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Kinderhysterie mit schweren Stiirungen der Lage- wegungsempfindungen 1). Von Professor Dr. Wilhelm Strohmayer (Jena). Mit 2 Textfiguren. (Einqegangen am 6. Juni 1912.) and Be- Meine Herren! Ich mSchte Ihnen kurz fiber einen Fall von schwerer Hysterie bei einem Kinde berichten, der dureh seine _~tiologie, seine klinische Vielseitigkeit mit seltenen Symptomen und durch das Be- handlungsresultat praktisehes Interesse bietet. A. B. ist am 30. November 1897 als zweites Kind gesunder Eltern geboren. Eine altere Schwester und drei jiingere Geschwister sind gesund und sehr kri~ftig ent- wiekelt. Anna selbst, obwohl zarter als ihre Gesehwister, galt immer ffir gesund, war besonders flink und kSrperlieh gewandt (sie sehwamm, radelte und turnto sehr gut), von Charakter sehr liebenswfirdig and gut erziehbar und in den Sehul- leistungen die Beste der Klasse. Nur in den letzten zwei Jahren lemte sie nieht mehr so gut, klagte fiber Kopfsehmerzen und lift unter hartngckiger Verstopfung. Sie hatte oft 3--5 Tage lang keinen Stuhlgang. Am 5. Dezember 1910 starb un- erwartet die Mutter des Kindes an einem Herzleiden. Bei der Nachricht ersehrak Anna heftig, verfiel in ,,Sehreikr~mpfe", die in einen kataleptischen Zu- stand ausklangen: ,,der ganze KSrper war steif, der Mund stand weir often, die Augen waren unnatiirlieh grol]." Allm~hlich trat Besserung ein; am n~ehsten Tage stand Anna auf, klagte aber fiber heftige Kreuzschmerzen. Der zugezogene Arzt kurierte auf Rheumatismus (!), und als das Kind weiterhin iiber Schmerzen im Kreuz klagte und kaum sitzen und gehen konnte, legte er einen Streekverband der Beine an! W~hrend dieses Krankenlagers im Verband (im Verlauf yon 3 Woehen) verschlechterte sich der Zustand des Mi~dchens sehr. Zun~ehst bekam es am 6. Ja- nuar 1911 einen zweiten kataleptiformen Anfall von 4 Stunden Dauer: Sie lag re- gungslos im Bert, mit stgrkster Lordose der Lendenwirbels~ule, Arme und Beine waren passiv beweglich; spreehen konnte Anna nieht, der Mund stand welt often; der Gesiehtsausdruck war maskenhaft starr. Sie hSrte aUes, was gesprochen wurde, und blinzelte zum Zeichen des Verst~ndnisses mit den Augenlidern. (Am 20. M~rz 1911 hatte sie im Anschlu$ an ein Bad einen i~hnlichen Anfall yon 24stfindiger Dauer, in dem sie aber Kopf und Arme ,,zitternd bewegte".) Was aber viel schlim- met war, es bildete sich eine Abasie - Astasie aus: Anna ko~nte nun nieht mehr gehen und stehen. ,,Anstatt aufzutreten, hob sie die Beine an." Dagegen konnte sie sich im Bert aufrichten, allein auf dem Bettrande sitzen und Arme und Beine dabei bewegen. Die Contractur der Streeker der Wirbels~ule nabm zu. Auf An- raten des Arztes machte sie Kriechbewegungen auf dem FuBboden. W~thrend eines 1) Naeh einem Vortrag in der Sektion ffir Heilkunde der Med.-Naturwissen- sehaftl. Gesellschaft zu Jena am 23..Mai 1912.

Kinderhysterie mit schweren störungen der lage-und be-wegungsempfindungen

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Kinderhysterie mit schweren Stiirungen der Lage- wegungsempfindungen 1).

Von

Professor Dr. Wilhelm Strohmayer (Jena).

Mit 2 Tex t f igu ren .

(Einqegangen am 6. J u n i 1912.)

and Be-

Meine Herren! Ich mSchte I hnen kurz fiber einen Fal l von schwerer

Hyster ie bei e inem Kinde berichten, der dureh seine _~tiologie, seine klinische Vielseitigkeit mi t sel tenen Symptomen und durch das Be-

handlungsresu l ta t praktisehes Interesse bietet.

A. B. ist am 30. November 1897 als zweites Kind gesunder Eltern geboren. Eine altere Schwester und drei jiingere Geschwister sind gesund und sehr kri~ftig ent- wiekelt. Anna selbst, obwohl zarter als ihre Gesehwister, galt immer ffir gesund, war besonders flink und kSrperlieh gewandt (sie sehwamm, radelte und turnto sehr gut), von Charakter sehr liebenswfirdig and gut erziehbar und in den Sehul- leistungen die Beste der Klasse. Nur in den letzten zwei Jahren lemte sie nieht mehr so gut, klagte fiber Kopfsehmerzen und lift unter hartngckiger Verstopfung. Sie hatte oft 3--5 Tage lang keinen Stuhlgang. Am 5. Dezember 1910 starb un- erwartet die Mutter des Kindes an einem Herzleiden. Bei der Nachricht ersehrak Anna heftig, verfiel in , ,Sehre ikr~mpfe" , die in einen k a t a l e p t i s c h e n Zu- stand ausklangen: ,,der ganze KSrper war steif, der Mund stand weir often, die Augen waren unnatiirlieh grol]." Allm~hlich trat Besserung ein; am n~ehsten Tage stand Anna auf, klagte aber fiber heftige Kreuzschmerzen. Der zugezogene Arzt kurierte auf Rheumatismus (!), und als das Kind weiterhin iiber Schmerzen im Kreuz klagte und kaum sitzen und gehen konnte, legte er einen Streekverband der Beine an! W~hrend dieses Krankenlagers im Verband (im Verlauf yon 3 Woehen) verschlechterte sich der Zustand des Mi~dchens sehr. Zun~ehst bekam es am 6. Ja- nuar 1911 einen zweiten kataleptiformen Anfall von 4 Stunden Dauer: Sie lag re- gungslos im Bert, mit stgrkster Lordose der Lendenwirbels~ule, Arme und Beine waren passiv beweglich; spreehen konnte Anna nieht, der Mund stand welt often; der Gesiehtsausdruck war maskenhaft starr. Sie hSrte aUes, was gesprochen wurde, und blinzelte zum Zeichen des Verst~ndnisses mit den Augenlidern. (Am 20. M~rz 1911 hatte sie im Anschlu$ an ein Bad einen i~hnlichen Anfall yon 24stfindiger Dauer, in dem sie aber Kopf und Arme ,,zitternd bewegte".) Was aber viel schlim- met war, es bildete sich eine Abasie - Astas ie aus: Anna ko~nte nun nieht mehr gehen und stehen. ,,Anstatt aufzutreten, hob sie die Beine an." Dagegen konnte sie sich im Bert aufrichten, allein auf dem Bettrande sitzen und Arme und Beine dabei bewegen. Die Contractur der Streeker der Wirbels~ule nabm zu. Auf An- raten des Arztes machte sie Kriechbewegungen auf dem FuBboden. W~thrend eines

1) Naeh einem Vortrag in der Sektion f fir Heilkunde der Med.-Naturwissen- sehaftl. Gesellschaft zu Jena am 23..Mai 1912.

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solchen Versuches probierte der Arzt eine ,,Uberrumpelung". Er hob Anna pl6tz- lieh, unter den Sehultern zupaekend, hoeh und wollte sie auf die Beine stellen. Das Kind erschrak, braeh zusammen und hatte yon Stund an eine ko m p l e t t e schlaffe L ~ h m u n g der Beine. Da sieh der Zustand nicht besserte, kam Anna in eine Klinik (April 1911). Dort versehleehterte sieh das Befinden wieder: nach 8 Tagen traten C o n t r a e t u r e n in den Beinen auf, die im Verlauf yon 3 Tagen sieh zur m a x i m a l e n B e u g e c o n t r a c t u r im K n i e g e l e n k e entwiekelten. Gleiehzeitig stellte sich a b s o l u t e Gef i ih l los igke i t der Be ine e in (24. April 1911). Mit der spastisehen Lordose verband sich ein enorme Spannung der Bauehmuskeln; der Leib war kahnfSrmig eingezogen. Merkwiirdigerweise war der Arzt der Ansieht, man solle die Contracturen ,,ignorieren"; die Beine wiirden sich von selber strecken. Dies trat nicht ein; auch spi~ter angewendete Massage und Elektriziti~t brachten keine Besserung.

Als ich das Kind am 12. Juni 1911 zum erstenmal sah, botes einen erbarmungs- wfirdigen Anbliek dar: Es lag unbeweglieh im Bert, blal~ und abgemagert (52 Pfd. K5rpergewicht), sprach mit matter Stimme, klar und geordnet alle Fragen beant- wortend. Der Gesichtsausdruck hatte etwas Maskenhaftes; die Oberlippe bewegte sich kaum beimSpreehen. Die r. Pupille war>l ; sonst war an denHirnnerven nichts Abnormes festzustellen. Anna hielt immer Riickenlage ein; Sitzen war unmSglich. Es bestand eine starke Lordose, so dab Pat. nur auf den Schultern und dem Kreuz- bein auflag. Die Kriimmung der Lendenwirbels~ule war so stark, da~ man bequem eine gewShnliehe Rolle von 16 em Durchmesser durehschieben konnte, und war mit Gewalt nieht ausgleichbar. Der Baueh war eingezogen, bretthart. Die Arme wurden nach allen Riehtungen hin bewegt; der H~indedmck (dynamometrisch ge- messen) betrug r. und 1. = O. Die Beinmuskulatur (besonders der Unterschenkel) war extrem atrophisch. Beide Beine standen in m a x i m a l e r B e u g e c o n t r a c - t u r im K n i e g e l e n k , gegen den Leib angezogen, die FiiBe in Spitzful3stellung. Die Kniee waren infolge hochgradiger Adductoreneontractur lest aneinander ge- preBt. Beim Versueh der Abduktion sehnellten die Kniee federnd zusammen. Aktive Bewegung der Beine war total unmSglich; desgleiehen die der Fiil3e und das Zehenspiel. Die Contracturen waren so stark (namentlieh im Kniegelenk), dal~ auch mit Gewalt keine VergrSBerung der Winkelstellung zu erreichen w a r . - Die Kniescheibenreflexe und das Aeliillessehnenph~nomen waren natiirlich nicht aus- 16sbar; der Plantar- und Bauchreflex fehlten beiderseits. Dagegen waren die Schleimhautreflexe erhalten. Die Wirbelsi~ule war nirgends schmerzhaft. Die S e n s i b i l i t ~ t zeigte folgende Verh~ltnisse (vgl. Fig. 1, ]): Die Beine waren bis zur Leistengegend ani~sthetisch und analgetiseh, kalt und cyanotiseh, marmoriert; das GesaB ~var hypalgetisch und hyp~sthetisch; an Baueh, Riieken und Armen bestand Hyper~sthesie. - - Die Gesichtsfelder waren nicht eingeengt, Geschmack Geruch, GehSr intakt. - - Die inneren Organe waren gesund. Stuhlgang effolgte nur nach Klystier, desgleichen der Urin, der eiweiI]- und zuckerfrei war.

Nachdem sieh die UnmSgliehkeit der ContraeturlSsung (aueh in Hypnose) her- ausgestellt hatte, wurde sie in Narkose vorgenommen; dabei zeigte sieh, daI~ na- mentlieh am linken Knie schon erhebliche Sehrumpfungen der Beuger und Kapselver- klebungen eingetreten waren. Es wurde ein Gipsverband angelegt, der vom Nabel his zu den Zehen reiehte, die Lordose korrigierte, die Beine in starker Abductions- und Streckstellung und die Ffil~e in Hyperdorsalflexion hielt (17. Juni 1911). Am 5. Juli 1911 wurde der Gipsverband entfernt: die Lordose war verschwunden, die Bauch- un4 Knieseheibenreflexe rechts und links auslSsbar. An Stelle der Contracturen trat die alte schlaffe paraplegisehe Li~hmung wieder zutage. Bei allen Versuehen der passiven Bewegung klagte Anna fiber hoehgradige Schmerzen. Eine Sensibilit~tpriifung ergab nun (vgl. Fig. 1, II): die Unterschenkel waren auf

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Fig. L

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der Streckseite bis fast zum Knie, ebenso die FuSriicken analgctisch und an~sthe- $isch, die ganze Beugeseite und die Streckseite direkt unter dem Knie hypKsthetisch und analgetiseh, Oberschenkel und Ges~B hypasthetisch and hypalgetisch; Baueh, Rfieken, Ful3sohlen und Hohlhandfl~ehen hyper/isthetiseh.

In beiden Kniegelenken bcstand dauernder brennender Schmerz. Die Riickenmuskulatur war hochgradig atrophisch, die Kopfhaltung unmSg-

lieh. Richtete man die Pat. auf, so pendelte der Kopf haltlos nach allen Riehtungen. Bei Sitzversuchen stellte sich sSarke Lordose und Skoliose ein.

Es folgten nun fiir die Pat. schmerzensreiche und fiir den Arzt arbeitsreiche Wochen, ausgefiillt yon passiver, aktiver und Widerstandsgymnastik. Die passiven Bewegungen der Beine im Ful~- und Kniegelenk riefen die heftigsten Schmerz- ~uBerungen hervor. Anna war aber tapfer. Allm~hlich wurden alle Gelenke mo- bilisiert, und am 23. Juli 1911 zeigte sieh die erste minimale a k t i v e Hebung der Beine yon der Unterlage ab und Beugung der Beine. Ende August waren dutch die passive Gymnastik und Faradisation die Beine in allen Gelenken passiv ohne Sehmerz frei beweglieh; die Beine konnten in Rfiekenlage aktiv gehoben, im Knie gebeugt, ab- und adduziertwerden. ImRiieken und in denUntersehenkelnwarnoeh keine Spur yon Bewegung siehtbar. Erst im Laufe des Oktobers bewegte Anna, die Fiige plantar- und dorsalwi~rts und ring an, in Bauehlage den Riieken anzu- heben.

Im November wurden die Sitzversuehe begonnen, wobei eine starke s p a s t i s o h e Skohose naeh reehts und die Unfi~higkeit den Kopf gerade zu halten, stSrte. Je ausgiebiger die aktiven Bewegungen der Beine warden, um so deutlieher zeigte slob, da$ alas ,,Muskelgeffihl" i n den B e i n e n v o l l k o m m e n fehlte. Die Sicher- hei~ der Bewegung war nur dureh die Kontrolle der Augen gewi~hrleistet oder dureh einen, wenn aueh nur ganz leiehten Widerstand bei der Bewegung. Die Spontan- bewegung erfolgte auffallend hi~ufig in der dem gewollten Ziele entgegengesetzten Riehtung: beim Versuche, das Bein zu abduzieren, traten Adduetionsbewegungen auf. Bei geseh los senen Augen h a t t e A n n a ke ine A h n u n g yon der Stel- l u n g u n d Lage ihre r Beine.

:Bez/iglieh der Arme war von Anfang an die geringe, motorisehe Kraft be- merkenswert. Anna bewegte zwar Arme und Hande, gebrauehte sie aber zuni~chsg gar nieht und spi~ter auffallend ungeschickt z. B. beim Essen, ZuknSpfen usw. Sie war weder bei geschlossenen noeh bei offenen Augen imstande, mit einem Arm einen Kreis in der Luft zu beschreiben: Bei jedem Versuehe traten ausfahrende Gegen- und Zwisehenbewegungen auf. Bei ge sch los senen A uge n feh l te j ede V o r s t e l l u n g yon Lage u n d Bewegung der Arme. Gab man einem Arm eine beliebige Stellung, so konnte Anna sie auch nieht anni~hernd beschreiben. Sie wuflte nieht, ob der Arm fiber dem Kopf oder in Nabelh6he stand. Besehrieb man mit einer ihrer Hi~nde passiv eine Figur oder einen Buchstaben in die Luft, so merkte sie nur, dal~ der Arm ,,hin- und herging"; Figur und Buehstaben erriet sie nicht. Bei dem Versueh, bei geschlossenen Augen mit der Zeigefingerspitze dio ~asenspitze zu berfihren, fiihrte sie die groteskesten Bewegungen aus und fuhr im Zickzack am ganzen KSrper herum, ohne die Nase zn linden. Sie konnte mit ge- schlossenen Augen aueh keinen Bissen zum Munde ffihren. S c h r e i b e n war d u r e h a u s nnm6g l i eh . Anna nahm krampfhaft Bleistift oder Feder in die rechto Hand, driiekte mit iibertriebener Kraft auf und kam nicht vom Fleck. Die ersten Schreibversuche ihres Namens vom 17. November 1911 sind auf Fig. 2, I abgebil- det. Auf- und ZuknSpfen, Einfadeln, Schleifebinden usw. f ielder Pat. aul]er- ordentlieh sehwer. }

Inzwischen waren die Sehnenreflexe der unteren Extremit~ten in normaler St~rke zuriickgekehrt. Die Muskeln nahmen stetig an Volumen zu, die cutanen

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Sensibilit~tsstSrungen gingen zuriick. Am 27. November 1911 waren am ganzen KSrper normale Empfindungsqualiti~ten zu verzeiehnen, mit Ausnahme der Unter- schenkel: auf der Streckseite begann unterhalb der Kniee Analgesie und t{ypiisthe- sie, die am Sprunggelenk in An~sthesie und Analgesie (bis zu den Zehen reichend) iiberging (vgl. Fig. 1, III). Dieser ganze Bezirk war - - sehaff mit der Empfindungs- st6rung zusammenfallend - - kalt und cyanotisch.

Auf der Beugeseite bestand yon der Mitre der Wade an abw~rts eine ganz geringe Hyp~sthesie und Hypalgesie. Es war genau zu verfolgen, wie die Sensibiliti~t-

T. 17. XII. 11.

IL

~ . ~ ~ (Versuch, Anna zu schreiben.)

~ (u Ger- trud zu

schreiben.)

1. III. 12.

Fig. 2. Schriftproben der A. B.

stSrungen langsam yon Woche zu Woche distalw~rts abnahmen. Die an~sthetische und hyp~lgetisehe (,,ich empfinde Stiche wie durch Leder hindurch") Zone schrumpfte allm~hlieh bis auf ganz kleine Bezirke yon ca. HandtellergrSBe auf dem FuBriieken ein, die noeh bestanden, als die Pat. am 5. April 1912 entlassen wurde.

Um Weihnachten 1911 ring Anna an, allein zu sitzen, zunachst wegen Neigung zu Skoliose mit Fixierung des OberkSrpers an die Riickenlehne. Die Kopfhaltung war inzwischen durch zahlreiche l~bungen auch besser geworden. Abet Pat . behe r r sch t e im S i t zen die S t e l l u n g ih re r B u l b i n ieht . Sie sah nicht gerade aus, sondern die Bulbi irrten beim Sitzen nach oben ab. Bei Konvergenzversuchen auf Objekte in ca. 30 cm Entfernung stellten sieh beide Bulbi versehieden ein. Wiihrend das linke Auge iiberstark konvergierte, irrte das rechte nach auBen ab. LieB man einige Sekunden fixieren, so trat Konvergenzkrampf ein: die Bulbi stellten sieh unter fortw~hrenden nystagmusartigen Zuckungen in maximaler Konvergenzstellung, im inneren Augenwinkel nach oben gero]lt lest.

Mitre Januar 1912 saB Anna ohne Schwierigkeit und maehte nun die ersten Stehversuehe, denenbald die erstenSchritte folgten. Es kostete endloseMiihe, einen Schritt zu erreichen. Zahlreiche Mitbewegungen und Zwiseheninnervationen stSrten. Anna ging seMieBlich am Geh~pparat wie ein Tabiker im Stadium hSchster Ataxie: Briisk und ausfahrend wurde das Bein gehoben, dann wurden in der Luft einigo pendelnde Bewegungen ausgefiihrt und dann das Bein stampfend aufgesetzt. Dabei fehlte die Sehatzung, ob vor- oder riickwi~rts, der FuB stand bald naeh innen, bald n~eh auflen rotiert, bald trat sie sich wuchtig auf den feststehenden. Boi gesehlossenen Augen wuBte sie gar niehts anzufangen, nicht einmal, ob sic das rechte oder das linke Bein bewegte. Nach wochenla~gen Ubungen war Anna aber so weir, dab sie rasch und gut an einem Stoeke ging - - wenn sie die Augen zu ~ilfe

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nahm. Bei geschlossenen Augen stiirzte sie hilflos zusammen, hatte, als sie schon flott ging, noch keine Ahnung yon der Lage ihrer Beine weder im Stehen noch im Liegen, und konnte den Kniehackenversuch nicht ausfiihren. Sie fuhr dabei ein- fach hilflos mit den Beinen in der Luft herum. Ohne Stock oder sonstige Fiihrung ~hnelte ihr Gang anfangs dem eines sehwer Betrunkenen. Sie torkelte und taumelte, kippte bald vor- bald rtiekwi~rts und hielt Balance mit den Armen, wie bei einer cerebellaren Ataxie.

Anna entwickelte sich im Laufc des 10 monatigen Aufenthalts gl~nzend. Sie nahm 36 Pfd. an KSrpcrgewicht zu, lernte sich aus- und anzichen, Toilette machen, essen und Srinken usw., sie stieg Treppen und ging stundenlang am Stock spazieren. Abet die Sensomobilit[it und Koordination der oberen und unteren Extremit~ten waren bei der Entlassung am 5. April 1912 noch sehr stark gestSrt. Eine Schrift- probe zeigt dies besonders deutlich (vgl. Fig. 2, II). Das kin~sthetische Empfinden stcllte sieh trotz aller Ubungen nicht ein: sie merkte wohl, dab man an den Fingern etwas ,,machte", sie wuBte aber nic genau, an welchem Finger ein Glied passiv bewegt wurde und nicht wie. Auch das stereognostische Erkennen blieb sehr un- sicher: ein Streichholz taxierte sie als etwas ,,Lkngliches", ein Geldstiick erkannte sie nicht: ,,Es ist k~lt in der Hand", ebensowenig einen Blcistift, eine kleine Kugel, einen Schlfissel usw. Dabei war die cu t ane Sensibiliti~t an Armen und tli~nden ffir die fe ins te Beri ihrung und jede S c h m e r z a b s t u f u n g erhal ten.

Der Fall ist yon Anbeginn seiner Entstehung an klar gewesen, eine S c h r e c k h y s t e r i e bei einem Kinde, so klar, dal] es fiiglich wundernehmen muB, wie der zuerst zugezogene Arzt die Hysterie verkannte und auf Grund einer falschen Diagnose zu der merkwiirdigen Therapie des Streckverbandes greifen konnte. Es ist anzunehmen, dab diese ,,Ruhigstellung" der Beine bei dem vorherrschenden affektiven Zustand des Kindes den Weg fiir die Abasie-Astasie geradezu bahnte. Wie vorsichtig man bei der Hysteriebehandlung jeden Schematismus meiden mul], zeigt die iible Wirkung der von dem zweiten Arzte in bester Absicht ausgefiihrten ,,t3berrumpelung". Je mehr Hysterien ich behandele, um so mehr festigt sich bei mir die Oberzeugung, dab diese Art der Gewaltsuggestion, die traditionsmEBig in allen Hysterie- abhandlungen empfohlen wird, untauglich ist und besser vermieden wird. Ich habe yon ihr nichts Gutes, wohl aber viel Unangenehmes gesehen und gehSrt. Unbegreiflich ist die planm/~gige Ignorierung der beginnenden und sieh rasch verst/~rkenden Contracturen durch den dritten Arzt. Es mag bei dem Aufputz des hysterischen Krankheits- brides manehes geben, was am besten yon selbst gut wird und dutch allzu liebevolle Therapie an Macht im Krankheitsbewufttsein gewinnt; hysterische Contracturen zu ,,ignorieren", halte ich fiir einen Kunst- fehler. I m iibrigen ist der Fall ein Beispiel dafiir, wie langwierig manehe Fiille yon Kinderhysterie sind, die mit schmerzhaften Gelenkempfin- dungen einhergehen, und dab sich das Kind seine Krankhei t Schrittchen fiir Schrittchen geradezu abringen l~l]t, ohne dag das /~rztliche Macht- ~vort, der Respekt vor tier Geheimratsautorit~t oder das Milieu der Klinik auch nut im geringsten die Genesung erleichtert. Hier hilft

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der Lage- und Bewegungsempfindungen. 605

nur eiserne Konsequenz ohne Geizen mit Zeit und Geduld und die wirksamste Realsuggestion des Arztes, die darin besteht, dab er sich ebensoviel Miihe gibt, als er von dem kranken Kinde fordert.

Das Krankheitsbild war exquisit p o l y s y m p t o m a t i s e h , aus- gestattet mit paroxystisehen und Dauersymptomen. Wir linden : Sehrei- kri~mpfe, kataleptiforme Anf~lle, Schmerzen, Dysbasie, vollkommene Abasie-Astasie, sp~terhin eine Paraplegie der Beine mit rapid sieh entwickelnden Contracturen, cutane EmpfindungstSrungen in wech- selnder Intensit~t und region~rer Anordnung, hoehgradige StSrung der Lage- und Bewegungsempfindungen aller vier Extremit~ten und der Augenmuskeln und in deren Gefolge schwerste Ataxie der Arme und Beine. Die Contraetur der langen Riiekenmuskeln mit Ausgang in extreme Atrophie, um sie besonders hervorzuheben, ist nicht h~ufig. Es gehSrt nach meinen Erfahrungen ferner zu den Seltenheiten der Kinderhysterie, dab segmentale Sensibilit~tstSrungen in dieser Aus- dehnung und Dauerhaftigkeit des Bestandes auftreten. Ihr schritt- weises Verschwinden wird h~ufig genug beobachtet, als da~ man es als etwas besonders Bemerkenswertes hervorheben miiBte. Aber ich habe kaum je so deutlieh wie bei diesem Kinde gesehen, wie die objektiv fiihlbare Herabsetzung der Hauttemperatur sich genau mit den an~sthetischen und analgetischen Bezirken deckt. Selbst als sich die Sensibilit~tstSrung schon bis auf die Plaques auf dem Ful~riieken eingeengt hatte, war zu beobachten, wie dieser Bezirk als kalte und trockene Insel yon dem sonst warmen und feuchten Naehbargebiet uich abhob. Es f~llt mir sehwer, in derartigen F~llen die Frage der Entstehung der Sensibilit~tstSrung mit den beliebten Sehlagworten wie ,,Kunstprodukt" oder ,,Autosuggestion" abzutun. Eine so hoch- gradige StSrung der Lage- und Bewegungsempfindungen auf hyste- rischer Basis wie bei Anna ist mir bei einem Kinde iiberhaupt noeh nicht vorgekommen. Bei den in der Literatur niedergelegten F~llen er- scheint ihre Aufhebung (also die StSrung der tiefen Sensibilit~t resp. Sensomobilit~t) begleitet von mehr oder minder schwerer eutaner An~sthesie. Die i so l ie r te Aufhebung der ersteren an den Beinen noeh lange naeh der Riickkehr der normalen Hautsensibilit~t und in den Armen, wo iiberhaupt nie An~sthesie bestanden hatte, ist iiber- aus selten. Ich kann mieh dabei auf die Autorit~t B i n s w a n g e r s be- rufen, der in seiner Hysteriemonographie nur e inen ~hnlichen, aber weit leichteren Fall als Unikum anfiihrt (S. 357). Aueh die StSrung des stereognostischen Erkennens bei intakter Hautsensibilit~t und Motilit~t, widerspricht geradezu dem ]andl~ufigen hysterischen Ver- halten, wo wir uns nieht wundern, dab eine Kranke z. B. trotz voll- kommener An~sthesie beider H~nde bei Augenschlu~ die zur Toilette gehSrigen Gegenst~nde tastend rasch und sieher erkennt.

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Auf die St5rung der Augenbewegung ist noch besonders hinzuweisen. Soweit ich orientiert bin, steht eine Ataxie der Augenbewegungen nicht lest1). Es ist aber kaum eine gezwungene Annahme, da$ in unserem Falle hochgradiger allgemeiner KoordinationstSrung auch die Bulbus- muskeln an ihr teflgenommen haben.

DaB es sich bei dem ganzen Krankheitsbflde um tIysterie handelt und dal3 eine sog. organische Erkrankung des Zentralnervensystems nicht in Frage kommt, wage ich mit Bestimmtheit zu sagen. Mit der Ein- schr~nkung allerdings, dab ich iiberhaupt der Meinung zuneige, die Hysterie stehe wenigstens oft mit einem FuBe im ,,Organischen". F~lle, wie der vorliegende, machen es schwer, anzunehmen, die Hysterie mR ihren massiven Symptomen lasse sich restlos aus psychischen Vorg~ngen erkl~ren.

1) Vgl. Lewandowsky, Handbuch der Neurologie I, II. Tell, 837.