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Kapitel 1 Koordinaten, Skalare, Vektoren, Tensoren 1.1 Ziele Die mathematische Modellierung physikalischer Phänomene bzw. techni- scher Prozesse führt zu Gleichungen, in denen Größen verschiedener geome- trischer Struktur auftreten. Es gibt im Wesentlichen drei Größenkategorien, nämlich Skalare, Vektoren und Tensoren. Die Mitglieder dieser Kategorien werden in diesem Kapitel eingeführt. q 1.2 Koordinaten, Vektoren und Basen Koordinaten im Punktraum. Wir starten mit dem 3-dimensionalen EU- KLIDischen Punktraum 3 , welcher aus der Menge der Punkte x, y, z... besteht. Ein Punkt P ist durch Angabe von drei Zahlen definiert. Wir schreiben x =(x 1 ,x 2 ,x 3 )=(x i ) i∈{1,2,3} und nennen (x 1 ,x 2 ,x 3 ) die Kom- ponenten von x. Vermutlich hat eine Person na- mens EUKLID nie gelebt, und seine berühmte Schrift Elemente der Geometrie ist von einer Autorengruppe unter Pseud- onym geschrieben worden. Ferner führen wir ein rechtwinklig kartesisches Koordinatensystem K ein. Dieses besteht aus drei orthogonal aufeinander stehenden geraden Linien, die von einem beliebig gewählten Punkt O ausgehen. Nun fällen wir von P ausgehend drei Lote, wie es in Abb. 1.1 links gezeigt wird. Die Konstruk- tion induziert auf den Koordinatenlinien drei Strecken, welche wir mit den Komponenten (x 1 ,x 2 ,x 3 ) von x identifizieren. Ortsvektoren im 3 . Zur geometrischen Veranschaulichung stellen wir 1

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Kapitel 1

Koordinaten, Skalare, Vektoren,

Tensoren

1.1 Ziele

Die mathematische Modellierung physikalischer Phänomene bzw. techni-scher Prozesse führt zu Gleichungen, in denen Größen verschiedener geome-trischer Struktur auftreten. Es gibt im Wesentlichen drei Größenkategorien,nämlich Skalare, Vektoren und Tensoren. Die Mitglieder dieser Kategorienwerden in diesem Kapitel eingeführt. q

1.2 Koordinaten, Vektoren und Basen

Koordinaten im Punktraum. Wir starten mit dem 3-dimensionalen EU-KLIDischen Punktraum

3, welcher aus der Menge der Punkte x,y, z...besteht. Ein Punkt P ist durch Angabe von drei Zahlen definiert. Wirschreiben x = (x1, x2, x3) = (xi)i∈1,2,3 und nennen (x1, x2, x3) die Kom-ponenten von x.

Vermutlich hateine Person na-mens EUKLIDnie gelebt, undseine berühmteSchrift Elementeder Geometrieist von einerAutorengruppeunter Pseud-onym geschriebenworden.

Ferner führen wir ein rechtwinklig kartesisches Koordinatensystem K ein.Dieses besteht aus drei orthogonal aufeinander stehenden geraden Linien,die von einem beliebig gewählten Punkt O ausgehen. Nun fällen wir vonP ausgehend drei Lote, wie es in Abb. 1.1links gezeigt wird. Die Konstruk-tion induziert auf den Koordinatenlinien drei Strecken, welche wir mit denKomponenten (x1, x2, x3) von x identifizieren.

Ortsvektoren im

3. Zur geometrischen Veranschaulichung stellen wir

1

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den Punkt P durch einen Pfeil da, welcher in O beginnt und in P endet.Wir nennen einen solchen Pfeil Ortsvektor und entsprechend (x1, x2, x3)die Komponenten des Ortsvektors x.

Abbildung 1.1: Darstellungen in einem rechtwinklig kartesischen Koordi-natensystem.

Der Universalge-lehrte Descartespredigte rationaleBeweisführung inder Geometrie.Als Sicherheits-

vorkehrung wiesenseine eigenen Be-weise aber häufigLücken auf, die ererst füllte, wennim Falle spätererStreitigkeitenseine Prioritätnachzuweisen war.

Offensichtlich gilt für Ortsvektoren die folgende Rechenregel :

αx + βy = (αx1 + βy1, αx2 + βy2, αx3 + βy3) (1.1)

wobei α und β reelle Zahlen sein sollen. Somit ist insbesondere die Summeund die Differenz von Ortsvektoren definiert.

Eine weitere wichtige Beziehung zwischen zwei Ortsvektoren ist ihr Skalar-

produkt. Dieses ist definiert durch

x · y ≡3

i=1

xiyi. (1.2)

Das Skalarprodukt liefert eine reelle Zahl, die wir Skalar nennen. Erklärenwerden wir diese Namensgebung erst später.

Wir bezeichnen die Länge eines Ortsvektors mit | x | und folglich gilt

| x |=√

x · x . (1.3)

Aus (1.2) läßt sich eine Alternativform für das Skalarprodukt herleiten,welche bei Anwendungen sehr nützlich ist:

x · y =| x || y | cos(∠x,y) . (1.4)

Übung 1.1 Beweise die Formel 1.4 im zwei- oder dreidimen-sionalen Fall.

Die bisherigen Überlegungen werden jetzt eine Verallgemeinerung erfahren.

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Die Beschränkung auf N = 3 Dimensionen ist nämlich bei den eingeführtenRegeln nicht notwendig. In der Übung 1.1 haben wir schließlich bereits denzweidimensionalen Fall betrachtet, weil er einfacher zu behandeln ist. Aberauch der Fall N > 3 wird uns in vielen Anwendungen begegnen. Allerdingsgeht hier die visuelle Anschaung verloren.

Ortsvektoren im

N . Ein Ortsvektor x ist im

N durch N Kompo-nenten gegeben: x = (x1, x2, ..., xN).Für zwei Ortsvektoren gilt die Additionsregel

αx + βy = (αx1 + βy1, αx2 + βy2, ..., αxN + βyN) , (1.5)

wobei α und β reelle Zahlen sind.Das Skalarprodukt zweier Ortsvektoren lautet im

N

x · y =N

i=1

xiyi . (1.6)

Bisher haben wir Ortsvektoren durch N -Tupel der Form (x1, x2, ..., xN)dargestellt. Zum Rechnen ist aber eine Alternativdarstellung nützlicher.Diese gewinnen wir leicht nach Einführung von Basisvektoren.

Rechtwinklige Basis. Für ein rechtwinklig kartesisches Koordinatensy-stem K, welches wir zur Zeit ausschließlich benutzen, definieren wir

e1 = (1, 0, ..., 0), e2 = (0, 1, ..., 0), ..., eN = (0, 0, ..., 1) , (1.7)

und nennen diese Vektoren die (rechtwinklig kartesische) Basis des Punkt-raumes N .

In der Debatte umdas Unendlichelehnte KroneckerBehauptungen ab,deren Entscheid-barkeit nicht inendlich vielenSchritten belegtwerden kann.Deshalb nannteHilbert ihn denVerbotsdiktator.Das aber die mei-sten StudentenKronecker nurüber das Symbolkennen, welchesseinen Namenträgt, hätteihn vermutlichverwundert.

Offensichtlich gilt

ei · ej = δij mit δij ≡

1 0 ... 00 1 ... 0. . . .0 0 ... 1

. (1.8)

Das neu eingeführte Symbol δij heißt Einheitsmatrix und wird auchKRONECKER-Tensor genannt.

Wir werden demnächst weitere Basen kennenlernen, welche die Beziehung(1.8) nicht erfüllen. Eine Eigenschaft muss eine Basis aber in jedem Fallhaben:

Im N dimensionalen Punktraum können N Vektoren E1,E2, ...,EN nurdann ein System von Basisvektoren bilden, wenn sie linear unabhängig sind.

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Dieser Begriff besagt: N Vektoren (Ei)i∈1,2,...,N heißen linear unabhängig,wenn es unmöglich ist, N Zahlen λi zu finden, die nicht alle gleichzeitigNull sind, so daß die Beziehung

N∑

i=1

λiEi = 0 (1.9)

erfüllt ist.

Übung 1.2 Beweise, daß die Vektoren (1.7) linear unabhängigsind.

Schließlich lautet die Darstellung eines Ortsvektors x mittels der Basis (1.7)

x =N

i=1

xiei ⇒ xi = x · ei , (1.10)

und hat die in Abb. 1.1rechts gegebene geometrische Darstellung.

Allgemeine Vektoren. Neben den Ortsvektoren gibt es weitere Objekte,die durch N -Tupel im N dargestellt werden. Aus physikalischer Sicht ken-nen wir beispielsweise Geschwindigkeiten, Beschleunigungen, Kräfte oderWärmeflüsse.

N -Tupel im

N , die der Rechenregel (1.5) für Ortsvektoren genügen, undfür die ein Skalarprodukt (1.6) definiert ist, nennen wir allgemein Vektoren.

Schiefwinklige Basis. Eine Basis des N muss nicht notwendiger Weiseaus orthonormalen Vektoren, d.h. ei · ej = δij, aufgebaut sein. Bei vie-len Anwendungen sind schiefwinklige Basen dem vorliegenden Gegenstandangemessener.

Übung 1.3 Die Charakterisierung feuchter Luft geschieht ineinem MOLLIER Diagramm. Studiere ein MOL-LIER Diagramm und erläutere das zugrunde lie-gende Achsensystem. Zeige insbesondere, dass hierein schiefwinkliges Achsensystem verwendet wird.

Zur Konstruktion schiefwinkliger Basen gehen wir von N linear unabhängi-gen Vektoren g1,g2, ...,gN aus. Da diese Basisvektoren nicht orthonormalsein müssen, ist es nützlich, N zusätzliche Basisvektoren g1,g2, ...,gN ein-zuführen, die den Bedingungen

gi · gj = δji mit δj

i ≡ δij (1.11)

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genügen sollen. Die zusätzliche Basis nennen wir duale Basis. Die Bedin-gungen (1.11) stellen N2 Gleichungen zur Berechnung der N Vektoren(gi)i∈1,2,...,N der dualen Basis dar.

Einen gegebenen Vektor V können wir somit auf drei verschiedene Weisenin Komponenten zerlegen. Wir schreiben

V =N

i=1

Vi(e)

ei =N

i=1

V i

(g)gi =

N∑

i=1

Vi(g)

gi . (1.12)

Die zu den drei Basen gehörenden Komponenten berechnen sich gemäß

Vi(e)

= V · ei, V i

(g)= V · gi, Vi

(g)= V · gi . (1.13)

Die Komponenten Vi(e)

heißen kartesische Komponenten, während die Kom-

ponenten V i

(g), Vi

(g)kontra- bzw. kovarianteKomponenten des Vektors V ge-

nannt werden. Den Sinn der beiden letzten Bezeichnungen werden wir etwasspäter erhellen.

Beispiel zur schwiefwinkligen Basis. Zur geometrischen Veranschau-lichung betrachten wir ein einfaches Beispiel im zweidimensionalen Fall.Mit Bezug auf die kartesische Basis geben wir uns zwei Basisvektoren vor,nämlich g1 = (4, 2) und g2 = (1, 3). Diese Vektoren haben die Längen| g1 |= 4.47 und | g1 |= 3.16. Die zunächst noch unbekannten Komponen-ten der dualen Basis bezeichnen wir mit g1 = (a, b) und g2 = (c, d), undberechnen die vier Zahlen mittels der Beziehungen (1.11).

gi · gj = (gi)1(gj)1 + (gi)2(g

j)2 =

(

4a + 2b 4c + 2d1a + 3d 1c + 3d

)

=

(

1 00 1

)

.

(1.14)Die Lösungen sind g1 = (3/10,−1/10) und g2 = (−1/5, 2/5). Die Längendieser Vektoren sind | g1 |= 0.32 sowie | g2 |= 0.45.

Ein gegebener Vektor V hat gemäß (1.4) und (1.13) die Komponenten

Vi(e)

= V · ei = | V | cos(∠(V, ei)) (1.15)

V i

(g)= V · gi = | V || gi | cos(∠(V,gi)) (1.16)

Vi(g)

= V · gi = | V || gi | cos(∠(V,gi)) . (1.17)

Die Abbildung 1.7 zeigt die graphische Darstellung der erhaltenen Resul-tate. Beachte die unterschiedlich Länge der Basisvektoren.

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Abbildung 1.2: Zerlegung eines Vektors auf schiefwinklige Basen.

In der Literatur über Tensoranalysis, welche keine Basisvektoren benutzt,werden die kontravarianten Komponenten eines Vektors mit den Abschnit-ten υ1 und υ2 identifiziert. D.h. diese Komponenten werden als Parallelpro-jektion von V auf die durch g1 und g2 definierten Richtungen eingeführt.Betrachte noch einmal das Beispiel zur schiefwinkligen Basis aus der Vor-lesung.

Übung 1.4 Stelle einen Zusammenhang her zwischen υ1 undυ2 und den in dieser Vorlesung definierten kontra-varianten Komponenten V 1 und V 2. Zeige, dassgilt

υ1 = |g1|V 1 sowie υ2 = |g2|V 2 . (1.18)

Erläutere das Resultat durch Vergleichmit der Behandlung in Abschnitt 1.3 derim WS 09/10 gehaltenen entsprechen-den Vorlesung, siehe http://www.ifm.tu-berlin.de/fileadmin/fg49/lehre0607/kontitheorie1/Teil02.pdf .

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Länge eines Vektors bei schiefwinkligen Basen und der metrischeTensor. Wenn die Komponenten eines Vektors bezüglich einer schiefwink-ligen Basis angegeben ist, berechnen wir seine Länge wie folgt:

|V|2 = V · V = (N

i=1

V i

(g)gi) ·

N∑

j=1

V j

(g)gj =

N∑

i,j=1

(gi · gj)Vi

(g)V j

(g)(1.19)

In dieser Beziehung treffen wir zum ersten Mal auf die Matrix gi ·gj, welcheeine große Bedeutung hat. Ihre Komponenten

gij ≡ gi · gj =N

k=1

(gi)k(gj)k (1.20)

heißen kovariante Komponenten des metrischen Tensors.

Entsprechend nennen wir die Größen

gij ≡ gi · gj =N

k=1

(gi)k(gj)k (1.21)

kontravariante Komponenten des metrischen Tensors.

Das Längenquadrat eines Vektors können wir also schreiben

|V|2 =N

i,j=1

gijVi

(g)V j

(g)=

N∑

i,j=1

gijVi(g)

Vj(g)

. (1.22)

Beziehungen zwischen ko- und kontravarianten Vektorkomponen-ten. Die Komponenten des metrischen Tensor sind nicht nur wichtig umLängen von Vektoren zu bestimmen. Mittels ihrer Hilfe können wir auchauf einfache Art ko- in kontravariante Komponenten von Vektoren undumgekehrt berechnen, und das geht so: Wir multiplizieren die Gleichung(1.12)3 mit gj, bzw. alternativ hierzu mit gj und beachten die Orthonor-malitätseigenschaft (1.11). Es folgen

Vi(g)

=N

j=1

gijVj

(g), sowie V i

(g)=

N∑

j=1

gijVj(g)

. (1.23)

Schließlich führen wir noch die inverse Matrix−1gij ein, d.h.

N∑

k=1

−1gikgkj = δij . (1.24)

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Übung 1.5 a.) Beweise, dass gilt

−1gij = gij . (1.25)

b.) Berechne den Abstand d zweier Punkte inner-halb der schiefwinkligen Basis g1 = (4, 2), g2 =(1, 3). Die Punkte sind in der rechtwinklig karte-sischen Basis durch die Ortsvektoren x = (1, 1),y = (2, 2) charakterisiert. Erläutere das Resultat.

1.3 Koordinatenlinien, ortsabhängige Basen und

Vektorkomponenten

Zur Vermessung des Raumes haben wir bisher ein globales Koordinaten-system verwendet. Wenn wir aber in den Anwendungen auf Räume großerInhomogentität treffen, so sind lokale Koordinatensysteme zu ihrer Ver-messung besser geeignet. Ein weiterer Grund für die Einführung lokalerKoordinatensysteme ergibt sich aus dem Vorhandensein von koordinaten-abhängigen Vektoren, d.h. V = V(x). Für Vektoren gilt dann die Additi-onsregel (1.5) natürlich nur in der Form

αV+ βW = (αV1(x) + βW1(x), αV2(x) + βW2(x), ..., αVN(x) + βWN(x)) ,(1.26)

d.h., dass die beteiligten Vektoren nur an demselben Punkt x addiert wer-den können.

Zur Einführung lokaler Koordinatensysteme im

N durchziehen wir denRaum in dichter Weise mit Koordinatenlinien. Diese bestehen aus N Fa-milien von Kurven, welche zwei notwendige Eigenschaften haben: (i) DieFortbewegung auf der Kurve einer Familie ändert die Parameter der Kur-ven der anderen Familien nicht. (ii) Zwei Kurven derselben Familie dürfensich nicht schneiden.

Netz von Koor-dinatenlinien zurBestimmung vonStandorten aufder Erde.

Das vermutlich bekannteste Beispiel für Koordinatenlinien sind die Breiten-und Längenkreise des Erdglobus. Weitere Beispiele schauen wir uns nungenauer für den Spezialfall an, wo der Raum

N eine Ebene ist.

Rechtwinklig kartesische Koordinatenlinien. In der Ebene könnenwir zwei Familien von geradlinigen Koordinatlinien einführen, die senk-recht aufeinander stehen. In der Abbildung besteht jede Familie aus fünf

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Geraden. Es sollte aber klar sein, dass wir in einem Raumgebiet das Netzbeliebig dicht machen können.

Abbildung 1.3: Rechtwinklig kartesische Koordinatenlinien. Links: mit ei-ner rechtwinklig kartesischen Basis. Rechts: mit drei schiefwinkligen Basenan drei Raumpunkten.

In der Abb. 1.3 haben wir an drei ausgewählten Raumpunkten eine lokale

kartesische bzw. schiefwinklige Basis angebracht.

Polarkoordinaten in der Ebene. In diesem Beispiel besteht die eineFamilie aus Geraden, die alle von einem beliebig gewählten Nullpunkt aus-gehen, und die andere Familie beinhaltet konzentrische Kreise um den Null-punkt.

Abbildung 1.4: Links: Polarkoordinatenlinien. Rechts: mit zwei lokalen or-thogonalen Basen an zwei Raumpunkten.

Zur Angabe eines Ortes wählen wir als Parameter auf den Geraden derFamilie 1 den Abstand r des Ortes zum Nullpunkt, und auf den Kreisender Familie 2 den Polarwinkel ϕ. Diese beiden Parameter, zi = (r, ϕ) für

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i ∈ 1, 2 hängen mit den kartesischen Parametern xi = (x1, x2) wie folgtzusammen:

x1 = z1 cos(z2), x2 = z1 sin(z2) , (1.27)

sowie nach Invertierung

z1 =√

(x1)2 + (x2)2, z2 = arctan(x2

x1) . (1.28)

Übung 1.6 Ergänze die Umkehrformeln (1.28) durch Bedin-gungen, so daß diese eindeutig werden. Erläutereaußerdem, dass Funktionen??

Im Unterschied zum Fall der kartesischen Koordinatenlinien treffen wirhier auf die Situation, dass die Basisvektoren an verschiedenen Punktenim Raum in verschiedene Richtungen zeigen. D.h. die Basisvektoren sindFunktionen des Ortes!

Allgemeine Koordinatenlinien in der Ebene. Im Falle der Polarkoor-dinaten bestehen die Koordinatenlinien aus einem Netz orthogonaler Ko-ordinatenlinien. Im allgemeinen ist dies jedoch nicht der Fall, siehe diefolgende Abbildung.

Abbildung 1.5: Allgemeine Koor-dinatenlinien in der Ebene.

Die Koordinatenlinien sind hier durchzwei Familien beliebiger Funktionen ge-geben, die aber glatt und eineindeu-

tig sein müssen. Die Glattheit benö-tigen wir zur Konstruktion von Basis-vektoren, und die Eineindeutigkeit ga-rantiert, dass es innerhalb einer Familiekeine Schnittpunkte gibt.

z1 = z1(x1, x2), z2 = z2(x1, x2) ,(1.29)

mit der Umkehrung

x1 = x1(z1, z2), x2 = x2(z1, z2) . (1.30)

Wieder stellen wir fest, dass die lokalen Basen ortsabhängig sind.

Die Verallgemeinerung auf den Raum

N mit N > 2 ist damit klar.

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Koordinatenlinien im

N sind durch Funktionen der Form

zi = zi(x1, x2, ..., xN) ⇔ xi = xi(z1, z2, ..., zN), i ∈ 1, 2, ..., N (1.31)

gegeben. Allgemeine Funktionen dieser Art sind zur Konstruktion von Ko-ordinatenlinien zulässig, falls gewährleistet ist: (i) Die Fortbewegung aufder Kurve einer Familie ändert die Parameter der Kurven der anderen Fa-milien nicht. (ii) Zwei Kurven derselben Familie dürfen sich nicht schneiden.

Ortsabhängige Basen. In den obigen Abbildungen haben wir bereits bei-spielhaft lokale ortsabhängige Basen eingezeichnet. Insbesondere haben wiran einem Ort das System der Basen g1,g2, ...,gN durch Vektoren aufge-baut, welche tangential zu den dort sich schneidenden Koordinatenlinienliegen.

Lokale Basisvektoren in einem System von Koordinatenlinien sollen die-se Eigenschft immer haben, und darum definieren wir die lokale Basisg1,g2, ...,gN gemäß

gi ≡N

k=1

∂xk

∂ziek für i ∈ 1, 2, ..., N , (1.32)

denn dies sind Tangentialvektoren an die Kurven (1.31)2.

Mit dieser Definition ist auch die zugeordnete duale Basis festgelegt, welchewieder aus den Gleichungen (1.11) zu berechnen sind. Zunächst folgt

δij = gi · gj =

N∑

k=1

(gi · ek)∂xk

∂zj= (gi)1

∂x1

∂zj+ (gi)2

∂x2

∂zj+ ... + (gi)N

∂xN

∂zj.

(1.33)Hier bezeichnet das Symbol (gi)k die k-Komponente des Basisvektors gi

bezüglich der kartesischen Basis. Wenn wir uns diese Gleichung genaueransehen, erkennen wir leicht durch Raten, dass gilt

(gi · ek) ≡ (gi)k =∂zi

∂xk

bzw. gi =N

k=1

∂zi

∂xk

ek . (1.34)

Mit dieser Wahl sind nämlich die Gleichungen gi · gj = δij wegen der Ket-

tenregel identisch erfüllt.

Übung 1.7 Verwende die Polarkoordinatenlinien aus obigemBeispiel, und berechne die Basen gi sowie gi.

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Vektorkomponenten bezüglich ortsabhängiger Basen. Wir berech-nen nun die Komponenten eines gegebenen Vektors V bezüglich der imletzten Abschnitt definierten lokalen und ortsabhängigen Basen. Hierzugehen wir aus von den allgemeinen Formeln (1.12), wonach gilt

V =N

i=1

Vi(x)

ei =N

i=1

V i

(z)gi =

N∑

i=1

Vi(z)

gi . (1.35)

Die Größen V i

(x), V i

(z)und Vi

(z)bezeichnen die Komponenten von V bezüglich

der jeweils verwendeten Koordinatenlinien. Beachte, dass wir im Vergleichzu (1.12) die Bezeichnungen leicht verändert haben.

Nun benennen wir den Summationsindex in der ersten Summe von i nachk um, was natürlich nichts ändert. Ausserdem setzen wir unter den beidenanderen Summen die Basen (1.32) und (1.34) ein und erhalten dann

V =N

k=1

Vk(x)

ek =N

i,k=1

V i

(z)

∂xk

∂ziek =

N∑

i,k=1

Vi(z)

∂zi

∂xk

ek . (1.36)

Beachte, dass sich hier alle Darstellungen auf die gleiche rechtwinklig kar-tesische Basis ek beziehen. Wir können also wegen ei · ek = δjk einen Ko-effizientenvergleich durchführen.

Übung 1.8 Beweise, dass gilt

V i

(z)=

N∑

k=1

∂zi

∂xkV k

(x)Vi(z)

=N

k=1

∂xk

∂ziV k

(x), (1.37)

sowie

V i

(z)=

N∑

k=1

gikVk(z)

Vi(z)

=N

k=1

gikVk

(z). (1.38)

Die Gleichungen (1.37) geben an, wie Vektorkomponenten in lokalen Koor-dinatenlinien aus den entsprechenden Vektorkomponenten bezüglich recht-winklig kartesischer Koordinatenlinien berechnet werden. Mittels der Glei-chungen (1.37) können wir kontravariante aus kovarianten Komponentenund umgekehrt berechnen.

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Der Ursprung der Bezeichnungen ko- und kontravariante Kom-ponenten. Erinnere die Formel (1.32), welche angibt, wie die lokale schief-winklige Basis gii∈1,2,...,N aus der kartesischen Basis eii∈1,2,...,N be-rechnet wird. Wenn wir nun diese Formel mit den entsprechenden Darstel-lungen (1.37) für die Vektorkomponenten vergleichen, so beobachten wir:Die Komponenten Vi

(z)transformieren sich in gleicher Weise wie die Basis

gi. Die Komponenten V i

(z)aber transformieren sich bezüglich dieser Basis in

entgegengesetzter Weise, m.a.W. mit der Inversen Transformation. Aus die-sem Grund werden die Komponenten Vi

(z)kovariante und die Komponenten

V i

(z)kontravariante Komponenenten genannt.

Summationskonvention. In vielen der bisher eingeführten Beziehungentreten Einfach- bzw. Doppelsummen auf. Zur Vereinfachung der Schreib-weise ist es nun üblich, die Summenzeichen einfach wegzulassen und fol-gende Regel einzuführen:

Fast jeder gebil-dete Laie kenntdie Relativitäts-theorie. VieleExperten derKontinuums-mechanik aberkennen nur dieEINSTEINscheSummationskon-vention.

Über doppelt auftretende Indizes wird entsprechend der Dimension desbetrachteten Raumes summiert.

Dies ist die Summationskonvention, welche auf EINSTEIN zurückgeht. Bei-spielsweise definieren wir also

aikbk ≡N

k=1

aikbk . (1.39)

In diesem Zusammenhang ist folgende Erkenntnis aus dem Bisherigen wich-tig: Handelt es sich bei der betrachteten Größe um Komponenten bezüglicheiner rechtwinklig kartesischen Basis, ist es nicht wichtig, ob ein Index aneinem Symbol hoch gestellt ist oder rechts unten steht. Bezieht sich dieGröße aber auf ein schiefwinkliges Basissystem, so ist es sehr relevant,wo ein Index steht. Denn aus der Indexstellung ersehen wir sogleich, obauf die Tangentialbasis g1,g2, ...,gN oder auf die zugeordnete Dualbasisg1,g2, ...,gN bezogen wird.

Beispielsweise treten folgende Fälle auf.

aik(x)

bk(x)

≡N

k=1

aik(x)

bk(x)

oder aik(z)

bk

(z)≡

N∑

k=1

aik(z)

bk

(z)ak

i(z)

bk(z)

≡N

k=1

aki

(z)

bk(z)

. (1.40)

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1.4 Der Begriff des Tensors m-ter Stufe

In diesem Abschnitt werden wir Tensoren m-ter Stufe einführen. DieseObjekte haben eine kompliziertere Struktur als die N Tupel, aus denenwir Vektoren aufgebaut haben. Wir werden aber erkennen, dass VektorenTensoren 1. Stufe sind, während die noch genauer zu definierenden Skalarein diesem Zusammenhang Tensoren 0. Stufe sind.

Alternative Charakterisierung von Vektoren. Zunächst verallgemei-nern wir die Formeln (1.37). Wir fragen, wie sich Vektorkomponentenbei einem Wechsel der schiefwinkligen Koordinatenlinien z1, z2, ..., zNzu einem weiteren System schiefwinkliger Koordinatenlinien z1, z2, ..., zNtransformieren. Wir gehen also aus von einer Transformation

zi = ˆzi(z1, z2, ..., zN) ⇔ zi = zi(z1, z2, ..., zN) für i ∈ 1, 2, ..., N ,(1.41)

und berechnen die Komponenten V i

(z)bzw. Vi

(z).

Übung 1.9 Beweise, dass gilt

V i

(z)=

∂ ˆzi

∂zkV k

(z)Vi(z)

=∂zk

∂ziVk(z)

. (1.42)

Die Struktur der Formeln (1.42) hat sich also gegenüber der Transformation(1.37) nicht geändert. Außerdem sind die transformierten Komponentenimmer homogene Linearkombinationen der ursprünglichen Komponenten.

Auch die Exakt-heit mathema-tischer Beweiseist relativ. Ja-cobi, in seinerEpoche nächstGauß der bedeu-tendste deutscheMathematiker,behauptet: WennGauß sagt, erhabe etwas bewie-sen, ist es mir sehrwahrscheinlich,wenn Cauchy essagt, ist eben-soviel pro undkontra zu wetten,wenn Dirichlet essagt, ist es gewiß .

Dies impliziert, dass sich die Summationsregel (1.1) von Vektorkomponen-ten in z Koordinatenlinien überträgt auf die Komponenten bezüglich derKoordinatenlinien z. Dieser Tatbestand ermöglicht eine neue Definition vonVekoren. Zur Vereinfachung der Schreibweise definieren wir vorab

J ij ≡

∂ ˆzi

∂zjJi

j ≡∂zi

∂zj. (1.43)

Nebenbei bemerkt haben die beiden Matrizen J und J einen Namen. Sieheißen JACOBI Matrizen.

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Definition: Die beiden N -Tupel (A1, A2, ..., AN) und (A1, A2, ..., AN), be-stehend aus einwertigen Funktionen, d.h. Aii∈1,2,...,N, Aii∈1,2,...,N :x ∈ N → , definieren einen Vektor A : x ∈ N →

N , wenn sich ihreKomponenten bei der Koordinatentransformation (1.41) transformierengemäß

Ai

(z)(z1, z2, ..., zN) = J i

kAk

(z)(z1, z2, ..., zN) , (1.44)

Ai(z)

(z1, z2, ..., zN) = Jki Ak

(z)(z1, z2, ..., zN) . (1.45)

Bei dieser Definition von Vektoren treten die Basisvektoren nicht mehr ex-plizit auf. Nur die Koordinatenlinien sind noch präsent. Im Zusammenhangmit dieser Sichtweise hat sich ein Sprachgebrauch eingebürgert, der, obwohlnicht korrekt, sehr praktisch ist:

Wir sprechen bei Verwendung des N -Tupels (A1, A2, ..., AN) als Darstellungfür A von dem kontravarianten Vektor A. Verwenden wir dagegen für A

das N -Tupel (A1, A2, ..., AN), so nennen wir A kovarianten Vektor.

Die Inkorrektheit liegt natürlich in der Tatsache begründet, dass das ObjektA als solches weder kontra- noch kovariant ist. Diese Eigenschaften kommennur den Komponenten zu. Später werden wir diesen Aspekt aber nocheinmal aufnehmen.

Der Begriff des Skalars, Skalarprodukt und metrischer Tensor.Im letzten Abschnitt haben wir gelernt, unter welchen Umständen eineMenge von Funktionen, d.h. Aii∈1,2,...,N, Aii∈1,2,...,N, einen Vektor

repräsentieren. Jetzt betrachten wir eine einzelne Funktion.

Definition: Eine einzelne einwertige Funktion f , d.h. f : x ∈ N → ,heißt Skalar, falls gilt

f(z)

(z1, z2, ..., zN) = f(z)

(z1, z2, ..., zN) . (1.46)

In diesem Zusammenhang ist folgende Beobachtung wichtig. Jede der NFunktionen Ai ist eine einwertige Funktion, d.h. Ai : x ∈ N → , trotz-dem haben wir

A(z)

i(z1, z2, ..., zN) 6= A(z)

i(z1, z2, ..., zN) sondern stattdessen (1.47)

Ai

(z)(z1, z2, ..., zN) = J i

kAk

(z)(z1, z2, ..., zN) . (1.48)

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Als nächstes betrachten wir wieder das Skalarprodukt. Zur Erinnerungschreiben wir es für zwei gegebene Vektoren V und W in einer beliebi-gen Basis noch einmal auf.

V · W = gijViW j = gijViWj = V iWi = ViW

i . (1.49)

Wir wissen bereits, wie sich die Vektoren V und W bei einer Transfor-mation der Koordinatenlinien gemäß (1.41) transformieren, und auch dasTransformationsverhalten der Metrik ist klar, denn deren Komponentensind nach (1.20) und (1.21) definiert durch gij ≡ gi · gi und gij ≡ gi · gi.

Übung 1.10 Bestimme das Transformationsgesetz für die Kom-ponenten der Metrik, und zeige, dass sich diese ge-mäß

gij(z)

= Jki J

ljgkl(z)

gij

(z)

= J ikJ

jl g

kl

(z)

. (1.50)

transformieren. Beweise ferner die Regeln für dasHerauf- und Herunterziehen von Indizes:

V i

(z)= gik

(z)

Vk(z)

Vi(z)

= gik(z)

V k

(z). (1.51)

Und damit folgt, dass das Skalarprodukt zweier Vektoren in obigem Sinnin die Klasse der Skalare gehört. Diese Aussage wird durch eine einfacheRechnung bestätigt, die allerdings dem Leser überlassen bleibt.

Übung 1.11 Bilde die Determinante der kovarianten Kompo-nenten des Metriktensors und nenne sie g. Erinne-re, daß die Berechnung einer Determinante eineZahl liefert. Trotzdem ist die Determinante keinSkalar ! Beweise diese Behauptung, und gib dasTransformationsgesetz für g an.

Charakterisierung des Tensors m -ter Stufe auf der Basis von Ko-ordinatenlinien. Nach den soeben gegebenen Definitionen von Skalarenund Vektoren, die wir bereits als Tensoren 0 -ter bzw. 1 -ter Stufe eingestufthaben, geht es wie folgt weiter.

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Definition: Die Matrizen (T ij)i,j∈1,2,...,N, (Tij)i,j∈1,2,...,N,(T i

j)i,j∈1,2,...,N und (Tij)i,j∈1,2,...,N, der einwertigen Funktionen

T ij, Tij, T ij, T j

i : x ∈

N → für i ∈ 1, 2, ..., N, definiereneinen Tensor 2 -ter Stufe T : x ∈

N →

N × N , wenn sich ihreKomponenten bei der Koordinatentransformation (1.41) transformierengemäß

T ij

(z)(z1, z2, ..., zN) = J i

k J jl T kl

(z)(z1, z2, ..., zN) , (1.52)

Tij(z)

(z1, z2, ..., zN) = Jki J l

j Tkl(z)

(z1, z2, ..., zN) , (1.53)

T ij

(z)

(z1, z2, ..., zN) = J ik J l

j T kl

(z)(z1, z2, ..., zN) , (1.54)

Tij

(z)(z1, z2, ..., zN) = Jk

i J jl Tk

l

(z)(z1, z2, ..., zN) . (1.55)

Dieses Beispiel zeigt bereits, dass zur Klassifizierung der Komponenteneines Tensors neben seiner Stufe noch ein weiteres Unterscheidungsmerkmalangegeben werden muss. Dieses Merkmal nennen wir Typ.

Wir sagen: Die Darstellung eines Tensors m -ter Stufe ist vom Typ

(r, s) mit r + s = m , (1.56)

wenn r kontra- und s kovariante Indizes verwendet werden.

Der Tensor 2 -ter Stufe kann also durch vier verschiedene Komponenten-darstellungen charakterisiert werden. Bei Tensoren 3 -ter Stufe gibt es na-türlich noch mehr Variationen, was die Stellung der Indizes angeht. DasPrinzip ist aber klar, und deshalb verzichten wir auf deren explizite Anga-be.

Schließlich beobachten wir an den obigen Darstellungen, dass es auch wich-tig ist zu kennzeichnen, welcher Index ko- bzw. kontravariant ist. In (1.52)3

ist der erste Index kontravariant und der zweite kovariant, in (1.52)4 ist esumgekehrt.

Sind beispielsweise die ersten r Indizes kontravariant und die hiernach fol-genden s Indizes alle kovariant, lautet das Transformationsgesetz, welchesgarantiert, dass die Menge der beteiligten einwertigen Funktionen einenTensor r + s = m -ter Stufe vom Typ (r, s) bilden

T(z)

i1 i2 i3...ir

j1 j2 j3...js

= J i1k1

J i2k2

J i3k3

....Jl1j1

Jl2j2

Jl3j3

... T(z)

k1 k2 k3...kr

l1 l2 l3...ls

.

(1.57)

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Algebraische Operationen mit Tensoren. Da wir Tensoren mittels ein-wertiger Funktionen t : x ∈ N → definiert haben, liegen die möglichenalgebraischen Operationen mit Tensoren bereits fest.

Die Addition der Komponenten zweier Tensoren von gleicher Stufe undgleichem Typ nach vorheriger Multiplikation mit reellen Zahlen α, β pro-duziert die Komponenten eines Tensors von gleicher Stufe und gleichemTyp. Beispiel:

α Aijk + β Bi

jk = Cijk . (1.58)

Die Multiplikation der Komponenten zweier Tensoren der Stufen m und nund zugehöriger Typen (r1, s1) und (r2, s2) produziert die Komponenteneines Tensors m + n -ter Stufe vom Typ (r1 + r2, s1 + s2). Beispiel:

Ai1i2i3 Bj1j2

j3j4j5 = Ci1j1j2i2i3j3j4j5 . (1.59)

Die Verjüngung eines Tensors m -ter Stufe vom Typ (r, s) liefert einenTensor m − 2 -ter Stufe vom Typ (r − 1, s − 1). Beispiel:

Aiij = Bj . (1.60)

Das Wesentliche an den hier gegebenen Gleichungen ist, dass auf beidenSeiten des Gleichheitszeichens ausschließlich Tensoren im obigen Sinn auf-treten. Zur Verdeutlichung betrachten wir noch einmal zwei Beispiele:

Ai Bij = Cj sowie Ai Bij = Dj . (1.61)

Wir setzten voraus, dass A und B Tensoren sind. Dann sind die aus derProduktbildung und Verjüngung resultierende Größen Cj die Komponen-ten eines Tensors, die Größen Dj aber sind keine Tensorkomponenten. BeiAnwendungungen können beide Bildungen auftreten. Während aber dieGleichung (1.61)1 eine objektive Aussage ist, d.h. sie gilt für jedes Systemvon Koordinatenlinien, gilt die Gleichung (1.61)2 nur bezüglich des Systemsvon Koordinatenlinien, in welchem sie aufgestellt wurde.

Charakterisierung des Tensors m -ter Stufe ohne Verwendung vonKoordinatenlinien. Im letzten Abschnitt haben wir das Objekt Tensor

für beliebige aber gegebene Koordinatenlinien eingeführt. Hierbei habenwir, im Gegensatz zu unserem Vorgehen bei Vektoren, ausschließlich die Ei-genschaften der Komponenten eines Tensors charakterisiert. Darüber hin-aus haben wir das System von Basisvektoren, welches den Raum aufspannt,in welchem der Tensor lebt, nicht definiert.

Der Tensor 2. Stufe lebt beispielsweise im Produktraum

N × N , unddieser wird aufgespannt durch N2 dyadische Produkte von Vektorbasen,nämlich gi ⊗ gji,j∈1,2,...,N.

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Das Wesen von Produkträumen wird in der multilinearen Algebra studiert.Diese liefert ein System von Rechenregeln, welche es gestatten, Tensorennebst zugehörigen Tensorbasen unabhängig von den Koordinatenlinien ein-zuführen. Ein Tensor wird hier nicht über sein Transformationsverhaltencharakterisiert, sondern als lineare Abbildung eingeführt, die beispielsweiseVektoren in Vektoren oder auf Skalare abbildet.

Nach meiner subjektiven Meinung bringt dies, weder visuell anschaulichnoch rechentechnisch, irgendwelche Vorteile und wird deshalb unterdrückt.

Übung∗ 1.12 Besorge ein Buch, welches eine gegenteilige Mei-nung vertritt, und referiere etwa 15-20 Minutenüber die Einführung von Tensoren 2 -ter und3 -ter Stufe ohne die Verwendung von Koordi-natenlinien. Zeige insbesondere, dass bei Akzep-tanz von Koordinatenlinien beide Vorgehenswei-sen equivalent sind. Beispielsweise könnten alsGrundlage die Kapitel 2.1.3 und 2.1.15 des Vorle-sungsskriptes Festigkeitslehre von A. Betram die-nen, welches unter der Adresse http://www.uni-magdeburg.de/ifme/festigkeit.html herunter gela-den werden kann.∗ Die Bearbeitung dieser Übung ist freiwillig. DieGruppe, welche allerdings das hier gegebene Pro-blem bearbeitet, erhält hierfür die Gesamtpunkt-zahl der anderen Übungen dieser Woche.

Das vollständig antisymmetrische Symbol. Im Zusammenhang mitder Berechnung von Flächen und Volumina werden wir zwei weitere Pro-duktbildungen zwischen Vektoren benötigen, die Vektorprodukt und Spat-

produkt heißen.Tullio Levi-Civitaund sein Leh-rer GregorioRicci- Curbastrobegründetenvor 120 Jahrendie Form derTensoranalysis,wie sie in dieserVorlesung immernoch gelehrt wird.

Vor deren Einführung definieren wir zunächst das vollständig antisymme-

trische Symbol ε, welches auch LEVI-CIVITA Symbol genannt wird. Im

2 ist ε durch eine 2×2 Matrix definiert, nämlich

εij =

(

0 1−1 0

)

, (1.62)

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und im

3 setzen wir fest

εijk =

1 falls ijk eine gerade Permutation von 123 ,−1 falls ijk eine ungerade Permutation von 123 ,0 falls zwei Indizes gleich sind.

(1.63)Durch Analogieschluß erhalten wir auch das vollständig antisymmetrischeSymbol in höheren Dimensionen, was wir aber hier nicht benötigen.

Wir betrachten nun fast ausschließlich den Fall des 3, wo auch die folgen-den sehr nützlichen Formeln gelten, die sich leicht beweisen lassen.

εijkεkrs = δirδjs − δisδjr , εijkεkjs = −2δis , εijkεkji = −6 . (1.64)

Vor seiner Anwendung zur Volumen- und Flächenberechnung studieren wirweitere Eigenschaften des Symbols ε etwas genauer.

Als erstes stellen wir die Frage, ob die Komponenten εijk die kontravari-anten Komponenten eines Tensors 3. Stufe sind. Zur Beantwortung bildenwir zunächst

J il J j

m Jknεlmn (1.65)

und stellen fest, dass dieser Ausdruck vollständig antisymmetrisch in denIndizes ijk ist. Folglich muss er proportional sein zu εijk. Zur Bestimmungder Proportionalitätskonstanten wählen wir i = 1 j = 2 k = 3. Durch dieseWahl in (1.67) resultiert die bekannte Regel, nach welcher Determinantenvon 3×3 Matrizen berechnet werden.

J1l J2

m J3nεlmn = det(J i

j) ≡ J . (1.66)

Wir schließen, dass die Komponenten εijk fast die kontravariante Kompo-nenten eines Tensors sind, weil gilt

εijk =1

JJ i

l J jm Jk

nεlmn . (1.67)

Größen, die sich gemäß (1.67) transformieren haben auch einen Namen:Sie heißen Tensordichten. Genauer sagen wir, dass das vollständig anti-symmetrische Symbol eine Tensordichte 3. Stufe mit Gewicht W = −1 ist.Weitere Tensordichten werden wir noch kennenlernen.

Schließlich berechnen wir noch die kovarianten Komponenten des ε Sym-bols.

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Übung 1.13 Beweise den Zusammenhang

εijk = g εijk. (1.68)

Vektorprodukt und Spatprodukt. Die Grundbausteine zur Berech-nung beliebiger Flächen und Volumina im

3 sind die Trapezfläche unddas Parallelepiped. Diese einfachen geometrischen Körper werden über dasVektorprodukt und das Spatprodukt charakterisiert.

Abbildung 1.6: Vektorprodukt und Spatprodukt zur Berechnung der Tra-pezfläche bzw. des Parallelepipeds.

Zunächst führen wir im

3, und nur hier, das Vektorprodukt zweier Vekto-ren ein.

Definition: Das Vektorprodukt V zweier Vektoren A und B des 3

bezeichnen wir durchV ≡ A × B . (1.69)

Seine Berechnungsvorschrift soll in rechtwinklig kartesischen Koordina-tenlinien lauten

V ≡ det

e1 e2 e3

A1 A2 A3

B1 B2 B3

. (1.70)

Die vier wesentlichen Eigenschaften des Vektorproduktes sind:

1. Der Betrag von V ist der Flächeninhalt der Fläche, welche gemäß Ab-bildung 1.6 von den Vektoren A und B aufgespannt wird.

|V| = |A||B| sin(∢(A,B)) . (1.71)

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Zum Beweis berechnen wir

V · V = (A × B) · (A × B) (1.72)

= εijkAjBkεilmAlBm

= εijkεilmAjBkAlBm

= εjkiεilmAjBkAlBm

= (δjlδkm − δjmδkl)AjBkAlBm

= (A · A)(B · B) − (A · B)2

= |A|2|B|2 sin2(∢(A,B)) .

2. V steht senkrecht auf dieser Fläche, und zwar so, dass die drei Vek-toren A, B und V ein Rechtssystem bilden. Wir sprechen auch von derRechte- Hand-Regel. Die Behauptung läßt sich leicht überprüfen: Die überdie Indizes ij laufende Doppelsumme, welche in der folgenden Gleichung(1.73) auftritt, ergibt Null, da das symmetrische Produkt AiAj auf dasantisymmetrische ε Symbol trifft.

V · A = εijkAiAjBk = 0 . (1.73)

Natürlich folgt ebenso V · B = 0.

3. Das Vektorprodukt ist nicht assoziativ und antikommutativ, d.h.

(A × B) × C 6= A × (B × C) A × B = −B × A . (1.74)

4. Das Vektorprodukt kann als Vektordichte mit Gewicht -1 klassifiziertwerden. Deshalb gelten seine Eigenschaften in beliebigen Koordinatenlini-en, obwohl wir zunächst das Vektorprodukt nur mit Bezug auf kartesischeKoordinatenlinen definiert hatten.

Übung 1.14 a.) Zeige, dass sich die Komponenten des Vektorpro-duktes V i = (A × B)i transformieren gemäß

V i

(z)(z1, z2, ..., zN) =

1

JJ i

k V k

(z)(z1, z2, ..., zN) . (1.75)

b.) Beweise die Identitäten

A × (B × C) = B(A · C) − C(A · B)

(A × B) × C = B(A · C) − A(B · C) . (1.76)

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Definition: Das Spatprodukt S dreier Vektoren A, B und C des 3 istdefiniert durch

S = (A × B) · C . (1.77)

Es berechnet das Volumen des in Abbildung 1.6 gezeichneten Parallelepi-peds.

1.5 Ableitungen von Tensoren

Zur Aufstellung der Gesetze der Kontinuumsphysik sind Tensoren die ge-eigneten Größen, da Gleichungen zwischen Tensoren unabhängig von denzugrunde liegenden Koordinatenlinien sind. Bisher haben wir gelernt wiedurch algebraische Operationen aus Tensoren weitere Tensoren produziertwerden. In der Kontinuumstheorie benötigen wir aber auch partielle Ab-leitungen von Tensoren nach den Ortskoordinaten, und diese erzeugen imallgemeinen keine Tensoren, sondern Größen mit einem komplizierterenTransformationsverhalten. Das Ziel dieses Abschnittes ist die Einführungvon verallgemeinerten Ableitungen, die derart definiert werden, so daß ausTensoren wieder Tensoren werden.

Im Folgenden werden wir ausschließlich Tensorfelder, das sind Funktionender Ortskoordinaten, von hinreichender Glattheit betrachen. Alle auftre-tenden Ableitungen sollen also ohne besondere Erwähnung bildbar sein.

Die Ableitung eines Skalarfeldes. Bei einem Wechsel der Koordinaten-linien z = (z1, z2, ..., zN) → z = (z1, z2, ..., zN) genügt ein Skalarfeld S(z)der Regel:

S(z)

(z) = S(z)

(z) . (1.78)

Wir bilden auf beiden Seiten dieser Gleichung die partielle Ableitung nachirgendeiner Koordinate, z.B. zi und nach Anwendung der Kettenregel folgt

∂ziS(z)

(z) = J ji

∂zjS(z)

(z) . (1.79)

Die partiellen Ableitungen eines Skalars bilden die Komponenten einesVektors.

In unkorrekter Sprechweise sagen wir: Die partielle Ableitung eines Skalarsist ein kovarianter Vektor.

Die Ableitung eines Vektorfeldes. Wir betrachten einen Vektor mit

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Zerlegung auf die Basis gj∈1,2,...,N. D.h.

V(z) = V j(z)gj(z) . (1.80)

Bei der Ableitung des Vektors V müssen wir nun beachten, dass nicht nurdie Komponente V j, sondern auch die Basis ortsabhängig ist. Wir bildenalso

∂ziV =

∂V j

∂zigj + V j ∂gj

∂zi(1.81)

Zur Identifizierung der Komponenten von ∂∂zi V zerlegen wir zunächst die

Ableitung der Basisvektoren nach der Basis gj∈1,2,...,N. Es ist klar, dassdie Komponenten dieser Ableitung durch Größen mit drei Indizes charak-terisiert sind. Wir schreiben die Komponentenzerlegung wie folgt:

∂gj

∂zi≡ Γk

ijgk . (1.82)

Die Größen Γkij sind von eminenter Bedeutung und haben deshalb einen

Namen bekommen. Sie heißen CHRISTOFFEL-Symbole.In dieser Vor-lesung be-schreiben dieCHRISTOFFEL-Symbole dieVariation einerBasis von Ortzu Ort. In derAllgemeinen

Relativitätstheorie

allerdings kodie-ren sie die Kräftedes Gravitations-feldes .

Durch skalare Multiplikation mit gl erhalten wir eine Berechnungsvorschriftfür die CHRISTOFFEL-Symbole, nämlich

Γlij = gl · ∂gj

∂zi. (1.83)

Als Folge der Definitionsgleichung (1.32) der Basis gj sind die CHRISTOFFEL-Symbole symmetrisch in den unteren Indizes.

In einer späteren Übung werden wir sehen, dass die CHRISTOFFEL-Symbolenicht die Komponenten eines Tensors 3. Stufe vom Typ (1,2) sind.

Wenn wir zur Berechnung der Ableitung eines Vektorfeldes V(z) statt(1.80) die Zerlegung nach der Dualbasis gj∈1,2,...,N verwenden, müssenwir zunächst wieder deren Ableitung berechnen. Sie lautet

∂gj

∂zi= −Γj

ikgk . (1.84)

Übung 1.15 Beweise die Komponentenzerlegung (1.84) .

Die Ableitung eines Vektors nach den Koordinaten kann somit durch zweiAlternativformeln dargestellt werden.

∂ziV = (

∂V j

∂zi+ Γj

ikVk)gj = (

∂Vj

∂zi− Γk

ijVk)gj . (1.85)

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Die hier als Komponenten auftretenden Kombinationen sind die Kompo-nenten eines Vektors. Sie heißen kovariante Ableitungen eines Vektors undwerden durch ein Semikolon abgekürzt.

Die kovarianten Ableitungen der Komponenten eines Vektors sind defi-niert durch

Aj;i ≡

∂V j

∂zi+ Γj

ikVk und Aj;i ≡

∂Vj

∂zi− Γk

ijVk , (1.86)

und bilden Tensoren 2. Stufe der Typen (1,1) bzw. (0,2).

Diese Behauptung beweisen wir in der folgenden Übung.

Übung 1.16 a.) Führe einen Wechsel der Koordinatenlinien von znach z durch und schreibe die Transformationsglei-chung der kontravarianten Komponenten eines VektorsV auf. Bilde auf beiden Seiten der Gleichung die Ab-leitungen nach den Koordinaten. Zeige, entsprechendder Vorgehensweise beim Skalarfeld, dass diese Ablei-tungen nicht die Komponenten eines Tensors 2. Stufevom Typ (1,1) sind.b.) Berechne das Transformationsgesetz derCHRISTOFFEL-Symbole, welches lautet

Γijk

(z)

= J im Jn

k J lj Γm

ln(z)

+ J il

∂2zl

∂zj zk. (1.87)

Erläutere das Resultat.c.) Zeige, dass die kovarianten Ableitungen eines Vek-tors die Komponenten eines Tensors 2. Stufe sind.

Es gibt eine zu (1.83) alternative Berechnungsformel der CHRISTOFFEL-Symbole. Für manche Anwendungen und insbesondere für Diskussionen istdiese günstiger. Die Alternativformel lautet

Γmij =

1

2gml(

∂gil

∂zj+

∂gjl

∂zi− ∂gij

∂zl) . (1.88)

Zum Beweis von (1.88) starten wir mit (1.83) und bilden auf beiden Seitendas Skalarprodukt mit dem Vektor gl. Das erhaltene Resultat schreibennoch einmal auf, aber mit Vertauschung der Indizes i und l. Nach Addi-tion beider Gleichungen folgt (1.89)1 sowie zwei weitere Ausdrücke nach

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Vertauschung von i mit l bzw. von j mit l.

∂gil

∂zj= Γk

ijgkl+Γkljgki

∂gjl

∂zi= Γk

ijgkl+Γkligkj

∂gij

∂zl= Γk

ilgkj+Γkljgki . (1.89)

Jetzt addieren wir die drei Gleichungen, wodurch auf der rechten Seite nurein Term überlebt. Nach Multiplikation mit glm folgt dann die Behauptung.

Die Ableitung der Komponenten eines Tensors 2. Stufe. Bei derAbleitung eines Skalarfeldes sowie in Übung 1.16 haben wir eine Methodekennen gelernt, mittels der wir auch kovariante Ableitungen der Kompo-nenten eines Tensors 2.Stufe erzeugen können.

Die kovarianten Ableitungen der vier verschiedenen Komponenten einesTensors 2.Stufe sind definiert gemäß

T ij;k ≡ ∂T ij

∂zk+ Γi

klTlj + Γj

klTil , (1.90)

Tij;k ≡ ∂Tij

∂zk− Γl

kiTlj − ΓlkjTil , (1.91)

T ij;k ≡

∂T ij

∂zk+ Γi

klTl

j − ΓlkjT

il , (1.92)

T ji;k ≡ ∂T j

i

∂zk− Γl

kiTj

l + ΓjklTi

l . (1.93)

Sie sind Komponenten der Typen (2,1), (0,3) und (1,2) eines Tensors 3.Stufe.

Der Beweis dieser Behauptung bringt nichts neues und wird darum unter-drückt.

Die Ableitung der Komponenten eines Tensors m-ter Stufe. Wiees mit einem Tensor höherer als 2. Stufe weitergeht ist klar.

1. Die kovariante Ableitung seiner Komponenten setzt sich additiv zusam-men aus der gewöhnlichen partiellen Ableitung, sowie aus Korrekturter-

men, welche erzwingen, dass die kovariante Ableitung der Komponenteeines Tensors m-ter Stufe einen Tensor (m+1)-ter Stufe erzeugt.

2. Wie beim Tensor 2. Stufe gibt es für jeden Index einen Korrekturterm,dessen Struktur leicht aus den Formeln (1.90) heraus gelesen werden kann.

3. Ein oberer Index erzeugt einen Term mit positivem Vorzeichen, ein un-terer Index impliziert ein negatives Vorzeichen.

Rechenregeln für kovariante Ableitungen. Obwohl kovariante Ablei-tungen aus gewöhnlichen Ableitungen plus algebraischen Termen bestehen,

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gelten viele Regeln, die auch für gewöhnliche Ableitungen bestehen.

1.Die kovariante Ableitung ist eine homogene und lineare Operation. D.h.,dass beispielsweise für zwei Zahlen α, β und zwei Tensorkomponenten 3.Stufe Ai

jk, Bijk gilt

(αAijk + βBi

jk);l = αAijk;l + βBi

jk;l . (1.94)

2. Es gilt die Produktregel, beispielsweise

(Aijk Br

st);l = Aijk;l Br

st + Aijk Br

st;l . (1.95)

3. Die Verjüngung ist mit einer kovarianten Ableitung vertauschbar, bei-spielsweise

Aijk;l |für i=j = Aj

jk;l . (1.96)

4. Allerdings, die SCHWARZsche-Regel gilt nicht, d.h. im allgemeinen ha-ben wir

Aijk;l;m 6= Ai

jk;m;l , (1.97)

was wir demnächst noch genauer diskutieren werden.

Verschiebung von Vektoren längs einer Kurve. Wir gehen aus von ir-genwelchen Koordinatenlinien z = (z1, z2, ..., zN) und geben uns auf diesemNetz eine Kurve C vor, die wir durch einen Parameter λ charakterisieren.

Wichtigstes undtrivialstes inder Mathema-tik wurde vonHermann Aman-dus SCHWARZmit gleicherGründlichkeitbearbeitet. EineCharakterei-genschaft, dievermutlich vielenMathematikern zuEigen ist.

Wir schreiben

C : zi = zi(λ) für i ∈ 1, 2, ..., N . (1.98)

Beipielsweise können wir λ = s setzen, wo s die Bodenlänge auf C ist,bezogen auf einen beliebigen Anfangspunkt.

Als nächstes betrachten wir eine Vektorfunktion V(λ) ≡ V(z(λ)) auf C

und interessieren uns für die Ableitung des Vektors längs C. Ihre Berech-nung ist nach dem Vorhergehenden sehr einfach. Mittels V = V igi, derKettenregel und (1.85)1 bilden wir

dV(λ)

dλ=

∂V(z)

∂zj

dzj

dλ= (

dV i(λ)

dλ+ Γi

jkVj dzk

dλ)gi . (1.99)

Häufig ist in Anwendungen eine Parallelverschiebung eines Vektors längseiner gegebenen Kurve C durchzuführen.

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Abbildung 1.7: Verschiebung eines Vektors längs einer gegebenen Kurve.

Definition: Ein Vektor V heißt parallelverschoben zwischen zwei Punk-ten P1 und P2 auf einer Kurve C, falls für alle λ ∈ [P1, P2] gilt

dA(λ)

dλ= 0 . (1.100)

In den nächsten Übungen machen wir uns mit der anschaulichen Bedeu-tung dieser Definition vertraut. Zur Vorbereitung berechnen wir zunächstdie CHRISTOFFEL-Symbole für ein Netz von Koordinatenlinien, welchesdurch Kugelkoordinaten im Raum

3 generiert wird.

Übung 1.17 a.) Berechne die Komponenten des Metrik-Tensors unddie CHRISTOFFEL-Symbole im Raum

3 für Kugel-koordinaten z = (r, θ, φ), welche mit den rechtwinkligkartesischen Koordinatenlinien x = (x1, x2, x3) über dieFormeln

x1 = r cos(φ) sin(θ) x2 = r sin(φ) sin(θ) x3 = r cos(θ)(1.101)

zusammenhängen.b.) Spezialisiere die Formeln für den Fall, das eine Ebe-ne vorliegt.

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Übung 1.18 Betrachte in der Ebene eine KurveC : x(λ) = (x1 = 2, x2 = λ).

Am Ort λ = 0 ist ein Vektor V(0) = (1, 1/2) mit Bezugauf kartesische Koordinatenlinien gegeben. Verwen-de nun zur Beschreibung der Koordinaten der EbenePolar-Koordinatenlinien. Führe eine Parallelverschie-bung von V auf C zum Punkt λ = 3 durch.a.) Bestimme grafisch die Komponenten von V(3) be-züglich der durch das Polarnetz generierten Tangen-tenbasis gi∈1,2.b.) Führe das gleiche Programm durch Auswertung derGleichung

dV i(λ)

dλ= −Γi

jkVj dzk

dλ(1.102)

durch, und erläutere ausführlich die Vorgehensweise.

Übung 1.19 Ein Flugzeug fliegt in konstanter Höhe von Peking (P ) nachVancouver (V ). Üblicherweise nimmt der Pilot die Route entlangeines Großkreises, welcher die Punkte P und V verbindet.a.) Was ist ein Großkreis?b.) Wie läßt sich im Prinzip die Gleichung des Großkreises mitden Hilfsmitteln dieser Vorlesung berechnen?

Aus: Thorne, Misner, Wheeler Gravitation, 1978.c.) Beschreibe, wie sich die Flugroute im Koordinatennetz derLängen- und Breitenkreise der Erde gestaltet. Entweder reinverbal oder mit Gleichungen aus der Vorlesung.d.) Illustriere Teile der Lösung in der Abbildung.e.) Ist die Flugbewegung eine Folge von Parallelverschiebungen?

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Die Operatoren grad, div und rot. Gewisse Kombinationen von par-tiellen Ableitungen nach den Koordinaten treten häufig auf und habenteilweise eine anschauliche Bedeutung. Für diese Kombinationen sind des-halb besondere Symbole und Namen eingeführt worden. Die Bedeutung derNamen wird uns in den späteren Anwendungen klar werden.

Wir beginnen mit der Definition des Nabla-Symbols, welches die N parti-ellen Ableitungen zu einem Vektor vereinigt. Im Folgenden verwenden wirzunächst ausschließlich rechtwinklig kartesische Koordinatenlinien.

∇ ≡ ei∂

∂xi. (1.103)

∇ wird angewendet auf Skalare, Vektoren und Tensoren. Falls die beidenletzteren Objekte durch Komponenten dargestellt werden, haben wir zumBeispiel

∇S(x) = ei∂S(x)

∂xi∇V j(x) = ei

∂V j(x)

∂xi∇T jk(x) = ei

∂T jk(x)

∂xi.

(1.104)Wird das ∇-Symbol auf einen Skalar angewandt, wird die Bezeichung Gra-

dient ≡ grad eingeführt.

Wir beobachteten, dass durch Anwendung des ∇-Symbols kovariante Vek-torkomponenten, gemischte Tensorkomponenten 2. Stufe bzw. gemischteTensorkomponenten 3. Stufe enstehen.

Als nächstes betrachten wir das Skalarprodukt des Nabla-Symbols mitVektoren bzw. Tensoren. Diese Operation erhält die Bezeichung Diver-

genz ≡ div.

Für Vektoren V entsteht natürlich

div V ≡ ∇ · V =∂V i

∂xi. (1.105)

Bei Anwendung der Operation div auf Tensoren 2. oder höherer Stufe be-nötigen wir noch die Zusatzinformation mit welchem der Tensorindizes dieentstehende Verjüngung stattfinden soll. Wir vereinbaren, dass es der ersteIndex sein soll. D.h.

div T ≡ ∇ · T = (∂T ijk...

∂xi)j,k,...∈1,2,3,...,N . (1.106)

Schließlich ist auch das Vektorprodukt des Nabla-Symbols mit Vektoreninteressant. Im

3 heißt die Operation Rotation ≡ rot, und die Operation

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ist definiert wie folgt

rot V ≡ ∇× V = (εijk ∂V k

∂xj)i∈1,2,3 . (1.107)

Die Wirkung des ∇-Symbols läßt sich leicht auf beliebige Koordinatenli-nien übertragen, da sein Transformationsverhalten sowie das der andereninvolvierten Größen festliegen.

Definition des Nabla -Symbols: In beliebigen Koordinatenlinien defi-nieren wir

∇(·) ≡ gi(·);i , (1.108)

wobei der Punkt für die Komponenten eines Tensors m- ter Stufe steht.Folgerungen:1. Bei einem Wechsel auf beliebige Koordinatenlinien folgt

∇(·) = ei ∂

∂xi(·) = gi(·);i . (1.109)

2. Die Anwendung des ∇-Symbols auf kontravarianten Komponententransformiert sich gemäß

∇(T(x)

ijk...) =∂xi

∂zm

∂xj

∂zn

∂xk

∂zl· · · ∇(T

(z)

mnl...) . (1.110)

3. Für Tensorkomponenten vom Typ (r,s) gilt entsprechendes. Beispiels-weise

∇(T(x)

ijk...) =∂xi

∂zm

∂zn

∂xj

∂zl

∂xk· · · ∇(Tm...

nl(z)

) . (1.111)

4. Die Divergenzbildung in Form einer Verjüngung lautet

∂xi(T(x)

ijk...) =∂xj

∂zn

∂xk

∂zl· · · (T

(z)

mnl...);m . (1.112)

5. Die Operation rot ist nur für Vektoren erklärt. Es gilt

rot(x)

iV =∂xi

∂zl(εlmn

√g

Vn;m(z)

) . (1.113)

Nebenbemerkung: Die Verallgemeinerung der Operation rot auf Tensorensowie auf höhere Raumdimensionen ist nur von Interesse, wenn die Ten-soren vollständig antisymmetrisch sind. Der bekannteste Fall betrifft das

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elektromagnetische Feld, welches durch einen antisymmetrischen Tensor 2.Stufe repräsentiert wird. In dieser Vorlesung werden wir uns aber hiermitnicht befassen.

Im Folgenden diskutieren wir kurz gefaßte Beweise zu den fünf Behaup-tungen.

Zu 1. Die Gleichung (1.109) führt für z = x zu einer Identität, denn be-züglich x- Koordinatenlinien sind die Christoffelsysmbole Γi

jk = 0, und diekovariante Ableitung reduziert sich auf eine partielle Ableitung. Nun istaber leicht nachzuprüfen, dass das ∇-Symbol ein Vektor ist. Also gilt dieAussage für beliebige Koordinatenlinien.

Zu 2. Wir beweisen die Gleichung (1.111) für einen Vektor V. Die Übertra-gung auf Tensoren höherer Stufe ergibt sich dann von selbst. Wir startenmit dem Transformationsgesetz V

(x)

k = Jki V(z)

i für die Komponenten von V

und rechnen wie folgt:

ei∂

∂xiV(x)

k = gj ∂

∂zj(Jk

i V(z)

i) (1.114)

= Jki g

j ∂

∂zjV(z)

i + V(z)

igj ∂

∂zj

∂xk

∂zi

=∂xk

∂zigj ∂

∂zjV(z)

i + V(z)

igj ∂xk

∂zmΓm

ij

=∂xk

∂zigj(

∂zjV(z)

i + Γinj V

(z)

n) =∂xk

∂zigjV i

;j(z)

.

Zu 3. Zum Beweis der Gleichung (1.112) verwenden wir einfach die Regelvom Herauf- und Herunterziehen von Indizes mit den Komponenten desmetrischen Tensors. Dieser kann aus Ableitungen herausgezogen werden,denn es gilt

gij;k ≡ 0 und gij;k ≡ 0 . (1.115)

Diese wichtigen Identitäten beweisen wir durch Anwendung der Formeln(1.90) und (1.91) auf gij bzw. gij. Wenn wir danach die Darstellung derCHRISTOFFEL-Symbole (1.88) einsetzen, erkennen wir unmittelbar dieRichtigkeit der Behauptungen (1.118).

Zu 4. Eine Verjüngung von (1.109) liefert sofort die Divergenz (1.112).

Zu 5. Zur Demonstration der Einfacheit der Rechnungen in diesem Kon-text, geben wir auch hier die einzelnen Schritte noch einmal an, die zu(1.113) führen. Wir überlassen es aber dem Leser, die aus früheren Ab-

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schnitten verwendeten Beziehungen zu identifizieren.

(∇× V)i = εijk ∂

∂xjV(x)

k (1.116)

=1

det(∂x∂z

)

∂xi

∂zl

∂xj

∂zm

∂xk

∂znεlmn ∂zo

∂xj

∂zo(∂xk

∂zpV(z)

p)

=1√g

∂xi

∂zlεlmngnpV

p;o

(z)

=∂xi

∂zl

(

εlmn

√g

Vn ;o(z)

)

.

Damit haben wir die fünf Behauptungen bewiesen.

Im Zusammenhang mit der Divergenzbildung gibt es noch eine Alterna-tivdarstellung. Zumindest für Vektoren ist diese sehr nützlich. Es gilt

divV ≡ V n;n =

1√g

∂√

g V n

∂zn. (1.117)

Diese Formel folgt aus der Identität

Γnin =

1√g

∂√

g

∂zi. (1.118)

Übung 1.20 a.) Beweise die Formel (1.118) und erläutere die sichhieraus ergebende Formel (1.117) .b.) Diskutiere die entsprechende Divergenzbildung beiTensoren 2. Stufe.

Lokale orthogonale Basen. Häufig treten bei Anwendungen lokale Basenauf, die durch orthogonale Basisvektoren generiert werden. In diesem Fallhat der metrische Tensor eine Diagonalstruktur, d.h. beispielsweise im

3

gij =

h21 0 0

0 h22 0

0 0 h23

und gij =

h−21 0 00 h−2

2 00 0 h−2

3

. (1.119)

In diesem Kontext ist es sinnvoll physikalische Komponenten von Tensoren

einzuführen.

Beachte: In diesem Abschnitt wird die Summationskonvention nicht ver-wendet!

Definition: Die Größen

T < ijk.. >≡ hihjhk · · · T ijk... = hihjhk · · · Tijk... (1.120)

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heißen physikalische Komponenten des Tensors T.

Die physikalischen Komponenten sind deshalb nützlich, weil sie sich aufBasisvektoren mit der Länge 1 beziehen.

Im Zusammenhang mit Skalaren und Vektoren im

3 sind folgende leichteinzusehende Relationen nützlich.

1. Das Skalarprodukt:

V · W = V < 1 > W < 1 > +V < 2 > W < 2 > +V < 3 > W < 3 > .(1.121)

2. Der Gradient:

(grad S) < i >=1

hi

∂S

∂zi. (1.122)

3. Die Divergenz:

divV ≡3

i=1

V i;i =

1√g

3∑

i=1

∂√

gV i

∂zi(1.123)

=1

h1h2h3

(∂h2h3V < 1 >

∂z1+

∂h1h3V < 2 >

∂z2+

∂h2h1V < 3 >

∂z3) .

Auf die Frage Na-poleons, warum inseinem berühm-testen Werk, Die

Himmelsmecha-

nik, Gott nichteinmal erwähntwird, antworteteLAPLACE: Ichbedurfte dieserHypthese nicht.Als NapoleonsInnenministerkonnte LAPLACEallerdings nichtreüssieren, da erden Geist desunendlich Kleinenin die Verwaltunghineingetragenhatte.

4. Die Rotation:

1

hi

(rotV) < i > ≡3

j,k=1

εijk

√gVk;j =

3∑

j,k=1

εijk

h1h2h3

∂hkV < k >

∂zj.(1.124)

Übung 1.21 Beweise die Formel (1.124) und zeige ausführlich,warum hier die kovariante Ableitung durch eine par-tielle Ableitung ersetzt werden darf.

Der LAPLACE-Operator. Schließlich betrachten wir noch eine speziel-le zweite Ableitung von Skalaren und Vektoren, welche einen besonderenNamen bekommen hat.

In rechtwinklig kartesischen Koordinaten heißt die Operation

(x)

(·) ≡ ∂2

∂xixi(1.125)

LAPLACE-Operator.

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Sei f : x ∈ 3 → ein Skalar, d.h. f(x)

= f(z)

≡ f(z), dann gilt in schief-

winkligen Koordinatenlinien

(x)

( f(x)

) =1√g

∂zi(√

ggij ∂

∂zjf) . (1.126)

Zum Beweis von (1.126) gehen wir wie folgt vor:

(x)

( f(x)

) =∂

∂xi(

∂xif(x)

) mit V i

(x)≡ ∂

∂xif(x)

und V i = gij ∂

∂zjf(1.127)

= V i;i =

1√g

∂zi(√

g V i) =1√g

∂zi(√

ggij ∂

∂zjf) .

In einer orthogonalen Basis im

3 wird hieraus

(x)

f(x)

=1

h1h2h3

(

∂z1(h2h3

h1

∂f

∂z1) +

∂z2(h1h3

h2

∂f

∂z2) +

∂z3(h1h2

h3

∂f

∂z3)

)

.

(1.128)

Als nächstes wenden wir den LAPLACE-Operator auf ein Vektorfeld V =V(x)

iei = V igi an.

Die Beziehungen zwischen den Darstellungen in rechtwinklig kartesischenund krummlinigen Koordinatenlinien lauten in diesem Fall

(x)

V(x)

i =∂xi

∂zj(z)

V j , wobei (z)

V j ≡ gkl(V j;k);l (1.129)

die Wirkung des LAPLACE-Operators auf einen Vektor in krummlinigenKoordinatenlinien angibt.

Übung 1.22 Beweise die Formel (1.129). Hilfe: Führe dieCHRISTOFFEL-Symbole ein mittels der beidenIdentitäten

∂2xi

∂zj∂zk=

∂xi

∂zlΓl

jk und∂2zi

∂xj∂xk= −∂zl

∂xi

∂zm

∂xjΓi

lm .

(1.130)

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Übung 1.23 a.) In Kugelkoordinaten sei eine Funktion f(r) gege-ben, welche nur von der radialen Koordinate abhängt.Zeige, dass gilt

(x)

f(x)

=∂2f

∂r2+

2

r

∂f

∂r. (1.131)

b.) Betrachte nun ein Vektorfeld u in Kugelkoordi-naten, welches nur eine Radialkomponente u(r) be-sitzt. D. h., der Vektor u hat die Komponenten u =(u(r), 0, 0). Berechne die zu Teil a.) entsprechendeFormel.

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Kapitel 2

Volumen-, Flächen- und

Linienintegrale

2.1 Ziele

Masse, Impuls und Energie eines Körpers Ω ⊂ 3 werden durch Integraleüber sein Volumen dargestellt. Greifen an der Oberfläche ∂Ω dieses KörpersKräfte an, oder wird dem Körper durch seine Oberfläche Wärme zugeführt,so wird dies durch Flächenintegrale über ∂Ω beschrieben. Ein Körper kannauch durch eine innere Fläche I in zwei Teile mit unterschiedlichen Eigen-schaften geteilt sein. Beispielsweise trennt I eine flüssige von einer festenPhase. Der Rand von I ist eine Linie ∂I und mögliche Flüsse über diesenRand ins Innere des Körpers beschreiben wir durch Linienintegrale über∂I. In diesem Kapitel studieren wir die Beziehungen zwischen Volumen-,Flächen- und Linienintegralen sowie Zeitableitungen dieser Objekte.

2.2 Der Integralsatz von Gauß

Wir betrachten ein Gebiet Ω im Punktraum

3. Dessen Oberfläche be-zeichnen wir mit ∂Ω. In jedem Punkt x auf ∂Ω sei ein Normalenvektor

n(x) = (n1, n2, n3) mit |n(x)| = 1 (2.1)

definiert, welcher nach Außen zeigen soll. Mit Bezug auf rechtwinklig karte-sische Koordinatenlinien erfüllen wir die Normalisierungsbedingung (2.1)2

durch die Darstellung

n = (cos (∢n, x1), cos (∢n, x2), cos (∢n, x3)) = (cos α, cos β, cos γ) . (2.2)

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Für eine glatte Funktion f : x ∈ Ω → gelten die drei

Identitäten:∫

Ω

∂f

∂xidV =

∂Ω

fni da für i ∈ 1, 2, 3 . (2.3)

Abbildung 2.1: Volumen Ω im

3 mit Projektion auf die x1, x2 Ebene.

Anhand der Abbildung 2.1 beweisen wir nur den Fall i = 3. Die beiden an-deren Richtungen sind analog zu behandeln. Die folgenden Schritte setzendie Projektion von Ω auf die x1, x2 Ebene formelmäßig um.

Ω

∂f

∂x3dx1dx2dx3 =

A(x1,x2)

dx1dx2

x3=zo(x1,x2)∫

x3=zu(x1,x2)

∂f

∂x3dx3 (2.4)

=

A(x1,x2)

dx1dx2(f(x1, x2, z0) − f(x1, x2, zu))

=

∂Ωo

f cos(γ)da +

∂Ωu

f cos(γ)da .

Die Einführung des Winkels γ, d.h. den Zusammenhang zwischen dem

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Flächenelement da und den Koordinatendifferenzen dx1dx2 machen wiruns in Abbildung 2.2 klar.

Abbildung 2.2: Flächenelement auf ∂Ωo.

Die linke Seite der Abbildung zeigt ein ebenes Flächenelement mit Flächen-inhalt da, dessen Richtung beschrieben wird durch einen Normalenvektor,der mit der x3 -Achse den Winkel γ und mit der (nichtgezeichneten) x1

-Achse den Winkel π/2 bildet. Die rechte Seite der Abbildung zeigt dieApproximation eines Teiles von ∂Ωo durch das ebene Flächenelement. Diefolgende Beziehung (2.6)1 lesen wir aus Abbildung 2.2 ab. Die Beziehung(2.6)2 folgt durch eine entsprechende Betrachtung für Ωu.

dx1dx2 = cos(γ)da auf ∂Ωo , dx1dx2 = − cos(γ)da auf ∂Ωu .(2.5)

Napoleon unter-sagte den Be-schuß Göttingens,als ihm gesagtwurde, dass Gausshier lebt undarbeitet.

Als nächstes betrachten einen Vektor F : x ∈ Ω →

3, d.h. F(x) =(F 1(x), F 2(x), F 3(x)). Nun wenden wir auf jede Komponente von F dieIdentität (2.11) an, und addieren die drei resultierenden Identitäten auf.Es ensteht eine neue Identität.

Integralsatz von Gauß für Vektoren:∫

Ω

div(F)dV =

∂Ω

F · n da . (2.6)

Entsprechendes gilt natürlich auch im

N und für Tensoren höherer StufeT = (T ij)i,j∈1,2,...,N. Wir geben das Resultat in Komponentendarstellungan.

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Integralsatz von Gauß für Tensoren:

Ω

∂T ijk...

∂xidV =

∂Ω

T ijk...ni da . (2.7)

Die Übertragung von kartesischen auf krummlinige Koordinatenlinien istnach den Regeln von Kapitel 1 durchzuführen und ist Gegenstand der fol-genden Übung.

Übung 2.1 a.) Berechne die Transformationsgesetze für das Volu-menelement dV sowie für das Flächenelement da beimWechsel x → z von kartesischen auf krummlinige Koor-dinatenlinien. Hilfe: Verwende zur Darstellung von dVbzw. da das Spat- bzw. das Vektorprodukt.b.) Stelle den Integralsatz von Gauß in krummlinigenKoordinatenlinien auf.

Eine Anwendung des Integralsatzes von Gauß wird durch das folgendeBeispiel gegeben.

Wir betrachten einen mit Wasser gefüllten Behälter. Bekanntlich nimmtder Druck p mit der Wassertiefe −z gemäß dem Gesetz

p(z) = p0 − ρwgz (2.8)

zu. Hier ist p0 der Druck an der Wasseroberfläche, d.h. bei z = 0, ρw ist diekonstante Dichte von Wasser, und g = 9.81 m/s2 ist die Erdbeschelunigung.

Ein in Wasser ruhender Körper Ω mit dem Volumen VΩ und der Dichte ρΩ

erfährt unter Wasser zwei Kräfte: 1. Die Gewichtskraft, welche in jedemPunkt des Inneren von Ω angreift. 2. Die vom Wasser auf die Oberflächeausgeübte Druckkraft, welche normal auf der Oberfläche steht. Die Sum-me beider Kräfte ergibt die Auftriebskraft K. Dieser Sachverhalt lautet inmathematischer Formulierung

K = −ρΩ VΩ g

001

+

∂Ω

p(z)nda . (2.9)

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Abbildung 2.3: Ein Körper Ω erfährt unter Wasser die Auftriebskraft K.

Übung 2.2 Berechne die Kraft auf einen in Wasser ruhenden Kör-per. Zeige, dass gilt

K = (ρw − ρΩ)gVΩ

001

. (2.10)

a.) Berechne die Kraft auf einen Körper von der Gestalteines Quaders durch direkte Auswertung des Integralsin (2.9).b.) Berechne die Kraft auf einen Körper von beliebi-ger Gestalt. Hilfe: Verwende hier den Integralsatz vonGauß . Beachte, dass diese Anwendung nicht trivial ist,und sehr sorgfältig durchgeführt werden muss.

2.3 Der Integralsatz von Stokes

Während der Integralsatz von Gauß aus einem Volumenintegral ein Flä-chenintegral macht, verwandelt der Integralsatz von Stokes ein speziellesIntegral über eine Fläche A in ein Linienintegral über eine die Fläche be-grenzende Randkurve ∂A.

Wir parametrisieren ∂A durch die Bogenlänge s, und führen einen Vektorτ ein, welcher in jedem Punkt der Randkurve ∂A die Tangente von ∂Aangibt. In dieser Vorlesung benötigen wir den Integralsatz von Stokes nur

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für Vektoren F : x ∈ 3 →

3. Wie hier immer vorausgesetzt wird, müssendie auftretenden Ableitungen im klassischen Sinn bildbar sein.

Abbildung 2.4: Geometrisches Objekt im Kontext des Integralsatzes vonStokes.

Integralsatz von Stokes im

3:∫

A

rot(F) · n da =

∂A

F · l ds , (2.11)

wobei l ein Einheitsvektor tangential zur Kurve ∂A ist.

G.S.Der Beweis dieser Identität startet mit einer Zerlegung der Fläche aus Ab-bildung 2.4 in kleine Zellen. Die Integrale über diese Zellen werden dannvermittels ähnlicher Argumente ausgewertet, die im letzten Abschnitt zumIntegralsatz von Gauß führten. Wir verzichten auf die Einzelheiten.

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2.4 Das Reynolds’sche Transporttheorem für

Volumenintegrale

Wir betrachten ein zeitabhängiges Gebiet Ω(t) ⊂ 3 mit dem Rand ∂Ω(t).Die äußere Normale ist durch eine Funktion n : (t,x) ∈ [0,∞)× 3 →

3

charakterisiert. Die Geschwindigkeit der Punkte im Inneren und auf demRand des Gebietes Ω(t) soll gemäß w : (t,x) ∈ [0,∞)× 3 →

3 gegebensein.

In Ω(t) soll es eine glatte Funktion f : (t,x) ∈ [0,∞) × 3 → geben.Wir bilden

Ω(t)f(t,x)dV und interessieren uns für die Zeitableitung des

Integrals. Beachte, dass die Zeit in dem zu differenzierenden Integral anzwei Stellen auftritt: Im Integranden und in den Integralgrenzen.

Es gilt das

Reynolds’sches Transporttheorem:

d

dt

Ω(t)

f(t,x)dV ≡∫

Ω(t)

∂f(t,x)

∂tdV +

∂Ω(t)

f(t,x)w(t,x)·n(t,x) da . (2.12)

O.R.Den Beweis dieses Theorems beginnen wir mit einer Betrachtung des Ge-bietes Ω zur Zeit t0. Zur Angabe der Lage der Punkte von Ω(t0) verwen-den wir rechtwinklig kartesische Koordinatenlinien und führen Ortsvekto-ren x0 ein. Aufgrund eines gegebenen Geschwindigkeitsfeldes w befindensich die Punkte des zeitabhängigen Gebietes Ω(t) zur Zeit t an den Ortenx = x(t,x0). Hierbei sind die Funktionen x(t,x0) Lösungen eines Systems

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gewöhnlicher Differentialgleichungen. Dieses lautet

d

dtx(t,x0) = w(t, x(t,x0)) mit der Anfangsbedingung x(0,x0) = x0 .

(2.13)

Abbildung 2.5: Geometrisches Objekt im Kontext des Integralsatzes vonStokes.

Vermittels der Funktionen x transformieren wir nun das Gebiet Ω(t) aufdas Gebiet Ω(t0):

Ω(t)

f(t,x)dV =

Ω(t0)

f(t,x0)J(t,x0)dV0 . (2.14)

Hierbei haben wir definiert

f(t,x0) ≡ f(t, x(t,x0)) J(t,x0) ≡ det(∂xi

∂xj0

) . (2.15)

Die Richtigkeit der Identität (2.14) folgt unmittelbar aus dem Resultat derÜbung 2.1a.

Nach Rückführung des zeitabhängigen Gebietes Ω(t) auf ein festes GebietΩ(t0) haben wir nur noch ein Integral mit festen Grenzen zu differenzieren.Dies geschieht nach den bekannten Regeln.

d

dt

Ω(t)

f(t,x)dV =d

dt

Ω(t0)

f(t,x0)J(t,x0)dV0 =

Ω(t0)

(∂f

∂tJ + f

∂J

∂t)dV0 .

(2.16)

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Um das letzte Integral in (2.16) wieder auf das Gebiet Ω(t) zu transformie-ren, benötigen wir Ausdrücke für die beiden Zeitableitungen. Diese werdenin der folgenden Übung erarbeitet.

Übung 2.3 a.) Beweise, dass gilt

∂J(t,x0)

∂t= div(w(t,x))J(t,x0) . (2.17)

b.) Beweise die sogenannte Reisegleichung

∂f(t,x0)

∂t=

∂f(t,x)

∂t+ w(t,x) · ∇(f(t,x)) . (2.18)

c.) Erläutere den Sinn der Namensgebung an einemBeispiel aus der Alltagswelt.

Mit (2.17) und (2.18) wird (2.16) zu

d

dt

Ω(t)

f(t,x)dV =

Ω(t)

(∂f

∂t+ div(fw))(t,x)dV . (2.19)

Nach Anwendung des Integralsatzes von Gauß auf das zweite Integral folgtdas Reynolds’sche Transporttheorem in der Form (2.12).

2.5 Der Satz von GAUSS und das Transport-

theorem für Flächenintegrale

In physikalischen Körpern können Flächen auftreten, an denen sich gewisseGrößen der Mechanik bzw. Thermodynamik unstetig ändern, falls wir voneiner auf die andere Seite der Fläche wechseln. Eine derartige Fläche wirdsinguläre Fläche genannt. Häufig tritt der Fall auf, dass eine singuläreFläche andere Materialeigenschaften als die beiden angrenzenden Körperhat.

Wir geben zwei Beispiele an:

1. Grenzflächen zwischen verschiedenen Materialien. Hierzu gehören dieTrennfläche zwischen Öl und Wasser, wo sich die Massendichte sprungartigändert. Oder ein Bimetallstreifen, welcher aus zusammengeklebten Metal-len mit unterschiedlichen thermischen Ausdehnungskoeffizienten besteht.

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An der Grenzfläche zwischen den beiden Metallen ändert sich beispielswei-se die Tangentialkomponente der mechanischen Spannung unstetig.

Tropfenverteilungin feuchter Luft.

2. Grenzflächen zwischen zwei verschiedenen Phasen eines Körpers. Einbekanntes Beispiel ist die Oberfläche eines flüssigen Tropfens in feuchterLuft. Passieren wir die Grenze zwischen der Luft und einem Tropfen, dannändern sich der Feuchtegrad, die Massendichte, die Konzentrationen vonSauerstoff und Stickstoff und der Druck unstetig. Die Grenzfläche zwischenden beiden Phasen besitzt eine spezifische Energie, die auch Oberflächen-

spannung genannt wird.Apparatur zurMessung derOberflächenspan-nung

Geometrische Beschreibung einer Fläche. Wir betrachten die in Ab-bildung 2.6 dargestellte Fläche B ⊂ 3, welche im Raum

3 eingebettetist. Zur Angabe eines Ortes auf B führen wir gemäß der Abbildung 2.6zwei Familien von Koordinatenlinien (u1, u2) ∈ B ein.

Abbildung 2.6: Geometrie einer Fläche im Raum.

Die Fläche B kann sich mit der Zeit t ≥ 0 gemäß einer Funktion x : I(t) ≡[0,∞) × B →

3 ändern, wobei gelten soll I(0) = B. Wir schreiben

x = x(t, u1, u2) = (x1(t, u1, u2), x2(t, u1, u2), x3(t, u1, u2)) . (2.20)

Bis auf die Zeitvariable, erinnern diese Gleichungen an die entsprechendenGleichungen, die wir im Kapitel 1 bei der Tranformation von rechtwinkligkartesischen Koordinatenlinien (x1, x2, x3) auf krummliniger Koordinaten-linien (z1, z2, z3) studiert haben. Allerdings weisen die Gleichungen (2.20)

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einen wesentlichen Unterschied zu den Gleichungen (1.41) auf: Sie sindnicht umkehrbar, denn nur zwei Koordinaten (u1, u2) generieren drei Ko-ordinaten (x1, x2, x3).

An jedem Ort auf der Fläche I(t) bringen wir ein lokales Dreibein an, wel-ches aus zwei Tangentenvektoren τ 1, τ 2 an die Koordinatenlinien und einerFlächennormalen ν besteht. Zur Charakterisierung des Randes ∂I(t) benö-tigen wir einen Einheitsvektor E, der in einem Randpunkt in der dortigenTangentialebene liegt und senkrecht auf ∂I(t) steht.

Gemäß der in dieser Vorlesung üblichen Annahme soll die Funktion x hin-reichend glatt sein, so dass die folgenden Definitionen bildbar sind. Beachtedie fast vollständige Analogie zu den entsprechenden Größen in Kapitel 1.

Tangentenvektoren:

τα ≡ (∂x1

∂uα,∂x2

∂uα,∂x3

∂uα) für α ∈ 1, 2 . (2.21)

Komponenten des Metriktensors:

gαβ ≡ τα · τ β für α, β ∈ 1, 2 . (2.22)

Flächennormale:ν ≡ τ 1 × τ 2

|τ 1 × τ 2|. (2.23)

Komponenten des Krümmungstensors und mittlere Krümmung:

bαβ ≡ ∂τα

∂uβ· ν für α, β ∈ 1, 2, kM ≡ 1

2gαβbαβ . (2.24)

Christoffel-Symbole:

Γγαβ ≡ gγδ ∂τα

∂uβ· τ δ für α, β, γ ∈ 1, 2 . (2.25)

Änderungen von Tangential- und Normalvektoren:

∂τα

∂uβ

− Γγαβτ i

γ = bαβνi und∂ν

∂uα

= −bβατ β . (2.26)

Geschwindigkeit mit Tangential- und Normalkomponenten:

w ≡ ∂x

∂t= wατα + wνν . (2.27)

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Die Beziehungen (3.21) geben die Änderungen der Tangentenvektoren desNormalenvektors auf der Fläche an. Die Beziehung (3.21)1 folgt unmit-telbar durch Kombination von (2.24) und (2.25). Der Beweis von (3.21)2

erfordert eine kleinere Rechnung. Hierzu starten wir von

ν · ν = 1 und ν · τ β = 0 . (2.28)

Wir differenzieren die Bedingungen (2.281) und erhalten

∂ν

∂uα

· ν = 0 und∂ν

∂uα

· τ β = −ν · ∂τ β

∂uα

. (2.29)

Aus (VFL19c1) schließen wir, dass die Ableitung des Normalenvektors inder Tangentialebene liegt, d.h. ν ;α = Aβ

ατ β und die Koeffizienten Aβα be-

rechnen wir über (VFL19c2), deren rechte Seite wir mittels (VFL19a1)auswerten.

Nach Charakterisierung der Geometrie einer gegebenen Fläche I im

3

geben wir noch eine wichtige Identität an. Für Funktionen φ : 3 →

3,welche auf I die Darstellung φ = ϕατα haben, gilt der

Satz von GAUSS für Flächenintegrale:∫

I

ϕα;αda =

∂I

ϕαeαds =

∂I

φ · Eds (2.30)

wobei gesetzt ist

φ = ϕατα , E =1√2eατα , eα =

εαδ√ggβδτ β·l ⇒ E·l = 0 , |E| = 1.

(2.31)

Zum Beweis dieser Identität wenden wir den Satz von STOKES (2.11) im

3 auf Vektoren F = fατα an, die ausschließlich in der Tangentialebenevon I Komponenten haben. Hierzu berechnen wir∫

I

(rot(F ))iνi da =

I

εijk∇jfk 1√

gεirsτ r

1 τ s2da =

I

1√g(g2αfα

;1 − g1αfα;2)da .

(2.32)Bei Verwendung der antisymmetrischen Matrix εαβ im

2, siehe (1.62),mit εαβ = gεαβ können wir (2.32) auch schreiben∫

I

(rot(F ))iνi da =

I

−1√gεαβgαγf

γ;βda =

I

ϕα;αda mit ϕα ≡ −1√

gεαβgβγf

γ .

(2.33)

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Als nächstes werten wir die rechte Seite des STOKESschen Satzes (2.11)aus. Der Integrand unter dem Linienintegral formt sich wie folgt um

F ili = fβτ iβli = fδg

δβτ iδ = ϕα(

εαδ√ggβδτ i

βli) ≡ ϕαeα = φiEi . (2.34)

Beachte insbesondere, dass der Einheitsvektor E ∈ 3 tangential zu I liegtund außerdem normal auf der Kurve ∂I steht. Mit (2.33) und (2.34) ist derSatz von GAUSS für Flächenintegrale bewiesen.

Transporttheorem für Flächen. Dieses Transporttheorem leistet fürFlächen die gleiche Aufgabe, wie das Reynolds’ sche Transporttheorem fürVolumina.

Hier geht es um die zeitliche Änderung des Integrals

F (t) ≡∫

I(t)

f(t, u1, u2)da , (2.35)

wobei da das skalare Flächenelement der Fläche I(t) ist.

Übung 2.4 a.) Verwende das Vektorprodukt zur Berechnung einesFlächenelementes da auf I(t). Zeige, dass gilt

da =√

gdu1du2 mit g ≡ det(gαβ) . (2.36)

b.) Beweise die Formel

∂√

g

∂t=

√g(wα

;α − 2kMwν) . (2.37)

Die kovariante Ableitung ist hier analog zu (1.86) defi-niert. Allerdings ist im Kontext von Flächen nur überdie Indizes 1 und 2 zu summieren.Hilfen: Beweise zunächst die Formel zur Ableitung vonDeterminanten nach ihren Elementen, welche hier lau-tet

∂g

∂gαβ

= gαβg . (2.38)

Berechne dann die Zeitableitungen der kovarianten Me-trikkomponenten gαβ

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Jetzt betrachten wir die zeitliche Ableitung des Integrals∫

I(t)f(t, u1, u2)da. Es gilt das

Transporttheorem für Flächen:

d

dt

I(t)

f(t, u1, u2)da =

I(t)

(∂f(t, u1, u2)

∂t+ (wα

;α − 2kMwν)f(t, u1, u2)) da .

(2.39)

In Analogie zum Transporttheorem für Volumina startet der Beweis von(2.39) mit einer Transformation des zeitabhängigen Gebietes I(t) auf daszeitunabhängige Gebiet B. Nach Gleichung (3.21) können wir schreiben

d

dt

I(t)

f(t, u1, u2)da =d

dt

B

f(t, u1, u2)√

gdu1du2 . (2.40)

In (2.40)2 können wir die Ableitung unter das Integral ziehen und an-schließend die Produktregel anwenden. Nach Ersetzen der Ableitung derDeterminante mittels Gleichung (2.28) und nach Rücktransformation aufI(t) folgt das Transportheorem (2.39).

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Kapitel 3

Bilanzgleichungen

3.1 Ziele

Unter den physikalischen Basisgrößen eines Körpers stehen an prominen-tester Stelle Masse, Impuls, Energie und Entropie. Gemeinsam ist diesenGrößen die Eigenschaft additiv zu sein. Das heißt: Wird ein Körper ge-danklich in disjunkte Teile zerlegt, so heißt eine Größe additiv, falls diedem Gesamtkörper zugeordnete Größe einfach die Summe der Größen ist,die den Teilkörpern zugeordnet sind.Die Kontinuumsphysik basiert auf Bilanzgleichungen für additive Größen.Diese geben an, welche Änderungen eine additive Größe aufgrund einesFlußes durch die Oberfläche des Körpers und durch Quellen in seinem In-neren erfährt.In diesem Kapitel werden wir Bilanzgleichungen aufstellen und ihre Eigen-schaften untersuchen. Zur Vorbereitung dieser Aufgaben werden wir zu-nächst die lokalen Bewegungen in einem Körper geometrisch beschreibenund insbesondere systematisieren.

3.2 Lokale Bewegungen

Einen gegebenen Körper denken wir uns in materielle Punkte zerlegt. Hier-unter verstehen wir die kleinsten meßtechnisch auflößbaren Volumenele-mente.

Referenzkonfiguration. Zur Beschreibung der Bewegung eines materiel-len Punktes P starten wir mit seinen rechtwinklig kartesischen KoordinatenX = (X i)i∈1,2,3 in einer Referenzkonfiguration Ω0 ⊂ 3. Die Wahl einer

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Referenzkonfiguration ist frei und je nach Aufgabenstellung werden hierunterschiedliche Entscheidungen getroffen.

Beispielsweise kann die Referenzkonfiguration durch den Zustand des Kör-pers zu irgeneiner Zeit t0 gegeben sein. Es mag aber auch nützlich sein,einen von mechanischen Spannungen freien Zustand als Referenzkonfigu-ration zu wählen.

Abbildung 3.1: Beschreibung der Bewegung eines materiellen Punktes.

Aktuelle Konfiguration. Die Bewegung der Punkte eines Körpers Ω0

beschreiben wir durch die Bewegungsfunktion χ = (χi)i∈1,2,3, welche dieaktuelle Konfiguration Ω(t) jedes materiellen Punktes von Ω0 angibt. DieAbleitungen von χ nach der Zeit t und nach den Koordinaten X lieferndie Geschwindigkeit und den Deformationsgradienten und somit die lokalenVeränderungen in Zeit und Raum.

Bewegung:

χ : X ∈ Ω0 → [0,∞) × 3, bzw. x = (χi(t,X)) für i ∈ 1, 2, 3 .(3.1)

Geschwindigkeit:

υ = (υi) = (∂χi(t,X)

∂t) für i ∈ 1, 2, 3 . (3.2)

Deformationsgradient:

F = F ij(t,X) = (

∂χi(t,X)

∂Xj) für i, j ∈ 1, 2, 3 . (3.3)

Die Formeln (3.34), (3.35) und (3.36) geben die Bewegung in LAGRAN-GEscher Darstellung an. Häufig sprechen wir auch von der materiellen

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Darstellung der Bewegung und nennen X die LAGRANGE Koordinateneines materiellen Punktes.

Wir werden immer voraussetzen, dass die JACOBI-Determinante der Be-wegung größer als Null ist. D.h.

J(t,X) = det(F ij(t,X)) > 0 . (3.4)

Wir können somit die Bewegungsfunktion eindeutig nach der LAGRANGEKoordinate auflösen:

X =−1χ (t,x) . (3.5)

Mittels dieser Funktion definieren wir die EULERsche Darstellung der Be-wegung. Häufig sprechen wir auch von der räumlichen Darstellung der Be-wegung und nennen x die EULER-Koordinate eines materiellen PunktesX.

Geschwindigkeit:

υi(t,x) = υi(t,−1χ (t,x)) für i ∈ 1, 2, 3 . (3.6)

Deformationsgradient:

F ij(t,x) = F i

j(t,−1χ (t,x)) für i ∈ 1, 2, 3 . (3.7)

Das polare Zerlegungstheorem. Der Deformationsgradient beschreibtdie relative Änderung von zwei nahe benachbarten materiellen Punkte X

und Y , denn es gilt

yi − xi ≈ F ij(t,X)(Y j − Xj) . (3.8)

Diese durch Bewegung hervorgerufene Änderung läßt sich in die zwei An-teile Rotation und Streckung zerlegen, denn für jede nichtsinguläre Matrixgilt das

Polare Zerlegungstheorem:

F = V R = RU mit V = V T , U = UT und−1

R = RT , (3.9)

wobei die Matrizen U und V positiv definit sind.

Wir werden noch sehen, dass die symmetrischen Matrizen V und U alsStreckung eines Abstandsvektors interpretiert werden können, während dieorthogonale Matrix R seine Rotation beschreibt. Die Matrizen V und U

heißen linker bzw. rechter Strecktensor und R heißt Rotationstensor.

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Gemäß der polaren Zerlegung gibt es zwei Produktdarstellungen für denDeformationsgradienten. Im ersten Produkt wird ein Abstandsvektor erstgedreht und dann gestreckt, und im zweiten Produkt ist es umgekehrt.Dieser Sachverhalt kann vereinfacht gemäß der folgenden Skizze darge-stellt werden. Worin hier die Vereinfachung besteht wird in der Übung 3.2erarbeitet.

Abbildung 3.2: Vereinfachte Darstellung des polaren Zerlegungtheorems.

Zum Beweis des polaren Zerlegungstheorems führen wir zunächst zweiwichtige Größen ein.

C ≡ F T F − rechter Cauchy-Green Tensor, (3.10)

B ≡ FF T − linker Cauchy-Green Tensor. (3.11)

Diese beiden Matrizen sind symmetrisch und positiv definit, was sich leichtnachrechnen läßt. Beispielsweise für C:

CT = (F T F )T = F T F TT = F T F = C , (3.12)

sowie

Cijaiaj = (F kiF kj)aiaj = (F kiai)(F kjaj) ≡ AkAk ≥ 0 . (3.13)

Entsprechendes gilt für B.

Also gibt es eine orthogonale Matrix H , die C mit positiven Eigenwertenauf Hauptachsen bringt. Das heißt:

HCHT =

λ21 0 0

0 λ22 0

0 0 λ23

. (3.14)

Wir definieren

U ≡ HT

|λ1| 0 00 |λ2| 00 0 |λ3|

H . (3.15)

Aufgrund ihrer Definition ist die Matrix U symmetrisch: U = UT . Außer-dem folgt U 2 = C.

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Schließlich bilden wir den Ausdruck R ≡ F−1

U und berechnen

RT R = (F−1

U )T (F−1

U ) =−1

UF T F−1

U =−1

UC−1

U =−1

UU 2−1

U =

1 0 00 1 00 0 1

.

(3.16)Also ist R eine orthogonale Matrix und damit ist die Zerlegung F = RU

bewiesen.

Der Beweis für F = V r mit V = V T und−1r = rT verläuft analog.

Übung 3.1 a.) Beweise die Eindeutigkeit der beiden Zerlegungen(3.9).b.) Zeige, dass gilt

r = R . (3.17)

Geometrische Interpretation der polaren Zerlegung. Sei A =(A1, A2, A3) ein gegebener Vektor. Wir bilden die Operation a∗i ≡ RijAj

und sehen

a∗ia∗i = RijAjRikAk = δjkAjAk = AiAi , (3.18)

d.h., die Anwendung von R auf A ändert dessen Länge nicht. Es hat einereine Rotation stattgefunden.

Jetzt bilden wir ai ≡ U ijAj und sehen

aiai = U ijAjU ikAk = CjkAjAk , (3.19)

d.h., dass a eine andere Länge als A hat.

Im Hauptachsensystem von U folgt

a1 = |λ1|A1 a2 = |λ2|A2 a3 = |λ3|A3 . (3.20)

Dies beschreibt eine reine Streckung.

Im allgemeinen ist aber über die Matrix H in U eine weitere Rotationenthalten. Diese kann eine Scherung oder eine Torsion darstellen.

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Übung 3.2 In einer Referenzkonfiguration ist in kartesischen Ko-ordinaten ein Vektor X = (0, 1) gegeben. Ferner be-trachten wir den Deformationsgradienten

F =

(

1 a0 1

)

mit a > 0. (3.21)

a.) Zeichne auf kariertes Papier X sowie den aktuel-len Vektor x mit den Komponenten xi = F i

jXj und

kennzeichne die Strecke a.b.) Berechne den rechten und den linken Chaucy-GreenTensor Cij = F k

i F kj , Bij = F i

kFjk und deren gemeinsa-

me Eigenwerte.c.) Bestime die Strecktensoren V ij und U ij, sowie dieRotationsmatrix Rij.d.) Zeichne xi

∗ = RijXj und xi = V ijxj∗.

e.) Zeichne xi = U ijXj und xi = Rijxj.f.) Erläutere die auftretenden Bewegungen.

Übung 3.3 Unter welchen Bedingungen an den Deformationsgra-dienten gibt die Abbildung 3.2 die dort gezeigten Ver-hältnisse richtig wieder?

3.3 Körper und Kontrollvolumina

Unser derzeitiges Hauptziel ist die Aufstellung von Bilanzgleichungen füreinen gegebene Körper. Als weitere Vorbereitung hierzu ist eine Präzisie-rung des Begriffes Körper notwendig.

Körper. Der einfachste Körper, den wir betrachten, ist durch ein einzelnesMaterial repräsentiert, z.B. ein Stück Gummi, ein Stück Eisen oder einStück Messing.

Den Begriff Körper wollen wir aber auch für zusammengesetzte Materialienverwenden. Hierunter verstehen wir beispielsweise einen Luftballon, beste-hend aus der Ballonhülle sowie der hierin enthaltenen Luft. Ein weiteresBeispiel liefert ein Druckbehälter, der durch einen Schieber in zwei Teilegeteilt werden kann und ein Gas enthält. Schließlich fassen wir auch eineRakete inklusive der ausgestoßenen Brenngase als Körper auf.

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Abbildung 3.3: Drei Beispiele für zusammengesetzte Materialien.

Kontrollvolumen. Im allgemeinen hat ein Körper Zu- bzw. Abflüsse. Bei-spielsweise kann ein Körper Wärme verlieren oder es wird ein Impuls auf ihnübertragen. Zur Bilanzierung der Zu- bzw. Abflüsse benötigen wir ein Kon-

trollvolumen. Dieses wird einem gegebenen Körper zugeordnet und kannentweder den ganzen Körper enthalten oder nur Teile davon umschließen.

Zur Illustration dieser Aussage betrachten wir das berühmte Experimentvon Gay-Lussac. Ein beweglicher Schieber teilt einen nach außen wärmeiso-lierten Behälter in zwei Teile. Ein Gas befindet sich zunächst nur im linkenTeil und hat dort die Temperatur TA. Nach dem Herausziehen des Schie-bers verteilt sich das Gas auf turbulente Weise im gesamten Behälter undkommt nach einiger Zeit wieder zur Ruhe. Das Experiment beantwortet dieFrage nach der dann vorliegenden Endtemperatur TE. Zwei mögliche Kon-trollvolumina zur mathematischen Modellierung des Experimentes sind inAbbildung 3.4 eingezeichnet.

Abbildung 3.4: Mögliche Kontrollvolumina für das Experiment von Gay-Lussac.

Das rechte Kontrollvolumen ist während der Strömungsphase ein offenesVolumen, sowohl für Materie, als auch für Impuls und Energie. Dagegenzeichnet sich das linke Kontrollvolumen dadurch aus, dass es keine Flüsseüber den Rand gibt.

Die Frage nach dem besseren Kontrollvolumen ist in diesem Beispiel na-türlich einfach zu beantworten. Denn es ist sofort klar, dass wir bei Ver-wendung des rechten Kontrollvolumens zur Auswertung des Experimentesin jedem Fall das Strömungsfeld genau kennen müssen, dessen rechnerischeBestimmung ist aber eine sehr schwere Aufgabe. Bei der Wahl des linken

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Kontrollvolumens entfällt diese Aufgabe.

Jedoch ist die Frage nach dem günstigsten Kontrollvolumen im allgemeinennicht einfach zu beantworten und erfordert eine gewisse Erfahrung.

Übung 3.4 Die Temperatur eines Zimmers wird durch eine Heiz-spirale erhöht.

Welche Größen bleiben bei diesem Prozeß kon-stant? Definiere auf der Grundlage dieser Erkennt-nisse mögliche Kontrollvolumina und diskutiere derenEigenschaften.

Materielles Volumen. Ein Kontrollvolumen, welches durch seine Ober-fläche keinen Materietransport zuläßt, heißt materielles Volumen. Trans-port von Impuls und Energie sind hier zugelassen. Ein materielles Volumenkann fest oder mitbewegt sein. Im letzteren Fall bewegt sich die Oberfläche

Wolke mit materi-ellem Kontrollvo-lumen.

mit der Geschwindigkeit der Materie. Beispiele sind ein sich ausdehnenderLuftballon oder eine sich bewegende Wolke.

Adiabates Volumen. Wenn die Oberfläche eines materiellen Volumenskeine Wärmeenergie passieren läßt, so sprechen wir von einem adiaba-

ten Kontrollvolumen. Impulsübertrag, d.h. mechanischer Energietransportdurch die Oberfläche ist hier weiterhin möglich.

3.4 Bilanzgleichungen für Masse, Impuls und

Energie

In diesem Abschnitt werden wir unterschiedliche Typen von Bilanzgleichun-gen aufstellen. Es gibt globale Bilanzgleichungen, welche die Verhältnisseeines Gesamtkörpers beschreiben. Darüber hinaus werden wir uns auch

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mit lokalen Bilanzgleichungen beschäftigen, welche das Verhalten in jedemPunkt des Körpers beschreiben. Es gibt zwei Typklassen für lokale Bilanz-gleichungen, je nachdem ob die beteiligten Größen differenzierbar sind odernicht.

Allgemeine Struktur einer globalen Bilanzgleichung. Eine globale

Bilanzgleichung berechnet für einen gegebenen Körper Ω die Zeitableitungeiner additiven Größe Ψ aufgrund von Flüssen F durch die Oberfläche ∂Ωund aufgrund von Quellen Ξ im Inneren von Ω.

Allgemeine Struktur einer globalen Bilanzgleichung:

dt= Φ + Ξ , (3.22)

wobei für Ψ, Φ und Ξ folgende Darstellungen vorausgesetzt werden:

Ψ(t) =

Ω(t)

ψ(t,x)dV Φ(t) = −∮

∂Ω(t)

ϕ·n(t,x)da Ξ(t) =

Ω(t)

ξ(t, x)dV .

(3.23)

Bilanzgleichungen lassen sich nur für additive Größen aufstellen. Diese sindwie folgt charakterisiert: Wird ein Körper gedanklich in disjunkte Teile zer-legt, so heißt eine Größe additiv, falls die dem Gesamtkörper zugeordneteGröße einfach die Summe der Größen ist, die den Teilkörpern zugeordnetsind. Aus diesem Grund fordern wir die Integraldarstellung (3.23)1 für Ψ.

Die Darstellung (3.23)2 eines Flusses durch ∂Ω über ein Flächenintegral re-sultiert aus der Beobachtung, dass Flüsse durch die Oberfläche proportionalzum Flächeninhalt sind. Das Minus-Zeichen garantiert, dass ein Fluß inden Körper zu einer Erhöhung von Ψ führt. Zur Unterscheidung von einemweiteren Beitrag zum Fluß , welcher aber nur bei offenen Kontrollvoluminaauftritt nennen wir ϕ nichtkonvektiven Fluß .

Die Integraldarstellung (3.23)3 einer Quelle, setzt voraus, dass eine Quel-lenverteilung in Ω in additiver Weise zu einer Änderung von Ξ führt.

Globale Bilanzgleichung der Masse. Zur Formulierung der allgemeinenBilanzgleichungsstruktur (3.22) haben wir bisher keine spezielles Kontroll-volumen vorausgesetzt. Allerdings können wir die physikalische Identifizie-rung der auftretenden Flüsse am einfachsten durchführen, wenn wir einmaterielles Volumen verwenden.

Die Bilanz der Masse basiert auf Beobachtungen im Rahmen der klassischenPhysik: 1. Die Masse M : [0,∞) →

+ eines Körpers ist eine additive

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Größe.

M(t) =

Ω(t)

ρ(t,x)dV , (3.24)

wobei ρ : [0,∞) × Ω →

+ die Massendichte ist.

2. Es gibt keine Massenquellen im Inneren eines Körpers. Darüber hin-aus gibt es per Definition keinen Massenfluß durch die Oberfläche einesmateriellen Kontrollvolumens.

dM(t)

dt= 0 . (3.25)

Globale Bilanzgleichung des Impulses. Auch die Bilanzgleichung fürden Impuls hat ihre einfachste Form für ein materielles Kontrollvolumen.Denn dann ist die Impulsbilanz eine Anwendung der Newton’schen Bewe-gungsgesetze auf ausgedehnte Körper.

1. Der Impuls I : [0,∞) × Ω →

3 eines Körpers ist eine additive Größe:

I(t) =

Ω(t)

ρυ(t,x)dV , (3.26)

wobei ρυ : [0,∞) × Ω →

3 die Impulsdichte ist.

2. Eine Impulsänderung ist nur durch äußere Kräfte möglich.

3. Kräfte sind additive Größen. Es gibt zwei unterschiedliche Kraftsorten:31. Volumenkräfte greifen in jedem Punkt des Inneren von Ω an. 32. Flä-chenkräfte greifen ausschließlich an der Oberfläche ∂Ω an.

dI(t)

dt=

Ω(t)

ρg(t,x)dV +

Ω(t)

k(t,x)da . (3.27)

5. Die Flächenkraft hat die Darstellung k = σ ·n, wobei σ : [0,∞)×Ω →

3 × 3 der CAUCHYsche Spannungstensor ist.

Übung 3.5 Betrachte ein beliebig orientiertes Flächenelement ndain einer Flüssigkeit mit homogenem Geschwindigkeits-feld. Hier wirkt die Flächenkraft immer senkrecht aufdas Flächenelement. Zeige, dass dann gelten muß

σij = −pδij , (3.28)

wobei p Druck genannt wird.

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Globale Bilanzgleichung der Energie. Erst im 19. Jahrhundert setztesich die Erkenntnis durch, dass es einen universellen Energieerhaltungssatzgibt, wonach Energie weder erzeugt noch vernichtet werden kann. Es fin-den ausschließlich Umwandelungen zwischen verschiedenen Energieformenstatt. Während die mechanischen Energiearten bereits in der NEWTON-schen Mechanik identifiziert wurden, machte die Einordnung der Wärme-energie zunächst große begriffliche Schwierigkeiten. Selbst der Entdeckerder universellen Energieerhaltung, der Heilbronner Arzt Robert MAYERgründete seine Überlegungen auf aberwitzigen Annahmen.

Zur Aufstellung der globalen Energiebilanz aus moderner Sicht verwendenwir wieder ein materielles Kontrollvolumen.

1. Die Energie E : [0,∞) × Ω → eines Körpers ist eine additive Größe:

E(t) =

Ω(t)

ρe(t,x)dV , (3.29)

wobei ρe : [0,∞) × Ω → die Energiedichte ist. Die Größe e heißt spezi-fische Energie.

2. Die Energiedichte enthält die bereits aus der Mechanik bekannte kineti-sche Energiedichte, und diese wird üblicherweise explizit kenntlich gemacht.

ρe = ρu +ρ

2υ2 , (3.30)

wobei u spezifische innere Energie heißt.

3. Eine Energieänderung ist nur durch äußere Energiezufuhren möglich.

4. Es gibt vier Ursachen für die Änderung der (Gesamt-)Energie eines Kör-pers.

dE(t)

dt= A + Q . (3.31)

Hiervon sind zwei Ursachen mechanischen Ursprungs: 41. Mechanische Vo-lumenkräfte sowie die Flächenkräfte erzeugen eine mechanische Leistung.

A =

Ω(t)

ρg · υ(t,x)dV +

∂Ω(t)

υ · σ · n(t,x)da . (3.32)

42. Wärme wird durch zwei Mechanismen auf einen Körper übertragen:durch Strahlung, die in jedem Punkt des Inneren von Ω wirkt und durch

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Wärmeleitung, die an der Oberfläche ∂Ω übertragen wird. Die Wärmelei-stung ist deshalb

Q =

Ω(t)

ρr(t,x)dV −∮

∂Ω(t)

q · n(t,x)da . (3.33)

Die Funktion r : [0,∞) × Ω → heißt spezifische Strahlungsdichte undq : [0,∞) × Ω →

3 ist der (konvektive) Wärmefluß .

Allgemeine Struktur einer lokalen Bilanzgleichung in den regulä-ren Punkten eines Körpers. Wir gehen aus von der allgemeinen globa-len Bilanzgleichung (3.22) und setzen hier die Darstellungen (3.23) ein.

d

dt

Ω(t)

ρψdV = −∮

∂Ω(t)

ϕ · n(t,x)da +

Ω(t)

ξ(t,x)dV . (3.34)

Die physikalischen Interpretationen der Gößen ψ, ϕ und Ξ können wir demletzten Abschnitt entnehmen.

Ein Punkt P ∈ Ω ∪ ∂Ω heißt regulär, wenn alle benötigten Ableitungen inP bildbar sind. Andernfalls heißt P singulär. Zunächst betrachten wir nurKörper, die ausschließlich reguläre Punkte haben.

Allgemeine Struktur einer lokalen Bilanzgleichung in regulärenPunkten:

∂ψ

∂t+ div(ψυ + ϕ) = ξ . (3.35)

Zum Beweis der lokalen Bilanzgleichung (3.35) berechnen wir zunächst dieZeitableitung auf der linken Seite von (3.34) über das REYNOLDSscheTransportheorem (2.12). Da sich (3.34) auf ein materielles Volumen bezieht,gilt auf ∂Ω(t) w = υ. Somit entsteht

Ω(t)

∂ψ

∂tdV +

∂Ω(t)

(ψυ · n + ϕ · n)da =

Ω(t)

ξdV . (3.36)

Hier formen wir das Flächenintegral in ein Volumenintegral um und erhal-ten

Ω(t)

(∂ψ

∂t+ div(ψυ + ϕ) − ξ)dV = 0 . (3.37)

Jetzt kommt die wichtige Beobachtung, dass wir die Größe des materiellenVolumens Ω beliebig wählen können. Wenn aber ein Integral mit beliebigen

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Grenzen Null ist, dann muß auch der Integrand Null sein, und es folgt dielokale Bilanzgleichung (3.35).

Lokale Bilanzgleichungen für Masse, Impuls und Energie in regu-lären Punkten. Auf Basis der Identifizierungen der allgemeinen Dichten,Flüsse und Quellen, die zu konkreten globalen Bilanzgleichungen für Masse,Impuls und Energie führten, werden wir nun deren lokale Bilanzgleichungenin regulären Punkten ableiten.

Spezielle lokale Bilanzgleichungen in regulären Punkten.Lokale Massenbilanz:

∂ρ

∂t+ div(ρυ) = 0 . (3.38)

Lokale Impulsbilanz:

∂ρυ

∂t+ div(ρυ ⊗ υ − σT ) = ρg . (3.39)

Lokale Energiebilanz:

∂ρu + ρ2υ2

∂t+ div((ρu +

ρ

2υ2)υ + q − υ · σ) = ρg · υ + ρr . (3.40)

Lokale Bilanz der kinetischen Energie in regulären Punkten. Ausder Impulsbilanz folgt durch skalare Multiplikation mit der Geschwindig-keit und nach einigen einfachen Umformungen die

Lokale Bilanz der kinetischen Energie:

∂ ρ2υ2

∂t+

∂xk((

ρ

2υ2)υk − υiσik) = −σik ∂υi

∂xk+ ρgiυi . (3.41)

Übung 3.6 a.) Bestätige die lokalen Bilanzgleichungen für Masse,Impuls und Energie. Gehe hierzu von der allgemeinenStruktur (3.23)aus und identifiziere in Tabellenform dieDichten, Flüsse und Quellen.b.) Schreibe die Bilanzgleichungen in Komponenten-form mit Bezug auf kartesische Koordinatenlinien auf.c..) Leite die Bilanzgleichung für die kinetische Energieab.

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Die Bilanz der kinetische Energie hat auf ihrer rechten Seite zwei Quellter-me. Da ist zunächst die bereits bekannte Leistung der äußeren Kräfte, undes gibt darüber hinaus einen Term, den wir Produktionsdichte der kineti-

schen Energie nennen. Wie wir sogleich sehen werden, beschreibt dieserTerm die Umwandlung von kinetischer Energie in innere Energie.

Lokale Bilanz der inneren Energie in regulären Punkten. Wir sub-trahieren die kinetische Energiebilanz von der Energiebilanz und erhaltendie

Lokale Bilanz der inneren Energie:

∂ρu

∂t+

∂xk(ρuυk + qk) = σik ∂υi

∂xk+ ρr . (3.42)

Auch diese Bilanzgleichung hat zwei Quellen unterschiedlicher Art. Die vonaußen zugeführte Leistung an Strahlungsenergie und eine weitere Quelle,die wir Produktionsdichte der inneren Energie nennen.

Diese Produktion taucht mit unterschiedlichem Vorzeichen auch in der ki-netischen Energiebilanz auf, und deshalb ist klar, dass hierdurch die Um-wandlung von kinetischer Energie in innere Energie beschrieben wird.

Der 1. Hauptsatz der Thermodynamik: Die Bilanzgleichung der in-neren Energie wird auch 1. Hauptsatz der Thermodynamik genannt. Stu-denten der Thermodynamik kennen diesen Hauptsatz meistens in einereinfacheren Struktur, die nur ein Spezialfall der Gleichung (3.42) ist. DieAnwendbarkeit dieses Spezialfalles, den wir jetzt angeben, ist allerdingsstark eingeschränkt.

Wir integrieren die lokale Bilanzgleichung der inneren Energie über einmaterielles Volumen Ω und erhalten

dU

dt= Q +

Ω

σij ∂υi

∂xjdV , (3.43)

wobei die innere Energie U und die Wärmeleistung Q definiert sind durch

U =

Ω

ρudV und Q = −∮

∂Ω

q · nda +

Ω

ρrdV . (3.44)

Falls(!) nun gilt σij = −pδij, und falls(!) darüber hinaus der Druck p überallin Ω konstant ist, dann können wir p aus dem Volumenintegral herauszie-hen, und es verbleibt ein Integral über div(υ). Nach dem REYNOLDSschen

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Transporttheorem (2.12) ist dieses Integral aber einfach die Zeitableitungdes Volumens von Ω. Wir können also schreiben

dU

dt= Q − p

dV

dt. (3.45)

In dieser Form ist der 1. Hauptsatz der Thermodynamik häufig in derLehrbuchliteratur anzutreffen.

Wie wir aus der Herleitung von (3.45) gesehen haben, ist dies nur ein ein-geschränkt nutzbarer Spezialfall des 1. Hauptsatzes der Thermodynamik(3.42). Aber selbst dieser Spezialfall wird in den Lehrbüchern häufig ver-stümmelt angeben, nämlich in der Form

dU = δQ − pdV , (3.46)

wo dann überhaupt nicht mehr klar ist, was die Symbole überhaupt be-deuten.

Die Erkenntis, dass der 1. Hauptsatz der Thermodynamik durch die Bi-lanzgleichung der inneren Energie (3.42), zumindest bei Prozessen ohnesinguläre Flächen, wiedergegeben wird, ist seit Beginn des 20. Jahrhun-derts bekannt. Insbesondere die eingeschränkte Anwendbarkeit der For-meln (3.45) bzw. (3.46) ist seit dieser Zeit klar erkannt. Die grundlegendenUntersuchungen hierzu wurden in den 40iger Jahren abgeschlossen. Merk-würdiger Weise wird dieses Wissen in den meisten Anfängervorlesungenüber Thermodynamik nicht an die Studierenden weiter gegeben.

Globale Bilanzgleichung für offene Volumina: Wir begegnen häufigKörpern, die mit ihrer Umgebung neben Impuls und Energie auch Materieaustauschen. Ein Bespiel haben wir bereits in Übung 3.4 kennengelernt,die sich mit der Heizung eines Zimmers beschäftigt. Wenden wir die idealeDruckformel für Gase in der Form

pV =R

M

mT

V(3.47)

auf das Zimmer an, so ist V das Volumen des Zimmers, p und T gebenDruck und Temperatur des enthaltenen Gases an, und m ist dessen Mas-se. Offensichtlich bleiben Druck und Volumen während der Heizungdauerkonstant. Da aber die Temperatur steigt, muss folglich die Luftmenge desZimmers abnehmen. Das Zimmer ist ein offenes Volumen.

Zur Herleitung einer Bilanzgleichung für offene Volumina, gehen wir ausvon der allgemeinen lokalen Bilanzgleichung (3.35). Wir betrachten jetzt

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ein Volumen Ω(t), dessen Oberfläche ∂Ω(t) sich mit der Normalgeschwin-gigkeit wn(t,x) bewegen soll. Nach Integration von (3.35) über Ω und nachVerwendung des REYNOLDSschen Transporttheorems folgt die

Allgemeine globale Bilanzgleichung für offene Volumina.

d

dt

Ω(t)

ψ dV −∮

∂Ω(t)

ψ(w − υ) · nda +

∂Ω(t)

ϕ · nda =

Ω(t)

ξ dV . (3.48)

Zusätzlich zu den drei Termen, die auch in der globalen Bilanzgleichungfür materielle Volumina auftreten, siehe (3.22) und (3.23) haben wir denkonvektiven Fluß von ψ, welches den Fluß der Dichte ψ durch den Rand∂Ω beschreibt. Zur Unterscheidung nennen wir ϕ auch nichtkonvektiven

Fluß .

Globale Bilanzgleichung bei homogenen Verhältnissen. Wir be-trachten jetzt den Spezialfall, dass wir (i) im Inneren des Körpers Ω undauf seiner Oberfläche homogene Verhältnisse antreffen, und dass (ii) einAustausch mit der Umgebung nur über ebene Flächenteile stattfindet. Indiesem Fall können wir die Integrale in (3.49) direkt ausrechnen. Es ent-steht die

Globale Bilanzgleichung für homogene Körper.

d

dt(m

ψ

ρ) − ψ

ρρ(w − υ) · nA + ϕ · nB = m

ξ

ρ. (3.49)

Hier ist m(t) die eventuell zeitabhängige Masse des Körpers. A gibt denFlächeninhalt des Teils von ∂Ω an, durch welchen Materie strömt, undentsprechend ist B der Flächeninhalt wo es einen nichtkonvektiven Fluß ϕ

gibt. Diese beiden Teile können natürlich zusammenfallen.

Beispiele zu den Bilanzgleichungen.

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Druckbehälter mitbeweglichem Kol-ben.

Übung 3.7 Betrachte einen mit Luft gefüllten Zylinder, welcher mit einembeweglichen Kolben verschlossen ist. Der Kolben ist zunächst inder Höhe HA arretiert. Sowohl der Kolben als auch der Zylindersollen weder Wärme noch Strahlung durchlassen.Zur Zeit tA wird die Arretierung gelöst und der Kolben fälltin den Zylinder hinein. Anfänglich entsteht dabei eine kräftigeStrömung der Luft, aber nach einiger Zeit herscht wieder Ruhe,und der Kolben hat eine neue Stellung angenommen.Nimm an, dass Druck p und spezifische innere Energie u desGases wie folgt mit der Gasdichte ρ und der Temperatur T zu-sammen hängen:

p =R

MρT u =

5

2

R

MT , (3.50)

wobei R = 8314 Nm/(kgK) die allgemeine Gaskonstante ist, undM = 28 ist das Molekulargewicht der Luft.Das Ziel der Übung ist die Berechnung des Endzustandes ausden Anfangsdaten TA = 293K, VA = 10−3 m3, HA = 0.1 m. DerAußendruck p0 beträgt 1 bar. Die Masse mK des Kolbens soll103 kg sein.a.) Verwende zur Bearbeitung die globalen Bilanzgleichungen fürImpuls und Energie, und gib ein geeignetes Kontrollvolumen an.Begründe warum die lokale Impulsbilanz und insbesondere dielokale Bilanz der inneren Energie nicht zur Lösung verwendetwerden sollten.b.) Berechne die mechanische Leistung und zeige

A = −(p0aK + mKg)dH

dt. (3.51)

c.) Integriere die globale Energiebilanz über die gesamte Prozes-szeit, und zeige

mL

5

2

R

M(TE − TA) = −(p0aK + mKg)(HE − HA) . (3.52)

c.) Berechne den Enddruck pE aus der Impulsbilanz und bestim-me dann die Endtemperatur TE und die Endhöhe des KolbensHE.

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Übung 3.8 Betrachte noch einmal den Heizungsprozess des Zimmers ausÜbung 3.4. Berechne die Temperaturerhöhung der Zimmerluft,wenn dieser, beginnend bei 283 K, für die Dauer von 5 Stundenüber die Heizwendel 2000 Watt Wärmeleistung zugeführt wird.Dabei sollen die folgenden Voraussetzungen gemacht werden: 1.Materieaustritt gibt es nur durch die offene Tür. 2. Wärmeverlu-ste durch die Tür sowie durch die Wände und das Fenster werdenignoriert. 3. Im Zimmer haben wir homogene Verhältnisse. 4. DieGeschwindigkeit der Luft soll nur direkt an der Tür von Null ver-schieden sein. 5. Der Spannungstensor der Luft ist gegeben durchσ = −p1. 6. Die Gleichungen für den Druck und die spzifischeinnere Energie der Luft sind der Übung 3.6 zu entnehmen. 7. DasVolumen des Zimmers beträgt 100 m3 und der Luftdruck ist 105

N/m2.a.) Schreibe die Bilanzgleichungen für Masse und Energie derZimmerluft an.b.) Zeige, dass gilt

mdu

dt− p

ρ

dm

dt= Q . (3.53)

c.) Berechne den zeitlichen Verlauf der Temperatur T (t).d.) Diskutiere die Resultate insbesondere im Hinblick auf diegemachten Annahmen.

Übung 3.9 Betrachte den Versuch von GAY-LUSSAC aus dem AbschnittKontrollvolumen. Wähle auf Grundlage der dort geführten Dis-kussion ein geeignetes Kontrollvolumen und berechne die End-temperatur des Versuches.a.) Verwende zur Berechnung der Endtemperatur die Gesamt-energiebilanz sowie die Gleichung für die spezifische innere Ener-gie aus Übung 3.6. Achtung: Verwende die Beziehung σ = −p1ausschließlich außerhalb des Behälters.b.) Verwende jetzt zur Berechnung der Endtemperatur die Bi-lanzgleichung der inneren Energie und außerdem die Beziehungσ = −p1 mit der Druckgleichung aus Übung 3.6. Achtung: Esresultiert ein anderes Ergebnis.c.) Erläutere ausführlich mit anschaulichen Argumenten warumnur das Resultat aus Teil a.) stimmen kann. Was wurde bei b.)falsch gemacht?

Bilanzgleichungen beim Auftreten singulärer Flächen. Bisher ha-ben wir Körper Ω betrachtet, die durch glatte Funktionen beschrieben wer-den können. Diese Situation treffen wir aber in vielen Fällen nicht an. Be-reits bei zusammengesetzten Körpern gibt es an der Trennfläche der bei-den Teilkörper Unstetigkeiten. An der Trennfläche zwischen Öl und Wasser

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ist zumindest die lokale Massendichte unstetig, da die beiden Materialienunterschiedliche Massendichten haben. Phasengrenzflächen liefern weitereBeispiele. Hierzu gehört die Trennfläche zwischen flüssigem Wasser undEis. Diese beiden Phasen von Wasser haben auch unterschiedliche Massen-dichten. Der Effekt ist allerdings im allgemeinen noch größer für flüssigesWasser und Wasserdampf. Beispielsweise ist bei 2C das Dichteverhältnisetwa 180000.

Abbildung 3.5: Ein Körper Ω wird durch eine Grenzfläche I in zwei TeileΩ+ und Ω− geteilt.

Wir betrachten jetzt eine Fläche I, die entsprechend Abbildung 3.5 einenKörper Ω in zwei Teile Ω+ und Ω− zerlegt. Erfahren in Ω definierte Funk-tionen beim Durchtritt durch I Unstetigkeiten auf I, so sprechen wir voneiner singulären Fläche.

Zur Angabe, von welcher Seite wir uns der Fläche nähern, führen wir einebesondere Schreibweise ein:

f+/−(x)|x∈I ≡ limx∈Ω+/−→x∈I

f(x) . (3.54)

Ferner definieren wir Sprungklammern gemäß

[[f ]] ≡ f+ − f− . (3.55)

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In einem Körper Ω, der durch eine singuläre Fläche in zwei Teile Ω+ und Ω−

geteilt wird, läßt sich eine additive Größe Ψ durch drei Integrale darstellen:

Ψ(t) =

Ω+(t)

ψ(t,x)dV +

Ω−

(t)

ψ(t,x)dV +

I(t)

ψI(t,x)da . (3.56)

Das Auftreten der beiden ersten Integrale haben wir bereits erklärt. DasFlächenintegral führt eine Flächendichte ψI : I → ein, welche z. B. fol-gende Phänomene beschreibt: Die Grenzfläche zwischen Wasser und Was-serdampf ist Träger von Grenzflächenenergie, die unter dem Namen Ober-flächenspannung bekannt ist. Als weiteres Beispiel dient ein Luftballon, derzwei Gebiete von Luft mit unterschiedlichem Druck trennt. Fassen wir diedünne Ballonhaut als singuläre Fläche auf, so ist diese natürlich Trägervon (Gummi-) Masse. In diesem Fall kann ψI für die Flächenmassendichtestehen.

Zur Aufstellung einer Bilanzgleichung für Ψ nehmen wir an, dass die Flä-chenteile ∂Ω+/−\I materielle Flächen sind. Die singuläre Fläche I ist aberim allgemeinen nicht materiell. Also sind auch die Teilkörper Ω+/− nichtmateriell, denn deren Oberflächen werden durch die nichtmateriellen Flä-chen ∂Ω+/− gebildet. Ferner induziert die Fläche I eine Randkurve ∂I auf∂Ω, über die tangential zu I etwas zu- bzw. abfließen kann. Dieses Phä-nomen beschreiben wir über eine Linienflußfunktion φI : ∂I →

3, dieTangential zu I lebt. Wir können deshalb auch schreiben φI = ϕα

Iτα, wo-

bei (ϕαI)α∈1,2 : ∂I →

2 die Linienflußdichte ist. Schließlich kann es auchQuellen mit einer Flächenquelldichte ξI : I → geben.

Nach diesen Vorbereitungen ist klar, wie die Frage nach den Ursachen fürdie zeitliche Veränderung von Ψ(t) zu beantworten ist. Es gilt

dΨ(t)

dt= −

∂Ω+\I

ϕ · nda −∫

∂Ω−\I

ϕ · nda (3.57)

−∮

∂I

φI · Eds

+

Ω+

ξ dV +

Ω−

ξ dV +

I

ξIda .

Die Vorzeichen sind wieder so gewählt, dass ein Fluß in den Körper hineinzu einer Erhöhung von Ψ führt.

Als nächstes ersetzen wir in (3.57) die Größe Ψ durch ihre Darstellung(3.56). Ferner verwenden wir zur Darstellung der Fläche I die in Abschnitt

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Abbildung 3.6: Spezielles Kontrollvolumen zur Ableitung einer lokalen Flä-chenbilanz.

Geometrische Beschreibung einer Fläche eingeführten GAUSSschen Flä-chenparameter, d.h. x|∈I = x(t, u1, u2).

Anhand eines speziellen Volumens, siehe die Abbildung 3.6, führen wir nuneinen Grenzübergang durch, der uns zu einer lokalen Bilanzgleichung führt.Es folgt die

Lokale singuläre Flächenbilanz auf I:

−wν [[ψ]]+[[ψυ+ϕ]]·ν = −∂ψI(t, u1, u2)

∂t−ψI((w

ατ );α−2kMwν)−(ϕα

I);α+ξI .

(3.58)

Den Beweis dieser Bilanzgleichung teilen wir in mehrere Schritte auf: 1. DieZeitableitungen der beiden Volumenintegrale berechnen wir mit REYNOLDS’sTransporttheorem (2.12) und führen den Limes H → 0 durch. 2. Für dasIntegral über I verwenden wir das Transporttheorem für Flächen (2.39).3. Bei den Flußintegralen führen wir den Limes H → 0 direkt durch. 4.Das Integral über den Rand ∂I formen wir mit dem Satz von GAUSS fürFlächenintegrale um. 5. Schließlich fassen wir die Teilresultate zusammen.

1. Schritt: REYNOLDSsches Transporttheorem für ein Volumen, welchesdurch eine singuläre Fläche in zwei Teile geteilt wird.

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Wir gehen aus von dem in Abbildung 3.6 gezeichneten Konstrukt. Aufdie Teilkörper Ω+/− wenden wir nun das Transporttheorem (2.12) an undbeachten, dass deren Oberflächen aus den materiellen Teilen ∂Ω+/−\I undder singulären Fläche I, die nicht materiell sein muss, bestehen. Somiterhalten wir

d

dt

Ω+/−

ψdV =

Ω+/−

∂ψ

∂tdV +

∂Ω+/−\I

ψυ · nda ∓∫

I

ψ+/−w · νda . (3.59)

Beachte, dass die Normale immer aus dem betreffenden Gebiet heraus zei-gen muss. Wenn also die Fläche I ein Teil von ∂Ω+ ist, zeigt die Normalein das Gebiet Ω−, während im Fall, dass I ein Teil von Ω− ist, die Normalein das Gebiet Ω+ zeigt. Dies erklärt die beiden Vorzeichen vor dem letztenIntegral in (3.59).

Als nächstes spezialisieren wir das Integral über die Fläche ∂Ω+\I ∪ Ω−\Iauf die Verhältnisse, wie sie in Abbildung 3.6 gegeben sind. D.h.

∂Ω+\I∪ Ω−\I

ψυ · nda =

A+

+

M+

+

A−

+

M−

. (3.60)

Der nun Schritt basiert auf der Voraussetzung, dass alle auftretenden Funk-tionen bei Annäherung an die Fläche I endlich bleiben. Aus diesem ver-schwinden im Limes H → 0 die Beiträge der Volumenintegrale über Ω+

und Ω− sowie die Integrale über die Mantelflächen M+ und M−. Fernerwird das Flächenintegral über A+ in diesem Limes zu einem Integral überI mit dem Integranden ψ+υ+ · (+ν) und entsprechendes passiert mit demFlächenintegral über A−, wobei der Integrand zu ψ−υ− · (−ν) wird. Esfolgt

limH→0

d

dt

Ω+∪Ω−

ψdV =

I

[[ψ(υ − w)]] · νda . (3.61)

2. Schritt: Das Transporttheorem für Flächen zur Berechnung der Zeita-bleitung des Flächenintegrals in (3.57) kann direkt von (2.39) übernommenwerden.

d

dt

I(t)

ψI(t, u1, u2)da =

I(t)

(∂ψI

∂t+ (wα

τ ;α − 2kMwν)ψI) da . (3.62)

3. Schritt: Die beiden Flußintegrale behandeln wir entsprechend der Vor-gehensweise, die zu (3.61) geführt hat. Es folgt

limH→0

∂Ω+\I∪∂Ω−\I

ϕ · nda =

I

[[ϕ]] · νda . (3.63)

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4. Schritt: Schließlich transformieren wir auch das Linienintegral in (3.57)auf ein Integral über die Fläche I. Dies leistet der Satz von GAUSS fürFlächen, siehe (2.38),

I

(ϕαI);αda =

∂I

ϕαIeαds =

∂I

φI · Eds (3.64)

wobei gesetzt ist

φI = ϕαIτα und E = eατα mit |E| = 1. (3.65)

5. Schritt: Aus den Teilresultaten erhalten wir ein einziges Integral überdie Trennfläche I, nämlich∫

I

([[ψ(υ−w)+ϕ]]·ν+∂ψI

∂t+(wα

τ ;α−2kMwν)ψI+ϕαI);α−ξI)da = 0 . (3.66)

Da die Größe der Fläche I beliebig ist, können wir ein so kleines I betrach-ten, so dass wir den Integrand aus dem Integral heraus ziehen können.Damit folgt punktweise die Behauptung (3.58).

Singuläre Bilanzen für Flächen ohne Eigenleben. Häufig begegnenwir dem Spezialfall, dass eine singuläre Fläche kein Eigenleben hat. Hier-unter verstehen wir, dass gilt ψI = 0, ϕα

I= 0 und ξI = 0. In diesem Fall

reduzieren sich die allgemeinen singulären Flächenbilanzen (3.58) auf

−wν [[ψ]] + [[ψυ + ϕ]] · ν = 0 . (3.67)

Wenn wir nun diese Bilanz mit der allgemeinen Bilanzgleichung (3.35) fürreguläre Punkte des Körpers Ω, nämlich

∂ψ

∂t+ div(ψυ + ϕ) = ξ , (3.68)

vergleichen, stellen wir auf den linken Seiten große Ähnlichkeiten fest. DerÜbergang zwischen (3.68) und (3.67) findet statt durch die Ersetzungen

∂t→ −wν [[ ]] und

∂xk→ [[ ]]νk . (3.69)

Dies ist sehr natürlich, denn es aus Differentialquotienten werden bei Un-stetigkeiten Differenzen.

Singuläre Bilanzen für Masse, Impuls und Energie bei Flächen oh-ne Eigenleben. Wenn wir die generische Größe ψ nacheinander identifizie-ren als Massendichte ρ, Impulsdichte ρυ und als Energiedichte ρu + ρ/2υ2

dann entstehen

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Singulären Flächenbilanzen bei Flächen ohne Eigenleben:für Masse

[[ρ(υk − wk)νk]] = 0 , (3.70)

für Impuls[[υiρ(υk − wk)νk]] − [[σik]]νk = 0 , (3.71)

für Energie

[[(u +1

2υ2)ρ(υk − wk)νk]] + [[qk − υiσik]]νk = 0 . (3.72)

Ein Spezialfall dieser Gleichungen spielt in der Gasdynamik eine große Rol-le. Diese Theorie beschäftigt sich mit der Ausbreitung von Stoßwellen, undbetrachtet meistens den Fall: σik = −pδik, qk = 0, und u und p sind gegebendurch materialabhängige Funktionen der Dichte ρ und der Temperatur Tgegeben. In diesem Fall werden die Gleichungen (3.70) - (3.72) RANKINE-HUGONIOT Gleichungen genannt. Eine Lösung dieser Gleichungen heißtStoßwelle oder kürzer Stoß .

Welche Bedingungen ein physikalisch/technischer Vorgang erfüllen muss,damit die RANKINE-HUGONIOT Gleichungen anwendbar sind, werdenwir im zweiten Teil dieser Vorlesung untersuchen.

Übung 3.11 Leite aus den Gleichungen (3.70)-(3.72) für den Spezialfall σij =−pδij die singuläre Bilanz der inneren Energie ab. Diese lautet

[[u +p

ρ+

1

2(υ − w)2]]ρ(υk − wk)νk + [[qk]]νk = 0 . (3.73)

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Übung 3.12 In einem langen horizontalen Rohr mit konstantem Querschnittgibt es eine Strömung nach rechts. In der Strömung soll es einenStoß geben. Nimm eindimensionale Verhältnisse an.a.) Zeige, dass gilt

υ+/− = w − m

ρ+/−, (3.74)

wobei m stetig beim Durchtritt durch den Stoß ist.b.) Berechne m aus der Impulsbilanz, und zeige

m2 = − p+ − p−

1ρ+

− 1ρ−

. (3.75)

Diskutiere diese Beziehung.c.) Werte die singuläre Bilanz der inneren Energie aus, und be-weise die Beziehung

u+ − u−

+1

2(p+ + p

−)(

1

ρ+

− 1

ρ−

) = 0 . (3.76)

d.) Beweise, dass die Dichteänderung über den Stoß auch bei be-liebig großer Druckänderung endlich bleibt. Berechne die größt-mögliche Dichteänderung für Luft.e.) Gib eine Möglichkeit an, wie der hier beschriebene Stoß er-zeugt werden kann.

Singuläre Bilanzen für Masse und Impuls bei Flächen mit Eigen-leben. Singuläre Flächen mit eigenen physikalischen Eigenschaften könnenbis auf wenige Ausnahmen ein sehr kompliziertes Verhalten aufweisen. Ihrsteigender Einsatz in modernen Anwendungen hat die Etablierung einerneuen und eigenen Disziplin unter der Bezeichnung Smart Interfaces not-wendig gemacht. Im Rahmen dieser Einführung werden wir uns allerdingsnur mit zwei einfachen Flächentypen beschäftigen.

Ist eine singuläre Fläche I Träger von Masse, dann lautet die singuläreMassenbilanz

[[ρ(υk − wk)νk]] = −∂ρI

∂t− (wα

τ ;α − 2kMwν)ρI , (3.77)

wo ρI die Flächenmassendichte mit der Einheit kg/m2 ist.

Das einfachste Beispiel in diesem Zusammenhang ist die dünne Gummihauteines Luftballballons, wenn diese durch eine singuläre Fläche dargestelltwerden soll.

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Übung 3.13 Betrachte einen Gummiballon mit Kugelsymmetrie.a.) Berechne die relative Änderung der Flächenmassendichte,wenn der Ballonradius von 5 cm auf 15 cm erhöht wird.b.) Gummi ist in sehr guter Näherung inkompressibel, d.h Gum-mi ändert bei Deformation sein Volumen nicht. Berechne für denProzess unter a.) die relative Dickenänderung der Gummimem-bran.

Als weiteren Spezialfall untersuchen wir jetzt eine singuläre Fläche I, dieTräger von Impuls ist. Die singuläre Impulsbilanz lesen wir ebenfalls ausder allgemeinen Bilanz (3.58) ab.

[[υiρ(υk −wk)νk]]− [[σik]]νk = −∂ρIwi

∂t− (wα

τ ;α − 2kMwν)ρIwi + tiα;α + ρIg

i .

(3.78)Hier ist ρIw

i die Impulsdichte, die Komponenten tiα bilden den Flächen-spannungsvektor, und ρIg

i sind die Komponenten der Flächenschwerkraft-dichte.

Ein besonders wichtiger Spezialfall liegt vor, wenn der Flächenimpuls unddie Schwerkraft ignoriert werden können, so dass lediglich der Flächenspan-nungsvektor wichtig ist. Es folgt

[[υiρ(υk − wk)νk]] − [[σik]]νk = tiα;α . (3.79)

Zur Interpretation der Komponenten des Flächenspannungsvektors ist essinnvoll, diesen zunächst in Tangential- und Normalanteile zu zerlegen. Wirschreiben

tiα = Sαβτ iβ + Sανi . (3.80)

Die neu eingeführten Komponenten Sαβ heißen Komponenten des Flächen-spannungstensors und die Sα bilden die Normalspannung.

Übung 3.14 Ein mit Gas gefüllter Behälter wird durch eine dünne Trennwandin zwei Teile mit unterschiedlichen Drucken geteilt. Nimm an,dass mechanisches Gleichgewicht vorliegt, d.h. es gilt

−[[σik]]νk = tiα;α . (3.81)

Verwende diese Gleichung zur Interpretation der Komponen-ten des Flächenspannungstensors und der Normalspannung. Be-trachte zwei Fälle:a.) Die Trennwand sei eine Gummimembran, welche sich starkverformen kann.b.) Die Trennwand sei nahezu starr.

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Kapitel 4

Bilanzen für Masse, Impuls und

Energie in problemangepaßten

Koordinatenlinien

4.1 Ziele

Bisher haben wir die Bilanzgleichungen für Masse, Impuls und Energiein kartesischen Koordinatenlinien und in einem Inertialsystem formuliert.Letzteres geschah ohne besondere Erwähnung.In diesem Kapitel werden wir die Bilanzgleichungen über zeitunabhängigeTransformationen mit Bezug auf krummlinige Koordinatenlinien angeben.Darüber hinaus werden wir den Begriff des Inertialsystems präzisieren undanschließend die Bilanzgleichungen über zeitabhängige Transformationenauf Nichtinertialsysteme beziehen.

4.2 Zeitunabhängige Transformationen

Wir betrachten die eineindeutigen Transformationsgleichungen

zi = zi(x1, x2, x3) ⇔ xi = xi(z1, z2, z3) für i ∈ 1, 2, 3 . (4.1)

Diese sollen den Übergang von rechtwinklig kartesischen Koordinatenlinien(xi)i∈1,2,3 auf krummlinige Koordinatenlinien (zi)i∈1,2,3 realisieren.

Wir kennen bereits die Bilanzgleichungen für Masse, Impuls und innereEnergie bezüglich rechtwinklig kartesischer Koordinatenlinien. Ihre lokalen

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Versionen in regulären Punkten lauten

∂ρ

∂t+

∂ρυk

∂xk= 0 , (4.2)

∂ρυi

∂t+

∂ρυiυk − σik

∂xk= ρgi ,

∂ρu

∂t+

∂ρuυk + qk

∂xk= σij ∂υi

∂xj+ ρr .

Zur Angabe dieser Gleichungen in krummlinigen Koordinatenlinien, müs-sen wir zunächst klären, wie sich hierbei die 21 auftretenden Größen trans-formieren.

Transformationsverhalten der kinematischen Größen. Die Geschwin-digkeit und deren Zeit- und Ortsableitungen sind sogenante kinematische

Größen. Diese werden direkt über die Bewegungsfunktion x = χ(t,X)bzw. mittels ihrer Umkehrung gebildet. Das Transformationsverhalten vonkinematischen Größen kann deshalb durch Einsetzen der Bewegungsfunkti-ons in die zeitunabhängigen Transformationsformeln (4.1) erhalten werden.Es folgt gemäß der Überlegungen in Abschnitt 1.5

υ(z)

i =∂zi

∂xjυ(z)

j ,∂

∂tυ(z)

i =∂zi

∂xj

∂tυ(x)

j , υ(z)

i;j =

∂zi

∂xk

∂xl

∂zj

∂xlυ(x)

k . (4.3)

Transformationsverhalten der nichtkinematischen Größen. Alle an-deren Größen in den Bilanzgleichungen sind keine kinematischen Größen.Deren Transformations wird postuliert aufgrund von Beobachtungen undFestsetzungen.

Die Massendichte ρ, die spezifische innere Energie u und die Strahlungs-dichte sind Skalare.

ρ(z)

= ρ(x)

, u(z)

= u(x)

, r(z)

= r(x)

. (4.4)

Der Wärmefluß und die Schwerkraft sind Vektoren.

q(z)

i =∂zi

∂xjq

(x)

j , g(z)

i =∂zi

∂xjg(x)

j . (4.5)

Der Spannungstensor ist ein Tensor 2-ter Stufe.

σ(z)

ij =∂zi

∂xk

∂zj

∂xlσ(x)

kl . (4.6)

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Wir haben hier nur die kontravarianten Komponenten angegeben. Für dieanderen Komponenten gibt es entsprechende Formeln, die dem Kapitel 1entnommen werden können. Siehe beispielsweise die Formel (1.57).

Bilanzgleichungen in krummlinigen Koordinatenlinien. Aus demTransformationsverhalten der in den Bilanzgleichungen auftretenden Grö-ßen folgt die Form der

Bilanzgleichungen in krummlinigen Koordinatenlinien:

∂ρ

∂t+ (ρυk) ;k = 0 , (4.7)

∂ρυi

∂t+ (ρυiυk − σik) ;k = ρgi ,

∂ρu

∂t+ (ρuυk + qk) ;k = σijυi

;j + ρr .

Zur Vereinfachung der Schreibweise haben wir die Angabe der verwendetenKoordinatenlinien unterdrückt. Die Herleitung dieser Bilanzen ist auf derGrundlage der Formeln (1.109)-(1.113) sehr einfach.

Ein Vergleich mit den Bilanzgleichungen (4.2) liefert als Rezept für denÜbergang von kartesischen auf krummlinige Koordinatenlinien: PartielleOrtsableitungen werden durch die entsprechenden kovarianten Ableitungenersetzt.

Übung 3.15 Führe Zylinderkoordinaten ein, welche definiert sind durch

z1 ≡ r =√

(x1)2 + (x2)2 , z2 ≡ θ = arctan(x2

x1) , z3 ≡ z = x3 ,

(4.8)mit den Umkehrformeln

x1 = r cos(θ) , x2 = r sin(θ) , x3 = z . (4.9)

a.) Zeige, dass die Komponenten des Metriktensors gegeben sinddurch

gij = diag(1, r2, 1) gij = diag(1, 1/r2, 1) . (4.10)

b.) Berechne die Christoffelsymbole und zeige, dass gilt

Γ122 = −r , Γ2

21 = Γ212 =

1

r, Γi

jk = 0 sonst . (4.11)

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Übung 3.16 Berechne die explizite Form der Bilanzgleichungen für Masse,Impuls und innere Energie in Zylinderkoordinaten.a.) Zeige zunächst, dass die Komponenten der Geschwindigkeit inZylinderkoordinaten wie folgt dargestellt werden, und erläuteredie Unterschiede:

υi = (r, θ, z) , υi = (r, r2θ, z) , υ < i >= (r, rθ, z) . (4.12)

b.) Berechne die Massenbilanz in Zylinderkoordinaten:

∂ρ

∂t+ r

∂ρ

∂r+ θ

∂ρ

∂θ+ z

∂ρ

∂z+ ρ(

∂r

∂r+

∂θ

∂θ+

∂z

∂z) = 0 (4.13)

c.) Berechne die r-Komponente der Impulsbilanz in Zylinderko-ordinaten:

ρ(∂r

∂t+ r

∂r

∂r+ θ

∂r

∂θ+ z

∂r

∂z− rθ2) (4.14)

− ∂σrr

∂r− ∂σrθ

∂θ− ∂σrz

∂z+ rσθθ − 1

rσrr = ρgr .

d.) Berechne die θ-Komponente der Impulsbilanz in Zylinderko-ordinaten:

ρ(∂θ

∂t+ r

∂θ

∂r+ θ

∂θ

∂θ+ z

∂θ

∂z+

2

rrθ) (4.15)

− ∂σθr

∂r− ∂σθθ

∂θ− ∂σθz

∂z− 3

rσθr = ρgθ .

e.) Berechne die z-Komponente der Impulsbilanz in Zylinderko-ordinaten:

ρ(∂z

∂t+ r

∂z

∂r+ θ

∂z

∂θ+ z

∂z

∂z(4.16)

− ∂σzr

∂r− ∂σzθ

∂θ− ∂σzz

∂z− 1

rσzr = ρgz .

e.) Berechne die Bilanz der inneren Energie in Zylinderkoordina-ten:

ρ(∂u

∂t+ r

∂u

∂r+ θ

∂u

∂θ+ z

∂u

∂z+

∂qr

∂r+

∂qθ

∂θ+

∂qz

∂z+

qr

r(4.17)

= σij ∂υi

∂zj+ rσθθ r − 2rσθr θ .

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