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Kritik des Nationalsozialismus

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Aus: Was ist Theologie? Studien zu ihrem Begriff und Thema in der Neuzeit / Falk Wagner. 1989. - Erstveröffentlicht in: Manfred Baumotte/Hans-Walter Schütte/Falk Wagner/Horst Renz: Kritik der politischen Theologie (Theologische Existenz heute, NF Nr. 175, hg. von Trutz Rendtorff und Karl Gerhard Steck), München 1973, S. 30-51.

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Page 1: Kritik des Nationalsozialismus

,

III. Politische Theorie des Nationalsozialismus als

politische Theologie

Theoiogie hebt - insbesondere als Theo-logie - auf eine Theorie ab, durch die das

Ganze der Wirklichkeit erschlossen werden soll. Diesen Anspruch vermag die

Theologie allerdings nur dann einzulösen, wenn sie in der Lage ist, jede ge-

schichtliche Gestalt der Wirklichkeit zu erklären. Die Erklärung hat erstens jede

Gestalt auf das sie bestimmende Prinzip - ihren Begriff - hin durchsichtig zu

machen. Und zweitens muß dieser Begriff im Hinblick auf die gleichzeitigen

Theorie-Gestalten identifiziert werden können.

Beschäftigt sich die Theologie mit dem Nationalsozialismus, so kann dieser

weder ein Gegenstand der bloßen Polemik noch der reinen Distanznahme sein. In

beiden Fällen wäre die Theologie durch den Nationalsozialismus negativ be-

stimmt, was nichts anderes besagte, als daß die Theologie ihre eigene Theorie auf

der dem Nationalsozialismus entsprechenden Ebene ansiedeln würde. Zielt aber

die Theologie auf die Theorie ab, durch die die wirklichkeit überhaupt auf ihren

Begriff gebracht werden soil, so muß sie den Nationalsozialismus als eine abkünf-

tige Gestalt ihrer eigenen Theorie bestimmen können'

Der Nationalsozialismus ist, ohne die politisch-sozialen und allgemein geisti-

gen Gegebenheiten, die sein Entstehen und seine Machtergreifung mitbedingt

haben, bagatellisieren zu wollen, von Hitler, seiner weltanschauung und seinem

Durchsetzungswillen, nicht ablösbarl. Die politische Theorie des Dritten Reiches

zum Gegenstand des Denkens - der konstruktiven vergegenwärtigung - erheben,

heißt daher in erster Linie: die auf affektiv-emotionalem Antrieb beruhende

weltanschauung Hitlers so zu befragen, daß das sie tragende Prinzip als dasjenige

erkannt wird, das die Wirklichkeit des Dritten Reiches bestimmt hat. Daß die

politische Theorie des Dritten Reiches zugleich als eine bestimmte Gestalt politi-

icher Theologie zu begreifen ist, ist die These der folgenden Ausführungen;

Plausibilität gewinnt sie nur in dem Kontext des Denkens, das die systematische

Struktur der Weltanschauung Hitlers mit der ihr gleichzeitigen dialektischen

Theologie zu verbinden weiß.

1. Diese Sicht hat sich in der zeitgeschichtlichen Forschung offensichtlich durchgesetzt;

vgl. E. Nolte:Der Faschismus in seiner Epoche, 4. Aufl., München i971' S. 54ff.,

356ff. u.a.; K.D. Bracher: Die deutsche Diktatur, 3. Aufl., KölnlBerlin 1970, bes. s.

60ff.: E. Jäckel: Hitlers Weltanschauung, Tubingen 1969, bes' S' 12ff'

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Page 2: Kritik des Nationalsozialismus

1. Die politische Theorie Hitlers

_lqlUtl*-$._H:ett-0glti*'für.Iliqe,t-d_qht,Qelb;.tztr"pp_k;_e-s dient vielmetrl der Durc.fu

.führury*gyl-Pglg$-qtzJLg-9$g{Jysltgllc.tleg$g, Diese ist als unbedingt wahrund richtig erkanntes Ziel, als Theorie der politischen Mittelsphäre dieser vorge-geben. Die Unterscheidung zwischen Programm und Politik, politischer Theorieund politischer Praxis ist die Garantie, daß an der zur absoluten Richtigkeiterhobenen Weltanschauung auch unter den Bedingungen der nur beschränktenpolitischen Realisierbarkeit festgehalten werden kann. "Der Programmatiker ei-ner Bewegung hat das Ziel derselben festzulegen, der Politiker seine Erfüllunganzustreben. Der eine wird demgemäß in seinem Denken von der ewigen Wahr-heit bestimmt, der andere in seinem Handeln mehr von der jeweiligen praktischenWirklichkeit. Die Größe des einen liegt in der absoluten abstrakten Richtigkeitseiner Idee, die des anderen in der richtigen Einstellung zu den gegebehenTatsachen und einer nützlichen Verwendung derselben, wobei ihm als Leitsterndas Ziel des Programmatikers zu dienen hat."2 Damit rekurriert Hitler auf einTheorie-Praxis-Modell, demgemäß das Sollen dem Sein so vorgeordnet ist, daßdas weltanschauliche Sollen durch eine unzureichende Praxis prinzipiell nichtüberholt werden kann. Insofern der Programmatiker "den Göttem" nur danngeftillt, wenn er Unmögliches verlangt3, kann das Sollen allenfalls an der Wirk-lichkeit gewordenen Unmöglichkeit scheitem. Aber auch dann bäumt sich der

I Programmatiker noch einmal mit dem Hinweis, daß sich das deutsche Volk"seiner nicht würdig" erwiesen hat, gegen die vollendete Unmöglichkeit auf und

' läßt damit die Erinnerung an das "Desto schlimmer für die Tatsachen" wachwerden. Und Hitler wiederholt angesichts des Zusammenbruchs des DrittenReiches und seines Selbstmordes die Quintessenz des Programms, mit dem erkurz nach dem Ersten Weltkrieg seine politische Laufbahn begonnen hatte, wenner die "Führung der Nation und die Gefolgschaft zur peinlichen Einhaltung derRassegesetze und zum unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter allerVölker, das internationale Judentum"a auffordert5.

2. A. Hitler: Mein Kampf, 2 Bde., 19. Aufl. München 1933 (abgek. MK I und II); hierMK I, S. 229f.

3. MK I, S. 231.4. ZitiertnachK.D. Bracher, a.a.O., S. 506.5. Man mag von Monomanie, ja von infantiler Monomanie sprechen, mit der Hitler die

Durchsetzung dieses Programms verfolgt hat. Man mag auf die abnorme Ich-Beses-senheit Hitlers hinweisen und seine Weltanschauung für die Rationalisierung irratio-naler Antriebe erklären wollen. Diese psychologischen Erklärungsversuche tragenaber nur dann etwas aus, wenn sie den Gehalt von Hitlers Weltanschauung etwa vonder angenommenen Rationalisierung aus ableiten können. Hitlers klares Bewußtseinüber die Differenz zwischen Programm und Poiitik, Denken und Handeln, Theorie

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Page 3: Kritik des Nationalsozialismus

lr

Hitlers Weltanschauung6 liegt eine Theorie zugrunde, die Geschichts- und politi-

sche Theorie in einem ist. Ihre Elemente lassen sich schon in "Mein Kampf'

finden, als Ganzes kann sie aber erst aus Hitlers Zweitem BuchT entnommen

werden, das von Hitler 1928 verfaßt, aber nicht veröffentlicht worden ist' Politik

ist danach "werdende Geschichte", und Geschichte als "die versteinerte Wieder-

gabe der jeweiligen Politik" ist "die Darstellung des Verlaufs des Lebenskampfes

eines Volkes". "Wenn aber Politik werdende Geschichte ist und Geschichte selbst

die Darstellung des Ringens von Menschen und völkem um die Selbst- und

Forrerhaltung gibt, dann ist Politik in wahrheit die Durchführung des Lebens-

kampfes eines Volkes."' Iry.,fuqU:g-Y.91,"Hq-e;:.-9eq9bi9b-tClh99g-9.p-t-ettJ:-d-ea

Sglpf niclt von ökonomirctriöiiuten, sondern von ethnisch-b-iologischen Grup--

p"*ö"ttit ist dlf Ra-sg$3g-e $.qr-'j Sqhlü-gsel.4gf-W-eltgescl{cb!918, wobei darauf

iilnäu*"ir"n ist, äaß Hiriäi die Begriffe Rasse, Volk und Nation zumeist synonym

gebraucht. Indem Hitler davon ausgeht, daß Völker und Rassen von Natur aus in

Jich abgeschlossene Arten sind, so daß sie sich nur bei Strafe des Verfalls

vermischen dürfen, ist er der Ansicht, daß jedes Volk vom Kampf um seine

Selbsterhaltung geleitet wird; die selbsterhaltung äußert sich in Hune91 1ndLiebe, nämlich in der eigentlichen Selbsterhaltung und in der Forterhaltungr0',\Zur

Befriedigung des unendlichen Selbst- und Forterhaltungstriebes ist ein Volk

insofem auf die Erure-ile4Ulg9eln9$ l--gbprlsr4umeQsngewiesen,g.lE.bei steigender

Selbst- und Forterhaltung der jeweils erkämpfte Lebensraum nicht ausreicht..,ungezählt sind die Arten aller Lebewesen der Erde, unbegrenzt jeweils im

einzelnen ihr Selbsterhaltungstrieb sowie die Sehnsucht der Forterhaltung, be-

und Praxis 1äßt es jedoch nicht zu, seine weltanschauung auf psychische Gegebenhei-

ten zu reduzieren. Denn die psychologische Erklärungsweise kann nur den individuel-

ien weg Hitlers zur Formulierung seiner weltanschauung, diese aber nicht ihrem

objektiven Gehalt nach auftreben, zumal schon deshalb nicht, weil in diesen Elemente

eingegangen sind, die Hitler in der ihm vorgegebenen wirklichkeit schon vorgefun-

den hat.

6.Vgl.dasgleichnamigeBuchvonE.Jäckel,a.a.o.;weiterE.Nolte,a.a.o.,S.356ff,qllff.; airr., Die faschistischen Bewegungen, 3' Aufl', München 1971' S' 55ff"

102ff.;K.D.Bracher,a.a.O.,S.60ff.,86ff',270ff'u.a';M'Broszat:DerStaatHitlers'2. Aufl., München 1971, S. 33ff.

7. Hitlers zweites Buch (hg. von G.L. Weinberg). Quellen und Darstellungen zurzeitge-

schichte, Bd.7, Stuttgart 1961 (abgek.: 2. Buch)'g. 2. Buch, s.46,4-t . vgl. MK I, S. 165: ,,Der Trieb der Arrerhaltung ist die erste

Ursache zur Bildung menschlicher Gemeinschaften"'

9. MK t,5.372.10. vgl. 2. Buch, S. 46: ,.Der Größe des Triebes der Selbsterhaltung entsprechen die

beiden mächtigsten Triebe des Lebens: Hunger und Liebe. Indem die ... stillung des

ewigen Hungers die selbsterhaltung gewährleistet, sichert die Befriedigung der Liebe

die Forterhaltung.

15

Page 4: Kritik des Nationalsozialismus

7{

grenzt hiegegen der Raum, auf dem dieser gesamte Lebensprozeß sich abspielt. ...In dieser Begrenzung des Lebensraumes liegt der Zwang zum Lebenskarnpf, imLebenskampf dafür aber die Voraussetzung zur Entwickiung."rr In diesem Kampfsiegt gemäß "dem aristokratischen Grundgedanken der Natur"r2 das bessere Volküber das schlechtere, die stdrkere Rasse über die schwächere. Die Natur wünschtden "Sieg des Stärkeren und die Vernichtung des Schwachen und seine bedin-gungslose Unterwerfung"l3, "bis endlich dem besten Mengghentum, durch denerworbenen Besitz dieser Erde freie Bahn gegeben *ttd"t+.JFolgerichtig erblicktHitler das ziel der Geschichte in der weltherrschaft der höchsten und stärkstenRasse als Herrenvolk - "gestützt auf die Mittel und Möglichkeiten des ganzenErdballs"!

Ist Geschichte der Kampf der Völker um Lebensraum, so ist damitjig _Uqtg-schei4gng zwischen_F4qdens- un*Kiegsgo_litib nicht länger aufrechtzqerhalten.Es ist eine Frage der Zweckmäßigkeit, zu welchen Mitteln ein Volk bei derDurchführung seines Lebenskampfes greift16. Abzulehnen sind der grundsätzli-che Kriegszustand genauso wie ein dauernder FriedenrT. Beide führen zur Schwä-chung der Selbsterhaltung, jener durch fortwährende Ausblutung, dieser durchAuswanderung und Geburtenrückgang. Die Politik muß "die Waffe ihres Kamp-fes stets so wählen, daß dem Leben im höchsten Sinne gedient wird. Denn manmacht nicht Politik, um sterben zu können, sondem man darf nur manches malMenschen sterben lassen, auf daß ein Volk leben kann."l8 Auf diese Weisegliedem sich Kriege ein "in ein natürliches, ja selbstverständliches Systep einergründlichen, gut fundierten, dauerhaften Entwicklung eines Volkes"re.iKrieg istweder Ultima ratio noch allein die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln,sondern Integral der Politik als Durchführung des Lebenskampfes eines Volke{

Die damit verbundene Radikalisierung der überkommenen politischen Theoriötritt noch deutlicher zutage, wenn Hitler die traditioneilen IJnterschiede zwischen

11. 2. Buch, S. 47; vgl. S. 54ff; Mk I, S. 150ff., 164ff.12. MK II, S,421.13. MK I, S 372.14. MK \,S.42215. A.a.O.

fQ Vgf . 2. Buch, S. 48: "Da der Einsarz, um den durch die Politik gerungen wird, immer* das Leben ist, wird das Ergebnis bei Mißerfolg oder Erfolg auch immer dasselbe sein,ganz gleich, mit welchen Mitteln die Politik die Lebenserhaltung eines Volkesdurchzuführen versucht. Eine Politik des Friedens, die versagt, führt genau so zurVernichtung eines Volkes, also zur Auslöschung seiner Substanz aus Fleisch undBlut, wie eine Politik des Krieges, die mißglückt. In einem Falle ist die Raubung der

._ Lebensvoraussetzungen die Ursache des Volksaussterbens genau so wie im andem."

,lla vgt.2. Buch, s.49ff.U8) 2. Buch, S. 52.

[le.u.o., s. or.

l6

Page 5: Kritik des Nationalsozialismus

r

Außen- und Innenpolitik dahingehend suspendiert, daß er das Zueinander vonAußen- und Innenpolitik als Zweck-Mittel-Relation faßt; die Innenpolitik wird so

zur Funktion {e1 Außgnpglitik. Denn ist Politik "die Kunst der Durchführung des

Lebenskampfes eines Volkes um sein irdisches Dasein", so ist Außenpolitik "dieKunst, einem Volke den jeweils notwendigen Lebensraum ... zu sichem", wäh-rend Innenpolitik die Kunst ist, "einem Volke den dafür notwendigen Machtein-satz in Form seines Rassenwertes und seiner Zahl zu erhalten"20. Spieit die Innen-gegenüber der Außenpolitik eine dienende Rolle, so hängt doch andererseits derErfolg der letzteren entscheidend von den innenpolitischen Vorkehrungen, vonder Pflege des Rassenwertes und der Sorge um die Volkszahl ab. Bei sinkender

Volkszahl steht ein Volk in der Gefahr, zu schwach zu werden, so daß es in einem

Krieg, der von einem stärkeren Volk ausgeht, nicht nur unterliegt, sondern auch

seinen Lebensraum verliert, während der Lebensraum bei steigender Volkszahlerweitert werden muß. Der dauemde Lebenskampf verlangt also nach fortwäh-render Steigerung der Volkszahl, die aber allein nicht ausreicht, um den Lebens-

kampf zu bestehen. Zu ihr muß der Volks- oder Rassenwert hinzutreten, den

Hitler als den "wahre(n) Ewigkeitsfaktor für die Größe und Bedeutung eines

Volkes"2l bezeichnet. Der Volkswert erscheint sowohl als Ober- als auch als

Unterbegriff. Als Oberbegriff vereinigt er unter sich den Volkswert an sich, den

Persönlichkeitswert und den Selbsterhaltungstrieb22. Mit dem Volkswert als sol-chem hebt Hitler auf den spezifischen inneren Wert eines Volkes ab; er ist die

Grundlage zur Unterscheidung zwischen höheren und niedrigeren, stärkeren und

schwächeren, besseren und schlechteren Völkern und Rassen und damit als

Prinzip des Nationalismus zu fassen23. Wie die Völker untereinander ungleich

liö)A.u.O., S. 62. Vgl. S. 70: "Wenn ... die Aufgabe der Innenpolitik ... die Stählung undStärkung eines Volkskörpers sein muß, indem sie planmäßig seine inneren Werte hegt

und fördert, dann ist es Aufgabe der Außenpolitik, diese innere Ausbildungsarbeileines Volkskörpers nach außen zu decken und mitzuhelfen, die allgemeinen Lebens-

voraussetzungen zu schaffen und zu sichern.lEine gesunde Außenpolitik wird dabei

als letztes Ziel unverrückbar immer die Gewinnung der Emährungsgrundlagen eines

Voikes im Auge behalten müssen. Die Innenpolitik hat einem Volke die innere Kraftzu sichern für seine außenpolitische Behauptung. Die Außenpoiitik hat einem Volkdas Leben zu sichem für seine innenpolitische Entwicklun"6]' Vgl. S. 70ff., 78ff.,106f., l l1ff; MK II, S. 425ff., 728ff .:E. Jäckei, a.a.O., S. 123ff.

21. A.a.O., S.66.22. Ygl. a.a.O., S.64f.,68,106.23. Vgl. a.a.O., S. 65: "Indem wir von dem Grundsatze ausgehen, daß Volk nicht gleich

Volk ist, ist auch Volkswert nicht gleich Volkswert. Wenn aber Volkswert nichtgleich Volkswert ist, dann hat mithin jedes Volk ganz abgesehen von seiner Zahl als

summarischen Wert noch einen besonderen spezifischen Wert, der ihm zu eigen ist

und der keinem anderen Volke vollständig gleich sein kann. Die Auswirkungen dieses

jeweiligen besonderen Volkswertes können verschiedenster Art sein und auf den

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sind, so sind auch die Menschen eines Volkes nicht gleich. Daraus resultiert dieBedeutung des Persönlichkeitswertes. "Immer ist die einzelne Person Begründerdes menschlichen Fortschrifts gewesen ."2a Dahet muß ein volk, das seinen inne-ren wert erhalten will, sich von allen egalitären und majoritär-demokratischenInstitutionen frei machen. "Sowie ein volk die Majorität zum Regenten seinesLebens ansetzt, also die Demokratie heutiger westlicher Auffassung einftihrt,wird es der Bedeutung des Persönlichkeitswertes nicht nur Abbruch tun, sondemder wirksamkeit der Persönlichkeit einen Riegel vorschieben."2s Damit fälltzugleich "der zwingendste Grund für das Entstehen eines kraftvollen Führertumsweg"26. Zielt Hitler mit dem Persönlichkeitswert auf das Führerprinzip, so mitdem selbsterhaltungstrieb auf das Prinzip des Heroismus und Militarismus. "Ausihm resultieren ... zahlreiche heldische Tugenden, die einem volke allein denExistenzkampf aufnehmen lassen. "27

Pie _4lei Baktorgl {es !=o1!p1, d9q Prlqönlichkeitswertes und des Selbsterhal-

lglg-slfi-gpgl -,des Nationalismus, des Führerprinzips und des Militarismus -*ggy. l{l,r.ren erst dadurch ihre überragende Bedeutung für Hitlers politische Theorie,

$aß 91 thnen entsprechende negative Faktoren zuordnet. '!o wie der Internationa-lismus den vorhandenen Rassenwert schädigt uno aamii ilüwictrt, ore oemotiä]äö"Aiö peiscinlichkeitswerte zerstört, so tahmt der Pazifismus die natürlichen?ialie aör Selbsterhaltung der Völker."2sflndem Hitler den Inrernationaiismus,

-die Demokratie und den Pazifismus als die Gegenpositionen zu den drei Faktorendes Volkswertes auf das Jqdgntum überträgt2e, erreicht seine Theorie allererst ihrespezifische Radikäri*it una unueolngth"lj. oi" Juden sind zwar auch ein volkoder eine Rasse - und nicht etwa eine bloße Religionsgemeinschaft3o - undarbeiten insofern an ihrer Selbst- und Forterhaltung3l. Aber sie unterscheiden sichvon allen anderen völkern dadurch, daß sie ein volk ohne eigenen Grund undBoden sind32. Daher tritt bei ihnen an die Stelle des Kampfes um Raum ..die

24.

25.26.2'7.

28.29.30.Jl-

32.

78

verschiedensten Gebieten liegen, zusammengefaßt ergeben sie aber doch einen Maß-stab für die allgemeine wertung eines volkes überhaupt. Der letzte Ausdruck dieseraligemeinen wertung ist das geschichtliche Kulturbild eines volkes, in dem sich dieSumme aller Ausstrahlungen seines Blutwertes oder der in ihm vereinten Rassenwertewiderspiegeln."A.a.O., S.66.A.a.O., S. 67; vgl. MK I, S. 87ff .,99f.; II, S. 499f.A.a.O., S.67f.A.a.O., S.68.A.a.O.Vgt. MK I, S. 99f., 329ff.Vgl. MK I, S. 165, 334ff.Vgl. MK I, S. 329ff.Vgl. MK I, S. 165: "Der jüdische Sraar war nie in sich räumlich begrenzt, sondemuniversell unbegrenzt auf den Raum, aber beschränkt auf die Zusammenfassung einer

Page 7: Kritik des Nationalsozialismus

Versklavung produktiv tätiger Völker"33 mit den Mitteln des Internationalismus,derDemokratie und des Pazifismus. kl4"9gJ1{-":l3lgl y9g,e4_-qings mangelnden

Raumstaates von niedrigerem Rassenwert als alle anderen Völker ist, behauptet

"t, "f f" Vtifter seien gteictr, so daß es "innerhalb der einzelnen Völker erst um

Egl.h- und später u- ÜU"rUäi"chtigung'aa kämpft. Diesen Kampf kann es aber

nicht mit dem Schwert führen, weshalb es den Pazifismus propagiert. Ziel dieses

Kampfes ist die vötlige Entnationalisierung. "Sein Endziel ist die Entnationalisie-rung, die Durcheinanderbastardierung der anderen Völker, die Senkung des

Rassenniveaus, der Höchsten, sowie die Beherrschung dieses Rassenbreies durchAusrottung der.völkischen,Intelligenzen und deren Ersatz durch die Angehörigenseines eigenen Volkes."3Sldem Hitler das Judentum zur Inkamation des Intema-

tionalismus stilisiert, erklärt er alle intemationalen Bewegungen - gleichgültig, ob

ihre Urheber von Hause aus Juden sind oder nicht - zu Erscheinungsformen des

JudentumlAufgrund ihres Intemationalismus sind die Juden Urheber des Mar-xismus36,Bolschewismus3T, der Sozialdemokratie38 und aller internationalen Be-strebungen3e wie Völkerbund und Weltfrieden; und ihr Streben nach Egalitaris-mus macht sie zu Urhebern des Parlamentarismus und der Demokratiea0.

Qie Gleichsetzung von Internationalismus und Judentum erlaubt es Hitler, das

Judentum als absolutes Gegenprinzipar zum auf dem Kampf um Raum basieren-

den Rassen- und Nationenprinzip unrut.tt"ti.lDas Judentum kämpft nicht gegen

einzelne Völker, sondem es bekämpft das ffizip der Nation und den Grundsatz

völkischer Selbstbehauptung"i)Indem Hitler das Judentum zum absoluten Anti-prinzip des Rassenkampfgedankens erhebt, gelingt es ihm, die national-völkischeSelbsterhaltung dahingehend zu radikalisieren, daß der Kampf um nationale

Selbsterhaltung und Lebensraum nicht mehr der Kampf von einzelnen Völkemist, sondem zur Aufgabe wird, die die Menschheit insgesamt und überhaupt

JJ.34.

Rasse. Daher bildete dieses Volk auch immer einen Staat innerhalb der StaatQn. Es

gehört zu den genialsten Tricks, die jemals erfunden worden sind, diesen Staat als'Religion' segeln zu lassen und ihn dadurch der Toleranz zu versichem, die delArierdem religiösen Bekenntnis immer zuzubilligen bereit ist. Denn tatsächlichhst di94

mosaische Religion nichts anderes als eine Lehre der Erhaltung der jüdischen Rass1jVgl. S. 331ff.2. Buch, S. 221.A.a.O.A.a.O.Vgl. MK I, S. 69, 3-50ff.; II, S. 498.

Vgl. MK II, S. 751.Vgl. MK I, S. 54,64.Vel. MK I, S. 163, 337.Vgl. MK I, S. 99, 347;Il, S. 478f.,498.

4i. Vgl. MK I, S. 129.42. Ygl. MK I, S. 329tt;ll, S. 702ff.; 2. Buch, 5.66,220tt.

19

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a-

betrifft. Weil das Judentum mit den Mitteln des Egalitarismus und des Pazifismusdie Entnationalisierung aller Völker anstrebt,flann der Sinn der Geschichte,

nämlich der Kampf eines Volkes um Lebensraum, nur dadurch wiederhergestplltwerden. daß das Judentum bis zur Vemichtung bekämpft wirdJDenn allerlrstdann, wenn der jüdische Intemationalismus beseitigt ist. ist ein Volk wieder in der

Lage, den Kampf um Lebensraum aufzunehmen. Werden die Juden aber nichtvernichtet, so ist jedes Volk mit dem Sieg des Intemationalismus zum Untergangverurteilt, und führt ein Volk nicht mehr den Lebenskampf um seine Selbsterhal-

tung, so triumphiert mit seinem Untergang das jüdische Prinzip sowieso.$omit istdeutlich, daß Hitler aus dem Gegensatz der beiden Prinzipien, des'übkischenLebenskampf-Prinzips und des Prinzips des jüdischen Intemationalismus, sein

politisches Programm "logisch ableiten konnte"a3: Der Kampf um Lebensraum imOsten Europas läuft dem Kampf gegen das Judentum, gegen das widernatürliche

Prinzip des Internationaiismusgarallel. Die politische Praxis des Dritten Reiches

stellt nichts anderes als die konsequente Verwirklichung dieses Programms dar,

demgemäß der Kampf um Lebensraum im Osten mit dem Kampf gegen das

Judentum dann vollends gleichgeschaltet werden sollte, nachdem mit der Restitu-

tion der deutschen Nation der Kampf im Osten aufgenommen werden konnte; indiesem Kampf ist der Staat nur Mittel zvmZweck*.

2. Die Grenzen der Radikalität von Hitlers Theorie

Die politische Theorie Hitlers und des Nationalsozialismus kann nur dann adäquat

erfaßt werden, wenn man von der festen Verbindung von nationalem Lebens-

kampf um Raum und Kampf gegen das mit dem Judentum identifiziertö Anti-Nationalismus-Prinzip ausgeht. Betrachtet man Hitlers Rassentheorie für sich, so

ist sie in die Versuche einzureihen, durch die unter den Bedingungen des Nach-

idealismus (dernachhegelschen Philosophie) Selbstbestimmung und Selbständig-

keit, Souveränität und Freiheit von Individuen, Gruppen, Klassen und Nationen

unmittelbar, d.h. auf geschichtlich-individuellem Wege verwirklicht werden sol-

len. Ohne im jetzigen Zusammenhang den Nachweis im einzelnen führen zu

können, gehe ich von der Annahme aus, daß die politische und Geistesgeschichte

von ca. 1830 bis zum Ersten Weltkrieg von dem Problem bestimmt ist, wie die im

43. E. Jäckel, a.a.O., S. 140. r44. Vgl. MK II, S. 421:Die völkische Weltanschauungi*sieht im Staat prinzipiell nur ein

Mittel zum Zweck und faßt als seinen Zweck die Erhaltung des rassischen Daseins der

Menschen uuiJvgt. s. 43lff.

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Deutschen Idealismus konzipierte unbedingte Selbstbestimmung (Selbstbewußt-

sein, Subjektivität, Freiheit, Autonomie etc.) unter den Bedingungen der ge-

schichtlichen Wirklichkeit realisiert werden kann. Nachdem im Denken der eine

Gedanke der Freiheit gefaßt worden ist, geht es nunmehr um die Frage, auf welche

Weise diese eine Freiheit in der jeweils gegenwärtigen Wirklichkeit zum Eigen-tum des individuellen Selbstbewußtseins werden kann, das sich sowohl als sol-

ches als auch über die Identifikation mit Gruppen realisiert. Dabei ist davon aus-

zugehen, dalS die eine Freiheit immer schr:n Gegenwart ist, denn andemfalls wäre

es gar nicht möglich, daß Individuen und Gruppen an ihr teilhaben. Diese Teilha-be bringt es mit sich, daß die geschichtliche Realisierung von Freiheit an solche

Subjekte gebunden ist, die ihre Selbständigkeit nur als besondere, nämlich imGegenüber und Gegensatz gegen andere Subjekte geltend machen können. So

steht Geist gegen Natur, Geistes- gegen Naturwissenschaft, Offenbarung gegen

Metaphysik, Nation gegen Nation, Klasse gegen Kiasse usf. Die Verwirklichungder einen Freiheit bleibt damit insofem paftiell, als sie nur unter Abstraktion desjeweiligen Gegenpoles gegenwärtige Wirklichkeit sein kann. Hitlers Rassentheo-

rie, für sich betrachtet, paßt sich in diese Versuche, Selbstbestimmung unmittel-bar-empirisch-individueli zu realisieren, ein. Der Kampf urn Souveränität und

Selbständigkeit eines Volkes wird als Kampf um Lebensraum unter der gegen-

ständlich erfahrenen Abstraktion, nämlich der des Krieges durchgesetzt. DieRassentheorie als solche gehört daher noch einer Gestalt der Verwirkiichung vonSelbstbestimmung an, die für das 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkriegsignifikant ist.

Hitlers politische Theorie läßt sich erst dann als eine Theorie verstehen, die im20. Jahrhundert ihren Ort hat, wenn man die Theorien über den Lebenskampf vonRassen und über das Judentum als Einheit faßt" Indem nämlich Hitler den Kampfdes Judentums so konzipiert, daß dieser gegen alle Nationen und Vö1ker über-

haupt gerichtet ist, erhebt er das Konstrukt Judentum zum schlechthinnigen Anti-Nationen-Prinzip. Auf diese Weise bleibt der Lebenskampf eines Volkes nichtlänger partiell; er wendet sich nicht nur gegen andere Nationen und Völker,sondem gegen sein prinzipielles Gegenprinzip und wird auf diese Weise zu einem

Kampf aller Nationen, zum Kampf der Menschheit überhaupt. Der auf Volkswert,Persönlichkeitswert und Selbsterhaltungstrieb aufbauende Kampf um Selbster-

haltung eines Volkes ist nicht mehr ein Kampf um die bestimmte, unmittelbar-geschichtlich zu verwirklichende Selbstbestimmung und Souveränität, sondern

der Kampf gegen das Prinzip, durch das mittels Internationalismus, Egalitarismusund Pazifismus Selbstbestimmung und Selbst?indigkeit überhaupt und schlechthinvemichtet werden sollen. Hitlers politische Theorie gewinnt ihre Unbedingtheitalso dadurch, daß er die an sich bedingte und als solche relative Rassentheorie an

ihrem absoluten Antiprinzip zur radikalen Theorie aufbaut; erst die aufs Ganzegehende Iftitik des absoluten Antiprinzips verleiht der Rassentheorie die Gestalt

einer unbedingten und radikalen Konstruktion. Im Kampf gegen das Anti-

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Lebenskampf-Prinzip wendet sich nicht eine Nation gegen eine andere; mit ihmwird nicht die Selbständigkeit einer Nation im Gegenüber anderer Nationenreklamiert. vielmehr dient dieser Kampf dem prinzip von volk und Nation, vonRasse und Lebenskampf überhaupt. Konsequenterweise muß daher der Lebens-kampf um Raum mit dem Kampf gegen das prinzip des Internationalismus undder Entnationalisierung gleichgeschaltet werden. Die Nation entspricht sich inihrem Lebenskampf um Raum nur dann, wenn sie diesen Lebenskampf in einemgegen den absoluten Feind führt.

Die voraussetzung für Hitlers politische Theorie besteht sonach darin, daß eran die versuche, Selbstbestimmung im Medium der geschichttichen wirklichkeitpartiell zu realisieren, anknüpfen kann. Seine Rassentheorie, für sich betrachtet,setzt das Bestehen partieller nationaler Selbständigkeit voraus. Indem aber Hitlerdie Rassentheorie so erweitert, daß er sie in Kritik an dem zur unbedingtheiterhobenen Antirassen- und Antilebenskampfprinzip aufbaut, nimmt sie selber dieGestalt unbedingter und radikaler Theorie an. Jeder partiell erscheinende Kampfum Lebensraum ist jetzt nicht mehr der Kampf um die Selbständigkeit einerbestimmten Nation, sondern der Kampf um das prinzip der Nation als Nation. DieNation gewinnt ihre Identität nicht mehr im Gegenüber anderer Nationen, viel-mehr in Bekämpfung des Antinationenprinzips. Damit radikalisiert Hitler denBegriff der Nation, wie er ihn vorgefunden hat, zum prinzip der Nation schlecht-hin. Der Lebenskampf eines volkes bleibt auf diese weise nicht länger partiell,denn er vollzieht sich als Teilhabe an der weltheilung. wie alle geschichtlichenErscheinungen entsprechend ihrer Stellung zum Judentum beurteilt werden, sokann ein volk nur insofem diesen Begriff für sich in Anspruch nehmen, als esseinen Lebenskampf als volk so führt, daß es qua volkswert den Intemationalis-mus, qua Persönlichkeitswert den Egalitarismus und qua selbsterhaltungstriebden Pazifismus liquidiert.

souveränität und Selbständigkeit, selbstbestimmung und Freiheit werden vonHitler mittels der im Gegenzug gegen das Anti-Lebensraum-prinzip des Juden-tums konzipierten radikalen Rassentheorie auf ein Subjekt übertagen, das, prinzi-piell gesehen, nicht mehr mit einem empirisch gegebenen Subjekt identifiziertwerden kann. Hitler überschreitet den bis dato bekannten Nationalismus. Dasneue Subjekt ist die Nation als solche, das Prinzip der Nation, das im Angesichtdes jüdischen Antiprinzips identifizierbar ist. weil Hitler aber programmatikerund Politiker in Personalunion ist, kann er es nicht bei der Konstruktion seinerabsoluten Rassentheorie bewenden lassen. Als politiker ist er gezwungen, Ge-schichte nicht nur zu begreifen, sondern selber zu machen, d.h. er muß denLebenskampf des volkes um Raum mit allen ihm zur verfügung stehendenMitteln auch durchführen. Insofem der von Hitler konzipierte Lebenskampf dasSubjekt Nation überhaupt betrifft, dieses Subjekt als solches empirisch aber nichtfaßbar ist, muß er den Kampf so lange mit einer bestimmten Nation ftihren, wiediese nicht selber die weltherrschaft und damit den Status der Nation überhaupt

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erlangt hat. Denn das als nicht empirisch konstruierte Subjekt Nation kann nichtreal erscheinen, weil beim Begriff Nation von der Differenz zwischen genus undspecies, Allgemeinheit und Besonderheit nicht abstrahiert werden kann. IndemHitler gleichwohl den Kampf der Nation überhaupt mit einer bestimmten -empirisch gegebenen - Nation aufnimmt, kommt dieser Nation die Abstraktionvon der Differenz zwischen Allgemeinheit und Besonderheit in der Gestalt deralliierten besonderen Nationen entgegen. Damit ist deutlich, daß Hitlers Theoriein theoretischer Hinsicht noch nicht radikal genug ist. Denn die Radikalisierungder von Hitler vorgefundenen Nationalismus- und Rassentheorie läßt sich deshalbnicht radikal genug durchführen, weil dem Begriff der Nation der Unterschiedzwischen Allgemeinheit und Besonderheit, Bestimmung und Bestimmtheit im-manent ist; die Nation ist nicht das Subiekt, sondem bestimmtes Subjekt. Daherkann überhaupt nur eine solche Theorie die im 19. Jahrhundert an bestimmteTräger wie Nation, Geist, Natur, menschliche Persönlichkeit etc. gebundene eineSelbstbestimmung radikalisieren, die nicht länger ein bestimmtes, in seiner Be-sonderheit festzumachendes Subjekt, sondern das Subjekt überhaupt zum Gegen-stand ihres Denkens macht. Nur das Subjekt, das als Allgemeinheit und Besonder-heit ungeschieden mit sich identisch ist, kann zum Gegenstand einer radikalenTheorie von Selbstbestimmung werden. Jedes andere Subjekt und damit auch diezum absoluten Subjekt erhobene Nation können ihre Partikularität nicht verleug-nen. Insofem mangelt es der Theorie Hitlers deshalb an Radikalität, weil ihr nichtein Subjekt zu eigen ist, das der Absolutsetzung fähig ist; ein partikulares Subjektwie das der Nation kann nur verabsolutiert werden, nicht aber an sich selberabsolut sein. Wird dieses abstrakt-absolute Subjekt gleichwohl zum Maßstab derpraktischen Vollendung der radikal konzipierten Theorie erhoben, so muß dieAbstraktion auf die Subjekte zurückschlagen, die an dieser Vollendung teilha-ben.

Exkurs: Zum Verhältnis von Faschismus und Kapitalismus

Die vorstehende Interpretation folgt der Explikation von Hitlers politischer Theo-rie. Damit ist die Frage nach den Bedingungen der Entstehung und der Macht-übemahme des Nationalsozialismus ausgeklammert worden. Diese Frage zieltinsbesondere auf die politischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen, diedie Machtübernahme des Nationalsozialismus gefördert oder gar bewirkt habensollenas. Es wird heute allgemein anerkannt, daß die "Agententhese" der kommu-

45. Zu den historischen Voraussetzungen vgl. K.D. BracherlW. SauerlG. Schulz: Dienationalsozialistische Machtergreifung, Köln/Opladen 1962.

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nistischen Intemationale, dergemäß die herrschende Bourgeoisie, das Finanzkapi-tal, in der Situation der Wirtschaftskrise und der zunehmenden "Revolutionierungder werktätigen Massen" ihre Rettung im Faschismus gesucht haben so11a6, keinezureichende Erklärung für die Entstehung des Faschismus leisten kann. Wird derFaschismus ais "die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvini-stischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals"lT charakte-risiert, so verwickelt sich die Agententhese nicht nur in Selbstwidersprüchea8,sondem sie vemachlässigt auch den mittelständischen Charakter des Faschis-musa9.

Man wird aber auch nicht umgekehrt das Entstehen des Nationalsozialismusallein aus der politischen Eigenständigkeit der faschistischen Partei ableitenkönnen. Denn der durch die ökonomische Entwicklung ruinierte und politisierteMittelstand als soziale Massenbasis des Nationalsoziaiismus50 bedurfte seinerseitsder Verbindung mit den herrschenden Eliten in Staat, Wirtschaft und Militär. "Diepolitische Eigenständigkeit der faschistischen Partei gegenüber dem Finanzkapi-tal muß ebenso anerkannt werden, wie die faktische Stärkung der Großindustrieim Herrschaftssystem des Faschismus."5l

Auch von den marxistisch orientierten Interpreten wird heute - insbesondere inder Nachfolge A. Thalheimerss2 - die Eigenständigkeit der faschistischen Parteibei der Entstehung des Faschismus herausgestellt53. Kapitalismus und Faschis-mus, Großbourgeoisie und mittelständische Massenbasis der faschistischen Parteiwerden als zwei selbständige Faktoren angesetzt, die "eine Verbindung eingehenund dadurch das faschistische Herrschaftssystem ermöglichen"sa.

46. Ich beziehe mich insbesondere auf eine Typologie der Faschismustheorien von A.Kuhn: Das faschistische Herrschaftssystem und die rnodeme Gesellschaft, Hamburg1973, und auf ein Arbeitspapier von F.W. Gral, Marxistische Faschismustheorien,das im Sommersemester 1972 im Oberseminar von Prof. T. Rendtorff, München,vorgetragen wurde.

47. G. Dimitroff: Arbeiterklasse gegen Faschismus (VII. Weltkongreß der Kommunisti-schen Internationale), Moskau/Leningrad 1935, S. 7; zit. nach F.W. Graf, a.a.O., S. 3.

48. F.W. Grai a.a.O.: "Das Finanzkapital befindet sich einerseits in einer allgemeinenKrise des niedergehenden Kapitalismus, in der Defensive; andererseits ist es so

mächtig, seine offen terroristische Diktatur zu errichten."49. Vgi. A. Kuhn, a.a.O., S. 27tf .,91 u.a.; F.W. Graf, a.a.O., S. 4f.50. Vgl. K.D. Bracher, a.a.O., S. 166ff.; A. Kuhn, a.a.O., S. 39ff.,91.51. A. Kuhn, a.a.O., S.91.

52. Ygl. R. Kühnl: Formen bürgerlicher Herrschaft. Liberalismus - Faschismus, 43.-52.Tausend, Reinbek b. Hamburg 1972, S. i40ff.; F.W. Graf, a.a.O. S. 5ff .; E. Nolte(Ilg..): Theorien über den Faschismus, 2. Aufl., KölnlBerlin 1970, S. 37.

53. Vgl. R. Kühnl, a.a.O., S. 130ff.; F.W. Graf, a.a.O., S.9f.; A. Kuhn, a.a.O., S.76ff.54. A. Kuhn, a.a.O., S. 92f. Kuhn interpretiert das Verhältnis von Faschismus und

Kapitalismus als Adjunktion und faßt die so konzipibrte Faschismustheorie als "sym-machistische": "Die symmachistische Theorie geht davon aus, daß in der konkreten

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den Kamgl_e"cg9 :9ILy:_qeJ-Jgnp!{qLdgs Plnlip y9g f:llgna nass,gj]q9lllgp-Lpgljjlelisiert, versuchter nictt nur den

Konkurrenzkampf der ffiääffi-_,.-:_,,-*-'_"*überwinden. Der friedliche Wirtschaftskampf der Nationen ist für Hitler nur ein

Die Schwäche dieser Deutung liegt darin, daß Vorstellungen wie Monopolkapital,Großbourgeoisie, Finanzkapital etc. undifferenziert gebraucht werden und ihresystematische Funktion innerhalb der politischen Ökonomie des gegenüber

Marx' Situation fortgeschrittenen Kapitaiismus nur unzureichend reflektiert wird.Noch wesentlicher ist, daß in der Verbindung von Kapitalismus und Faschismus

der Kapitalismus schließlich doch als mittelbar bestimmender Faktor eingesetztwird, so daß man das Verhältnis von Kapitalismus und Faschismus so formulierenkann: "Schafft sich der Kapitalismus auch nicht den Faschismus zu seiner Erhal-tung, so trenutzt er ihn doch dazu."ss Die explizite Weltanschauung Hitlers unddes Nationalsozialismus - insbesondere auch die Rassentheorie - kann folglich nurnoch als Ideologie in dem Sinne angesetzt werden, daß sie - entgegen der

Marxschen Einsicht - ein Instrument der "herrschenden Klasse" zur bewußten

Verdummung der Massen, nämlich zur Verschleierung von bestehenden Antago-nismen und realen Interessen darstellen soll56.

Hile,rs politi,sche Theorie le_gt es nahe, das Verhältnis von Faschismus qnd

Kapitalismus nicht durch die Vorstellung des Monopolkapitals, sondern durch die

dem Begriff des Kapitals innewohnende Bestimmung deiKonkurrenz zu'fäsiää3t.

Indem Hitler den Nationalismus des 19. Jahrhunderts dadurch radikalisiert, daß er

vorläufiges und sekundäres Mittel im Selbstbehauptungskampf eines Volkes. "Da... alle großen Völker heute Industrievölker sind, ist die sogenannte wirtschafts-friedliche Eroberung der.Erde nichts anderes als der Kampf mit Mitteln, die so

lange friedliche sein werden, solange die stärkeren Völker mit ihnen siegen zu

können giauben, d.h. aber in Wirklichkeit mit friedlicher Wirtschaft die anderen

historisch-politischen Situation, in der der Faschismus a1s Staatsform etabliert wird,die monopolkapitalistische Bourgeoisie und der antimonopoikapitalistische Mittel-stand ihre gesellschaftliche Position nur noch halten können, wenn sie miteinandergehen. Deshalb kann man im Verhältnis von Kapitalismus und Faschismus von einer

A$jqgltio4 sprechen." (93) - R. Kühnl, a.a.O., S. 130ff., spricht von einem "Bündnis"zwischen den Führungskadem der faschistischen Partei, die das Kommando über den

Exekutivapparat übernehmen, und den Führungsgruppen der alten Oberklassen inWirtschaft, Militär und Staatsapparat, die den politischen Führungsanspruch derfaschistischen Partei anerkennen und dafür die Sicherung ihrer sozialen und ökonomi-

schen Position einhandeln" (S. 145).

55. F.W. Graf, a.a.O., S. 10. l.lach A. Kuhn, a.a.O., S. 102, ist "der objektive Charakter

des Faschismus" "als ein Bündnis von mittelständischer Massenbewegung und Groß-

bourgeoisie zur Stlirkung des monopolkapitalistischen Systems" zu beschreiben.

56. So etwa R. Kühnl, a.a.O., S. 84ff.57. Vgl. Hitler, 2. Buch, bes. S. 122tf.

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Page 14: Kritik des Nationalsozialismus

rI töten zu können."58lD.eshalb geht es Hitler,"qß!-darum, die Konkurrenzsituation' der nationalen Kapitale vom Jahre 1914 wiederherzustellen; denn gerade an*

dieser Konkurrenz sei das deutsche Volk gescheiterfJ"Die allerletzte Entschei-

dung über den Ausgang des Kampfes um den Weltmarkt wird bei der Gewalt undnicht bei der Wirtschaft selber liegen ... Dggr endgültig ist die Wirtschaft als einerein sekundäre Angelegenheit im Volksleben gebunden an die primäre Existenzeines kraftvollen Staates. Vor dem Pflug hat das Schwert zu stehen und vor derWirtschaft die Armee."60 Der Konkurrenzkampf der nationalen Kapitale soll also

durch Abschaffung der Konkurrenzsituation überwunden werden. Das deutsche

Volk soll die Vormacht in Europa erkämpfen, um dann dem Hauptkonkurrenten,den USA, "die Stime" "bieten" zu können61.

Der wirtschaftliche Konkurrenzkampf der Nationen soll dadurch aufgehoben

werden, daß das deutsche Volk als stdrkster Konkurrent alle anderen Konkurren-ten ausschaltet und so den Konkurrenzkampf- aufdie Dauer gesehen - überflüssigmacht. Die Überwindung des Konkurrenzkampfes nationaler Kqpitale ist so einAnwendungsfall für den Kampf von Volk und Rasse überhaupt.(lie Suspendie-rung dieses Konkurrenzkampfes folgt der Logik, die in der Etablierung der Nationschlechthin beschlossen liegt. Damit bleibt aber die Art der Überwindung der

Konkurrenz an die Schranke gebunden, die auch für die Setzung der Nationüberhaupt bestimmend ist: Der praktische Kampf zur Überwindung der Konkur-renz kann nur durch Verabsolutierung eines bestimmten Konkurrenten geführtwerden. Die Verabsolutierung schlägt auf diesen Konkuffenten als totaler Kriegzurück: die Überwindung der Konkurrenz kann also nicht auf der Stufe der

Konkurrenz selbst geleistet werden. Denn auf dieser Stufe, der Wechselbstim-mung, folgt auf die Ursache die Wirkung, auf die Aktion die Reaktion, auf die

Gewalt die Gegengewaliil

?,.PltJ'-, q,.g-1t"-",-.*. "

$'.e'9''.1' t,z?f''. 1.33'1

A.a.O., S. 124.

A.a.O., S. 130: "Nordamerika wird in der Zukunft nur der Staat die Stirne zu bietenvermögen, der es verstanden hat, durch das Wesen seines inneren Lebens sowohl als

durch den Sinn seiner äußeren Politik den Wert seines Volkstums rassisch zu heben

und staatlich in die hierfür zweckmäßigste Form zu bringen ... Es ist wieder dieAufgabe der nationalsozialistischen Bewegung, das eigene Vaterland selbst für diese

Aufgabe auf das äußerste zu stfuken und vorzubereiten."

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Page 15: Kritik des Nationalsozialismus

3. Dialektische Theologie als Theorie absoluter Freiheit

Das Urteil, Hitlers politische Theorie sei nicht radikal genug, ist nur dann haltbar,

wenn der Ort angegeben werden kann, von dem aus dieses Urteil begründbar ist.

Dieser Ort des Denkens muß so geartet sein, daß er zwei Bedingungen erfüllt.

Einmal muß er die Metastufe für alle die Theorien sein, die im Laufe des 19.

Jahrhunderts Selbstbestimmung im Medium der geschichtlichen Wirklichkeit

unmittelbar realisieren wollten. Als Metastufe muß von ihm ein andermal gezeigt

werden können, daß ihm ein Subjekt zu eigen ist, das mit der an sich selber, also

unbedingt gedachten Selbstbestimmung identisch ist. Denn nur die Theorie ist

gegenüber den Versuchen, Selbstbestimmung durch Anziehung besonderer Sub-

jekte unmittelbar zu verwirklichen, radikal genug, die Selbstbestimmung an das

Subjekt bindet, mit dessen Konstruktion die Bedingungen der Verwirklichung

von Selbstbestimmung schon mitgesetzt sind. Eine Theorie, die diese Bedingun-

gen erfüllt, liegt in unterschiedlicher Gestaltung in der dialektischen Theologie

vor.Obwohl eine überzeugende Interpretation der dialektischen Theologie der

monographischen Literatur über sie noch nicht entnommen werden kann, dürfte

sie als Repristination von Reformation und Orthodoxie keineswegs zureichend

beschrieben sein. Vielmehr gewinnt man erst dann einen ihr angemessenen

Begriff, wenn man sie in dem Sinne als Radikalisierung der Subjektivitätsproble-

matik und damit der liberalen Theologie begreift, daß an die Stelle der unmittel-

bar-individuellen die unbedingte und absolute Subjektivität Gottes tritt, die anders

als die unmittelbar sich verwirklichen wollende Subjektivität sich immer schon

verwirklicht hat. So steht im Zentrum von Barths "Römerbrief 'die Erfassung der

radikalen Autonomie Gottes, mit deren Auftreteen jeder Versuch, Autonomie im

Medium der endlichen Wirklichkeit zu realisieren, von vomherein zum Scheitem

verurteilt ist62. "Denn der Gott, der noch Etwas ist im Gegensatz zu einem Andem,

... der Gott, der nicht der ganz und gar Freie, Alleinige, Überlegene, siegreiche ist,

ist Nicht-Gott, der Gott dieser Welt."63 In der Kirchlichen Dogmatik führt Bafih

die radikale Autonomie Gottes als unbedingte Selbstbestimmung der absoluten

Subjektivität konsequent durch. Denn offenbart sich Gott als der Herr, so offen-

bart er sich im Ereignis seiner Selbstinterpretation als Offenbarer, als Offenba-

rung und als Offenbarsein, so daß er sich in seiner Auslegung ad intra (Trinität)

und ad extra (Schöpfung, versöhnung und Erlösung) entspricht@. Indem sich

Gott in seiner Selbstauslegung selbst zum Gegenstand der Gotteserkenntnis

62. Ygl.T. Rendtorff: Radikale Autonomie Gottes, in: ders.; Theorie des Christentums,

Gütersioh 1972,5.161ff., auch S. 182ff.63. K. Barth:Der Römerbrief, 10. Abdruck der 2. Aufl.' Znrich 1967 , S. 213.

64. Vgl. E.Jüngel: Gottes Sein ist im Werden, 2. Aufl., Tübingen 1967.

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Page 16: Kritik des Nationalsozialismus

macht, schafft er allererst den Menschen als subjekt der Gotteserkenntnis unddamit sich seibst als sekundäre Gegenständlichkeit in seiner offenbarung. ,.Nurindem Gott sich selbst setzt als Gegenstand, ist der Mensch gesetzt als Erkennen-der Gottes."65 Ist schon die Erkenntnis Gottes ein Akt des göttlichen setzens, so istdas Sein Gottes selbst "freiesEreignis,freier Akt,freies Leben in sich selber',6.somit ist die absolute Subjektivität durch sich selbst bewegtes Sein, sie lebt durchund aus sich selber. Auf die unbedingte Selbstbestimmung konzentriert sich Barthauch dann, wenn er "Gottes Sein als der Liebende in der Freiheit" präzisiert. DennGottes Liebe ist primär Selbstzweck, und Gottes Freiheit ist primär Freiheit in sichselber. wenn Barth einerseits nur Gott als person denken und von der menschli-chen Person allein in abgeleiteter weise sprechen will, andererseits aber meint,den Begriff der Person oder Persönlichkeit zur Bezeichnung des absoluten Sub-jekts "auch entbehren" zu können, so beleuchtet dieser Tatbestand noch einmaldie Radikalisierung, die Barth im Hinblick auf die Subjektivitätsproblematikvollzogen hat. Barth sieht scharfsichtig, daß die Frage der persönlichkeit Gottesdeshalb im 19. Jahrhundert zum Gegenstand des Streites wurde, weil durch ebenden Begriff der Persönlichkeit die menschliche Subjektivität in ihrer Besonderheitausgezeichnet werden sollte. Damit wurde es problematisch, zugleich Gott alsPerson zu fassen, so daß sich auch in den versuchen, eine absolute persönlichkeitder Kritik zumTrotz zu behaupten, das Interesse an der menschlich-individuellenPersönlichkeit niederschlägt. Indem Barth auf den Begriff der persönlichkeitGottes verzichten kann und den Streit um diesen Begriff nur als historischbelangvoll erachtet, verleiht er eben jener radikalen Selbstbestimmung der abso-luren Subjektivirät Ausdruck, die allem menschlichen personsein als ..der Einesondergleichen"6T immer schon voraus ist.

wenn auch Bultmann um der Nichtobjektivierbarkeit des absoluten subjektswillen über Gott als der "Alles besrimmende(n) wirklichkeit" nicht direkteAussagen macht und deshalb rheologie als "die wissenschaftliche Selbstbesin-nung über die eigene Existenz als durch Gott bestimmte" expliziert, so teilt erdoch mit Barth das Interesse an einer radikalen Theorie von Freiheit, die mit demEntmythologisierungsprogramm die Gestalt einer absoluten Emanzipationstheo-rie angenommen hat68.

und auch rillichs Theologie gehört in diesen Zusammenhang. Sie ist durchge-hend so strukturiert, daß Tillich aufgrund der absoluten positivität, der Selbstge-gebenheit allen Seins, einen permanenten Prozeß produktiv-gestaltender Selbsttä-tigkeit konstruiert. ob es die Autonomie, die protestantisch-prophetische Gestal-

65. K. Barth, KDIV1,S.22.66. A.a.O., S. 296.67. A.a.O., S. 320.68. vgl. F. wagner: Systematisch-theologische Erwägungen zur neuen Frage nach dem

historischen Jesus, in diesem Band S. 289-308.

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tung oder die selbstbestimmende Tätigkeit des Selbstbewußtseins ist - sie sindinsofern an den Vollzug freier Produktivität gebunden, als sich die absolutePositivität immer zugleich als Negativität jeder bestimmten Gestaltung erweist.Daher erscheint die freie Selbsttätigkeit in der Weise als negative Einheit vonGestalt und Kritik, von Konstruktion und Kritik, daß der Prozeß des Aufbaus undder Kritik angesichts der nicht überholbaren absoluten Positivität prinzipiellunabschließbar ist6e.

Die Theorien der dialektischen Theologie bauen sich in Kritik an den Unter-nehmungen, Selbstbestimmung individuell und unmittelbar zu verwirklichen,auf. Barth stilisiert den Kampf gegen natürliche Theologie und gegen Religionzum Kampf gegen den sich selbst auslegenden und sich selbst rechtfertigendenBourgeois. Bultmann identifiziert den Begriff der Sünde mit der sich unmittelbarselbst verwirklichen wollenden Subjektivität, die vermittels der innerhalb derRelation von Kerygma und Glaube gründenden absoluten Freiheit so von sichselbst befreit wird, daß ihre Befreiung von sich selbst mit der Befreiung zu sichselbst in dem einen Akt radikaler Emanzipation zusammenfällt. Und Tillichüberführt die reproduktive Selbstbestätigung der Subjektivität in den produktiv-gestaltendenVollzugderAutonomie.AuchHitl"@slq.hql,natignale $elbstälrdigkq! !rnryittelbql_zl_r_verwirklichen. oriSn!i94. Dieittelbar zu verwirklichen. orientiert. Die sie aus-naüonale JelDstandlsKert unmtttelbar zu verwlrKlrcnen. oflentlert. ljte ste aus-

_zeichnende Unbedingtheit gewinnt sie aber erst dadurch, daß Hitler diesen Versu-

*chen ein absolgtes Al!ip"l_-r1p entgegensetzt, aufgrund dessen der Kampf {gddider Nation überhaupt radikalisiert werden kann. Gleich-

,ä, aie ln ttitteis Theorie driilliudentumzukommt, in den Theorien der dialektischen Theologie durch die "natürlicheTheologie" besetzt wird. Während aber die dialektische Theologie den absolutenCharakter ihrer Theorie dadurch sichert, daß sie die unmittelbar-partielle Selbst-bestimmung als ihr Antiprinzip auf dem Wege bestimmter Negation in dieabsolute Selbstbestimmung auftiebt, muß Hitler überhaupt erst eine absoluteAntiposition zu der des Nationalismus aufbauen, um das Rassenprinzip mittelsder abstrakten Negation des Antiprinzips absolut setzen zu können. Daher ist dasverabsolutierte Subjekt Nation immer noch auf anderes negativ bezogen, so daßdie absolut gesetzte Nation die Bedingungen der Verwirklichung ihres realenAbsolutseins noch außer sich hat. Demgegenüber führt etwa Barth die Konstruk-tion der absoluten Subjektivität so durch, daß mit deren eigener Selbstauslegungihre Verwirklichung gesetzt ist" Erst von der absoluten Subjektivität läßt sichsagen, daß sie die Metastufe zu jeder Art der Verwirklichung bestimmter Selbst-bestimmung ist. Denn kann sich jede besondere Verwirklichung von Selbstbe-stimmung durch Kritik und konstruktives Entwerfen die Bedingungen ihrer Ver-wirklichung nur approximativ schaffen, so ist die an sich selber gedachte Selbst-

69. Vgl. F . Wagner: Absolute Positivität - Das Grundthema der Theologie P. Tillichs, indiesem Band, S. 126-144"

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Page 18: Kritik des Nationalsozialismus

bestimmung absolute Wirklichkeit an sich selbsü sie ist absolute Selbstbestim-

mung insofem, als sie sich als solche immer schon verwirklicht hat. Es liefe aufeine Contradictio in adiecto hinaus, hätte sie noch eine andere Wirklichkeit außer

sich selbst gegenüber.Die mit dem Begriff absoluter Selbstbestimmung gesetzte absolute Verwirkli-

chung ihrer selbst kann durch Hitlers Theorie prinzipiell nicht erreicht werden.

nennfi"iiter muß, um seine am absoluten Antiprinzip gewonnene Rassentheorie

zu verwirklichen, Partikulares, nämlich wiederum eine bestimmte Rasse so verab-

solutieren, daß diese mit der Negation des Antinationalismusprinzips zugleichalle anderen Nationen negiert, um sich so als Nation schlechthin zu etablieren \Damit kann grundsätzlich gesagt werden, daß jede Radikalisierung von Selbstbe-

stimmung, die an ein bestimmtes Subjekt gebunden bleibt, auf die Stufe zurück-

fallen muß, auf der die Selbstbestimmung eines bestimmten Subjekts nur unterNegation anderer partikularer Subjekte erreicht werden kann. Nur die an sich

selber erfaßte Selbstbestimmung kann die absolute Verwirklichung ihrer selbst

sein; jedes bestimmte Subjekt muß an dem Versuch, Selbstbestimmung radikal zu

realisieren, a priori scheitern.

4. Hitlers politische Theorie als eine Gestalt politischer Theologie

Hitlers Theorie kann deshalb tendenziell Theologie genannt werden, weil sie die

bestimmte Selbstbestimmung von Nationen zur Selbstbestimmung der Nationüberhaupt erhebt. Sie erreicht aber den vollen Begriff der Theologie, wie er für die

dialektische Theologie konstitutiv ist, insofern nicht, als ihre radikalisierte Ver-wirklichung von Selbstbestimmung an ein partikulares Subjekt gebunden ist. Sie

ist daher nicht Metatheorie der Gesamtwirklichkeit, sondem Theorie einer ins

Absolute gesteigerten partikularen Wirklichkeit; die damit gegebenen Theorie-

Praxis-Differenz führt im Zuge der Verwirklichung der Theorie notwendig zu

permanentem Terror.Kann Hitlers Theorie aufgrund ihres Versuchs, nationale Selbstbestimmung

zur Selbstbestimmung der Nation schlechthin zu erheben, tendenziell Theologiegenannt werden, so gibt sie sich dadurch als eine bestimmte Gestait politischer

Theologie zu erkennen, daß sie die verabsolutierte partikulare Selbstbestimmung

mittels Kampfes einer Nation unmittelbar verwirklichen will. Politische Theolo-gie kann in zweifacher Gestalt auftreten. Einmal kann sie durch die Art ihrer

explizit politisch-theologischen Begrifflichkeit darauf abheben, daß die theologi-

sche Theorie die Metastufe der Gesamtwirklichkeit repräsentiert. Indem eine

bestimmte Ausformung theologischer Theorie sich in politischen Kategorien

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Page 19: Kritik des Nationalsozialismus

auslegt, weist sie nur explizit darauf hin, was an sich jede theologische Theorie

tut: den gegebenen Standpunkt einer Epoche aus der theoretisch vorgedachten

Standpunktmöglichkeit konstruktiv zu entwickeln. Hebt also die Theologie inso-

fem schon von Hause aus auf die politisch-soziale Gesamtwirklichkeit ab, als sie

mit der Rekonstruktion überkommener theologischer Gehaite die Konstruktions-

prinzipien der gegenwärtigen Wirklichkeit offenlegt und damit deren Möglich-

keitsgrund zur Geltung bringt, so wird durch den Ausdruck "politische" Theolo-

gie nichts über das hinaus, was die Theologie faktisch tut, prinzipiell Neues

gesagt.

Das geschieht erst dadurch, daß eine bestimmte Gestalt politischer Theologie

sich zur sich selbst als Theologie mißverstehenden Theologie macht. Sie tritt dann

auf, wenn der Urheber einer Theologie glaubt, von der theoretisch-theologischen

Interpretation der Wirklichkeit zu deren Verwirklichung übergehen zu müssen.

Diese Art von politischer Theologie kann auf zweifache Weise zu einer sich als

Theologie mißverstehenden Theologie werden. Einmal kann sie des konstruktiv-

theoretischen Charakters der Theologie, nämlich absolute (also Meta-)Theorie

der Wirklichkeit zu sein, nicht inne werden. Sie versteht die theologische Theorie

als bloß subjektive Theorie und verlangt daher nach ihrer Ergänzung auf dem

Wege politisch-praktischer Verwirklichung. Ein andermal kann zwar die Einsicht

in den die Gesamtwirklichkeit konstruktiv erfassenden Charakter der Theologie

vorhanden sein. Gleichwohl besteht das Mißverständnis, daß die theologische

Theorie, um sich ihrer unmittelbar praktischen Relevanz zu versichern, auf die

gegebene Wirklichkeit zum Zwecke von deren - nach dem Muster der Theorie

programmierten - Veränderung zu beziehen ist. Dadurch wird die theologische

Theorie, die als Metastufe der geschichtlichen Wirklichkeit ihrer Geltung nach

notwendig ahistorisch ist, selber zur historischen Partikularität erklärt. Die ahisto-

rische Geltung beanspruchende Theorie soll, insofern sie zur Veränderung der

gegebenen Wirklichkeit instrumental eingesetzt wird, zugleich ein Teil der histo-

rischen Wirklichkeit selbst sein; auf diese Weise wird der absolute Standpunkt der

Theorie - die Standpunktmöglichkeit - relativiert. Diese Gestalt politischer Theo-

Iogie hebt sich damit als Theologie, nämlich als Theorie des Absoluten selber auf,

reiht sich in die Reihe partieller Theorien ein und wird so zum Standpunkt neben

anderen; in beiden diskutierten Fällen füllt politische Theologie auf das Niveau

partikularer Theorien zurück.Hitlers politische Theorie ist politische Theologie als sich als Theologie selbst

mißverstehende Theologie, weil es zwar ihle Intention ist, als Theorie der Nation

schlechthin Theorie der politischen Gesamtwirklichkeit zu sein. Indem sie aber

mit dem Begriff der Nation Partikulares in den Stand des Absoluten erhebt,

können der Begriff der Nation schlechthin und die Gesamtwirklichkeit erst dann

identisch sein, wenn die Wirklichkeit nach dem Begriff der Nation umgestaltet

worden ist, denn diesem ist die ihm entsprechende Wirklichkeit noch transzen-

dent. Damit ist er das Produkt einer wohl radikalen, aber subjektiv-partikular

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bleibenden Theorie. Indem aber Hitler tatsächlich den Versuch untemommen hat,seine Theorie in der politischen Praxis durchzusetzen, gewinnt dieser Versuch denWert eines Paradigmas der Illegitimität für die Gestalt politischer Theologie, dieauf dem Boden theologischer und d.i. von Hause aus: absoluter Theorie dieVeränderung derWirklichkeit am Maßstab ihrerTheorie anstrebt. Durch den Na-tionalsozialismus ist der Versuch ein für allemal desavouiert worden, theologi-sche Theorie zugleich zum realenZieT geschichtlicher Veränderungen zu machen.Wo dies gleichwohl im Namen einer politischen Theologie angestrebt wird, diemehr sein will als das explizite Bewußtsein, daß die Theologie an sich selberschon konstruktives Begreifen der Wirklichkeit ist, verhilft man seiner Unkennt-nis über die Leistung der dialektischen Theologie zum Ausdruck. Denn macht diedialektische Theologie, indem sie die unmittelbare Verwirklichung bestimmterSelbstbestimmung kritisiert, die an sich selber erfaßte Selbstbestimmung alsabsolutes Prius der Gesamtwirklichkeit zu ihrem Thema, so liefe es auf einenUngedanken hinaus, wollte man dieses Prius zugleich auf den Status eines poste-riorischen Zieles herunterbringen. Der Begriff politische Theologie muß immerdann als Contradicito in adiecto beurteilt werden, wenn das Beiwort "politisch"auf mehr zielt als auf eine dem Begriff "Theologie" schon inhärierende konstruk-tive Darstellung einer Geschichtsepoche; diese konstruktive Darstellung ist aber,

an sich selber betrachtet, ebenso ahistorisch wie apolitisch, denn das Konstruk-tionsprinzip als Standpunktmöglichkeit einer Epoche kann als deren Metastufenicht selber unmittelbar politisch oder historisch sein.

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