele angeben, notieren wir die offensichtlichen Eigenschaften

(R) α ∈ X ⇒ X � α (Reflexivitat),

(M) X � α & X ⊆ X ′ ⇒ X ′ � α (Monotonie),

(T) X � Y & Y � α ⇒ X � α (Transitivitat).

Beispiele fur Folgerungsbeziehungen. (a) α, β � α∧β und α∧β � α, β. Dies ist

klar gemaß Wertematrix fur ∧ . Angesichts der Transitivitat (T) lasst (a) sich auch

in der Weise X � α, β ⇔ X � α∧β formulieren. (b) α, α → β � β. Denn 1 → x = 1

impliziert x = 1 nach der Wertetabelle fur → . (c) X � ⊥ ⇒ X � α fur alle α. Denn

X � ⊥ (= p1 ∧¬p1) kann nur dann gelten wenn X unerfullbar ist, d.h. kein Modell

hat, wie etwa X = {p,¬p}. Das hat offenbar X � α fur beliebiges α zur Folge.

(d) X, α � β und X,¬α � β impliziert X � β. Denn sei w � X. Falls w � α, ergibt

X, α � β auch w � β; falls aber w � ¬α, folgt w � β aus X,¬α � β.

Eigenschaft (b) wird auch der Modus Ponens genannt, wenn man (b) als Regel

formuliert. Siehe hierzu auch 1.6. Durch (d) wird das haufig verwendete Beweis-

verfahren durch Fallunterscheidung wiedergegeben. Um eine Aussage β aus einer

Pramissenmenge X zu erschließen, genugt es, diese unter einer Zusatzannahme α

und ebenso auch unter der Annahme ¬α herzuleiten.

Fur viele Zwecke nutzlich ist die Abgeschlossenheit des Folgerns unter Substitutio-

nen. Sie verallgemeinert die Beobachtung, dass z.B. aus p ∨ ¬p alle Tautologien der

Gestalt α ∨ ¬α durch Substitution von α fur p entstehen.

16 1 Aussagenlogik

Definition. Eine (aussagenlogische) Substitution ist eine Abbildung σ : AV → F, die

sich wie folgt in naturlicher Weise zu einer Abbildung σ : F → F erweitern lasst:

(α∧β)σ = ασ ∧βσ, (α ∨ β)σ = ασ ∨ βσ, (¬α)σ = ¬ασ.

Genau wie Belegungen lassen sich daher auch Substitutionen als auf ganz F erklarte

Abbildungen auffassen, die durch ihre Einschrankungen auf AV eindeutig bestimmt

sind. Ist z.B. pσ = α fur ein p und qσ = q sonst, so entsteht ϕσ aus ϕ durch Ersetzung

von p durch α an allen Stellen des Vorkommens von p in ϕ. Dass mit ϕ auch ϕσ eine

Tautologie ist, ist der Sonderfall X = ∅ der allgemeinen Substitutionsinvarianz

(S) X � α ⇒ Xσ � ασ (Xσ := {ϕσ | ϕ ∈ X}).

Beweis. Sei w eine Belegung und sei wσ erklart durch wσp = wpσ. Wir zeigen

(∗) w � ασ ⇔ wσ � α

induktiv uber α. Fur Primformeln ist dies klar und die Induktionsannahme ergibt

w � (α∧β)σ ⇔ w � ασ ∧βσ ⇔ w � ασ, βσ ⇔ wσ � α, β ⇔ wσ � α∧β.

Das Analoge beweist man fur ∨ und ¬. Damit gilt (∗). Zum Nachweis von (S) sei

X � α, sowie w � Xσ. Wegen (∗) ist wσ � X. Also wσ � α, und damit w � ασ.

Die Folgerungsrelation hat eine weitere, insbesondere auch fur mathematische An-

wendungen bedeutsame Eigenschaft, die im nachsten Abschnitt bewiesen wird:

(F) X � α ⇒ X0 � α fur eine endliche Teilmenge X0 ⊆ X.

Eine weitere wichtige und leicht beweisbare Folgerungseigenschaft ist ferner

(D) X, α � β ⇒ X � α → β.

Denn sei X, α � β und w Modell fur X. Wenn w � α, ist wegen X,α � β auch

w � β. Damit ist X � α → β schon gezeigt. (D) heißt auch das (semantische) Deduk-

tionstheorem. Auch die Umkehrung von (D) ist richtig, wie man leicht sieht, d.h.

man darf ⇒ in (D) durch ⇔ ersetzen. Wiederholte Anwendung hiervon liefert

α1, . . . , αn � β ⇔ � α1 → α2 → . . . → αn → β ⇔ � α1 ∧α2 ∧ . . . ∧αn → β.

Damit wird das Folgern von β aus einer endlichen Pramissenmenge ganzlich auf die

Allgemeingultigkeit einer geeigneten Formel zuruckgefuhrt.

Mit (D) lassen sich bequem Tautologien gewinnen. Um etwa � p → q → p zu beweisen,

genugt nach (D) der Nachweis von p � q → p; dazu genugt, wiederum nach (D), der

Nachweis von p, q � p, und dies ist trivial. Durch einfache Anwendung von (D) erhalt

man leicht auch die beiden in Ubung 1 genannten Kettenschlußformeln.

X ⊆ F heißt X deduktiv abgeschlossen, wenn X � α⇒ α ∈ X fur alle α ∈ F. Wegen

(R) kann diese Bedingung gleichwertig durch X � α ⇔ α ∈ X ersetzt werden.

1.3 Tautologien und aussagenlogisches Folgern 17

Beispiele sind die Menge aller Tautologien und ganz F. Der Durchschnitt deduktiv

abgeschlossener Mengen ist wieder deduktiv abgeschlossen. Daher ist jedes X ⊆ F

Teilmenge einer kleinsten deduktiv abgeschlossenen Obermenge von X.

Bemerkung. Die Eigenschaften (R), (M), (T) und (S) teilt � mit fast allen nichtklassi-schen (mehrwertigen oder sonstigen) logischen Systemen. Eine Relation ` zwischen For-melmengen und Formeln einer vorgegebenen aussagenlogischen Sprache F mit den fur `sinngemaß formulierten Eigenschaften (R), (M), (T) und (S) heiße eine (aussagenlogische)Konsequenzrelation. Diese sind das Ausgangsmaterial fur eine von Tarski begrundete, sehrallgemeine und tragfahige Theorie logischer Systeme, der sich fast alle in der Literatur be-trachteten logischen Systeme unterordnen. Alle in diesem Buch vorgestellten Logik-Kalkulehaben z.B. diese Eigenschaften. Begriffe wie Tautologie, konsistent, deduktiv abgeschlos-sen usw. beziehen sich auf eine gegebene Konsequenzrelation `. Eine Formelmenge Xheißt z.B. inkonsistent , wenn X ` α fur alle α, und anderenfalls konsistent. ` selbst heißtinkonsistent, wenn ` α fur alle α. Erfullt ` die oben fur � formulierte, noch nicht be-wiesene und im allgemeinen Falle auch nicht vorausgesetzte Eigenschaft (F), so heißt `finitar. (F) gilt fur das Folgern uber einer beliebigen endlichen logischen Matrix. Dies wirdin Ubung 3 in 5.7 als Beispiel einer Anwendung des Ultraproduktsatzes bewiesen undzugleich wesentlich verallgemeinert.

Ubungen

1. Man beweise mit Hilfe des Deduktionstheorems

� (p → q → r) → (p → q) → (p → r) und � (p → q) → (q → r) → (p → r).

2. Man bestatige die Korrektheit der Regel der disjunktiven Fallunterscheidung :

Wenn X, α � γ und X, β � γ, so X, α ∨ β � γ. In suggestiver Schreibweise

X,α � γ X, β � γ

X, α ∨ β � γ.

3. Man verifiziere die Korrektheit der folgenden Kontrapositionsregeln:

X, α � β

X,¬β � ¬α;

X,¬β � ¬α

X, α � β.

4. Sei ` eine beliebige Konsequenzrelation in F und X` := {α ∈ F | X ` α}.Man zeige, X` ist die kleinste deduktiv abgeschlossene Obermenge von X.

5. Sei ` eine Konsequenzrelation in F und fur beliebiges X ⊆ F erklare man

X `0 α :⇔ X0 ` α fur ein endliches X0 ⊆ X. Man zeige, `0 ist eine finitare

Konsequenzrelation und `0 ⊆ `.

18 1 Aussagenlogik

1.4 Ein vollstandiger aussagenlogischer Kalkul

Wir werden nun vermittels eines Regelkalkuls eine Ableitungsrelation ` definieren,

die sich als identisch mit der Folgerungsrelation � erweist. Dieser Kalkul ist vom Ty-

pus der sogenannten Gentzen-Kalkule. Seine Regeln beziehen sich auf Paare (X, α)

von Formelmengen X und Formeln α, wobei X – anders als in [Ge] – hier nicht

endlich sein muss, da die von uns verfolgten Ziele dies nicht erfordern. In Anlehnung

an [Ge] heißen die Paare (X, α) auch Sequenzen. Trifft ` auf die Sequenz (X, α) zu,

schreibt man X ` α (sprich X ableitbar α) und andernfalls X 0 α.

Der Kalkul wird fur ∧ und ¬ formuliert und umfasst die umrahmten Basisregeln

unten. Jede dieser Regel hat oberhalb des Trennstrichs gewisse Pramissen und dar-

unter eine Konklusion. Nur (AR) hat keine Pramissen und erlaubt die Herleitung

der Sequenzen α ` α, den Anfangssequenzen. Die Wahl der Signatur {∧ ,¬} ist eine

Sache der Bequemlichkeit und gerechtfertigt durch ihre funktionale Vollstandigkeit.

Weitere Junktoren werden fortan gemaß den Definitionen

α ∨ β := ¬(¬α∧¬β), α → β := ¬(α∧¬β), α↔ β := (α → β)∧ (β → α).

verwendet. Man kann auch eine andere funktional vollstandige Signatur wahlen,

muss aber in Kauf nehmen, dass die Formulierung eines Logik-Kalkuls langer wird,

weil dieser wesentlich von der gewahlten Signatur abhangt. So muss ein vollstandiger

Kalkul etwa in {¬, ∧ , ∨, → } auch auf ∨ und → bezogene Basisregeln enthalten.

(AR)α ` α

(Anfangsregel) (MR)X ` α

X ′ ` α(X ′ ⊇ X, Monotonieregel)

(∧1)X ` α, β

X ` α∧β(∧2)

X ` α∧β

X ` α, β

(¬1)X ` α,¬α

X ` β(¬2)

X, α ` β X,¬α ` β

X ` β

Dabei meint X ` α, β hier und im Folgenden immer X ` α und X ` β. Diese Verab-

redung ist wichtig, denn X ` α, β hat einen anderen Sinn in Gentzen-Kalkulen, die

sich auf Paare von Formelmengen beziehen und die fur beweistheoretische Untersu-

chungen wichtig sind. Die Regeln (∧1) und (¬1) haben eigentlich zwei Pramissen,

genau wie (¬2). Nur lasst (¬2) sich nicht in derselben Weise abgekurzt notieren. Man

beachte ferner, dass (∧2) eigentlich aus zwei Teilregeln besteht, entsprechend den

Konklusionen X ` α und X ` β. In (¬2) steht X, α fur X ∪{α}. Diese verkurzende

Schreibweise wird immer dann verwendet, wenn Missverstandnisse ausgeschlossen

sind. Auch wird α1, . . . , αn ` β fur {α1, . . . , αn} ` β geschrieben, und ` α fur ∅ ` α,

1.4 Ein vollstandiger aussagenlogischer Kalkul 19

analog wie fur �. Die Regel (MR) wird beweisbar, wenn alle Sequenzen (X, α) mit

α ∈ X als Anfangssequenzen angesehen werden. Mit anderen Worten, wenn (AR)

verscharft wird zu X ` α fur beliebige α ∈ X.

X ` α bedeutet genauer, dass die Sequenz (X, α) durch schrittweises Anwenden der

Basisregeln gewonnen werden kann. Die Redeweise vom schrittweisen Anwenden

der Basisregeln kann streng formal wie folgt prazisiert werden. Eine Herleitung sei

eine endliche Folge (S0; . . . ; Sn) von Sequenzen Si derart, dass jedes Folgenglied eine

Anfangssequenz ist oder aus vorangehenden Folgengliedern durch Anwendung einer

der Basisregeln gewonnen wurde. Aus X ist α ableitbar oder beweisbar, X ` α, wenn

es eine Herleitung (S0; . . . ; Sn) gibt mit Sn = (X,α). Dies ist eine der moglichen

Definitionen der Relation `. Einfaches Beispiel einer Herleitung mit der Endsequenz

α, β ` α∧β ist (α ` α ; α, β ` α ; β ` β ; α, β ` β ; α, β ` α∧β).

Interessanter noch ist das Ableiten von Regeln. Wir erlautern dies anhand nachfol-

gender Beispiele. Das zweite, eine Verallgemeinerung des ersten, gibt das oft ver-

wendete Beweisverfahren der reductio ad absurdum wieder: α wird aus X bewiesen,

indem die Annahme ¬α zum Widerspruch gefuhrt wird. Die weiteren Beispiele be-

ziehen sich auf den definierten Junktor → . Weil dieser durch ∧ ,¬ wie angegeben

definiert wurde, lautet beispielsweise die unten erwahnte → -Elimination in der Ori-

ginalspracheX ` ¬(α∧¬β)

X,α ` β.

Beispiele beweisbarer RegelnX,¬α ` α

X ` αBeweis angewendet

(¬-Elimination) 1 X, α ` α (AR), (MR)

2 X,¬α ` α Annahme

3 X ` α (¬2)

X,¬α ` β,¬β

X ` α(reductio ad absurdum) 1 X,¬α ` β,¬β Annahme

2 X,¬α ` α (¬1)

3 X ` α ¬-Elimination

X ` α → β

X, α ` β( → -Elimination) 1 X, α,¬β ` α,¬β (AR), (MR)

2 X, α,¬β ` α∧¬β (∧1)

3 X ` ¬(α∧¬β) (= α → β) Annahme

4 X, α,¬β ` ¬(α∧¬β) (MR)

5 X, α,¬β ` β (¬1) auf 2 und 4

6 X, α ` β ¬-Elimination

20 1 Aussagenlogik

X ` α X, α ` β

X ` βBeweis angewendet

(Schnittregel) 1 X,¬α ` α Annahme, (MR)

2 X,¬α ` ¬α (AR), (MR)

3 X,¬α ` β (¬1)

4 X, α ` β Annahme

5 X ` β (¬2) auf 4 und 3

X, α ` β

X ` α → β( → -Einfuhrung) 1 X, α∧¬β, α ` β Annahme, (MR)

2 X, α∧¬β ` α (AR), (MR), (∧2)

3 X, α∧¬β ` β Schnittregel

4 X, α∧¬β ` ¬β (AR), (MR), (∧2)

5 X, α∧¬β ` α → β (¬1)

6 X,¬(α∧¬β) ` α → β (AR), (MR)

7 X ` α → β (¬2) auf 5 und 6

Die → -Einfuhrung ist nichts anderes als die syntaktische Form des in 1.3 semantisch

formulierten Deduktionstheorems. Eine einfache Folge der → -Elimination und der

Schnittregel ist die Abtrennungsregel

X ` α, α → β

X ` β.

Denn X ` α → β liefert X,α ` β ( → -Elimination). Mit X ` α folgt daher X ` β

(Schnittregel). Angewendet mit X = {α, α → β} erhalt man so α, α → β ` β. Diese

Schar von Sequenzen heißt auch der Modus Ponens. Mehr hieruber in 1.6.

Viele Eigenschaften von ` beweist man durch Regelinduktion. Zwecks bequemer

Formulierung erklaren wir zuerst einige Redeweisen. Eine Eigenschaft E von Se-

quenzen identifizieren wir mit der Menge aller Paare (X, α), auf die E zutrifft. In

diesem Sinne ist z.B. die Folgerungsrelation � auch eine Eigenschaft, bestehend aus

allen Paaren (X, α) mit X � α. Die hier betrachteten Regeln haben die Gestalt

R :X1 ` α1 · · · Xn ` αn

X ` α

und seien als Gentzen-Stil-Regeln bezeichnet. Wir sagen, E sei abgeschlossen unter

R, wenn E(X1, α1), . . . , E(Xn, αn) ⇒ E(X, α). Fur eine Regel ohne Pramissen, also

fur n = 0, heißt dies einfach nur E(X, α). So sind z.B. alle Regeln unseres Kalkuls

(semantisch) korrekt, was heißen soll, die Folgerungseigenschaft ‘X � α’ ist unter

allen Basisregeln abgeschlossen. Im Einzelnen bedeutet dies

α � α, X � α ⇒ X ′ � α fur X ′ ⊇ X, X � α, β ⇒ X � α∧β, usw.

1.4 Ein vollstandiger aussagenlogischer Kalkul 21

Damit formulieren wir das sehr einfach zu rechtfertigende

Beweisprinzip durch Regelinduktion. Ist eine Eigenschaft E (⊆ PF×F) abge-

schlossen unter allen Basisregeln von `, so gilt E(X,α) immer wenn X ` α.

Dies ergibt sich leicht durch Induktion uber die Lange einer Herleitung der Sequenz

S = (X, α). Ist 1 diese Lange, ist alles klar, weil S dann Anfangssequenz ist. Nun

sei (S0; . . . ; Sn) eine Herleitung von S = Sn, und nach Induktionsannahme sei ESi

fur alle i < n. Ist S Anfangssequenz, so gilt ES gemaß Voraussetzung; andernfalls

wurde S durch Anwendung einer Basisregel auf gewisse der Si fur i < n gewonnen.

Damit gilt aber auch ES, denn E ist unter allen Basisregeln abgeschlossen.

Es gibt mehrere gleichwertige Definitionen von `, darunter rein mengentheoretische.

Die Gleichwertigkeitsbeweise solcher Definitionen sind ziemlich wortreich, aber nicht

besonders inhaltsreich. Daher verzichten wir auf weitere Ausfuhrungen hieruber,

zumal im weiteren Verlauf der Ausfuhrungen nur noch die Regelinduktion verwendet

wird, nicht mehr die Definition von `.

Wie bereits erwahnt, sind alle Basisregeln korrekt, d.h. die Folgerungseigenschaft

ist unter allen Basisregeln abgeschlossen. Daher ergibt Regelinduktion sofort die

Korrektheit des Kalkuls ` ⊆ �, oder ausfuhrlich

X ` α ⇒ X � α, fur alle X, α.

Mit Regelinduktion beweist man z.B. auch X ` α⇒ Xσ ` ασ, und speziell den

Satz 4.1 (Endlichkeitssatz fur `). Ist X ` α, so ist bereits X0 ` α fur eine

endliche Teilmenge X0 ⊆ X.

Beweis. Sei E(X,α) die Eigenschaft ‘X0 ` α fur ein gewisses endliches X0 ⊆ X’.

Sicher gilt E(X, α) fur X = {α}, mit X0 = X. Und hat X eine endliche Teilmenge X0

mit X0 ` α, so auch jede Obermenge X ′ ⊇ X. Also ist E unter (MR) abgeschlossen.

Sei E(X, α), E(X, β), etwa X1 ` α, X2 ` β fur endliche X1, X2 ⊆ X. Dann ist auch

X0 ` α, β fur X0 = X1 ∪X2. Daher ist X0 ` α∧β nach (∧1). Also gilt E(X, α∧β),

womit E auch unter (∧1) abgeschlossen ist. Analog zeigt man dies fur alle ubrigen

Basisregeln fur `. Also ergibt sich die Behauptung gemaß Regelinduktion.

Von großer Bedeutung ist der formale Konsistenzbegriff, der die Ableitungsrelation

nach dem folgenden Lemma bereits vollkommen bestimmt. Es wird sich herausstel-

len, dass ‘konsistent’ den Begriff ‘erfullbar’ adaquat beschreibt.

Definition. X ⊆ F heiße inkonsistent (bezuglich unseres Kalkuls), wenn X ` α

fur alle Formeln α, und andernfalls konsistent. X heißt maximal konsistent, wenn X

konsistent ist, doch jede echte Obermenge X ′ ⊃ X inkonsistent ist.

22 1 Aussagenlogik

Die Inkonsistenz von X lasst sich durch die Ableitbarkeit einer einzigen Formel kenn-

zeichnen, namlich von ⊥ (= p1 ∧¬p1). Denn X ` ⊥ impliziert X ` p1,¬p1 nach (∧1)

und damit X ` α fur alle α gemaß (¬1), d.h. X ist inkonsistent. Ist dies umgekehrt

der Fall, gilt speziell X ` ⊥. Wir durfen X ` ⊥ daher lesen als ‘X ist inkonsistent’,

und X 0 ⊥ als ‘X ist konsistent’, wovon nachfolgendend oft Gebrauch gemacht

wird. Eine maximal konsistente Menge X ist immer deduktiv abgeschlosssen, d.h.

X ` α⇒ α ∈ X (Ubung 3) und hat manche anderen Besonderheiten.

Lemma 4.2. ` hat die Eigenschaften

C+ : X ` α ⇔ X,¬α ` ⊥, C− : X ` ¬α ⇔ X, α ` ⊥.

Beweis. Mit X ` α gilt auch X,¬α ` α. Da gewiss X,¬α ` ¬α, ist X,¬α ` β fur

alle β nach (¬1), insbesondere X,¬α ` ⊥. Sei umgekehrt Letzteres der Fall. Dann

ist nach der Anmerkung oben X,¬α ` α, also X ` α gemaß ¬-Elimination in den

Beispielen vorhin. C− bestatigt man vollig analog.

Die noch nicht bewiesene Behauptung � ⊆ ` ist aquivalent mit X 0 α ⇒ X 2 α,

fur alle X und α, aber in dieser Formulierung erkennt man sofort, was fur den

Beweis zu tun ist: Da X 0 α nach C+ mit der Konsistenz von X ′ := X ∪ {¬α}gleichwertig ist, sowie X 2 α mit der Erfullbarkeit von X ′, mussen wir nur zeigen,

dass konsistente Mengen erfullbar sind. Dieser Nachweis stutzt sich auf

Lemma 4.3 (Satz von Lindenbaum). Jede konsistente Menge X kann erweitert

werden zu einer maximal konsistenten Menge X ′ ⊇ X.

Beweis. Sei H die bzgl. Inklusion halbgeordnete Menge aller konsistenten Y ⊇ X.

Weil X ∈ H, ist H nichtleer. Sei K ⊆ H eine Kette, d.h. Y ⊆ Z oder Z ⊆ Y fur

alle Y, Z ∈ K. Dann ist U =⋃

K eine obere Schranke fur K; denn fur Y ∈ K ist

sicher Y ⊆ U , und daruber hinaus – und dies ist der springende Punkt – ist U auch

konsistent: U ` ⊥ ergibt namlich U0 ` ⊥ fur ein endliches U0 = {α0, . . . , αn} ⊆ U

nach Satz 4.1; ist etwa αi ∈ Yi ∈ K und Y die großte der Mengen Y0, . . . , Yn, so ist

αi ∈ Y fur alle i 6 n, also auch Y ` ⊥ nach (MR), was Y ∈ H widerspricht. Nach

dem Zornschen Lemma (Seite 37) hat H daher ein maximales Element X ′, und dies

ist offenbar eine maximal konsistente Erweiterungsmenge von X.

Bemerkung 1. Obiger Beweis, der den Dingen ausnahmsweise etwas vorgreift, ist frei vonAnnahmen uber die Machtigkeit der Sprache. Lindenbaums ursprungliche Konstruktionbezog sich hingegen auf abzahlbare Sprachen F und verlauft wie folgt: Sei X0 := X ⊆ F

konsistent und α0, α1, . . . eine Aufzahlung von F. Man setze Xn+1 = Xn ∪ {αn}, fallsdiese Menge konsistent ist, und Xn+1 = Xn sonst. Dann ist Y =

⋃n∈ω Xn eine maxi-

mal konsistente Erweiterung von X, wie leicht zu verifizieren ist. Hier wird das mit demAuswahlaxiom gleichwertige Lemma von Zorn nicht benotigt.

1.4 Ein vollstandiger aussagenlogischer Kalkul 23

Lemma 4.4. Eine maximal konsistente Menge X hat die Eigenschaft

X ` ¬α ⇔ X 0 α, fur beliebiges α.

Beweis. Ist X ` ¬α, so kann X ` α wegen der Konsistenz von X nicht gelten. Ist

andererseits X 0 α, so ist X,¬α nach C+ konsistent. Folglich ¬α ∈ X, denn X ist

maximal konsistent. Also auch X ` ¬α.

Maximal konsistente Mengen erlauben eine einfache Modellkonstruktion. Dies zeigt

Lemma 4.5. Eine maximal konsistente Menge X ist erfullbar.

Beweis. Sei w definiert durch w � p ⇔ X ` p. Dann gilt fur alle α

(∗) X ` α ⇔ w � α.

Dies ist klar fur Primformeln α gemaß Definition von w. Ferner ist

X ` α∧β ⇔ X ` α, β (Regeln (∧1), (∧2) )

⇔ w � α, β (Induktionsannahme)

⇔ w � α∧β (Definition)

X ` ¬α ⇔ X 0 α (Lemma 4.4)

⇔ w 2 α (Induktionsannahme)

⇔ w � ¬α (Definition).

Das beweist (∗) und damit w � X, also die Behauptung.

Damit wurde die Gleichwertigkeit der Konsistenz und der Erfullbarkeit einer Formel-

menge gezeigt und wir erhalten nunmehr leicht das Hauptresultat des Abschnitts:

Satz 4.6 (Vollstandigkeitssatz). Fur alle X, α gilt X ` α ⇔ X � α.

Beweis. X ` α ⇒ X � α ist die Korrektheit des Kalkuls. Ist andererseits X 0 α,

so ist X,¬α konsistent. Sei Y maximal konsistente Erweiterung von X,¬α gemaß

Lemma 4.3. Nach Lemma 4.5 ist Y erfullbar, also auch X,¬α. Daher X 2 α.

Einen kurzeren, dafur aber die Substitutionen wesentlich benutzenden, eleganten

Vollstandigkeitsbeweis gibt Ubung 5. Satz 4.6 liefert unmittelbar den

Satz 4.7 (Endlichkeitssatz fur das Folgern). Ist X � α, so ist X0 � α fur eine

gewisse endliche Teilmenge X0 von X.

Dies ist klar, denn fur ` gilt ja der Endlichkeitssatz. Hieraus ergibt sich leicht der

Satz 4.8 (Endlichkeitssatz der Erfullbarkeit, Kompaktheitssatz). X ist er-

fullbar, wenn nur jede endliche Teilmenge von X erfullbar ist.

24 1 Aussagenlogik

Denn ist X unerfullbar, d.h. X � ⊥, ist nach Satz 4.7 schon X0 � ⊥ fur ein endliches

X0 ⊆ X, und der Satz ist bewiesen. Umgekehrt ergibt Satz 4.8 leicht den Satz 4.7.

Beide Satze sind also direkt auseinander herleitbar.

Weil Satz 4.6 keine speziellen Annahmen uber die Machtigkeit der Variablenmenge

erfordert, gilt dieser ebenso wie der hieraus folgende Kompaktheitssatz ohne dies-

bezugliche Einschrankungen. Dies macht den Satz zu einem brauchbaren Instrument

fur Anwendungen, die im nachsten Abschnitt erlautert werden.

Bemerkung 2. Es lassen sich auch direkte Beweise fur Satz 4.8 oder geeignete Umformu-lierungen hiervon angeben, die mit einem Regelkalkul nichts zu tun haben. So ist dieserSatz beispielsweise aquivalent mit

⋂α∈X Mdα = ∅ ⇒

⋂α∈X0

Mdα = ∅ fur ein endlichesX0 ⊆ X, wobei Mdα die Menge aller Modelle von α bezeichnet. In dieser Formulierungwird die Kompaktheit eines gewissen, auf naturliche Weise entstehenden topologischenRaumes behauptet, dessen Punkte die Belegungen der Variablen sind. Daher auch derName Kompaktheitssatz. Naheres zu diesem Thema findet man z.B. in [RS]. Ubung 5unten liefert nicht nur die Satze 4.7 und 4.8, sondern auch die Tatsache, dass der Konse-quenzrelation � weder neue Tautologien noch neue Regeln konsistent hinzugefugt werdenkonnen (Post-Vollstandigkeit und strukturelle Vollstandigkeit von �, siehe hierzu [Ra1]).

Ubungen

1. Man beweise, ist X ∪ {¬α | α ∈ Y } inkonsistent und Y 6= ∅, so existieren

Formeln α0, . . . , αn ∈ Y mit X ` α0 ∨ . . . ∨ αn.

2. Man erweitere die Signatur {¬, ∧} um ∨ und beweise die Vollstandigkeit des

Kalkuls, der die bisherigen Regeln um die beiden folgenden erganzt:

X ` α

X ` α ∨ β, β ∨ α;

X, α ` γ X, β ` γ

X, α ∨ β ` γ.

3. Man zeige, maximal konsistente Mengen sind deduktiv abgeschlossen. Dies gilt

fur jeden logischen Kalkul, in dem Inkonsistenz durch die Ableitbarkeit von

nur einer einzigen Formel wie etwa ⊥ charakterisiert ist.

4. Es sei ` eine finitare Konsequenzrelation in F{∧ ,¬} mit den Eigenschaften

(∧1)–(¬2). Man zeige, ` ist maximal, d.h. ist `′⊃ `, so gilt `′ α fur alle α.

5. Man zeige durch Ruckfuhrung auf Ubung 4: es gibt genau eine Konsequenz-

relation in F{∧ ,¬}, welche (∧1)–(¬2) erfullt. Dies impliziert offenbar die

Vollstandigkeit des Kalkuls `, weil auch � diese Eigenschaften hat.

1.5 Anwendungen des Kompaktheitssatzes 25

1.5 Anwendungen des Kompaktheitssatzes

Satz 4.8 ist sehr nutzlich, um gewisse Eigenschaften endlicher Strukturen auf unend-

liche zu ubertragen. Nachfolgend einige typische Beispiele. Diese konnte man auch

mit dem pradikatenlogischen Kompaktheitssatz 3.3.2 behandeln, aber die Beispiele

lehren, wie man die Konsistenz gewisser Aussagenmengen der Pradikatenlogik auch

aussagenlogisch gewinnt. Dies erweist sich u.a. als nutzlich fur Kapitel 4.

1. Jede Menge M kann (total) geordnet werden. 4)

Das bedeutet, es gibt eine irreflexive, transitive und konnexe Relation < auf M . Fur

endliches M folgt dies leicht induktiv uber die Elementezahl von M . Die Behaup-

tung ist klar fur M = ∅ oder 1-elementiges M , und ist M = N ∪ {a} mit einer

n-elementigen Menge N und (n+1)-elementigem M , erhalt man aus einer nach

Induktionsannahme existierenden Ordnung von N eine solche fur M , indem man

das Element a einfach”hintendran“ setzt, d.h. es sei x < a fur alle x ∈ N .

Sei nun M beliebig. Wir betrachten fur jedes Paar (a, b) ∈ M ×M je eine Aussa-

genvariable pab. Sei X die Formelmenge bestehend aus den Formeln

¬paa (a ∈M),

pab ∧pbc → pac (a, b, c ∈M),

pab ∨ pba (a 6= b).

Aus einem Modell w fur X gewinnen wir sofort eine Ordnung < durch die Erklarung

a < b ⇔ w � pab. So besagt w � ¬paa dasselbe wie a ≮ a. Analog reflektieren

die weiteren Formeln jeweils die Transitivitat und die Konnexitat. Nach Satz 4.8

hat X ein Modell, wenn nur jede endliche Teilmenge X0 ⊆ X eines hat. Sei X0

gegeben. Darin kommen nur endlich viele Variablen vor. Folglich gibt es endliche

Mengen M1 ⊆ M und X1 ⊇ X0, wobei X1 genau so gebildet wird wie X, nur

durchlaufen a, b, c jetzt die endliche Menge M1 anstelle von M . Nun ist X1 und

damit X0 tatsachlich erfullbar: ist namlich < eine Ordnung der endlichen Menge M1

und wird w durch w � pab ⇔ a < b erklart, so ist w offenbar Modell fur X1.

2. Der Vierfarbensatz fur unendliche planare Graphen.

Ein einfacher Graph sei ein Paar (E, K) mit einer Menge E, deren Elemente Punkte

oder Ecken heißen, und einer Menge K von ungeordneten Paaren {a, b} aus Punkten

a 6= b, Kanten genannt (man kann K auch als irreflexive und symmetrische Relation

verstehen, siehe 2.1). Ist {a, b} ∈ K, so heißen a, b benachbart . (E, K) heiße k-

chromatisch, wenn man eine Zerlegung E = C1 ∪ · · · ∪Ck mit Ci ∩Cj = ∅ fur i 6= j

4) Nicht erklarte Begriffe werden in 2.1 definiert. Das Beispiel ist u.a. deswegen von Interesse, weilder Kompaktheitssatz echt schwacher ist als das Auswahlaxiom, nach welchem sich jede Mengesogar wohlordnen lasst. Also ist auch die Ordnungsfahigkeit aller Mengen schwacher als dieses.

26 1 Aussagenlogik

(den Farbungsklassen) so angeben kann, dass benachbarte Punkte nicht die gleiche

Farbe tragen. Kurzum, a, b ∈ Ci ⇒ {a, b} /∈ K fur i = 1, . . . , k.

t t������t

TT

TT

TT

��

��

QQ

QQt

Die Figur zeigt den kleinsten 4-chromatischen Graphen, der nicht

3-chromatisch ist. Alle Punkte sind zueinander benachbart. Wir

zeigen, ein Graph (E, K) ist k-chromatisch, wenn dies nur fur

jeden endlichen Teilgraphen (E0, K0) der Fall ist (K0 besteht

aus den Kanten {a, b} ∈ K mit a, b ∈ E0). Dazu betrachte man

folgende aus den Variablen pi,a fur 1 6 i 6 k und a ∈ E gebildete Formelmenge X:

p1,a ∨ . . . ∨ pk,a, ¬(pi,a ∧pj,a) (1 6 i < j 6 k, a ∈ E),

¬(pi,a ∧pi,b) (i = 1, . . . , k, {a, b} ∈ K).

Wieder genugt es, ein Modell w fur X anzugeben. Denn w liefert eine Einteilung

E = C1∪· · ·∪Ck in k Farbungsklassen durch die Erklarung a ∈ Ci ⇔ w � pi,a. Die

erste Formel besagt namlich, jeder Punkt gehort wenigstens einer Farbungsklasse

an, die zweite sichert deren Disjunktheit, und die dritte, dass benachbarte Punkte

nicht dieselbe Farbe tragen. Wir mussen also jede endliche Teilmenge X0 von X

erfullen. Sei (E0, K0) der endliche Teilgraph von (E, K) mit allen Punkten, die als

Indizes in den Variablen von X0 auftreten. Die auf (E0, K0) bezogene Voraussetzung

sichert die Erfullbarkeit von X0 analog wie in Beispiel 1, und alles ist gezeigt. Jeder

planare (ohne Uberschneidung von Kanten in die Ebene einbettbare) endliche Graph

ist nach dem Vierfarbensatz 4-chromatisch. Also gilt dieser nach dem Bewiesenen

auch fur alle unendlichen Graphen, deren endliche Teilgraphen samtlich planar sind.

3. Der Konigsche Graphensatz.

Es gibt verschiedene Versionen dieses Satzes. Wir beziehen ihn hier auf gerichtete

Baume. Ein gerichteter Baum sei ein Paar (E, C) mit irreflexivem C ⊆ E2, so dass

fur ein gewisses c ∈ E, die Wurzel genannt, Folgendes gilt: c ist mit jedem anderen

Punkt a ∈ E durch genau einen Weg verbunden. Dies sei eine Folge (a0, . . . , an) von

Punkten mit a0 = c, an = a und ai C ai+1 fur alle i < n. Dies hat z.B. zur Folge,

dass zu jedem b ∈ E \{c} genau ein Vorganger a C b in E existiert.

Der Satz besagt nun: Hat jeder Punkt a nur endlich viele Nachfolger (Punkte b mit

a C b) und gibt es in (E, C) beliebig lange von c ausgehende Wege, dann gibt es auch

einen unendlichen, mit c beginnenden Weg durch den Baum, d.h. eine Folge (ck)k∈Nderart, dass c0 = c und ck C ck+1. Zum Beweis erklaren wir rekursiv S0 = {c}und Sk+1 = {b ∈ E | es gibt ein a ∈ Sk mit a C b}. Weil jeder Punkt nur endlich

viele Nachfolger hat, ist jede”Schicht“ Sk endlich, und weil es beliebig lange Wege

(c, a1, . . . , ak) gibt und offenbar ak ∈ Sk, ist kein Sk leer. Ferner ist klar, dass die

Schichten S0, S1, . . . paarweise disjunkt sind. Sei nun pa fur jedes a ∈ E je eine

Aussagenvariable und X bestehe aus den Formeln

1.5 Anwendungen des Kompaktheitssatzes 27

(A)∨

a∈Skpa, ¬(pa ∧pb)

(a, b ∈ Sk, a 6= b, k = 0, 1, . . .

),

(B) pb → pa

(a, b ∈ E, a C b).

Ist w � X, gibt es wegen (A) genau ein ck ∈ Sk mit w � pck. Speziell ist c0 = c.

Sei a ∈ Sk so gewahlt, dass a C ck+1 ∈ Sk+1. Nach (B) ist wegen w � pck+1auch

w � pa, d.h. a = ck, denn ck ist der einzige Punkt in Sk mit w � pck. Also ck C ck+1

fur alle k. Damit ist (ck)k∈N tatsachlich ein Weg der gesuchten Art. Wieder ist jedes

endliche X0 ⊆ X erfullbar: Ist in X0 von Variablen bis hochstens zur Schicht Sn die

Rede, so ist X0 Teilmenge einer endlichen Formelmenge X1, welche wie X definiert

ist, nur lauft k lediglich bis n. Und es ist klar, dass X1 ein Modell hat.

4. Das Heiratsproblem (in linguistischem Gewande).

Sei N eine Menge von Namen (oder Worten) mit Bedeutungen in einer Menge B.

Ein Name ν ∈ N kann homonym sein, d.h. mehrere Bedeutungen besitzen, oder

synonym sein, d.h. mit anderen Namen aus N dieselbe Bedeutung haben, oder auch

beides. Wir gehen von den plausiblen Annahmen aus, jeder Name ν habe nur endlich

viele Bedeutungen, und k viele Namen haben mindestens k viele Bedeutungen. Wir

behaupten, es gibt eine Bedeutungsunifizierung. Dies sei eine injektive Abbildung

f : N → B, die jedem ν eine seiner ursprunglichen Bedeutungen belasst.

Fur endliche Mengen N zeigt man dies induktiv uber die Elementezahl n von N :

Fur n = 1 ist die Behauptung klar. Sei nun n > 1. Fall 1: Je m (< n) Namen haben

mindestens m + 1 Bedeutungen. Man ordne einem beliebig gewahlten ν ∈ N eine

seiner Bedeutungen b zu, so dass von den Namen aus N \{ν} je k Namen immer

noch k Bedeutungen 6= b haben. Nach Induktionsannahme gibt es eine Bedeutungs-

unifizierung fur N \{ν}, welche zusammen mit (ν, b) eine solche fur ganz N liefert.

Fall 2: Es gibt ein m (0 < m < n) und ein m-elementiges M ⊆ N mit einer nur

m-elementigen Menge BM aller Bedeutungen der ν ∈ M . Jedem ν ∈ M lasst sich

gemaß Induktionsannahme eine seiner Bedeutungen aus BM zuordnen. Von den Na-

men aus N \M haben je k (6 n − m) Namen dann immer noch k Bedeutungen

außerhalb BM wie man leicht sieht. Es gibt nach Induktionsannahme also auch eine

Bedeutungsunifizierung fur N \M in B \BM . Fugt man diese mit derjenigen fur M

zusammen, so ergibt sich offenbar eine solche fur ganz N .

Um nun die Behauptung fur beliebige Namensmengen N zu beweisen, ordne man

jedem Paar (ν, b) ∈ N ×B je eine Variable pν,b zu und betrachte die Formelmenge

X :

{pν,a ∨ . . . ∨ pν,e (ν ∈ N, a, . . . , e die Bedeutungen von ν),

¬(pν,x ∧pν,y) (ν ∈ N, x, y ∈ B, x 6= y).

Ist w � X, erhalt man durch die Erklarung fν = b ⇔ w � pν,b offenbar eine

Bedeutungsunifizierung von N . Jedes endliche X0 ⊆ X hat ein Modell, weil dort

nur endlich viele Namen als Indizes vorkommen und fur diesen Fall die Behauptung

bewiesen wurde. Damit hat auch X ein Modell.

28 1 Aussagenlogik

5. Der Ultrafiltersatz.

Dieser Satz ist von herausragender Bedeutung in der Topologie, der Mengenlehre, der

Modelltheorie (siehe 5.7) und anderswo. Eine nichtleere Familie F von Teilmengen

einer nichtleeren Menge I heißt ein Filter auf I, wenn fur alle M, N ⊆ I

(a) M, N ∈ F ⇒M ∩N ∈ F , (b) M ∈ F & M ⊆ N ⇒ N ∈ F ,

(a) und (b) zusammen sind gleichwertig mit (∩) M ∩ N ∈ F ⇔ M, N ∈ F , wie

man leicht sieht (man beachte M ⊆ N ⇒ M ∩N = M fur den Beweis von (b) aus

(∩)). Ein Filter F ⊆ PI heißt Ultrafilter auf I, wenn F nebst (∩) auch noch die

Bedingung (¬) ¬M ∈ F ⇔M /∈ F , fur alle M ⊆ I erfullt; dabei sei ¬M = I \M .

Fur festes J ⊆ I ist F = {M ⊆ I |M ⊇ J} Beispiel eines Filters, denn gewiss gilt

J ⊆ M ∩ N ⇔ J ⊆ M, N . Ein simpler Spezialfall ist F = {I}. Wichtiges Beispiel

eines Filters fur unendliches I ist die Menge aller koendlichen Teilmengen K ⊆ I,

d.h. I \K ist endlich. Denn K1 ∩ K2 ist genau dann koendlich, wenn K1, K2 beide

koendlich sind. Ultrafilter, die keine endlichen, also samtliche koendlichen Mengen

enthalten, heißen nichttrivial. {J ⊆ I | i0 ∈ J} ist fur jedes i0 ∈ I ein trivialer

Ultrafilter. Deren Existenz ist trivial. Das Problem sind nichttriviale Ultrafilter.

Ein Filter F heiße echt, wenn F 6= PI. Dies ist nach (b) gleichwertig mit ∅ /∈ F .

Jeder echte Filter F erfullt mit F fur E die Voraussetzung im folgendem Satz,

insbesondere der Filter aller koendlichen Teilmengen einer unendlichen Menge I.

Der Satz sichert also die Existenz nichttrivialer Ultrafilter auf unendlichem I.

Ultrafiltersatz. Jedes E ⊆ PI kann zu einem Ultrafilter U auf I erweitert werden,

sofern⋂

i6n Mi 6= ∅ fur alle n und alle M0, . . . ,Mn ∈ E.

Beweis. Man betrachte mit den Aussagenvariablen pJ

fur J ⊆ I die Formelmenge

X : pM∩N↔ p

M∧p

N, p¬M

↔ ¬pM

, pK

(M, N ⊆ I, K ∈ E).

Sei w � X. Dann gelten offenbar (∩) und (¬) fur U := {J ⊆ I |w � pJ}. Also ist U

Ultrafilter mit E ⊆ U . Es genugt daher zu zeigen, dass jede endliche Teilmenge von

X ein Modell hat. Dazu reicht es offenbar, den Ultrafiltersatz fur endliches E 6= ∅zu beweisen. Das ist leicht. Denn sei E = {M0, . . . ,Mn}, D :=

⋂i6n Mi und i0 ∈ D.

Dann ist U = {J ⊆ I | i0 ∈ J} ein Ultrafilter mit U ⊇ E.

Ubungen

1. Man zeige mit dem Kompaktheitssatz: jede partielle Ordnung 60 einer Menge

M kann zu einer totalen Ordnung 6 von M erweitert werden.

2. Sei U ein Ultrafilter auf einer unendlichen Menge I. Man zeige, U ist genau

dann trivial, wenn ein i0 ∈ I existiert mit U = {J ⊆ I | i0 ∈ J}.

1.6 Hilbert-Kalkule 29

1.6 Hilbert-Kalkule

Die in gewissem Sinne einfachsten logischen Kalkule sind sogenannte Hilbert-Kalkule.

Sie beruhen auf ausgewahlten Tautologien als logischen Axiomen, deren Auswahl

aber recht willkurlich ist und auch wesentlich von der logischen Signatur abhangt.

Sie benutzen ferner Schlussregeln wie z.B. den Modus Ponens MP : α, α → β/β 5).

Ein Vorteil dieser Kalkule besteht darin, dass formale Beweise durch endliche For-

melfolgen unmittelbar prazisiert und veranschaulicht werden konnen. Dieser Vorteil

wird sich vor allem bei der Godelisierung des Beweisens auszahlen.

Im Folgenden betrachten wir einen solchen Kalkul mit MP als einziger Schlussregel.

Der Kalkul wird vorubergehend mit |∼ bezeichnet, um ihn von dem in 1.4 betrach-

teten Regelkalkul ` zu unterscheiden. Die logische Signatur enthalte nur ¬, ∧ . In

den Axiomen von |∼ erscheint jedoch die durch α → β := ¬(α∧¬β) definierte Impli-

kation, was die Niederschrift dieser Axiome erheblich verkurzt.

Das logische Axiomensystem unseres Kalkuls bestehe aus der Menge Λ aller Formeln

der folgenden Gestalt, wobei an die Rechtsklammerung erinnert sei.

Λ1 (α → β → γ) → (α → β) → (α → γ), Λ2 α → β → α∧β,

Λ3 α∧β → α, α∧β → β, Λ4 (α →¬β) → (β →¬α).

Λ enthalt nur Tautologien. Auch sind die aus Λ mit MP herleitbaren Formeln samt-

lich Tautologien, denn � α, α → β impliziert � β. Wir werden nachweisen, dass aus Λ

mittels MP alle 2-wertigen Tautologien beweisbar sind und beginnen mit folgender

Definition. Ein Beweis aus X (im Kalkul |∼ ) sei eine Folge (ϕ0, . . . , ϕn), so dass

fur jedes k 6 n: ϕk ∈ X∪Λ oder aber es existieren Indizes i, j < k mit ϕi = ϕj → ϕk

(d.h. ϕk entsteht durch Anwendung von MP auf Folgenglieder, die ϕk vorangehen).

Ein Beweis (ϕ0, . . . , ϕn) mit ϕn = α heißt ein Beweis fur α aus X. Es sei X |∼α (aus

X ist α beweisbar oder ableitbar), wenn es einen Beweis fur α aus X gibt.

Beispiel. (p, q, p → q → p∧q, q → p∧q, p∧q) ist ein Beweis fur p∧q aus X = {p, q}.Man beachte, das Folgenglied p → q → p∧q dieses Beweises gehort zu Λ.

Weil ein Beweis nur endlich viele Formeln enthalt, liefert obige Definition z.B. un-

mittelbar den wie Satz 4.1 formulierten Endlichkeitssatz fur |∼ . Jeder Anfang eines

Beweises ist offenbar selbst ein Beweis. Ferner ist die Verkettung von Beweisen fur

α und fur α → β und die Verlangerung der entstehenden Folge um β ein Beweis fur

5)Diese Schreibweise soll grob gesagt zum Ausdruck bringen, dass β aus einer Formelmenge X alsbewiesen gilt, wenn zuvor α und α → β aus X bewiesen wurden. MP ist Beispiel einer 2-stelligenHilbert-Regel. Fur eine allgemeine Definition dieses Regel-Typs siehe z.B. [Ra1].

30 1 Aussagenlogik

β, wie man mit bloßem Auge sieht. Damit gilt also

(∗) X |∼α, α → β ⇒ X |∼β.

Kurzum, die Menge der aus X beweisbaren Formeln ist MP-abgeschlossen. Eine

Anwendung von (∗) wird oft durch die Redeweise”MP ergibt...“ zitiert. Man sieht

leicht, dass X |∼α genau dann, wenn α zur kleinsten X umfassenden und unter MP

abgeschlossenen Formelmenge gehort. Fur die Godelisierung des Beweisens und fur

das automatische Beweisen ist aber ratsam, mit dem obigen finiten Begriff eines

Beweises zu arbeiten und die Mengenlehre aus dem Spiel zu lassen. Zum Gluck

befreit uns der folgende Satz von der Pflicht, Eigenschaften von Formeln α mit

X |∼α jedesmal induktiv uber die Lange eines Beweises von α aus X nachzuweisen.

Satz 6.1 (Induktionssatz fur |∼). Sei X gegeben und E eine Eigenschaft von

Formeln mit (o) Eα gilt fur alle α ∈ X ∪Λ, (s) Eβ, E(β → α)⇒ Eα, fur alle α, β.

Dann gilt Eα fur alle α mit X |∼α.

Beweis durch Induktion uber die Lange n eines Beweises von α aus X. Habe α

einen Beweis Φ der Lange n und sei Eϕ fur alle Formeln ϕ mit Beweisen einer Lange

< n angenommen. Ist α ∈ X ∪ Λ – was fur n = 1 stets der Fall ist – gilt Eα gemaß

(o). Falls aber α /∈ X ∪ Λ, so enthalt Φ Glieder β und β → α mit Beweisen einer

Lange < n (weil doch jeder Anfang von Φ selbst ein Beweis ist). Es gelten also Eβund E(β → α) nach Induktionsannahme und somit Eα gemaß (s).

Eine Anwendung von Satz 6.1 ist der Nachweis von |∼ ⊆ �, oder ausfuhrlicher

(Kor) X |∼α ⇒ X � α (Korrektheit).

Denn sei Eα die Eigenschaft ‘X � α’, mit fest vorgegebenem X. Sicher gilt X � α

fur α ∈ X. Dasselbe gilt fur α ∈ Λ. Also Eα fur alle α ∈ X ∪Λ und (o) ist bestatigt.

Sei nun X � β, β → α. Dann ist auch X � α, was den Induktionsschritt (s) beweist.

Nach Satz 6.1 gilt Eα, d.h. X � α, wenn immer X |∼α. Damit ist (Kor) bewiesen.

Anders als in ` sind fur den Vollstandigkeitsbeweis von |∼ eine Reihe von Ablei-

tungen auszufuhren. Dies liegt in der Natur der Sache. Man muss Hilbert-Kalkule

oft durch geduldige Ableitungen”erst einmal zum Laufen bringen“. Wir verwenden

nachfolgend die offenkundige Monotonieeigenschaft X ′ ⊇ X |∼α ⇒ X ′ |∼α. Wie

ublich stehe |∼α fur ∅ |∼α.

Lemma 6.2. (a) X |∼α →¬β ⇒ X |∼β →¬α, (b) |∼α → β → α,

(c) |∼α → α, (d) |∼α →¬¬α, (e) |∼β →¬β → α.

Beweis. (a): Sicher ist X |∼ (α →¬β) → (β →¬α) nach Axiom Λ4. Daraus und aus

X |∼α →¬β ergibt sich X |∼β →¬α mit MP. (b): Es ist |∼β ∧¬α →¬α gemaß Λ3,

1.6 Hilbert-Kalkule 31

mit (a) also |∼α →¬(β ∧¬α) = α → β → α. (c): Mit γ := α, β := α → α in Λ1

erhalt man |∼ (α → (α → α) → α) → (α → α → α) → α → α. Das ergibt mit (b) nach

zweimaliger Anwendung von MP gerade (c). (d) folgt mit (a) dann aus |∼¬α →¬α.

(e): Wegen |∼¬β ∧¬α →¬β und (a) ist |∼β →¬(¬β ∧¬α) = β →¬β → α.

Punkt (e) dieses Lemmas ergibt sofort, dass |∼ die Regel (¬1) aus 1.4 erfullt, also

X |∼β,¬β ⇒ X |∼α. Wegen Λ2, Λ3 erfullt |∼ sicher auch (∧1) und (∧2). Wir bewei-

sen nach Abschluß einiger Vorbereitungen auch die Regel (¬2) fur |∼ und erhalten

danach leicht das gewunschte Vollstandigkeitsresultat.

Lemma 6.3 (Deduktionstheorem). X, α |∼γ impliziert X |∼α → γ.

Beweis durch Induktion in |∼ mit der Pramissenmenge X, α. Sei X, α |∼γ. Es be-

deute Eγ jetzt ‘X |∼α → γ’. Zum Nachweis von (o) sei γ ∈ X ∪ Λ ∪ {α}. Ist γ = α,

gilt X |∼α → γ nach Lemma 6.2(c). Ist γ ∈ X ∪ Λ, so gilt sicher X |∼γ. Weil auch

X |∼γ → α → γ nach Lemma 6.2(b), folgt X |∼α → γ mit MP. Zum Nachweis von (s) sei

X, α |∼β und X, α |∼β → γ, so dass X |∼α → β, α → β → γ nach Induktionsannahme.

Zweimalige Anwendung von MP auf Λ1 ergibt offenbar X |∼α → γ. Damit ist (s)

bestatigt und das Lemma bewiesen.

Lemma 6.4. |∼¬¬α → α.

Beweis. Gemaß Λ3 und MP ist ¬¬α∧¬α |∼¬α,¬¬α. Sei τ beliebig mit |∼τ . Die

schon bewiesene Regel (¬1) ergibt ¬¬α∧¬α |∼¬τ , und Lemma 6.3 |∼¬¬α∧¬α →¬τ .

Nach Lemma 6.2(a) folgt |∼τ →¬(¬¬α∧¬α). MP liefert damit |∼¬(¬¬α∧¬α) und

wegen ¬(¬¬α∧¬α) = ¬¬α → α die Behauptung des Lemmas.

Lemma 6.5. |∼ erfullt Regel (¬2), d.h. wenn X, β |∼α und X,¬β |∼α, so X |∼α.

Beweis. Sei X, β |∼α und X,¬β |∼α, also auch X, β |∼¬¬α und X,¬β |∼¬¬α nach

Lemma 6.2(d). Dann ist X |∼β →¬¬α,¬β →¬¬α (Lemma 6.3), also X |∼¬α →¬β

und X |∼¬α →¬¬β nach Lemma 6.2(a). Daher X,¬α |∼¬β,¬¬β, also X,¬α |∼¬τ

nach (¬1), mit τ wie in Lemma 6.4. Folglich X |∼¬α →¬τ (Lemma 6.3) und daher

X |∼τ →¬¬α nach Lemma 6.2(a). Wegen X |∼τ folgt X |∼¬¬α und mithin X |∼α

gemaß Lemma 6.4.

Satz 6.6 (Vollstandigkeitssatz). |∼ = �.

Beweis. Nach (Kor) ist |∼ ⊆ �. Weil |∼ alle Basisregeln von ` erfullt, ist `⊆ |∼ .

Nach Satz 4.6 sind ` und � identisch, also � ⊆ |∼ . Damit ist alles gezeigt.

Danach gilt insbesondere |∼α ⇔ � α. Kurzum, genau die 2-wertigen Tautologien

lassen sich mittels MP aus dem Axiomensystem Λ gewinnen.

32 1 Aussagenlogik

Man erhalt die Vollstandigkeit von |∼ durch einen Beweis der einschlagigen Lemmata

aus 1.4 in naheliegender Weise naturlich auch ohne Ruckgriff auf `.

Bemerkung. Es mag uberraschend klingen, dass Λ1–Λ4 bereits ausreichen, um alle aus-sagenlogischen Tautologien zu gewinnen. Denn diese Axiome und alle daraus mit MPherleitbaren Formeln gelten samtlich in der intuitionistischen und sogar in der Minimal-logik, siehe hierzu etwa [Ra1]. Dass Λ dennoch alle Tautologien abzuleiten gestattet, liegtdaran, dass → definiert wurde. Wurde man → als eigenstandigen Junktor betrachten,ware dies nicht mehr der Fall. Um dies einzusehen, andere man die Interpretation von¬ durch die Erklarung ¬0 = ¬1 = 1. Auch dann erhalten alle Axiome von Λ bei jederBelegung den Wert 1, ebenso wie auch alle aus Λ mit MP herleitbaren Formeln, nichtjedoch z.B. die Formel ¬¬p → p, die anders als in Lemma 6.4 behauptet, dann auch nichtherleitbar sein kann.

Mit Hilbert-Kalkulen lassen sich auch andere zwei- und mehrwertige Logiken axio-

matisieren, z.B. das funktional unvollstandige Fragment der zweiwertigen Logik in

Ubung 4. Auch das Fragment in ∧ , ∨ , das zwar keine Tautologien hat, in dem aber

interessante Hilbert-Regeln gelten, ist durch endlich viele derartige Regeln axioma-

tisierbar, darunter z.B. p, q/p∧q. Der Beweis hierfur ist jedoch weniger einfach als

der Text oder die Ubungen vermuten lassen. Jedes der unendlich vielen Fragmente

2-wertiger Logik mit oder ohne Tautologien ist durch einen Hilbert-Kalkul mit end-

lich vielen Hilbert-Regeln der betreffenden Sprache axiomatisierbar wie in [HeR]

bewiesen wurde.

Neben Sequenzen- und Hilbert-Kalkulen gibt es weitere Kalkule, z.B. Tableau-

Kalkule in verschiedenen Varianten, die vor allem fur nichtklassische logische Sys-

teme bedeutsam sind. In Kapitel 4 wird z.B. der fur die Logikprogrammierung und

das maschinelle Beweisen wichtige Resolutionskalkul behandelt.

Ubungen

1. Man gebe einen Beweis fur die Formel p → p aus Λ explizit an.

2. Man beweise die Vollstandigkeit des Hilbert-Kalkuls ` in F{→ , ⊥} mit MP als

einziger Schlussregel, der Definition ¬α := α→ ⊥, sowie den Axiomen

A1 α → β → α, A2 (α → β → γ) → (α → β) → α → γ, A3 ¬¬α → α.

3. Sei ` eine finitare Konsequenzrelation und X 0 α. Man zeige mit dem Zorn-

schen Lemma: es gibt ein Y ⊇ X mit Y 0 α und Y, β ` α fur alle β /∈ Y

(Y ist α-maximal). Ferner beweise man Y ` β ⇔ β ∈ Y fur α-maximales Y .

4. Man beweise die Vollstandigkeit des Kalkuls ` in F{→} mit der Schlussregel

MP und den Axiomen A1, A2 (Ubung 2) und AP: ((α → β) → α) → α.