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Sönam Lhündrup Anapanasati „Das Kultivieren von Achtsamkeit mit dem Atem“ Unterweisungen zum Anapanasati Sutra von Buddha Shakyamuni Meditationskurs in Croizet, Frankreich, 3. bis 15. August 2009

Kultivieren von Achtsamkeit Sommerkurs 2009 Anapanasati …...diese vier Stufen der Achtsamkeit zu praktizieren sind, und dieses Mal geht es um die Achtsamkeit mit dem Atem. Der Buddha

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Sönam Lhündrup

Anapanasati

„Das Kultivieren von Achtsamkeit

mit dem Atem“

Unterweisungen zum Anapanasati Sutra von Buddha Shakyamuni

Meditationskurs in Croizet, Frankreich, 3. bis 15. August 2009

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Inhaltsübersicht A. Das Anapanasati-Sutra ............................................................................ 6

I. Einleitung ..................................................................................................... 6 Die drei Triebflüsse .......................................................................................................... 10 Die zehn Fesseln ............................................................................................................... 11

II. Achtsamkeit mit dem Atem ....................................................................... 14 Sitzhaltung ........................................................................................................................ 15 1. Achtsamkeit auf den Körper ..................................................................................... 17 Fünf Punkte zur Beruhigung der körperlichen Gestaltungen ........................................... 19 Atemübung ....................................................................................................................... 19

Frage

Atempause .................................................................................................................... 20 Zwei Möglichkeiten der Achtsamkeit in der Meditation ............................................. 21 Achtsamkeit im Mahamudra ........................................................................................ 21 Konzentration – Versenkung ........................................................................................ 22 Einspitzigkeit – Ein-Gipfel ........................................................................................... 22

2. Achtsamkeit auf Empfindungen ............................................................................... 25 Wiederholung – Quiz ....................................................................................................... 28

Fragen

Auswirkung von Wohlergehen auf die Umgebung? ..................................................... 30 Tschenresig - Achtsamkeit ............................................................................................ 31 Umgang mit den Stufen in der persönlichen Praxis ..................................................... 32 Stufenweg im Zen? ....................................................................................................... 32

Ablenkung - Hindernisse .................................................................................................. 34 3. Achtsamkeit auf den Geist ......................................................................................... 35

Frage

Geist – geistige Gestaltungen ....................................................................................... 36 Die drei Qualitäten von Samadhi ..................................................................................... 39 Die vier Kategorien von Anhaften - Ablehnen ................................................................ 40

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Fragen Wirken Rituale befreiend? ............................................................................................ 41 Loslassen heilsamer Geisteszustände ........................................................................... 42 Gedanken – geistige Gestaltungen ............................................................................... 42

Vergänglichkeit ................................................................................................................ 43 Ursachen und Bedingungen ............................................................................................. 46

Fragen

Das Prinzip des Benennens in der Meditation ............................................................. 48 Freude und Wohlergehen – Präzision und globale Wahrnehmung ............................. 49 Buddhanatur ................................................................................................................. 50 Vorteil von Struktur ...................................................................................................... 51 Verstärken von Tendenzen durch Analyse? ................................................................. 51 Gesundes Ich ................................................................................................................ 52 Freude – Erinnerungen ................................................................................................ 52 Oberflächlichkeit .......................................................................................................... 53

Zusammenfassung ............................................................................................................ 54

4. Achtsamkeit auf Dharmas ......................................................................................... 55 Betrachten der Vergänglichkeit ........................................................................................ 56 Annica, dukkha, anatta ..................................................................................................... 57 Die beiden Ebenen der Wirklichkeit ................................................................................ 58 Mahamudra ....................................................................................................................... 60

III. Das vierfache Kultivieren der Achtsamkeit ............................................ 61 Fragen

Gestaltung einer kurzen Sitzung ................................................................................... 63 Freude - Glück ............................................................................................................. 63 Wahrnehmung ohne ein Ich .......................................................................................... 64 Finden des Atems in der Nachmeditation .................................................................... 65 Maß unseres Anhaftens ................................................................................................ 65

IV. Die sieben Glieder des Erwachens .......................................................... 66 Fragen

Anhaften an Achtsamkeit? ............................................................................................ 68 Vier Objekte, denen wahre Aufmerksamkeit gebührt ................................................... 69

Sangha .............................................................................................................................. 69

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V. Wahres Gewahrsein und Befreiung ......................................................... 70 Abgeschiedenheit ............................................................................................................. 71 Nachlassen der Anhaftungen ............................................................................................ 72 Aufhören ........................................................................................................................... 72 Völlige Gelöstheit ............................................................................................................ 72

Fragen

Unterscheiden der Dharmas ........................................................................................ 73 Loslassen der Identität ................................................................................................. 73 Untersuchen von Form ................................................................................................. 74 Loslassen – ein schmerzlicher Prozess ........................................................................ 74 Aufhören – Bodhisattva-Aktivität ................................................................................. 75 Dewatschen .................................................................................................................. 75 Widerstand gegen das Loslassen .................................................................................. 76 Loslassen von allem, was im Geist aufsteigt ................................................................ 76 Veränderung des Blickes bei den letzten Übungen ...................................................... 77 Alle aufsteigenden Gedanken gleich behandeln ........................................................... 77 Umgang mit Blockaden ................................................................................................ 77 Physische Phänomene als Anzeichen von Anspannung ............................................... 78 Silben als Unterstützung der Übung ............................................................................ 78 Überforderung .............................................................................................................. 79

Zusammenfassung ............................................................................................................ 79

Fragen

Liebe für sich selbst entwickeln - Loslassen ................................................................. 84 Die Praxis mit OM AH HUNG ..................................................................................... 84 Anwendung im Alltag ................................................................................................... 85 Vergleich: Anapanasati – Ozean des wahren Sinnes ................................................... 86

Anapanasati in der täglichen Praxis ................................................................................. 88

Frage

Zuflucht – Text von Thrungpa Rinpoche ...................................................................... 89 Vergleich von Anapanasati-Sutra und Mahamudra-Praxis .............................................. 90

1. Achtsamkeit auf den Körper .................................................................................... 90 2. Achtsamkeit auf Empfindungen ............................................................................... 91 3. Achtsamkeit auf den Geist ....................................................................................... 91 4. Achtsamkeit auf Dharmas ........................................................................................ 92

Fragen

Gefahren der Praxis ..................................................................................................... 93 Körperliche Aktivitäten frei von Haften ....................................................................... 94

Widmung .......................................................................................................................... 95

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B. Die Meditation mit dem Atem in der Kagyü-Tradition ............................ 96

Gampopa .......................................................................................................... 96 Die sechs Stufen der Atemmeditation .............................................................................. 97

1. Zählen ....................................................................................................................... 97 2. Folgen ....................................................................................................................... 98 3. Setzenlassen ............................................................................................................. 98 4. Untersuchen .............................................................................................................. 99 5. Wandeln ................................................................................................................... 99 6. Völliges Reinigen ..................................................................................................... 99

Karmapa Wangtschug Dorje ........................................................................ 101 Barlung ........................................................................................................................... 101

Gendün Rinpoche ......................................................................................... 104 Die Schlüssel zur Meditation ......................................................................................... 106

1. Freude ..................................................................................................................... 107 2. Entsagung - Zufriedenheit ...................................................................................... 107 3. Dankbarkeit ............................................................................................................ 107 Unterweisung der Praktizierenden ............................................................................. 107

Achtsamkeit mit dem Atem und Mitgefühl .................................................. 109 Tonglen ........................................................................................................................... 110

The Path of the Sugatas ................................................................................ 113

Die Vier Unermesslichen .............................................................................. 114

Liebe ............................................................................................................................... 114 Mitgefühl ........................................................................................................................ 115 Freude ............................................................................................................................. 117 Gleichmut ....................................................................................................................... 118

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A. Das Anapanasati-Sutra Wir werden in diesem Kurs mit demselben Thema fortfahren wie letztes Jahr, dem vierfachen Kulti-vieren der Achtsamkeit. Wir hatten uns mit dem Maha-Satipatthana Sutra befasst, in dem es vor allen Dingen um das Anwenden der vier Formen der Achtsamkeit auf das Ergründen der Vier Edlen Wahr-heiten ging. Das Jahr davor war es das Satipatthana Sutra mit den ausführlichen Beschreibungen, wie diese vier Stufen der Achtsamkeit zu praktizieren sind, und dieses Mal geht es um die Achtsamkeit mit dem Atem. Der Buddha greift da eine Methode heraus: Alles dreht sich um die Achtsamkeit mit dem Atem und dabei praktizieren wir alles was wir bisher kennen gelernt haben in vielen verschiedenen Facetten. Das erscheint dem Buddha ganz offenkundig als die sinnvollste oder die direkteste Art und Weise zu medi-tieren – mit einem sehr einfachen aber sehr tiefgründigen Meditationsobjekt. Ich werde heute keine lange Einleitung zum Dharma sprechen und darüber, wie wir den Weg in dieses Sutra hinein finden können, sondern ich möchte euch einfach bitten jetzt für einige Minuten still zu sitzen und euch zu fragen: „Was ist im Moment meine Zuflucht? Warum bin ich eigentlich hier? Woran möchte ich heute arbeiten? Welches Ziel habe ich für heute und für dieses Leben? Was ist mir da am wichtigsten?“ Und fragt euch bitte auch ganz langfristig: „Was ist mir für alle Leben am wich-tigsten?“ Das ist eine Art Zufluchtsmeditation. Wir erinnern uns daran, worum es wirklich geht und wofür diese Unterweisung dienen soll. Als der Buddha diese Unterweisungen gab, sprach er aus dem Bodhicitta heraus, mit der Motivation alle Lebewesen zum Erwachen zu führen, anderen zu helfen. Er war im Unterrichten nicht von einer ichbezogenen Motivation bewegt, sondern ganz einfach von dem Wunsch, mit allen diese Entdeckung des Erwachens, die er selbst erfahren hat, zu teilen. Achtsamkeit, das Entwickeln von vollem Gewahr-sein, ist das wichtigste Element auf dem Weg des Erwachens und darum geht es in dieser Unterwei-sung. Das Sutra, das ihr in drei Sprachen vor euch habt, habe ich mithilfe von vielen bereits existierenden Übersetzungen zusammengestellt. Im hinteren Teil habe ich dann auch deutlich gekürzt, damit es nicht so lange Wiederholungen im Text hat. Das werde ich euch dann angeben, ansonsten sind alle Informa-tionen hier enthalten.

I. Einleitung 1. So habe ich gehört. Einmal weilte der Erhabene bei Savatthi, im Östlichen Park, im Palast von Migaras Mutter, zusammen mit vielen berühmten langjährigen Schülern, darunter die Ehr-würdigen Sariputta, Maha Moggallana, Maha Kassapa, Maha Kaccayana, Maha Kotthita, Ma-ha Kappina, Maha Cunda, Anuruddha, Revata und Ananda. Hier sind Namen und andere Begriffe auf Pali und nicht auf Sanskrit – dieses Sutra stammt aus dem Pali. Der Ort Savatthi oder Shravasti liegt im Königreich Kosala zwischen dem Ganges und den aufsteigen-den Hügeln des Himalaya. Shravasti war die Hauptstadt des Königreiches Kosala, wo der Buddha sich die meisten Regenzeiten aufhielt. Ihr wisst vielleicht, dass der Buddha 45 Jahre unterrichtet hat und 25 der 45 Regenzeit-Retreats hat er an diesem Ort Sravasti verbracht. Vor allem die letzten 20 Jahre sei-

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nes Lebens ist er nach seiner Wanderschaft immer an diesen Ort zurückgekehrt und hat dort dann die Monate der Regenzeit verbracht. Der Buddha war in Savatthi, im östlichen Park, im Palast von Migaras Mutter – das war ein Vihara, eine Wohnstätte, die ihm von dieser Frau geschenkt worden war – zusammen mit vielen seiner lang-jährigen Schüler, die hier aufgezählt werden und stellvertretend stehen für die vielen, vielen anderen, die um ihn herum waren. Gewöhnlich waren es mehrere tausend Mönche, die die Regenzeit mit dem Buddha verbrachten. 2. In dieser Zeit belehrten und unterrichteten die langjährigen Mönche der Gemeinschaft die neuen Mönche, einige unterrichten zehn, einige zwanzig, andere dreißig und manche unterrich-teten vierzig Mönche – und die neuen Mönche erfuhren so fortschreitende Stufen von großer Vortrefflichkeit. Diese Beschreibung zeigt uns, wie die Regenzeit verbracht wurde. Es war ein Zusammenspiel von Studium und Praxis, wobei der Buddha es so eingerichtet hatte, dass sich einige der Arhats, die bereits völlige Verwirklichung erlangt hatten, um die Gruppen von neu in den Orden Eingetretenen kümmer-ten und ihnen die Unterweisungen des Buddha nahe brachten und zeigten wie sie praktizieren können. Je nach Fähigkeiten der Lehrer und je nach dem auch wie stark sich die Mönche zu bestimmten Leh-rern hingezogen fühlten, gab es Gruppen von unterschiedlicher Größe. Für uns ist der wichtige Punkt hier, dass auch wir Lehrer brauchen, die uns unterrichten. Wir nennen sie spirituelle Freunde. Sie zeigen uns auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen den Weg, so dass wir nicht vom Weg abkommen und nirgendwo stecken bleiben. In dieser sehr angeregten Atmosphäre verbrachte die gesamte Sangha die drei Monate der Regenzeit. 3. Es war in der Vollmondnacht am Ende ihrer Zurückziehung, als die Schlusszeremonie statt-fand. Der Erhabene saß im Freien, umgeben von der Mönchsgemeinschaft. Er betrachtete die schweigende Sangha und sagte zu ihnen: Diese Schlusszeremonie (Pali: pavarana) beinhaltet meines Wissens zwei Aspekte. Der erste ist, dass man seine Fehler offen legt, vor den anderen all die Übertretungen von Regeln, das Nicht-Beachten von bestimmten Hinweisen bekennt, dass man eingesteht, wo man nicht hat so praktizieren können wie man es gerne gewollt hätte. So kann sich jeder ein reines Herz schaffen und dann – nachdem alle zugehört haben – mit vollem, freiem, leichtem Herzen weitergehen und in die Aktivität eintreten. Das beschließt so ein Retreat. Der zweite Aspekt der Schlusszeremonie ist die Katina-Zeremonie, wo die Roben verteilt werden. Während dieser dreimonatigen sesshaften Zeit der Sangha konnten Spenden von Stoff gemacht wer-den. Der Stoff wurde zu Roben genäht und dann zum Schluss des Retreats an diejenigen verteilt, deren alte Roben verschlissen waren. Auch heutzutage wird diese Schlusszeremonie in allen Sanghas am Ende eines Regen-Retreats prakti-ziert. Ich weiß, dass in der Sangha von Thich Nhat Hanh diese Zeremonie auf mehrere Tage ausge-dehnt wurde. Sie wird dort shining light genannt – Licht ausstrahlen. Damit ist gemeint, dass man nicht nur über das spricht was schwierig war, sondern auch über die Qualitäten, darüber was gut war. Man dehnt die Praxis aus und gibt dem anderen auch die Möglichkeit sich im Spiegel der Bemerkun-gen derer zu sehen, die mit einem das Retreat verbracht haben. Man spricht also in einer ganz medita-tiven Umgebung über das, was einem an Qualitäten und an Schwierigkeiten beim anderen aufgefallen ist. Thich Nhat Hanh ist in dieser Zeremonie der Erste, der sich diesem shining light stellt, über den ge-sprochen wird. Der jüngste Mönch oder die jüngste Nonne der Gemeinschaft darf beginnen und alles sagen, was ihm oder ihr am Ältesten der Gemeinschaft aufgefallen ist – an Positivem und an Schwie-rigem. Das findet jedes Jahr so statt. Alle Mitglieder der Gemeinschaft kommen an die Reihe. Die kleineren Gruppen, die zusammen praktiziert haben, machen das in dieser Weise untereinander.

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– Das könnte eine schöne Idee für unsere Gruppen-Retreats sein. Wir könnten etwas Ähnliches ma-chen, wo alles was für uns schwierig und was für uns hilfreich war, noch einmal kurz erwähnt wird, oder zumindest das Wichtigste davon. Man kann dann im tiefen Wissen umeinander und mit der gan-zen Unterstützung des Spiegels, den man auch erhalten hat, in die Aktivitäten hinein gehen. Jetzt hören wir, was der Buddha nach diesen drei Monaten der Sangha zu sagen hatte: 4. „Ehrwürdige Mönche, ich bin von Herzen zufrieden mit den Früchten Eurer Praxis. Bringt nun aber noch mehr freudige Ausdauer auf, um das noch nicht Erlangte zu erlangen, um das noch nicht Erreichte zu erreichen, um das noch nicht Verwirklichte zu verwirklichen. Bis zum nächsten Vollmond werde ich noch hier in Savatthi bleiben.“ Der Buddha gibt ihnen also eine Retreat-Verlängerung. Er ist sehr zufrieden mit den Früchten ihrer Praxis, sagt aber: ‚Ich bleib noch hier und ermutige euch noch mehr Anstrengungen zu machen, noch mehr Energie in die Praxis hinein zu stecken. Ich bleibe selber noch einen Monat länger da, um euch darin zu unterstützen.’ 5. Die Mönche überall im Lande hörten dies und reisten nach Savatthi, um beim Erhabenen zu praktizieren. All die anderen Gruppen von Sanghas, von Mönchen und Nonnen, die in Nordindien während der Re-genzeit praktiziert hatten – es konnten nie alle Mönche und Nonnen mit dem Buddha gleichzeitig an einem Ort das Regenzeit-Retreat machen, es waren mehrere zehntausend, wir wissen nicht genau wie viele es waren, aber es waren unglaublich viele – all die konnten wieder reisen, nachdem die Regen-zeit zu Ende und das Retreat abgeschlossen war. Die Nachricht, dass der Buddha noch einen weiteren Monat in Shravasti bleiben würde, ging hinaus mit den Kaufleuten usw. und verbreitete sich ganz rasch. Die Mönche und Nonnen wussten: „Am nächsten Vollmond passiert etwas, da wollen wir dabei sein! Wir kommen so schnell wie möglich, um auch noch in der Nähe des Buddha praktizieren zu kön-nen!“ 6. Dann belehrten und unterrichteten die langjährigen Mönche die neuen Mönche noch inten-siver und diese erfuhren dann weitere Stufen großer Vortrefflichkeit. Langjährige Mönche sind auf Pali theras, wovon auch die Bezeichnung Theravada kommt, die Schule oder der Weg der Älteren. Das sind Mönche, die länger als zehn Jahre in der Sangha sind, die vor mehr als zehn Jahren die Gelübde genommen haben. Und jüngere oder neue Mönche nennt man die, die gerade eingetreten sind bis hin zu denen, die maximal seit zehn Jahren in der Sangha sind. Was hier als Mönch übersetzt wird, ist auf Pali bhikkhu. Das sind die voll ordinierten Mönche – in Sanskrit wird das bhikshu ausgesprochen. Und bhikkhu bedeutet Bettler, hat aber eine etymologische Zusatzbedeutung: Ein bhikkhu ist jemand, der die Gefahr erkannt hat, der die Gefahr erkannt hat, wei-ter in Samsara zu kreisen, weiter im Kreislauf der Wiedergeburten herum zu irren. 7. In der folgenden Vollmondnacht saß der Erhabene im Freien, umgeben von der Mönchsge-meinschaft. Er betrachtete die schweigende Sangha und sagte zu ihnen: 8. „Ehrwürdige Mönche, diese Versammlung ist frei von Geschwätz und Geplapper. Sie ist aus reinem Kernholz und deshalb der Gaben, der Gastfreundschaft und der Ehrerbietung würdig; sie ist ein unübertreffliches Feld der Verdienste für die Welt. Macht man ihr eine kleine Spende, so wird sie groß und eine große wird noch größer. Eine solche Versammlung ist in dieser Welt selten zu finden, und sie ist es wert, mit Gepäck beladen viele Meilen zu reisen, um sie zu sehen.“ Man kann sich vorstellen, dass der Buddha von vielen dicht gedrängten Mönchen und Nonnen umge-ben ist und auch von Laien-Praktizierenden, die gewöhnlich für diese Abendunterweisungen kommen konnten. Der Buddha sitzt also umgeben von diesen Tausenden von Mönchen und anderen Praktizie-renden, etwas erhöht – sie haben ihm einen kleinen Thron gebaut. Er schaut sich um und nirgendwo

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spricht jemand. Alle sind völlig still und praktizieren, sind innerlich verbunden mit ihrer Meditations-praxis und warten geduldig darauf, dass der Buddha zu sprechen beginnt. Es ist an sich schon ein Wunder, dass Tausende von Menschen völlig still, ohne dass man ein Geräusch hört, zusammen sein können, aber ein Grund für die Stille war auch, dass die Stimme des Buddha gehört werden kann. Auch heutzutage gibt es Situationen, wo Menschen so außerordentlich still sein können. Mir ist von solchen Ereignissen berichtet worden und ich habe auch selber schon solche erlebt. Es wurde von den Besuchen des Dalai Lama erzählt oder von völliger Stille in großen Fußballstadien. Bei Karmapa herrscht in großen, großen Versammlungen von vielen tausend Menschen oft völlige Stille, sodass man wirklich verspürt, dass die Menschen innerlich mit dem Wesentlichen verbunden sind und in ge-duldiger Erwartung sein können, bis der Lehrer spricht. Diese Sangha ist aus reinem Kernholz bedeutet, dass die Sangha völlig reinen Herzens ist, völlig ver-lässlich wie der Kern eines guten Stammes, aus völlig hartem, verlässlichem, stabilem Holz. Aufgrund der Reinheit ihres Herzens sind sie eine völlig verlässliche Gemeinschaft, die des Respekts würdig ist. Ich versuche mich da hinein zu denken, mir vorzustellen, was sich da abgespielt hat: Der Buddha schaut sich die Sangha an – es sind Zig-Tausende, die da versammelt sind – und er weiß was es für einen Aufwand braucht, was für eine Arbeit dahinter steckt, so viele bhikkhus – Bettler – zu versorgen, unterzubringen, mit allem was dazugehört. Und das haben die Laienpraktizierenden auf die Beine ge-stellt! Stellt euch vor, in einer Stadt von damals, Savatthi, so viele Menschen unterzubringen und zu ernähren, nachdem man schon die große Sangha um den Buddha herum für drei Monate in der Regen-zeit versorgt hat. Es ist unglaublich was da dahinter steckt. Der Buddha schaut sich dann die Sangha an, die vor ihm versammelt ist, und freut sich, dass diese Sangha wirklich auch würdig ist, solche Un-terstützung zu erfahren. Das ist wohl das Erste, was er ausdrücken möchte. Der zweite Aspekt auf den der Buddha hinweist ist, dass diese Sangha aufgrund ihrer Herzensquali-täten, aufgrund ihrer reinen Aspirationen und ihrer reinen Praxis tatsächlich ein unübertreffliches Feld der Verdienste darstellt für all die Laienpraktizierenden drum herum. Damit ermutigt er die zuhören-den Laienpraktizierenden in ihrer Freigebigkeit und sagt ihnen: ‚Indem ihr auch nur kleine Gaben macht, alles was ihr tut um solche Praktizierenden zu unterstützen, lässt eine Kraft entstehen, die durch eure Freigebigkeit in Gang gesetzt wird, aber durch die Reinheit des Herzens der Praktizieren-den noch verstärkt wird. Es entsteht eine solche Kraft, dass sie euch später helfen wird selber tief zu praktizieren und den Weg zu gehen.“ Gleichzeitig erinnert der Buddha all seine Zuhörer daran tief in sich aufzunehmen, dass es auf der empfangenden Seite diese Reinheit des Herzens braucht, diese totale Verlässlichkeit, die Reinheit des Strebens. Dann ist man würdig solche Unterstützung zu erfahren. Dann können wir uns vorstellen, dass der Buddha schaut, von wo her all diese Menschen kommen. Er sieht da Mönche, die zwei, drei Wochen unterwegs waren, barfuss zum größten Teil, beladen mit ihren Lebensgegenständen. Die Mönche nahmen alles was sie besaßen stets mit, wenn sie unterwegs waren. Sie ließen nie etwas zurück, sie konnten alles auf dem Rücken selber tragen. Der Buddha sah die Lai-enpraktizierenden, die beladen mit Nahrungsmitteln in die Stadt gekommen waren um all die Prak-tizierenden zu ernähren und zu unterstützen, und er wusste, dass diese Menschen durch Staub und Hitze gezogen sind und große Entbehrungen auf sich genommen haben. Der Buddha sagt dann tatsächlich: „Ja, um zumindest einmal im Leben in solch einer Gemeinschaft zu sein und solche Inspiration zu erfahren, ist es wert, diese Anstrengungen auf sich zu nehmen.“ 9. Einige Mönche dieser Gemeinschaft sind Arhats: – das sind vollkommen Verwirklichte, auch der Buddha wurde ein Arhat genannt – Ihre Triebflüsse sind versiegt, sie haben die Vollendung er-reicht, die Aufgabe erfüllt, die Bürde abgelegt, das wahre Ziel erreicht, die Fesseln des Werdens zerstört und sind durch wahre Erkenntnis vollständig befreit. In dieser Versammlung gab es sicher Hunderte von Arhats, wenn nicht sogar Tausende.

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Die drei Triebflüsse Ihre Triebflüsse sind versiegt bezieht sich auf drei tiefe Strömungen, Einflüsse in unserem Geist. Das sind die tiefsten Tendenzen, die uns in Samsara gefangen halten (Skr.: asava, Tib.: sagpa): 1) Verlangen nach Sinneseindrücken, 2) Verlangen zu existieren, zu werden, immer wieder erneut zu existieren – manchmal fügt man auch ein, dass das umkippen kann in den Wunsch nicht zu existieren, Ablehnung der Existenz und 3) Nicht-Wissen, die Unwissenheit, unser Ausweichen gegenüber dem vollen Gewahrsein, das nicht wirklich Hinschauen auf das, was ist. Das sind die unbewussten Strömungen, unbewussten Tendenzen in unserem Geist, die ganz, ganz vie-le Auswirkungen haben und zu all den Emotionen führen, mit denen wir es zu tun haben. Ein Beispiel: Wir stehen nach dieser Unterweisung auf, gehen die Treppe hinunter und wenden uns dem Nächsten zu und sagen ein paar nette Worte. Dabei ist uns bewusst, dass wir einfach eine nette Geste zeigen möchten, uns z.B. interessieren, wie es dem anderen im letzten Jahr ging. Wir haben be-wusste Impulse, warum wir das tun. Diese Impulse sind uns bewusst, aber es gibt tiefere Ebenen noch, die uns bewegen zu sprechen und zu handeln, derer wir normalerweise nicht bewusst sind. Wir spre-chen einfach, damit wir etwas hören und fühlen können, um uns durch Sinneserfahrungen in unserem Sein bestätigt zu fühlen. Wir wollen uns durch den Kontakt mit jemand anderem in unserer Existenz erfahren. Oder wir sind dabei, etwas anderem aus dem Weg zu gehen – der unangenehmen Erfahrung allein zu sein, sich fürchterlich zu langweilen, was auch immer – all den Dingen, denen wir durch an-dere Aktivitäten ausweichen. Diese tiefsten Einflüsse auf unsere Art zu sprechen und zu handeln – natürlich auch zu denken – nennt man Triebflüsse. Das sind Einflüsse, die triebhaft sind, und einige Buddhisten haben daraus den Aus-druck Triebflüsse gemacht. Derer sind wir uns normalerweise nicht bewusst. Der Buddha macht sie bewusst und wenn sie in einem Praktizierenden völlig aufgelöst sind, so nennt man denjenigen einen Arhat, einen vollkommen Erwachten, einen Befreiten. Die Arhats haben die Vollendung erreicht bedeutet, sie haben das Ende ihres Weges erreicht, alle Qualitäten sind vervollkommnet. Dann heißt es, sie haben ihre Aufgabe erfüllt. Diesen Ausdruck benutzt der Buddha oft, wenn er von den Arhats spricht. Sie haben die Aufgabe erfüllt, das Potential ihres Geistes voll auszuschöpfen, die menschliche Existenz wirklich völlig zu nutzen für das, wofür sie zu dienen hat: für das Erwachen. Wir anderen sterben ohne unsere Aufgabe erfüllt zu haben. Unsere Aufgabe ist, wie es auch der Begründer der Waldschule, Arhat Buddhadasa, Anfang des 20. Jh., den ich noch häufiger zitieren werde, sagt: „Die Aufgabe ist, vollkommen Mensch zu werden, das tiefste Potential in uns vollkom-men frei zu setzen, um das Erwachen zu manifestieren.“ Mit Bürde meint der Buddha all das, was wir uns in all unseren Existenzen durch unsere Ichbezogen-heit aufladen. Wir identifizieren uns mit unserem Körper – unser Körper wird uns eine Bürde. Wir identifizieren uns mit unseren Empfindungen, mit unseren Emotionen – sie werden uns zur Bürde. Un-sere Ängste, unsere Hoffnungen werden uns zur Bürde. Unsere Freunde, Bekannten, Verwandten, Feinde, alles wird uns zur Bürde, und wir schleppen obendrein noch die Bürde unserer materiellen Verpflichtungen mit uns. All das schleppen wir mit uns und sagen: „Ich muss das tragen!“ Und dieses Ich, das meint alles tragen zu müssen, ist das große Problem. Und es lädt sich noch irgendwo im Vor-beigehen bei einer neuen Situation wieder etwas auf … und noch ein Problem – „Ich hab noch nicht genug!“ Wir laden uns immer mehr Probleme auf und das ist unsere Bürde. Ein Arhat hat diese Bürde abgelegt, er ist frei von Problemen oder frei von Identifikationen. Sie haben das wahre Ziel erreicht – das wahre Ziel des Erwachens und nicht die weltlichen Ziele. Sie haben die Fesseln des Werdens zerstört – da spricht man von zehn Fesseln, die uns an den Da-seinskreislauf binden wie eine Kette.

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Die zehn Fesseln Sie sind in der Fußnote 12 bzw. 15 aufgeführt: Den Pali-Texten zufolge sind Arhats frei von zehn Fesseln: 1) vom Glauben an ein dauerhaftes Selbst oder eine Seele, 2) von Zweifeln über den richtigen Weg, 3) vom Glauben, dass Rezitieren, Riten und Rituale ins Nirwana führen, 4) von Begierde, Lust und Ver-langen, 5) von Hass und Abneigung, 6) von Verlangen nach den Bereichen der Form und Formlosig-keit, 7) von Hochmut, Arroganz und Stolz, 8) von Trägheit und Dumpfheit des Geistes, 9) von Ruhe-losigkeit, Aufgewühltsein des Geistes und 10) von Unwissenheit und mangelndem Gewahrsein. Das im Einzelnen zu erklären, wäre eine vollständige, lange Unterweisung. Die Ausdrücke geben uns ja schon einen Eindruck davon, was damit gemeint sein könnte. Aber wir werden noch sehen, wie fein diese Faktoren sind. 10. Andere Mönche in dieser Gemeinschaft haben die ersten fünf Fesseln aufgelöst und werden nach augenblicklicher Geburt [in den reinen Bereichen] Nirwana erlangen, ohne von dort zu-rückzukehren. Sie kehren also nicht mehr in den Menschenbereich zurück und werden Anagamis genannt. Obwohl diese Praktizierenden auf der Stufe der Nichtwiederkehr sind, haben sie tatsächlich noch nicht die letz-ten fünf Fesseln aufgelöst, womit doch zu verstehen ist, dass es sich bei diesen Fesseln um etwas außerordentlich Subtiles handelt. Verlangen nach den Bereichen der Form und Formlosigkeit (6) bedeutet, dass diese Anagamis immer noch ein feines Verlangen nach meditativer Versenkung haben, nach den Zuständen der Dhyanas, den Versenkungen im Bereich der Form und Formlosigkeit. Da sind immer noch Spuren von Arroganz und Stolz (7). Es tauchen gelegentlich immer noch Trägheit und Dumpfheit des Geistes auf (8) und Spuren von Ruhelosigkeit, Aufgewühltheit (9) und es gibt noch Momente, Situationen der Unwissen-heit und des mangelnden Gewahrseins (10). Damit möchte ich nur darauf hinweisen, wie subtil diese Fesseln sind. Selbst diese hoch Verwirklich-ten kennen noch Reste der Probleme, die wir auch sehr, sehr gut kennen, die uns sehr, sehr wohl ver-traut sind. Es braucht tatsächlich eine Menge Arbeit an sich selbst, am eigenen Geist, um völlig frei zu werden davon.

* Meditation * Wir lassen nach dem Zufluchtgebet den Buddha in uns verschmelzen und praktizieren dann mit seiner Inspiration, mit seinem Segen weiter. – Wir werden uns zunächst unserer Sitzhaltung gewahr. – Wir sitzen gerade, und entspannt. – Der Blick ist nach vorne gerichtet, etwas abwärts und folgt dem Verlauf der Nase. – Wir werden uns des Ein- und Ausatmens bewusst, bemerken das Einatmen als Einatmen und das Aus-atmen als Ausatmen. Genau im selben Moment sind wir uns des Einatmens und Ausatmens bewusst. – Wir lassen den Atem so wie er ist, völlig natürlich, ohne etwas zu verändern, ein und aus. – Ein- und Ausatem. – Und jetzt etwas genauer: Beginn, Mitte und Ende des Einatmens – Wendepunkt – Beginn, Mitte, Ende des Ausatmens – Wendepunkt. So sind wir jeder Phase des Atemprozesses gewahr. – Die verschiedenen Phasen des Einatmens und des Ausatmens. – Jetzt verlängern wir den Ein- und den Ausatem und spüren hin, was das für einen Unterschied daraus macht. – Was ändert sich, wenn ich länger ein- und ausatme, vielleicht doppelt so lang wie vorher? –

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Lasst uns noch länger einatmen und ausatmen. Schaut bis wohin ihr gehen könnt. – Ganz lange ausatmen, langsames Einatmen, ganz lang und tief. – Wir kommen wieder zur normalen, natürlichen Atmung zurück und beobachten den Unterschied. – Jetzt verkürzen wir den Ein- und Ausatem, wir atmen kurz ein, atmen kurz aus; vielleicht doppelt so schnell wie der normale Atem. – Was ändert sich? Was bewirkt das? – Und noch ein bisschen schneller. – Und wir kommen zum normalen Atem zurück. – Vielen Dank.

* * * Wir haben praktiziert, wie es im Paragraph 17 heißt: „Nun, wir gehen in den Wald, zum Fuße eines Baumes oder in eine leere Hütte – nehmen wir einmal an, dass unser Meditationsraum im Schweigen eine leere Hütte ist – setzen uns nieder, kreuzen die Beine. Den Oberkörper aufrecht haltend, verankern wir die Achtsamkeit vor uns. Achtsam atmen wir dann ein, achtsam atmen wir aus.“ Das ist die Anfangspraxis. Nachdem wir den Körper in eine gute Sitzposition gebracht haben, sind wir achtsam was unseren Atem angeht. Wir nehmen den Einatem als Einatem wahr und den Ausatem als Ausatem. Dann haben wir den Atem verlängert, und praktiziert: „Lang einatmend wissen wir: ‚Ich atme lang ein’, lang ausamtend wissen wir: ‚Ich atme lang aus’.“ Wissen bedeutet zutiefst, völlig verstehen. Es ist das völlige Achtsam-Sein auf alle Merkmale des Einatmens. Man kann das Pali hier auch anders übersetzen: ‚Ich werde lang einatmen und ich weiß, dass ich lang einatme. Ich werde kurz einatmen und ich weiß, dass ich kurz einatme.’ Damit wird auch die Intention ausgedrückt, die zu dieser Übung führt. Man verlängert den Atem bewusst oder macht ihn bewusst kürzer und schaut, was die Auswirkungen auf den Körper und auf den Geist sind, wenn man länger oder kürzer atmet. Wenn ihr die Wahl hättet, mit einem langen oder einem kurzen Atem zu leben, was würdet ihr bevor-zugen? Einen langen Atem. Ja, es geht eigentlich allen Menschen auf der Welt so, dass sie einen langen Atem bevorzugen. Langer und kurzer Atem haben nicht die gleiche Wirkung auf den Körper. Der kurze Atem stimuliert, regt an. Er wirkt stark stimulierend, bringt viel Energie in den Körper. Der lange Atem beruhigt den Körper und beruhigt den Geist. Es ist wichtig, diesen Unterschied zu kennen. Es ist nicht von unge-fähr, wie man atmet. Dann schauen wir uns den umgekehrten Weg an. Nachdem wir schon beginnen, die Zusammenhänge zu verstehen, beobachten wir, wann der Atem denn von selbst beschleunigt und wann er von selbst langsamer wird. Was passiert da eigentlich im Geist, dass der Atem schneller wird und dann wieder langsamer? Wir bemerken dann, dass der Atem schneller wird, wenn Emotionen auftauchen. Und er wird langsamer, wenn Entspannung eintritt, wenn irgendetwas bewirkt, dass wir uns gelöster fühlen, dass wir entspannen können. Wenn eine Emotion im Geist auftaucht, dann können wir uns diesen Zusammenhang zwischen Körper und Geist nutzbar machen. Statt auf die Emotion zu reagieren, können wir uns an die Atemmeditation erinnern, den Atem ins Bewusstsein holen und versuchen, entspannt und natürlich zu atmen. Wir kön-nen den Atem auch bewusst etwas verlangsamen, indem wir uns besonders entspannen – im Ausatmen und im Einatmen. Das hat zwei Auswirkungen: Wir ziehen ganz direkt die Aufmerksamkeit von dem ab, was unsere Emotion auslöst und über die Beruhigung des Körpers helfen wir dem Geist, sich zu beruhigen.

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Das sind erhebliche Vorteile in der Praxis. Ich habe das mit etwa 20 oder 21 gelernt und es hat mir unglaublich geholfen, mit meinem Ärger, mit meiner Reizbarkeit umzugehen. Wenn ich ärgerlich war, habe ich auf meinen Atem meditiert und konnte dadurch den Geist wieder beruhigen. Das wirkt un-glaublich gut. Die tibetischen Yogis z.B. machen dazu eine spezielle Übung. Wenn sie stärkere Emotionen haben, setzen sie sich in die 7 Punkte Haltung, atmen ein und dann lange nicht mehr aus. Sie halten den Atem lange Zeit, um so die Emotion einfach zu durchschneiden, was mit bestimmter Übung auch geht. Man muss dafür natürlich geübt haben. Ich erwähne das, damit ihr nicht glaubt, dass dieses Nutzen des Atmens, was sich nach Manipulieren des Atems anhören könnte, nur in anderen Schulen praktiziert werden würde. In allen buddhistischen Schulen wird der Atem genutzt, um mit den Emotionen zu arbeiten. Es ist nicht nur eine Beobachtung des Atems, um herauszufinden welche Emotion man gerade hat, sondern auch eine Meditation auf den Atem, um die Emotionen zu beruhigen. Stellt euch vor, ihr atmet langsam, ruhig beim Fahren eines Autos. Das reduziert enorm den Stress, der sich durch das Autofahren aufbaut. Wenn wir immer wieder zum entspannten, langsamen Atem zu-rückkehren – egal in welcher Situation – entspannen wir den Geist. Stellt euch vor, dass wir – sobald wir den Saal hier verlassen – bei allem was wir tun, einen entspann-ten, natürlichen Atem bewahren. Egal, welche Situation auftaucht, wir achten auf den Atem und atmen so, wie es uns gut tut. Wir versuchen den Atem zu finden, der uns am angenehmsten und hilfsreichsten ist. Dieser Atem wird genau der Atem sein, den wir brauchen, um zu entspannen. Wir schaffen nicht irgendeine Idee von einem Atem, sondern finden den heraus, der uns im Moment hilft, besonders ent-spannt und offen zu sein – und das in jeder Situation. Wir werden dann noch vieles, vieles mehr über den Atem lernen, aber das ist die Grundübung. Wenn ein Vortragender beim Unterrichten oder Vortragen den Atem verliert, so das ist kein gutes Zei-chen, nicht? Es ist Ausdruck der eigenen Emotionen und hilft auch den anderen nicht beim Verständ-nis. Wenn sich aber jemand entspannt dabei, seinen Atem hat, Zeit hat tief einzuatmen, dann ist wäh-rend des Sprechens allen damit gedient. Es baut sich kein Stress auf, und so ist es in jeder Situation. Nachher werdet ihr kochen müssen, ihr werdet den Tisch decken. Das kann man alles mit einem na-türlich entspannten Atem machen. Wenn wir das auf eine schöne Art praktizieren, dann beginnen wir unseren Atem zu schätzen. Wir be-ginnen unseren Atem als Freund zu empfinden, als wohltuend. Der Atem wird zu einem ständigen, wohltuenden Begleiter in unserem Leben, zu einem Bindeglied mit wohltuender Haltung gegenüber Körper und Geist. Wir können uns dieses Geschenk des Atems, der uns gerade gut tut, jederzeit ma-chen. Es ist einem jeden von uns selbst überlassen, was für ein Atem uns gut tut. Ob mir eine Pause gut tut oder tiefer Einatem, kurzer Einatmen oder langer Ausatem, kurzer Ausatem, all das lerne ich mit der Zeit ganz fein zu spüren. Ich bin mir auch bewusst, wie sich mein Geist verändert, weil ich mir des Atems bewusst bin. Das ist ein guter Spiegel. Nach dieser ersten Unterweisung über das Meditieren mit dem Atem zurück zum Text: 11. Andere Mönche haben bereits drei Fesseln aufgelöst, zusammen mit Abschwächung von Be-gierde, Hass und Verblendung; als Einmal-Wiederkehrer werden sie nur noch einmal in diese Welt kommen, um Dukkha ein Ende zu bereiten. Dukkha ist all das, was nicht zufrieden stellend ist in dieser Welt, das Leiden in Samsara. Im Pali nennt man die Einmal-Wiederkehrer Sakkadagami. Sie werden noch einmal als Menschen wiederge-boren, um dann die Stufe eines Arhats zu erlangen, nach der man nicht mehr wieder geboren wird. Diese Praktizierenden haben die ersten drei der zehn Fesseln aufgelöst. 12. Andere Mönche haben dieselben drei Fesseln aufgelöst – aber ohne diese starke Abschwächung von Begierde, Hass und Verblendung – als Stromeingetretene sind sie gefestigt und werden keine niederen Existenzen mehr erfahren, sondern auf das Erwachen zugehen.

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Stromeingetretene sind in den Strom des Erwachens eingetreten, und nach Pali-Tradition ist sicher, dass sie nicht mehr als sieben Mal als Menschen wiedergeboren werden, bevor sie das Erwachen er-langen. Diese in den Strom Eingetretenen werden nicht mehr in den drei niederen Daseinsbereichen wiedergeboren. Wie ihr in der Formulierung von Buddha Shakyamuni sehen könnt, wird da nicht von der starken Abschwächung der Begierde, des Hasses oder der Abneigung und der Unwissenheit ge-sprochen. Sie haben mit Hilfe ihrer Verwirklichung noch ein rechtes Paket an Emotionen aufzulösen. Die Stromeingetretenen haben verwirklicht, dass es gar kein Ich, kein Selbst, keine Seele gibt. Das entzieht den Emotionen ihre Kraft. Es ist als würde man ihnen den Teppich unter den Füßen wegzie-hen. Wenn dieses Verständnis angewendet wird, dann kommt es zu einem schnellen Reinigen, einem schnellen Auflösen der Emotionen. Mit diesem letzten Abschnitt will der Buddha sagen, dass es vier Arten von Erwachten, Verwirklich-ten und vollkommen Erwachten in dieser Versammlung gibt. Man nennt sie die vier Arten der Edlen, Aryas. Das sind die, die bereits echte Früchte ihrer Praxis erfahren haben. Dann spricht der Buddha von all jenen, die noch nicht diese Verwirklichung erlangt haben, oder die höhere Verwirklichung erlangen möchten: 13. In dieser Gemeinschaft gibt es Mönche, die das vierfache Kultivieren der Achtsamkeit prak-tizieren, – das war das Thema der letzten beiden Jahre – die die vier richtigen Anstrengungen prak-tizieren, die die vier Standbeine spezieller Kräfte praktizieren, die die fünf Fähigkeiten prakti-zieren, die die fünf Kräfte praktizieren, die die sieben Glieder des Erwachens praktizieren, die die acht Glieder des Pfades der Edlen praktizieren… Diese Praktiken von den vier Arten der Achtsamkeit bis zu den acht Gliedern des Pfades der Edlen sind die 37 Praktiken des Erwachens, diese berühmten, bekannten 37 Praktiken, die auch bei Gampopa im Kapitel über die fünf Pfade aufgezählt werden im Beschreiben dessen, was auf den fünf Pfaden jeweils verwirklicht wird. Es sind nicht die 37 Bodhisattva-Praktiken. Das ist eine andere Aufstellung. Sie stammt von Togme Sangpo, der die Zahl 37 genommen hat um zu zeigen, was es für 37 Praktiken für einen Bodhisattva an gibt. …die Liebe praktizieren, die Mitgefühl praktizieren, die Freude praktizieren, die Gleichmut praktizieren – und den einen oder anderen Aspekt stärker betonen. Als der Buddha die Sangha be-trachtete, sah er, dass dies ihre momentane Hauptpraxis war. … die mit dem Nicht-Anziehenden praktizieren – um Begierde weiter aufzulösen, konzentrieren sie sich darauf, was in dem vermeintlich Schönen, Anziehenden alles an Nicht-Anziehendem zu finden ist. …die mit der Vergänglichkeit praktizieren. – Die Meditation auf die Vergänglichkeit ist eine voll-ständige Praxis in sich, weil sie zur Erkenntnis des Nicht-Ich und der illusorischen Natur der Dinge führt. 14. In dieser Gemeinschaft gibt es zudem Mönche, die die Achtsamkeit mit dem Atem praktizie-ren – solche Mönche gibt es in dieser Gemeinschaft. Hiermit leitet der Buddha über zu dem Thema, über das er wirklich sprechen möchte. Deswegen hat er all die Mönche zusammen gerufen und möchte diese Situation nutzen, um ihnen die wesentliche Un-terweisung über den Atem zu geben. Ich kenne nicht so viele Sutras, aber mir ist noch kein anderes Sutra begegnet, wo er ein Ereignis so gut vorbereitet hätte wie hier, um über ein bestimmtes Thema der Meditation zu sprechen.

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II. Achtsamkeit mit dem Atem 15. Ihr Mönche, wenn die Achtsamkeit mit dem Atem entfaltet und geübt wird, ist sie von gro-ßer Frucht und großem Nutzen, weil sie das vierfache Kultivieren der Achtsamkeit vervoll-kommnet. Achtsamkeit vervollkommnet die sieben Glieder des Erwachens und diese vervoll-kommnen wahres Gewahrsein und Befreiung. Damit sagt der Buddha, dass man sich allein durch Achtsamkeit mit dem Atem so weit entwickeln kann, dass man zum vollkommenen Gewahrsein und zur Befreiung gelangt, man also den gesamten Weg damit zurücklegen kann. 16. Wie entfalten und üben wir die Achtsamkeit mit dem Atem? 17. Nun, wir gehen in den Wald, zum Fuße eines Baumes oder in eine leere Hütte, setzen uns nieder und kreuzen die Beine. Den Oberkörper aufrecht haltend verankern wir die Achtsamkeit vor uns. … Wenn wir keinen Wald, keinen Baum, keine leere Hütte zur Verfügung haben, dann ist das keine Ent-schuldigung, nicht zu praktizieren – wir brauchen nur die Tür zuzumachen. Wir können auch prak-tizieren, wenn wir uns innerlich zurückziehen von dem was uns äußerlich aufwühlt. Gemeint ist hier die Abgeschiedenheit. Es kann äußere Abgeschiedenheit sein, die natürlich hilft, weil dadurch die Rei-ze verringert werden, die uns ablenken. Aber wichtig ist, dass es zu einer inneren Abgeschiedenheit kommt, dass der Geist sich zurückzieht vom Verwickelt-Sein mit all dem, was drum herum passiert. Wenn ihr schon einmal versucht habt, im Wald zu meditieren, dann wisst ihr, dass da eine Menge los ist und man leicht von einem Schmetterling, einer Ameise, einem Würmchen, einem Falter, von Ge-räuschen abgelenkt werden kann. Das ist keineswegs ein stiller Ort, es ist einfach nur ein Ort, an dem es eine recht ruhige Atmosphäre hat, wo es uns möglich ist, den Geist nach innen zu lenken. Wer weiß, wie man seinen Geist nach innen lenkt, kann das auch umgeben von Menschen, z.B. bei einer Zugfahrt – innerlich im Bewusstsein des Atems praktizieren und ein Glied der Praxis nach dem ande-ren entfalten.

Sitzhaltung Mit gekreuzten Beinen ist natürlich nur möglich, wenn wir uns auf den Boden setzen können, ansons-ten setzen wir uns besser auf einen Stuhl. Wenn man auf einem Stuhl sitzt ist wichtig, dass man auch da gerade sitzt und die Position angenehm ist. Man muss die Beine öffnen, was für Frauen nicht so schick ist, aber sie können ja ein Tuch über die Beine legen. In dieser Position hat das Becken genau wie beim Sitzen auf dem Boden die Freiheit, sich zu bewegen und die richtige Beugung zu finden, so dass der Rücken völlig gerade ist. Die Wirbelsäule muss gerade sein und das kann sie nur, wenn sie dabei entspannt ist. Wenn man die Beine zusammen hält, dann blockiert das das Becken, man kann nicht regulieren. Man muss die Beine öffnen, um diese Beweglichkeit zu haben. Dadurch kann man dann genauso wie beim Sitzen auf dem Boden die Haltung entspannt anpassen, sodass sich die Wirbelsäule entspannt und ge-rade anfühlt, dass ein Wirbel über dem anderen locker sitzen kann. Ich wäre euch sehr dankbar, wenn ihr diese Sitzhaltung am Stuhl anderen zeigen könntet. Probiert sel-ber aus und wenn ihr die Haltung für euch für gut befunden habt, dann zeigt sie den anderen. Es ist wichtig die Beine nicht übereinander zu legen oder sie zusammen zu halten und sich nicht anzulehnen, damit die Wirbel nicht aus dem Gleichgewicht kommen. Wir sitzen gerade, die Füße flach auf dem Boden und nicht gekreuzt. Wahrscheinlich ist es dann am einfachsten, die Hände auf den Knien zu halten.

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Für den Sitz am Boden gibt es drei verschiedene Haltungen: die Bodhisattva-Haltung, wo die Beine einfach voreinander auf dem Boden liegen, normalerweise das rechte Bein vor dem linken Bein, die halbe Vajrahaltung, wo man den rechten Fuß auf dem linken Oberschenkel legt und die volle Vajra-haltung, wo die Beine voll gekreuzt sind. Zuerst legt man den linken Fuß auf den rechten Oberschen-kel und dann gibt man den rechten Fuß hoch. Bei umgekehrter Beinstellung nennt man es Lotushal-tung. Der Unterschied zwischen vollem Lotus und vollem Vajra liegt also in der Reihenfolge der Bei-ne. Diese drei Beinhaltungen – einschließlich des Sitzens auf dem Stuhl – werden in allen buddhis-tischen Richtungen unterrichtet. Für die Hände gibt es auch drei Haltungen: 1) Die Hände liegen auf den Knien. 2) Die rechte Hand wird in die linke Hand gelegt, die Daumen stehen ein bisschen nach oben, bilden einen Kreis und üben einen kleinen Druck aufeinander aus, was die Achtsamkeit ein bisschen verschärft. Das führt zu einer gewissen Präsenz, Spannung. 3) Die Hände werden im Schoß abgelegt, der rechte Daumen liegt auf dem linken Daumen. Alle drei Haltungen sind fein, haben aber unterschiedliche Auswirkungen. Die Haltung mit den zu-sammen gepressten Daumen hat einen stimulierenden Effekt, einen wach machenden Effekt. Im Zen werden die Hände sogar noch vor dem Schoß hoch gehoben, sodass die Daumen auf Höhe des Nabels sind, um zu noch größerer Wachheit zu führen. Die Hände werden also quasi in der Luft gehalten, der Praktizierende gewöhnt sich daran. Das kann auch für uns sehr hilfreich sein, um Schläfrigkeit und Dumpfheit zu vertreiben. Liegen die Hände auf den Knien, dann ist das eine sehr entspannte Haltung, die auch über längere Strecken gut benutzt werden kann. Wenn viele Gedanken kommen und ihr die Hände in den Schoß legt, kann es sein, dass es leichter ist die Gedanken loszulassen, dass der Gedankenzustrom nicht so stark ist. Der Geist ist leichter gesammelt, wenn die Hände im Schoß liegen. In unserer Linie ist die Haltung mit den Händen im Schoß ohne zusätzliche Anspannung die Standard-haltung geworden.

* * * Wir sind also in Savatthi (Skr.: Sravasti). Der Buddha hat bekannt gegeben, dass er in der folgenden Vollmondnacht noch eine Unterweisung geben wird, und alle Mönche sind für diese Unterweisungen zusammen gekommen. Buddha Shakyamuni hat die Qualitäten der Sangha hervorgehoben und gibt ihnen anschließend die Unterweisungen über die Achtsamkeit mit dem Atem. Im ersten Abschnitt über die Achtsamkeit mit dem Atem – Abschnitt Nr. 15 – hat der Buddha hervorge-hoben, dass wir mittels Achtsamkeit mit dem Atem bis zur vollkommenen Befreiung gehen können. Und hier noch ein anderes Zitat, in dem der Buddha die Bedeutung dieser Praxis betont: Samyutta Nikaya, Kapitel 54, aus dem 8. Sutra: Bhikkhus! Die Achtsamkeit mit dem Atem – wenn sie einmal entwickelt und weit fortgeschritten ist – trägt große Früchte und hat großen Nutzen. Auch ich selbst praktizierte diese Achtsamkeit, als ich noch nicht erleuchtet war, als ich noch ein Bodhisattva war, die meiste Zeit. Ich hielt mich ständig in dieser Bleibe auf. – So nennt er die Praxis. – Mein Körper war nicht gestresst, meine Augen waren nicht müde und mein Geist wurde durch das Nicht-Anhaften von den Triebflüssen befreit. Aus diesem Grund: Sollte irgend jemand von euch sich wünschen, ‚Möge mein Körper nicht gestresst sein, möge er nicht leiden, mögen meine Augen nicht müde sein, möge mein Geist von den Triebflüssen befreit werden durch die Praxis des Nicht-Haftens!’ dann sollte diese Person sorgfältig ihren Geist auf die Achtsamkeit des Atems richten. Mit diesem Ausspruch wollte der Buddha seine Schüler darauf hinweisen, dass für ihn selber die Acht-samkeit mit dem Atem die hauptsächliche Praxis war, bevor er das Erwachen erlangt hat. Die Praxis mit dem Atem, der auf Hindi, Pali und Sanskrit prana genannt wird, war in Indien zur Zeit des Buddha wohl bekannt. Der Buddha hatte diese Praxis – Pranayama oder Yoga des Atems – bei den Yogis, mit denen er zusammen lebte, gelernt und er hat damit die tiefen Versenkungen erreichen kön-

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nen. Ihm ist es gelungen, diese meditative Ruhe, die im Geist entsteht, zu nutzen, um direkte Erkennt-nis zu erlangen. Das macht den Unterschied aus zwischen Pranayama und der Achtsamkeit mit dem Atem, wie der Buddha sie verwendet und gelehrt hat. Er hat die Geistesruhe nicht nur dafür genutzt, um möglichst lange in Samadhis zu verweilen, sondern er hat die Flexibilität des Geistes auf das Er-kennen der Natur der Dinge ausgerichtet. Das war die Arbeit, die er während dieser sechs Jahre ge-macht hat, als er den Weg suchte: ‚Wie finde ich die Lösung, die uns – mich und alle Wesen – für im-mer von Leid befreit?’ Es war ihm nicht genug, nur zeitweilig in Samadhis zu verweilen, sondern er wollte die grundlegende Lösung. Er suchte den Weg und hat als Hauptpraxis die Achtsamkeit mit dem Atem gehabt. Wir haben vom Anapanasati Sutra schon einiges besprochen: Als Vorbereitung für die Praxis gehen wir an einen Ort, wo wir alleine sind, wir suchen die Abgeschiedenheit auf. – Damit ist ein Ort ge-meint, an dem wir den Geist auf das Wesentliche richten können. Dann setzen wir uns mit gekreuzten Beinen hin – wenn wir das können – oder zumindest aufrecht, sodass die Wirbelsäule gerade ist, und richten die Achtsamkeit vor uns. In dieser Haltung bringen wir den Geist mit dem Atem in Berührung, wir nehmen Kontakt auf mit dem Atem. „… Achtsam atmen wir dann ein und achtsam atmen wir aus.“ Und dann üben wir uns in sechzehn Stufen, die der Buddha im Sutra anschließend in vier Vierergrup-pen beschreibt. Diese vier Gruppen beziehen sich auf das vierfachen Kultivieren der Achtsamkeit, die erste auf den Körper, die zweite auf die Empfindungen, die dritte auf den Geist und die vierte sind die Dharmas. Damit sind wir ja gut vertraut, wir haben es in den letzten Jahren besprochen. Die Basis haben wir bereits gelegt und jetzt gehen wir noch konkreter in die Anwendung mit einer einzigen Methode, mit dem Atmen.

1. Achtsamkeit auf den Körper Die erste dieser vier Übungen ist: 18. Lang einatmend wissen wir: ‚Ich atme lang ein’, lang ausatmend wissen wir: ‚Ich atme lang aus’. In dieser ersten Etappe, die wir uns ja gestern schon angeschaut haben, interessiert uns alles was mit dem langen, langsamen Atem zu tun hat. Wir schauen was im Körper passiert, was im Geist passiert, welche Arten von Gedanken, welche inneren Geisteshaltungen dazu beitragen, dass es zu einem lan-gen Atem kommt. Wir haben auch den langen Atem geübt, um zu schauen was er bewirkt. Dann kümmern wir uns in der gleichen Art und Weise um die zweite Übung: Kurz einatmend wissen wir: ‚Ich atme kurz ein’, kurz ausatmend wissen wir: ‚Ich atme kurz aus’. Wir können auch den kurzen Atem provozieren und einfach schauen, was das bewirkt. In der Therava-da-Tradition und speziell im Kommentar von Buddhadasa – Begründer der Wald-Tradition des Thai-Buddhismus anfangs des 20. Jahrhunderts, ein großer Meister, von dem gesagt wird, dass er ein Arhat war – heißt es, dass langer und kurzer Atem wie Gegensätze sind, dass der kurze Atem stimuliert und der lange Atem beruhigt. Das konnten wir gestern schon erfahren, jedenfalls sind die beiden deutlich unterschiedlich. Wir können uns diese unterschiedlichen Wirkungsweisen nutzbar machen, wenn wir Emotionen haben. Sind wir z.B. aufgewühlt, können wir den längeren Atem betonen und uns mehr in den längeren Atem hinein entspannen, denn diese erste Vierergruppe hat zur Aufgabe die Emotionen zu beruhigen, uns aus der groben emotionalen Verwicklung herauszuholen. Diejenigen von euch, die heute morgen da waren, haben vielleicht noch in frischer Erinnerung, wie sehr es beruhigt, wenn man dem Atem tatsächlich über die ganze Länge hin folgt – ein- und ausat-mend – und dann die Dauer des Atems ein klein bisschen verlängert. Das bringt einen dazu, wirklich

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mit jeder Phase des Atems verbunden zu bleiben und die Gedanken haben gar keine Chance sich zu Emotionen aufzubauen. Wir können gar nicht in unserem Film landen, weil wir immer wieder durch den Atem sanft heraus geführt werden aus diesen Filmen, die sich gerade aufbauen wollen. Diese Übung unterstreicht der Buddha noch mit der dritten Praxis: Wir üben so: ‚Einatmend erlebe ich alle Körper’ und: ‚Ausatmend erlebe ich alle Körper’. Alle Körper bezieht sich auf den Pali-Ausdruck sabakaya, was das Gleiche ist wie sarvakaya (Skt.) – alle Körper. Und die Lösung für diese etwas ungewöhnliche Ausdrucksweise hängt mit dem Wort Körper – kaya – zusammen. Wenn wir im Deutschen z.B. eine Menschengruppe beschreiben, sprechen wir von einem Körper oder corpus im Lateinischen. Ein Corps beim Militär ist eine Gruppe von Sol-daten. Es gibt so viele Körper, Gruppen, Corps, Ansammlungen von bestimmten Einheiten, und kaya hat genau dieselbe Bedeutung. Es ist damit eine Gruppe von Definierbarem gemeint, das zusammen-gehört, genauso wie mit dem Begriff corpus in Latein. Und hier haben wir den Atemkörper – das ist die Gruppe all der Empfindungen, die mit dem Aus- und Einstreichen der Luft einhergehen – und den physischen Körper, all die Empfindungen, die mit Ver-dauung, Herzschlag, Leben in den Zellen usw. einhergehen. Das sind die beiden ersten Körper, von denen wir sprechen. Einatmend erlebe ich alle Körper bedeutet, dass wir den Atemkörper, den wir zunächst einmal für sich betrachtet haben, nun hineinbringen in eine Achtsamkeit, die auch alle anderen körperlichen Phä-nomene mit einbezieht. – Ihr kennt die drei Ausdrücke Nirmanakaya, Sambhogakaya und Dharma-kaya, wo das Wort kaya jeweils bedeutet, dass es eine Gruppe von Phänomenen gibt, die als Ausstrah-lungskörper, Freudenkörper und Wahrheitskörper beschrieben werden. Damit ist aber nicht gemeint, dass es da jeweils einen Körper geben würde, sondern es wird damit nur etwas beschrieben, das eine Einheit bildet. Um verständlich zu machen, was mit Körper gemeint ist, muss ich noch einmal ein wenig ausholen. Kaya bedeutet also eine Gruppe, eine Gesamtheit von etwas Beschreibbarem. Und hier wird der Aus-druck kaya-sankara (Pali) benutzt, das sind die körperlichen Gestaltungen. Der Buddha meint damit, dass das, was wir Körper nennen, bereits seinerseits das Produkt von Bedingungen ist und von diesen Bedingungen abhängig ist. Der Körper wird gestaltet durch Bedingungen, die zusammen kommen. So-lange sie zusammen bleiben, gibt es den Körper. Er ändert sich mit Temperatur, Nahrung usw. und wird auch wieder zerfallen, wenn diese Bedingungen nicht mehr da sind. Gleichzeitig ist der Körper aber auch Gestaltender, er hat eine Auswirkung auf den Geist, er hat eine Auswirkung auf den Atem. Er ist also Gestaltetes und Gestalter, und das gilt für alle Körper. Auch der Atemkörper ist sowohl Ge-stalter – d.h. er hat Einfluss auf den Geist und auf den Körper – aber auch Gestaltetes, weil der Geist und der Körper Einfluss auf den Atem haben. Und so betrachten wir das Phänomen, das wir hier kaya – Körper – nennen, als gar nichts Solides, sondern es befindet sich in ständigem Fluss, im Einfluss der Gestaltungskräfte. Diese Gestaltungskräfte beobachten wir im Spiel der Empfindungen im Körper und wir werden uns dadurch bewusst, dass es da nichts Solides gibt sondern nur ein ständiges Spiel von Erfahrungen, einen Fluss von Erfahrungen. Das meint der Buddha mit: ‚Einatmend erlebe ich alle Körper. Ausatmend erleben ich alle Körper.’ Da wird uns dieses Spiel der Empfindungen, der wechselseitigen Bedingungen bewusst, wie alles von-einander abhängt. Was wir da erleben ist das Erfahren dieses Gestaltungsprozesses. Da gibt es Ursachen, da gibt es Wir-kungen, aber jede dieser Wirkungen bewirkt wieder etwas anderes. Keine einzige dieser Auswirkun-gen ist ein Endpunkt. Alles ist nur ein Moment im Erleben und dieses Erleben setzt sich fort. So wie es im Atmen keinen Endpunkt gibt, genauso gibt es im Erleben des Körpers keinen Endpunkt, keine End-entwicklung, sondern diese Entwicklungen gehen ständig weiter. Und schließlich wird dasselbe dann auch für den Geist entdeckt. Im Geist ist es genauso, dass es keine Endpunkte gibt. Wir üben so: ‚Einatmend beruhige ich die körperlichen Gestaltungen.’ – ‚Ausatmend beruhige ich die körperlichen Gestaltungen.’

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Als ich den Text in den drei Sprachen zusammenstellte, folgte ich zunächst einigen Übersetzern, die an dieser Stelle jeweils von Körper sprachen und dazu eine Fußnote anfügten, dass es eigentlich kör-perliche Gestaltungen heißen sollte, man aber der Einfachheit halber von Körper spricht. Als ich dann den Kommentar von Buddhadasa studierte, ist mir durch seine Erklärungen klar geworden, dass diese Vereinfachung ein ganz wesentliches Element des Verständnisses abzieht. Wir haben es nicht mit ei-nem Körper zu tun sondern mit einem Wechselspiel von Kräften, mit einem Wechselspiel von Gestal-tungskräften, die man die körperlichen Gestaltungen nennt, wobei der Buddha gar nicht von Körper gesprochen hat sondern von körperlichen Gestaltungen – kaya-sankara. Wir sind mit der dritten Stufe im vollen Erleben dieser vielen unterschiedlichen Eindrücke, die das Le-ben ausmachen. – Man kann von verschiedenen Ebenen sprechen, man kann vom sich gegenseitigen Durchweben dieser verschiedenen Erfahrungen sprechen. Hier sagt der Buddha uns, dass wir diese körperlichen Gestaltungen beruhigen, dass wir da Ruhe hi-nein bringen, Frieden hinein bringen, denn da läuft erst einmal ein ziemlicher Film ab, da ist unglaub-lich viel los. Dieses Beruhigen der körperlichen Gestaltungen machen wir genauso, wie wir das schon gelernt haben – durch zählen, durch dem Atem folgen und die anderen Stufen der Praxis mit dem Atem – bis wir zu einer ganz tiefen Versenkung in den Atem hineinkommen. Wenn wir die körperlichen Gestaltungen beruhigen wollen, dann begegnen wir einem gewissen Prob-lem, denn diese körperlichen Gestaltungen sind Ausdruck unseres Karma, Ausdruck all der Kräfte, die wir in der Vergangenheit in Bewegung gesetzt haben. Das alles drückt sich jetzt in unserem Geist aus, in unserem Atem, in unseren körperlichen Erfahrungen. Wir haben Gedanken, Hoffnungen, Ängste, sonstige Emotionen, und es ist gar nicht so leicht, das alles loszulassen, das alles einfach so sich be-ruhigen zu lassen.

Fünf Punkte zur Beruhigung der körperlichen Gestaltungen Bhante oder Ajahn Buddhadasa gibt fünf Punkte an, die uns helfen werden die körperlichen Gestaltun-gen zu beruhigen. Alle beziehen sich auf den Atem, denn der Atem wird für uns das Hilfsmittel sein, um Körper und Geist zur Ruhe zu bringen. 1. Dem Atem folgen Buddhadasa gibt dem Wort folgen in seinen Beispielen eine Bedeutung von verfolgen, jagen, und zwar so als wären wir Jäger, die einer Beute nachjagen wollen. Da wir total motiviert sind, aufzuräumen mit dem emotionalen Salat in unserem Geist, gehen wir mit einer Aufmerksamkeit an unsere Atempraxis so wie ein Jäger, der unbedingt die Beute erhaschen möchte. Das Beispiel ist vielleicht nicht so schön, weil es mit jagen zu tun hat, aber es ist sehr anschaulich: Wenn ein Jäger auf Hasenjagd ist und auch nur einen Moment unaufmerksam ist, hat der Hase seinen Haken geschlagen. Oder wenn wir versu-chen, eine Maus zu fangen oder aus dem Zimmer zu jagen und kurz unachtsam sind, ist die Maus ir-gendwo – wir haben es gar nicht gesehen wo – unter einem Möbel verschwunden, und damit hat sich die Sache erledigt. Was es braucht ist die unablässige Achtsamkeit, wo uns nicht ein kleiner Moment des Atems entgeht. Das ist mit folgen oder verfolgen des Atems gemeint.

Atemübung Ich möchte euch gerne eine kleine Übung zeigen, mit der man eine Sitzung der Achtsamkeit mit dem Atem beginnen kann, speziell dann, wenn man etwas müde ist oder die Atemwege nicht frei sind. Die Haltung dafür ist dieselbe wie für die Meditation, wir sitzen mit gekreuzten Beinen am Boden oder auf einem Stuhl. Die linke Hand liegt als sanft geschlossene Faust auf dem linken Knie und die rechte nimmt folgende Mudra ein: Zeigefinger und kleiner Finger sind gestreckt und Mittelfinger und Ringfinger halten den Daumen. Der rechte Arm hebt sich und der gestreckte Zeigefinger ist direkt am rechten Nasenloch. In dieser Haltung atmet man ein.

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Beim Ausatmen drückt der gestreckte Zeigefinger auf das rechte Nasenloch und man atmet durch das linke Nasenloch aus, so tief wie man kann. Gleichzeitig öffnet sich die Faust der linken Hand, Arm und Finger strecken sich, die Hand hebt sich leicht vom Knie. Diese Übung machen wir drei Mal. Dann machen wir dasselbe auf der anderen Seite und dann atmen wir noch drei Mal tief durch beide Nasenlöcher, wobei beide Hände zur leichten Faust geschlossen auf den Knien liegen und beim Ausatmen wie vorhin gestreckt werden.

* Meditation * Wir nehmen Kontakt mit der Atmung auf und fahren direkt mit der Übung der letzten Sitzung fort. – Langer und kurzer Atem. – Atemkörper zusammen mit dem physischen Körper. – Ohne Unterbrechung dem Ausatem folgen, dem Einatem folgen … verfolgen. – Stellt den Wachtposten auf, den Hüter der Pforte, dort wo ihr den Atem gut spürt, z.B. an der Nasen-spitze. Vereinfacht die Achtsamkeit, sodass ihr euch jetzt nur noch darauf konzentriert, was genau an diesem Ort passiert. Beim Einatmen, beim Ausatmen und zwischen drin. – Der Wachtposten ist wie der Jäger, er lässt keine Bewegung, ohne sie zu bemerken. Keine Empfin-dung an dieser Stelle entgeht ihm. –

* * * Vielleicht habt ihr das ja auch beobachtet, es scheint wie ein allgemeines Gesetz zu sein: Wenn wir einmal abgelenkt waren, an etwas anderes gedacht haben und dann wieder zum Atem zurückkommen, dann macht allein die Tatsache, dass wir wieder des Atems gewahr sind, wieder Achtsamkeit auf den Atem kommt, den Atem schon ein bisschen feiner, ein kleines bisschen länger, der Atem ist ein biss-chen entspannter. – Ich spreche jetzt natürlich von einer entspannten Achtsamkeit, nicht davon, dass man erschreckt, abwesend gewesen zu sein und man Schuldgefühle kriegt, sondern einfach nur, ‚Ah! ...’, das Wiederentdecken des Atems, das Wieder-Verbundensein, und schon beruhigt sich etwas in uns. Vielleicht hab ihr auch die Entdeckung gemacht, dass – wenn man als Wachtposten an dem Ort bleibt, den man sich ausgesucht hat – dieser Ort sehr wach wird, wenn man länger bleibt, obwohl man dort vielleicht zu Anfang die Atembewegung nur schwach spürt, und dass er auch sehr empfindsam wird und man immer mehr mitbekommt von dem, was in diesem kleinen Bereich los ist. Könnt ihr damit was anfangen? Habt ihr diese beiden Erfahrungen gemacht, oder ist es bei euch an-ders? Habt ihr vielleicht andere Erfahrungen gemacht, die ihr klären möchtet?

Atempause

Frage: Ich habe nach dem Ausatmen einen Moment, den nenne ich Nicht-Atmen. Dort geht meine Auf-merksamkeit weg. Ich habe dann gedacht: ‚Soll ich an diesem Punkt rund atmen?’ Was soll ich da machen? Ich bin da etwas orientierungslos. Die Frage ist voll berechtigt, du bist mit dieser Erfahrung auch nicht die Erste im Universum. Deswe-gen sprechen manche Meditationsanleitungen von Ausatem – Pause – Einatem. Wenn man diesen Zyklus mental verfolgt, benennt man diese drei zunächst einmal, um diesem Nicht-Atmen einen Na-men zu geben. Später braucht man dann nicht mehr zu benennen sondern weiß einfach: „Das ist die Achtsamkeit, die verweilt, ohne dass jemand durchs Tor kommt. Das ist die Achtsamkeit, die an dem Ort verweilt, ohne dass das passiert, worauf ich immer warte. Aber es ist anderes da, was ich an dem Ort erfahren kann.“ Das ist tatsächlich eine Stelle, an der leicht Gedanken eintreten, weil man sich mit dem gewohnten Ablauf nicht mehr beschäftigen kann, da ist eine kleine Pause. Ich habe diese Pause bisher nicht über-betont, denn wenn man sie betont oder benennt, hat sie die Tendenz länger zu werden, was nicht sein muss. Wir bleiben beim ganz natürlichen Atmen. Diese Pause darf manchmal fast verschwinden,

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manchmal darf sie ganz lang sein. Wir brauchen nicht speziell mit ihr zu arbeiten. Du brauchst also keinen Rundatem ohne Pause zu machen, sondern du nimmst die Pause wahr als kleine Herausforde-rung – wie einen Wachtposten am Stadttor, an dem keine Leute reinkommen und rausgehen, der trotz-dem achtsam bleibt. Das ist die Herausforderung an dieser Stelle. Das kann uns manchmal auch am Ende des Einatems passieren. Dort ist die Pause gewöhnlich viel kürzer, aber auch dort kann uns das manchmal passieren.

Zwei Möglichkeiten der Achtsamkeit in der Meditation

Frage: Wenn ich auf mich die Nasenspitze konzentriere, und es schaffe, dort zu entspannen, dann kann ich den ganzen Rest, der da geschehen mag, wahrnehmen. Ich werde z.B. des ganzen Atemprozesses gewahr oder der Gedanken, Empfindungen im Körper, was auch immer daherkommt. Die einzige klei-ne Schwierigkeit dabei – sie mag eine persönliche sein – ist, wenn ich zu viel Anstrengung mache, mich auf diesen Punkt zu konzentrieren, dann kann es sein, dass ich weniger entspannt bin und dazu neige, mich vom Rest abzuschneiden, diesen Rest also nicht zu schmecken und zu entspannen. Deine Erfahrung zeigt uns, dass in unserer Praxis eine Entscheidung zu fällen ist. Grob gesprochen ha-ben wir zwei Möglichkeiten. Wir können zum einen diesen Ort der Achtsamkeit – z.B. die Nasenspitze – wie einen Anker benutzen und lassen vielleicht zwanzig oder dreißig Prozent der Achtsamkeit an diesem Ort. Die restliche Wahr-nehmungsfähigkeit nimmt panoramisch alles wahr, was in der Situation noch so passiert. Wir können das kontinuierlich aufrechterhalten und gleichzeitig sogar andere Aktivitäten ausführen. Wir können gehen, wir können beobachten, reisen, Auto fahren, … Es ist möglich, diese Verankerung zu behalten und drum herum eine Menge anderes zu machen. Wir sind nie völlig abgelenkt, weil wir immer diesen Anker haben. Die andere Möglichkeit ist alles drum herum sofort fallen zu lassen, nur an dem Ort zu bleiben und sich in die Erfahrung hinein zu versenken, die der Haupt-Meditationsgegenstand ist. So lässt man es zu Samadhi kommen, man tritt in immer tiefere Samadhis, in immer tiefere Ruhe des Geistes ein, wo dann tatsächlich die Umgebung keine Rolle mehr spielt. Man kann das natürlich mit Sich-Abschneiden von der Welt benennen, aber darin liegt eine gewisse Bewertung, eigentlich ist es nur so, dass wir uns etwas tiefer einlassen. Für dieses ganz tiefe Sich-Ver-senken, Sich-Einlassen in einen Beobachtungsbereich können wir nicht gleichzeitig noch mit etwas anderem verbunden bleiben. Das ist einfach nicht möglich, wenn man an einem Punkt tiefer gehen möchte. Jetzt werde ich einen kleinen Sprung machen und erklären, wie man diesen Punkt im Mahamudra be-trachtet.

Achtsamkeit im Mahamudra

In der Mahamudra-Tradition würde man die erste Art zu meditieren in den Vordergrund stellen und darauf achten, dass sich bei keiner einzigen der auftauchenden Sinneserfahrungen Anhaften oder Ab-neigung einstellt. Wenn man völlig frei von Anhaften und Abneigung bezüglich Sinneserfahrungen wird, stellt sich Samadhi ein, obwohl man in einem panoramischen Gewahrsein ist. Das wäre die Vor-gehensweise der Mahamudra-Tradition für diejenigen, die das können – das ist nämlich eine große He-rausforderung. Ihr habt vielleicht die Geräusche draußen gemerkt, während wir in der Meditation die Phase mit dem Wachtposten übten. Ich selber war überrascht, wie sehr mir in den einen Punkt vertieft zu sein half, gar nicht in ein Beschäftigen mit diesen Geräuschen zu gehen. Erst lange später wurde mir bewusst, dass ja Kinder spielen und irgendwas sagen. Aber die Aufmerksamkeit war so stark, dass ich nicht ein-mal hörte was sie da rufen oder sagen. Ich konnte dadurch sehr deutlich wahrnehmen, wie stark diese Vertiefung in den einen Bereich hilft, die Beschäftigung mit anderem loszulassen. Alles Benennen-Wollen, alles Wissen-Wollen ist Ausdruck von Anhaftung. Und wenn wir uns sehr früh auf dieses pa-noramische Meditieren einlassen, kommen wir nie zu einer echten Versenkung. Wir kommen nie zu einer echten Vertiefung unserer Praxis, weil wir uns aus Gewohnheit mit allem befassen was auf-taucht. Auch wenn wir uns nur ganz kurz damit befassen, aber wir sind immer an der Oberfläche, wir bleiben an der Oberfläche. Deswegen ist es vielleicht gut, wenn wir gelegentlich – z.B. hier während

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des Kurses – einmal Vertiefung erfahren und in einem Bereich durch Wegfallen aller anderen Berei-che die Erfahrung von meditativer Versenkung machen.

Konzentration – Versenkung

Ich verstehe Shamar Rinpoche auch so, dass er mit seinen wiederholten Hinweisen, dass wir 500.000 Atemzüge und mehr zählen sollten, möchte, dass mehr Vertiefung entsteht. Meine Beobachtung aus den Jahren des Unterrichtens ist auch, dass es zu wenige in unserem Mandala gibt, die tatsächlich me-ditative Vertiefung erfahren. Das kann auch damit zusammenhängen, dass wir zu früh die Herange-hensweise des Mahamudra lehren, bevor es zu einer echten Konzentration gekommen ist. Konzentra-tion ist nur eine Form von Meditation, aber wenn sich Konzentration einstellt, beweist das, dass man die Beschäftigung mit allem drum herum hat aufgeben können – sonst entsteht keine Konzentration. Und in diese Konzentration kann man Entspannung hineinbringen. Frage: Wie tief kann diese Konzentration gehen? Wenn ich mich auf den Atem konzentriere, ist es dann möglich, dass z.B. das Haus brennt und ich es gar nicht bemerke? Es wird eher selten der Fall sein, dass die Vertiefung so weit geht, aber es ist möglich. Ganz oft geht sie aber so weit, dass man Geräusche gar nicht mehr wahrnimmt, dass sich die Aufmerksamkeit ganz von der Klangwahrnehmung zurückzieht. Das ist häufig der Fall. Und die Vertiefung kann auch sehr, sehr weit gehen, bis in die vierte Versenkungsstufe, wo der Atem sogar aufhört, wo man nicht mehr zu atmen braucht, weil die subtile Atmung das übernimmt. Auch das kann passieren. Der Geist ist so ruhig, dass keine Notwendigkeit für die äußere Atmung mehr besteht. Es gibt ganz, ganz tiefe Versen-kungszustände, die allerdings nicht durch Anstrengung erreicht werden. Diese Konzentration – darü-ber werde ich dann noch sprechen – ist eine völlig entspannte Konzentration, wo immer mehr losge-lassen wird, wo immer mehr Entspannung von Anhaftung und Abneigung eintritt.

Einspitzigkeit – Ein-Gipfel

In Pali gibt es das Wort ekagata – eka bedeutet eins und gata bedeutet Gipfel, Spitze – damit ist die Einspitzigkeit gemeint, die in der Shamata-Praxis entwickelt wird. Was entwickelt man da eigentlich? In der tibetischen Tradition ist die Definition von Shine tse-tschig. Tse heißt Gipfel und tschig heißt eins. Das ist genau dasselbe Wort, und beides geht auf Buddha selbst zurück. Wir entwickeln die Eins-gerichtetheit des Geistes. – Ihr habt diesen Begriff bestimmt schon in Übersetzungen gelesen. Die exakte Übersetzung des Wortes ist Einspitzigkeit und das ist die zentrale Qualität, die es in der Sha-mata- Praxis zu entwickeln gilt, die Einsgerichtetheit. Das ist es genau, an dem wir jetzt arbeiten. Ajahn Buddhadasa erklärt auch genau, warum es heißt einspitzig zu praktizieren, wobei das wie die Spitze eines Berges ist, wir sprechen von einem Berggipfel. Es bedeutet nicht, sich auf einen Punkt zu konzentrieren – ein Punkt könnte überall sein, er könnte z.B. unter uns sein. Es gibt in Pali und in Ti-betisch andere Wörter, die ‚Punkt’ bedeuten, aber die Wörter, die hier verwendet werden, bedeuten Gipfel, Spitze. Der Grund dafür ist, dass diese Einspitzigkeit des Geistes – auf einen Gipfel ausge-richtet – sich entwickelt. D.h. zu Anfang sind wir ausgerichtet auf diesen einen Bereich der Acht-samkeit, z.B. auf Empfindungen an der Spitze unserer Nase. Aber wenn diese Achtsamkeit entwickelt wurde, dann bleiben wir nicht dort sondern gehen höher. Unser Achtsamkeitsobjekt wird höher ange-setzt, wir üben z.B. Achtsamkeit auf die Vergänglichkeit, den Wandel aller Dinge. Wir gehen immer höher und der höchste Gipfel ist dann das, was wir Befreiung, Nirwana nennen. Bis wir dort ankommen, erklimmen wir mit unserer Einsgerichtetheit einen Gipfel nach dem anderen. Wir sind z.B. in der Kontemplation von Vergänglichkeit, wo unsere gesamte Achtsamkeit auf die Vergäng-lichkeit gerichtet ist, und entdecken: ‚Ah! Abwesenheit des Selbst!’ Die gesamte Achtsamkeit geht dann auf den nächsten Gipfel – Abwesenheit eines Selbst. Von da geht sie zur Leerheit und so sucht sich unsere Praxis der Achtsamkeit, die ja der Weisheit dient, den nächsten nützlichen Gipfel. Das Ob-jekt unserer Achtsamkeit ist also immer das, was uns für das Streben auf die letztendliche Befreiung hin am meisten wohl tut. Es heißt Gipfel und nicht Punkt, weil wir tatsächlich nach dem Höheren streben, bis zur vollkommenen Befreiung, bis zum Erwachen. Diese Entwicklung mit dem ‚Gipfel-Bewusstsein’, nach einer Spitze ausgerichtet sein, geht weiter über die verschiedenen Stufen der Einsgerichtetheit, wo sich die Meditationsobjekte entwickeln. – Es

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wurde uns immer beschrieben, dass die Praktizierenden von den gröberen zu den feineren Medita-tionsobjekten fortschreiten, von den äußeren zu den inneren, bis die Zusammenhänge, die Gesetz-mäßigkeiten selbst, die Dharmas im Zentrum der Praxis stehen und der Geist vollkommen auf das Un-tersuchen dieser Gesetzmäßigkeiten ausgerichtet ist. Und dann treten wir in immer größere Einfachheit ein bis es keinen Bezugspunkt mehr braucht. Es ist, als würde der Gipfel plötzlich in den offenen Raum hinein weisen, und wir können ohne Bezugspunkte verweilen. Das ist dann tatsächlich die Ma-hamudra-Meditation, deren erste Stufe – es gibt vier Stufen – tsetschig heißt, Ein-Gipfel. Danach kommt Einfachheit, dann Ein-Geschmack und dann Nicht-Meditation. Dieser Eine Gipfel führt also in die Einfachheit, führt in die Mahamudra-Erfahrung. Das war nur eine kurze Erklärung darüber, was wir eigentlich machen, wenn wir diese Einsgerichtet-heit praktizieren.

* * * Wir hatten doch angefangen, die fünf Punkte zur Beruhigung der körperlichen Gestaltungen zu be-schreiben. Der erste Punkt war, dem Atem folgen bzw. ihn verfolgen. 2. Den Wachtposten aufstellen (In der Meditationsanleitung erklärt – Seite 20) Die 3., 4. und 5. Methode sind für jene Praktizierenden, die bereits eine tiefe Stabilität mit den ersten beiden Methoden erfahren und in einen Bereich hinein kommen, wo es schwierig wird die Achtsam-keit an dem Punkt zu halten, wo der Atem ein- und ausstreicht, weil der Atem so subtil wird. 3. Visuelles Objekt Man nutzt dann eine zusätzliche Methode und lässt ein Bild auftauchen, ein Bild, das man selbst wäh-len kann. Wir lassen an der Stelle, die wir uns ausgesucht haben – ich bleibe der Einfachheit halber bei der Na-senspitze – ein Bild entstehen, ein visuelles Objekt, das uns hilft die Achtsamkeit zu vertiefen. Ajahn Buddhadasa gibt einige Beispiele: eine Lichtsphäre von irgendeiner Farbe; Baumwollflocken; eine Spinnwebe, die sich mit dem Atem bewegt; ein feiner Rauch- oder Lichtfaden, der sich mit dem Atem bewegt; Sonne, Mond usw. Ich habe mir bei der letzten Übung so einen feinen Spinnfaden vorgestellt, der sich mit dem Atem be-wegt, und habe bemerkt, dass diese zusätzliche visuelle Vorstellung das taktile Empfinden unglaublich gefördert hat, dass das Zusammenkommen dieser beiden – das Ausführen dieser feinen Begleit-Visua-lisation mit dem tatsächlich Gefühlten – das Gefühlte unterstrich, es hat es einfacher gemacht. Auch im Vajrayana werden Visualisationen immer benutzt, um Erfahrungen zu verstärken, zu unter-streichen, das ist ihr gemeinsames Kriterium. Das hier kommt aus dem Theravada. 4. Mit der Visualisation spielen Die Visualisation nach Belieben verändern. Da war ich auch total überrascht. Das kennen wir aus dem Vajrayana, aber ich wusste nicht, dass es das im Theravada gibt – das Spielen mit den Visualisationen, das Entstehen- und Vergehen-Lassen von inneren Bildern. 5. Wahl der am besten geeigneten Visualisation Man sucht diejenige Visualisation aus, die einem am meisten dabei hilft, Aus- und Einatem zu spüren und die Versenkung zu vertiefen. Die 3. Etappe war das spontane Entstehen-Lassen irgendeines Bildes, die 4. weitet das aus und lässt andere Bilder kommen und die fünfte wählt das Bild aus, das uns am meisten geholfen hat. Ajahn Buddhadasa sagt aus seiner Erfahrung, dass einige Leute bei dieser Übung gerne einen Buddha visualisieren. Er meint dazu, dass es eher Faszination ist, wenn man da einen Buddha sieht, seine Ro-be, wie er ein- und ausatmet. Damit geht dann eher Ablenkung, Faszination einher. Er bevorzugt eher die ganz einfachen Objekte wie z.B. eine weiße Lichtsphäre, einfach nur das, um einen zusätzlichen

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Bereich unserer Aufmerksamkeit zu aktivieren und an diese Stelle zu bringen. Wir bringen einfach eine zweite Bewusstseinsform in diese Arbeit mit der einen Aufgabe. Ich werde mit euch keine geleiteten Meditationen zu diesen drei Stufen machen, da ich sie nicht per-sönlich übertragen bekommen habe. Ich habe diese Technik mit dem Visualisieren im Vajrayana ge-lernt und nicht im Zusammenhang mit dieser Form von Atemmeditation. Was ich kenne, ist diese Meditation auf die weiße Lichtsphäre, die Buddhadasa ganz am Schluss er-wähnt. Das könnt ihr vielleicht ausprobieren, das kenne ich aus eigener Übertragung. Es ist wie ein Lichtkreis, wie eine Vollmondscheibe, eine kleine, bebündelte Lichtenergie an einem Ort. Die würde man sich laut Buddhadasa dort vorstellen, wo man Schwierigkeiten hat den Atem noch zu verfolgen, weil er zu fein wird. Dann kommt diese Methode zur Anwendung. Aber erst muss man an den Punkt kommen, wo der Atem zu fein wird, um ihn noch wahrnehmen zu können. Frage: Shamar Rinpoche hat bei einer Unterweisung zum Zählen in der Shine-Praxis die Methode mit einem Lichtfaden gelehrt. Das ist eine andere Methode, die ich später erklären werde. Frage: Was ist mit den Zeichen, die wir visualisieren im Vergleich zu den Zeichen, die als Ausdruck des Samadhi selber auftauchen? Das sind verschiedene Zeichen. Sie ähneln sich – wie so oft die Visualisation der eigentlichen Erfah-rung ähnelt – aber die Visualisationen können wir bei Bedarf ändern und wegfallen lassen, während die Zeichen, die von innen her auftauchen, nicht nach Belieben änderbar sind. Sie hören erst auf, wenn der Samadhi selbst aufhört in dieser Meditations-Sitzung. Sie sind aber auch bedingt durch das Zu-sammenkommen energetischer Phänomene in unserem Körper und tauchen später dann auch nicht mehr auf. Das sind nicht Zeichen, die ständig auftauchen. Wir üben diese vier Praktiken, die in Paragraph 18 beschrieben sind, bis sie völlig anstrengungslos präsent sind – es braucht kein Wollen mehr, es braucht keine Anstrengung, wir sind unabgelenkt, völlig verankert, versunken im Atem. Und dann kommt es zu den nächsten Stufen, wo Herzensfreude entsteht. Glücksgefühle tauchen dann automatisch auf und dazu gibt es dann zusätzliche Instruktionen. Darum werden wir uns dann morgen kümmern. Ihr habt also heute noch den ganzen Tag über Zeit die Praxis so zu vertiefen, dass sie völlig natürlich wird und zu Freude und Glücksgefühlen führt. Dann können wir morgen mit den weiteren Instruktio-nen weiter machen. Ich bin überzeugt, dass wir alle diese Freude erfahren können, die aus der Achtsamkeit entsteht. Daran habe ich überhaupt keine Zweifel. Allerdings bin ich mir nicht so sicher, ob die Motivation ausreicht, ob sie stark genug ist, um tatsächlich den Tag über die Achtsamkeit aufrecht zu erhalten, immer wie-der nach etwas entspannteren Phasen in Phasen etwas größerer Konzentration einzutauchen, sodass man wirklich daran arbeitet die Meditation zu vertiefen und am Ball bleibt. Wenn die Motivation vor-handen ist, dann tauchen die Ergebnisse auf, und sie tauchen bei allen auf. Was hier beschrieben ist, ist die Natur unseres Geistes, die ist einfach so, das sind Gesetzmäßigkeiten im Geist. Der entscheidende Faktor ist, ob wir in der Lage sind lange genug am Ball zu bleiben, also die Motivation zu haben, da-ran zu arbeiten bis die Ergebnisse auftauchen, dass wir es für wichtig genug halten oder ob uns andere Dinge wichtiger sind. Dann werden wir eben die Ergebnisse unserer Aktivitäten in anderen Bereichen haben.

* * * Wir machen heute mit der zweiten Vierergruppe weiter, wo es um die Achtsamkeit auf Empfindungen geht – man kann es auch Gefühle nennen, aber es sind hier die grundlegenden Empfindungen gemeint. Wir hatten uns in der ersten Vierergruppe mit der Achtsamkeit auf den Körper befasst. Jetzt kommen wir zum zweiten Aspekt, zum Kultivieren von Achtsamkeit auf die Empfindungen.

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2. Achtsamkeit auf Empfindungen 19. Wir üben so: ‚Einatmend erlebe ich Freude. Ausatmend erlebe ich Freude.’ Diese Freude, von der hier gesprochen wird, ist nicht eine Freude, die wir hineinbringen, sondern wir entdecken sie. Es ist also nicht etwas, das zusätzlich erzeugt werden würde, sondern wir entdecken die Freude aufgrund der tiefen Sammlung, die wir in der Meditation durch die vier vorherigen Stufen er-fahren. Es reicht, wenn wir soweit gesammelt sind, dass Freude und Glückseligkeit auftauchen. Besser noch wäre es, wenn wir so stark gesammelt wären, dass gar keine anderen Gedanken mehr auftauchen, dann würden Freude und Glücksempfinden sehr prägnant, sehr stark sein. Aber auch wenn der Geist einigermaßen gesammelt ist, kann man schon das Aufkeimen dieser Empfindungen wahrnehmen. Dieser erste Satz beschreibt eigentlich den Übergang in das, was wir erste Versenkungsstufe nennen, die erste Sammlungsstufe – dhyana. Auf dieser ersten Sammlungsstufe spricht man noch von einer gewissen konzeptuellen oder analytischen Aktivität, die sich aber nur auf das Erfahren der Versenkung selbst bezieht, das heißt es kommt noch zu kleinen initialen Bemerkungen, wie: „Ah, welche Ruhe!“, oder man denkt: „Oh, wie sich das alles wohl anfühlt!“. Innerlich kommen so kleine Bemerkungen, mit denen der beobachtende Gedanke sich selbst noch einmal beschreibt, dass man in diese Meditation eintaucht. Aber es tauchen keine Gedanken über andere Dinge mehr auf, man ist ganz mit dem gegenwärtigen Erleben verbunden. Was uns angeht, können wir mit diesen vier Schritten weiter machen, wenn wir den Geist so weit ha-ben beruhigen können, dass wir richtig gut da sitzen, ganz im Erleben des Augenblickes sind und nur noch hier und da einmal Gedanken haben. Aber die Gedanken sind so kurz, wir bringen den Geist gleich zurück und erleben, wie sich die Ruhe in uns ausbreitet. Und dieses Gefühl von Ruhe führt zu einem Wohlbefinden. Dieses Wohlbefinden wird im Körper gespürt und im Geist, auf beiden Ebenen erleben wir tiefes Wohlbefinden. Wenn es da heißt ‚Ich erlebe Freude’, – Freude (piti in Skr. und Pali) ist eines der Glieder des Er-wachens – so bedeutet erleben diese Freude genau kennen zu lernen, in all ihren Aspekten. Und abge-sehen davon, dass wir entdecken, wie sie sich im Köper anfühlt, wie der Geist sich dabei öffnet, mer-ken wir auch, dass sie etwas Anregendes hat, etwas Stimulierendes. Das kommt von einer gewissen Faszination, die damit einhergeht dieses Wohlbefinden im Körper und im Geist zu entdecken und die-se Faszination ist Ausdruck eines Anhaftens. Wir freuen uns über die Freude. Wir haften an etwas an, was ein ganz natürliches Phänomen ist – die Energien fließen jetzt harmonisch. Wir greifen danach und das führt zu einer gewissen Aufregung im Geist. Obwohl uns dann piti, dieser Faktor Freude, ermöglicht, die weiteren Schritte zu gehen, ist es doch erst einmal auch verbunden mit einem gewissen Hindernis. Das Hindernis ist diese Faszination mit dem Wohlbefinden. Das Wohlbefinden entsteht aus der Ruhe. Es ist auch nicht so, dass die Ruhe auf-hören würde. In dieser Ruhe breitet sich dieses Wohlergehen aus und dann „Oooh...!“ entsteht so ein inneres Gefühl davon, wie gut es einem geht. Das ist die Aufregung, und die muss sich auflösen, damit wir zum nächsten Schritt kommen. ‚Einatmend erlebe ich Glückseligkeit. Ausatmend erlebe ich Glückseligkeit.’ Glück oder Glückseligkeit – ich hab noch Glückseligkeit im Text stehen lassen, um den Unterschied klar zu machen. Es ist nicht so, dass wir Glück haben, sondern wir sind glücklich. Das ist ein ganz ru-higes Glück (sukkha auf Pali und Skr.), das Gegenteil von dukkha, Leid. Es ist ein ganz ruhiges Glücksempfinden, wo diese Faszination losgelassen wurde und wir dadurch in die zweite Versen-kungsstufe eintreten können. Wir haben es hier mit einem Schleier zu tun. Aufgrund unserer Begeisterung über diese wohltuende Erfahrung kommt es zu einem Greifen und dieses Greifen ist Ausdruck von einem Haben-Wollen, einem Besitzen-Wollen. Das ist der emotionale Schleier, der zu dem Hindernis auf dieser Stufe führt, zu der Aufregung im Geist darüber, dass jetzt aufgrund der Ruhe in Geist und Körper – die nicht mehr von all den vielen Gedanken, die vorher da waren, aufgewühlt sind – alles so harmonisch geworden

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ist. Unsere Aufgabe ist es, dieses Aufgeregt-Sein, dieses Haben-Wollen, diese Begeisterung loszulas-sen. Es gibt Kommentare, die beschreiben, dass man auf der ersten Stufe diese Kommentare wie „Wie toll das ist!“, „Wie schön ruhig das ist!“ und „Wie gut es mir geht!“ loslässt, und dass sich dadurch dieses Sich-Beschäftigen mit dem Wohlergehen löst und wir aus der geistigen Aufregung, die sehr subtil ist, heraus kommen. Wir finden raus aus dem Überschwang in ein einfaches So-Sein im körperlichen Wohlergehen. Das ist sukkha, die Empfindungen sind ausgeglichen, harmonisch – damit sind die kör-perlichen Empfindungen gemeint, das Zirkulieren unserer subtilen Energien. Mit sukkha werden wir dann dasselbe machen wie mit piti und auch dort geht es wieder eine Stufe weiter. Wir bemerken, wo wir mit diesem einfachen physischen Wohlergehen noch anhaften, wo wir uns subtil damit identifizieren, um dann den nächsten Schritt machen zu können, um in das Erfahren der geistigen Gestaltungen einzutreten. Ich wiederhole also nochmals: Die erste Stufe ist das Loslassen der Bemerkungen, all dieser Kommen-tare über das, was wir erfahren, um dann herauszufinden aus der Identifikation mit diesen freudigen Gefühlen, mit dieser Begeisterung, um zu einem ganz einfachen Erleben dessen zu kommen was ist. – Durch das Beruhigen des Geistes kommt sehr viel gutes Karma zur Reife, wir haben sehr harmonische Empfindungen im Körper. Und dann geht es darum, dieses sukkha auch noch los zu lassen, denn wir möchten nicht kleben bleiben in diesem Wohlbefinden, sondern wir möchten den Geist völlig frei machen von den Verhaftungen an geistige und körperliche Freude, um uns dem Untersuchen der Natur der Dinge zuwenden zu können. Wir brauchen einen flexiblen, arbeitsfähigen Geist, der mit seiner großen Ruhe und Schärfe in der Lage ist zu schauen was tatsächlich los ist. Das ist der Weg der Be-freiung, denn unser Wunsch ist frei zu werden von allen Anhaftungen. Unsere Aufgabe auf dieser zweiten Stufe ist, Glückseligkeit oder Glücksempfinden kennen zu lernen, die Tatsache, dass es sich um einen noch entspannteren Geisteszustand handelt als bei der Freude von vorher, aber auch auf der anderen Seite noch vorhandene Anhaftungen aufzuspüren und loszulassen. Das ist die Arbeit auf dieser Stufe, damit wir weiter gehen und uns dann dem nächsten Abschnitt zu-wenden können: ‚Einatmend erlebe ich die geistigen Gestaltungen. Ausatmend erlebe ich die geistigen Gestaltun-gen.’ Bei dieser Praxis ist wichtig, nie das Ein- und Ausatmen zu verlassen, sondern unsere Aufmerksamkeit immer damit verbunden zu halten, weil das unser Anker ist. Das ist der Anker in der Einfachheit. At-men ist das Einfachste überhaupt. Es ist weder gut noch schlecht, es ist einfach so wie es ist und es hat den Vorteil, in der Verbindung von Körper und Geist stattzufinden. Das Atmen verbindet uns mit dem Körper und lässt uns den Geist beobachten. Es ist genau an dieser Verbindungsstelle und ideal dafür, in der Meditation nicht abzuheben, wirklich verbunden zu bleiben mit dem was ist. Auf dieser Stufe schauen wir uns zunächst an, wie Freude und Glück den Geist konditionieren, was für einen Einfluss sie auf den Geist haben und wenn hie und da ein Gedanke auftaucht, schauen wir, wie dieser Gedanke wiederum sich auf die Freude und auf das Glück auswirkt, also auf geistiges Wohl-befinden und auf körperliches Wohlbefinden. Was läuft da eigentlich ab? Wir bemerken sehr wohl den Unterschied zwischen einem groben Gedanken und einem feinen Gedanken. Wir erkennen, dass jeder Gedanke mit einem Anhaften einhergeht und wir sehen, dass dieses Anhaften immer wieder dazu führt, dass der Geist zurück kommt in gröbere Geistesebenen – des Anhaftens, der Aufregnung – spe-ziell wenn es ein emotionaler Gedanke ist. Wir bemerken, dass manche Gedanken zwar subtilere Ebe-nen der Ruhe ermöglichen aber immer noch aufwühlend wirken, und durch dieses Betrachten löst sich unsere Faszination an Gedanken. Wir sind dabei, damit zu arbeiten, jeden Gedanken in seinen Ursachen und Auswirkungen zu betrach-ten, und dadurch löst sich die Faszination für die Gedanken. Dabei merken wir, dass der Zustand von piti, von Freude, ein Hindernis ist, um solche Betrachtungen ausführen zu können. Jemand, der in Freude gefangen ist, hat keinen flexiblen Geist, er ist in der Begeisterung, er will nicht hinschauen. Das subtile Hinschauen ist nur möglich, wenn der Geist ruhig ist und aus diesem Haften an Wohl-

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gefühl weitgehend befreit ist. Nur dann ist der Geist klar genug, um wirklich hinschauen zu wollen, hinschauen zu können. Wenn piti ganz stark ist, dann ist das wie eine Ekstase, das sind ekstatische Er-lebnisse. In der Ekstase ist der Geist nicht klar, er ist zwar einsgerichtet – deswegen heißt es auch Eks-tase – er ist völlig eins, aber er ist nicht flexibel. Wir müssen herausfinden aus diesem ekstatischen Erleben und hinein kommen in eine tiefe, beobachtende Ruhe, die uns dann in die vierte Stufe hinein-bringt, in das Beruhigen der geistigen Gestaltungen. Da treten wir in den Gleichmut ein, es stellt sich echter Gleichmut ein und dieser Gleichmut ist die Praxis der vierten Stufe. ‚Einatmend beruhige ich die geistigen Gestaltungen. Ausatmend beruhige ich die geistigen Ge-staltungen.’ Geistige Gestaltungen sind die Erfahrungen, die wir in dem Moment machen. Es können Gedanken sein, es kann auch noch subtiler als die offenkundigen Gedanken sein, also ein nicht-begriffliches Wahrnehmen. Diese bedingten Erfahrungen, die wahrnehmbar sind, nennt man geistige Gestaltungen und sie bedingen wiederum die nächste Erfahrung. Wir beruhigen diese geistigen Gestaltungen, indem wir diesen Gleichmut verspüren, der an keiner Erfahrung mehr anhaftet, der keine Erfahrung mehr ab-lehnt. Frei von Anhaften und Ablehnung treten wir in völligen Gleichmut ein. Ich habe euch diese vier Stufen jetzt so erklärt, dass ihr damit etwas anfangen könnt, auch wenn noch Gedanken auftreten. Wenn diese vier Stufen voll ausgeprägt sind, dann durchlaufen wir damit den ers-ten, zweiten, dritten und vierten dhyana, die Versenkungsstufen. Dort findet die Arbeit ab dem zwei-ten dhyana nicht mehr mit Gedanken statt sondern mit nicht-begrifflicher Wahrnehmung dieses Wohl-empfindens. Auch das Loslassen geht auf den nicht-begrifflichen Stufen, ohne dass es zu konkret aus-formulierten Gedanken kommt. Aber man kann diese vier Stufen so und so praktizieren. Sie werden uns helfen, jede Form von Medi-tation, die wir ausführen, zu vertiefen. Egal in welcher Form der Meditation wir sind, wenn wir diese Haltungen einnehmen können – nicht an geistigem Wohlempfinden zu haften; nicht an körperlichem Wohlempfinden zu haften; genau zu schauen was das Anhaften für Auswirkungen hat und es loszu-lassen; in Gleichmut einzutreten – wird das unsere Praxis vertiefen. Das ist die Aufgabe bei allen Dharmapraktiken. Dieser ganze 19. Abschnitt zielt darauf hin, die Empfindungen (Skr.: vedana) zu beruhigen, uns in ei-nen tiefen, ausgeglichenen Zustand der Versenkung zu bringen, in dem der Geist völlig flexibel ist, be-reit für die nächste Etappe, die Arbeit mit dem Geist (Skr.: citta). Wir haben aber die ganze Zeit schon mit dem Geist gearbeitet. Die Arbeit, die wir hier ausführen, ist ständig im Geist, bloß werden wir uns in den späteren Etappen noch direkter dem Geist und dann den Phänomenen zuwenden, den Gesetz-mäßigkeiten, während wir hier noch mit all dem arbeiten, was im Bereich der Empfindungen des Ein-atmens und Ausatmens ist. Das Resultat der Arbeit hier besteht darin, dass auch die wunderbarsten Empfindungen, die durch dieses völlig entspannte Ein- und Ausatmen auftauchen, keinerlei Anhaftung mehr auslösen und dass unangenehme Empfindungen – was auch immer es sein mag – keinerlei Ablehnung mehr auslösen. Diesen grundlegenden Zustand nennt man einen flexiblen Geist. Da sind wir in einer Geisteshaltung, die uns ermöglicht alles zu untersuchen. Dieser Faktor Gleichmut ist genau das, was es braucht, um frei zu sein. Wir erleben hier eine vorüber-gehende Freiheit, eine vorübergehende Freiheit von Ablehnung und Anhaftung, die noch keine Befrei-ung ist. Aber vorübergehend sind wir raus aus dem Spiel von Anhaftung und Ablehnung, die norma-lerweise dazu führen, dass der Geist ständig springt, hin- und hergezogen von was man mag und was man nicht mag. Die Anhaftungen und Ablehnungen ziehen uns in ihre Richtungen, sie ziehen und stoßen uns. Nur dieser tiefe Gleichmut kann bewirken, dass wir stabil werden und zugleich offen, frei von Greifen und deswegen eigentlich unangreifbar. Diese unangreifbare Neutralität brauchen wir, um hinzuschauen was im Geist geschieht, was die Realität der Dinge ist, um die Gesetzmäßigkeiten zu un-tersuchen – im Grunde genommen die vier edlen Wahrheiten dann zu untersuchen. Der große Vorteil dieser Praxis: Wenn wir in Berührung kommen mit diesem tiefen Gleichmut, dann wird er Auswirkungen auf unseren Alltag haben. Wir werden im Alltag dieses Nachlassen des Grei-

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fens verspüren. Dinge gehen schief, Dinge gehen gut, aber wir greifen nicht danach, wir gehen weiter auf unserem Weg. Dieser Gleichmut ist das, was den Dharmapraktizierenden stabilisiert und ihn all die emotionalen Herausforderungen seines Lebens durchqueren lässt, ohne seinen Weg zu verlieren. Die verschiedenen Ablenkungen, die Herausforderungen, die schwierigen Situationen – auch wenn es dann manchmal richtig emotionale Stürme hat um uns herum – machen uns immer weniger aus, weil wir mehr und mehr in diesem Nichthaften verankert sind. Ob das Essen nicht gut schmeckt oder wir im Zug keinen Platz mehr bekommen oder jemand einen wichtigen Termin mit uns verpasst, was auch immer schief geht oder gut geht, wir wissen, dass das Greifen danach, das Anhaften an all dem nur Aufgewühltsein bringt. Und wir lassen los, wir nehmen die Dinge so wie sie sind. So sind wir immer mehr in dieser ausgeglichenen inneren Ruhe, die einen freudigen Geschmack hat, ohne dass wir nach der Freude greifen. Es beginnt allmählich eine Freude einzuziehen in unser Leben, in der es nieman-den mehr hat, der nach ihr greift. Das ist der große Vorteil dieser Art der Praxis. Frage: Auch wenn diese Freude noch mit Anhaftung verbunden ist, so habe ich doch das Gefühl, das ist an sich nicht so schlecht. Das gibt doch die Motivation zum Weitergehen, um zu diesem Gleichmut zu kommen. Aber das hast du ja jetzt gesagt: Das Beste ist, wenn man doch irgendwann einmal an-kommt und keine Anhaftung an diese Freude hat. Aber für mich ist sie wichtig. Wenn ich diese Freude entdecke – auch wenn sie mit Anhaftungen verbunden ist – dann sehe ich, dass sie mir die Kraft gibt, weiter zu machen. Sonst würde ich vielleicht gar nicht hierher kommen. Ja, diese Motivation ist wichtig. Diese Freude, piti, braucht es tatsächlich, um weiter zu gehen. Es ist auch wunderschön für uns zu entdecken, dass Freude hervorkommt, wenn wir uns entspannen. Wenn wir uns entspannen, kommt mehr und mehr Freude zum Vorschein. Und wenn wir noch mehr entspan-nen, wird diese Freude eine ausgeglichene Freude, eine Freude, die mit Gleichmütigkeit gepaart ist. Das ist ein noch feinerer Genuss könnte man sagen, und auch das motiviert uns, weiter zu gehen. Wir lernen die tieferen, ruhigeren Glücksgefühle mit der Zeit mehr schätzen als die aufgeregte oder begeis-terte Freude. Wir entdecken die Vorteile des Nicht-Haftens und das lässt den Weg sich entfalten. Habt ihr noch Fragen? – Keine Fragen Euer Geist ist schon in der Einfachheit…

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Wiederholung – Quiz Ich würde gerne wissen, ob ihr verstanden habt, was auf jeder dieser 8 Etappen, die wir bereits bespro-chen haben, zu praktizieren ist und nun ein kleines Quiz machen, bevor wir mit den Unterweisungen fortfahren. Was praktizieren wir auf der ersten Etappe? Lang einatmend und lang ausatmend wissen wir ich atme lang ein oder aus. Wir verbinden uns mit dem Atem und folgen ihm beim Ein- und Ausatmen. Zuerst beachten wir einfach oder wissen wir, dass wir ein- und ausatmen, dann verfolgen wir jeden Augenblick wie wir ein- und ausatmen, sodass wir wirklich mit dem Atem verbunden sind. Und dann verlangsamen wir und lassen Gefühle und alles was wahrgenommen wird mit dem Atem los. Die zweite Etappe ist dasselbe, kurz ein- und ausatmend machen wir unsere verschiedenen Erfahrun-gen. Wenn wir diese beiden Etappen zusammen nehmen, warum sind diese Etappen so wichtig? Wo-für dienen sie? Ich glaube, sie dienen dazu, Atmung, Körper und Geist zusammen zu bringen. Wenn der Geist aufgeregt ist, dann kann ein langsamer Atem beruhigend wirken und den kurzen Atem kann man verwenden, wenn wir etwas Energie, Vitalität in Körper und Geist brauchen.

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Einatmend oder ausatmend erlebe ich alle Körper. Was praktizieren wir auf dieser Etappe? Wir meditieren auf den physischen Körper, nehmen alle Empfindungen wahr, Herzschlag, Atmung usw. Und wir nehmen unseren Atemkörper wahr, das heißt wir nehmen unseren ganzen Körper at-mend wahr und gehen so noch über unseren physischen Körper hinaus. Wir merken im Beobachten der Körper, der Empfindungen auf diesen verschiedenen Ebenen, dass es da gar kein Ich gibt. Es entsteht bereits da ein Gefühl davon, dass das Ursachen und Wirkungen sind, Wechselbeziehungen. Wir merken, dass da nicht jemand ist, der das alles macht oder besitzt. Frage: Was ist mit Atemkörper genau gemeint? Sind damit Lunge, Bauch usw. gemeint, alles, wo sich die Atmung in uns abspielt, oder auch das Atemvolumen, die Luft, die einströmt? Der Atemkörper ist die gesamte Länge des Einatmens und die gesamte Länge des Ausatmens mit der Pause. Das wird Atemkörper genannt. Alles andere was du aufgezählt hast, ist der physische Körper. Es wird nur das, was direkt mit dem Atemfluss verbunden ist, Atemkörper genannt. Aber es ist schon gemeint wie ein Körper, wie ein Volumen, das ich aufnehme? Das ist ein Körper im Sinn von Gruppe. Es ist eine Gruppe von Phänomenen, die sich alle um das Atmen herum gruppieren. Diese Gruppe von unmittelbar damit zusammenhängenden Phänomenen wird Atemkörper genannt. Es hat nichts mit Volumen zu tun sondern es ist die Gruppe der Phänomene – so wie man von einem Lehrkörper spricht, einer Gruppe der Unterrichtenden. Hier ist es die Gruppe der Phänomene, die mit dem Atem zusammenhängen. Und dann gibt es noch andere physische Phäno-mene wie den Herzschlag und so, die nicht direkt damit zusammen hängen. Wo ist denn da die Grenze der beiden Körper? Da ist keine klare Grenze gezogen, es geht hier auch darum, die Grenzen aufzulösen, das ganze Wech-selspiel wahrzunehmen. Der Sinn dieser Übung ist, wahrzunehmen, dass da eigentlich keine klaren Grenzen sind. Wo man vorher nur auf den Atem konzentriert war, geht es hier darum, die Wahrneh-mung etwas auszudehnen. Für mich war schwierig, diese beiden – den Atemkörper und die körperlichen Gestaltungen – zu trennen. Ich habe die starke Verflechtung dieser beiden Dinge gefühlt: Wenn ich z.B. einatme, spüre ich wie die Brust sich hebt. Ist das der Atemkörper, oder… Darum brauchst du dich nicht zu kümmern, aber du bist dir z.B. deines Herzschlags nicht bewusst. Hier weitest du dein Gewahrsein weiter aus, um das Wechselspiel all der physischen Phänomene wahrzunehmen. Verbringe keine Zeit damit, in Atemkörper und physischen Körper aufzuteilen. Es ist niemals ein eigenes Objekt der Beobachtung, es ist immer in wechselseitigem Spiel. Ja, das wollte ich fragen, ob es darum geht, einfach zu sehen, wie alles verbunden und miteinander verwoben ist. Genau, das war auch die Erklärung dazu, als wir es besprochen haben. Es geht darum zu sehen, wie dieses ganze Spektakel von Ursachen und Wirkungen, dieses Spiel gegenseitiger Abhängigkeit ab-läuft. Es gibt nichts was aus sich heraus so ist, allein, unabhängig. Sehr ruhig nehmen wir den Atem wahr, aber wir sind uns bewusst, dass sich da viele Dinge im Körper abspielen, wir kommen zum Atem zurück mit einer anderen Form der Präsenz, die keine Erfahrung, nichts ausschließt. Wir sind ganz einfach, natürlich im Wahrnehmen dessen, was diese verschiedenen Ebenen körperlicher Erfahrung sind. Dann kommen wir zurück zum Atem und gehen in die vierte Etappe. Einatmend beruhige ich die körperlichen Gestaltungen. Ausatmend beruhige ich die körper-lichen Gestaltungen. Was ist unsere Praxis in dieser vierten Etappe?

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Die Wechselwirkung der Phänomene? Aber das hast du ja jetzt am Schluss gesagt, da bin ich nun etwas unsicher. Ich hätte die Etappe vorher als Ichlosigkeit benannt und das hier als Wechselwirkung. Ichlosigkeit der Phänomene und Wechselwirkung gehören zusammen. Du hattest gesagt: Wir sind gleichzeitig Gestaltungen und Gestalter, die beiden sind verknüpft und wirken wechselseitig. Ja, genau! Und wie beruhigen wir die jetzt? Was machen wir da? Darum geht es hier. Einfach betrachten, würde ich jetzt intuitiv sagen, diese körperlichen Eindrücke einfach vorbeiziehen lassen ohne anzuhaften. Guter erster Einstieg! Kennt ihr noch andere Möglichkeiten, wie man die körperlichen Gestaltungen beruhigen kann? Wir stellen den Wachtposten am Eingangstor auf, der uns erleichtert dieses Vorbeiziehen zu beobach-ten und das genau wahrzunehmen. Das ist eine Möglichkeit den Geist zu beruhigen, indem man ihn an einem Ort vorbeiziehen lässt und von dort aus beobachtet. Eine einfache Art ist, die Atemzüge zu zählen und dem Aus- und Einatem zu folgen in all den verschie-denen Etappen mit der Achtsamkeit eines Jägers oder einer Katze, die sich auf eine Maus konzentriert und sie keinen Augenblick aus den Augen lässt. Ich glaube, ihr habt alles gesagt: achtsam sein und durchziehen lassen, Wachtposten aufstellen, zählen sowie folgen und verfolgen. Das war ein sehr schönes Beispiel: Wie eine Katze, die eine Maus verfolgt und nie aus den Augen lässt. Sehr gut! Jetzt die fünfte Etappe: Stellen wir uns nun vor, der Geist ist ruhig geworden. Was praktizieren wir hier zu Beginn des Ab-schnitts 19, wo es heißt: Einatmend erlebe ich Freude. Ausatmend erlebe ich Freude. Hier erfährt man, wie sich Freude von selber einstellt, man sucht sie nicht, sie entsteht – oder auch nicht. Sie kann zu einem Hindernis werden, denn normalerweise haften wir daran an. Wir müssen da-ran arbeiten, diese Anhaftung loszulassen. Durch das Loslassen der Freude kommt man zum Gleichmut. Ja, erstmal kommt man in eine ruhigere Form des Glücks in Richtung Gleichmut – eigentlich ist jede Etappe mit größerem Gleichmut verbunden, von Anfang dieser Übung an bringt jede Etappe mehr Gleichmut. Diese Freude – piti – hat nicht nur den negativen Aspekt sondern auch den stimulierenden, motivie-renden Aspekt und wir sollten nicht vergessen, dass wir hier gleichzeitig an einer ganz feinen Arbeit sind, die wenigen auftretenden Gedanken auch noch los zu lassen, sodass wir immer mehr Zeiten er-fahren, wo wir ganz in der Erfahrung sind ohne Gedanken über etwas anderes zu haben.

Auswirkung von Wohlergehen auf die Umgebung?

Frage: Hat das Wohlergehen, das man hier verspürt, bereits eine positive Auswirkung auf die Umge-bung? Ja, auf jeden Fall, und auch auf den eigenen Körper. Das findet auch schon hier statt. In den Unterwei-sungen des Buddha und unserer Meister heißt es immer, dass die Praxis von Shine – wir sind hier in einer tiefen Praxis von Shine – den Körper heilt, den Organen gut tut und eine befriedende Wirkung auf unsere Umgebung hat.

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Kann man es nicht auch so sehen, dass man auf jeder Etappe einfach Ballast abwerfen und alle Ver-haftungen, die uns belasten, loslassen kann? Natürlich ist es so. Auf jeder dieser Etappen lassen wir los, auf der Etappe mit der Freude lassen wir die Freude darüber los usw. und gehen jeden Schritt weiter bis in völlige Freiheit hinein. Ich möchte nochmals klarstellen was mit dieser fünften Etappe hier gemeint ist: Um in diese Etappe eintreten zu können, müssen wir Bewertungen, Kommentare, Urteile über die meditativen Zustände loslassen, damit es zu einer tieferen Ruhe kommt, die diese Freude hervorbringt. In dieser fünften Stu-fe erfahren wir diese Freude, lernen sie kennen, lernen auch ihren Nachteil kennen – das Anhaften – und indem wir sie loslassen, treten wir in die sechste Stufe ein. Das ist die Reihenfolge hier. Wir sind jetzt in der sechsten Etappe: Einatmend erlebe ich Glückseligkeit. Ausatmend erlebe ich Glückseligkeit. Was ist unsere Praxis in der 6. Etappe? Zuerst versuchen wir den Geist in einem freudvollen Zustand zu etablieren und dann kommen wir zu einem einfacheren Zustand, der mehr ein physischer Zustand von Wohlbefinden ist, und da versuchen wir nicht daran zu haften. Es geht darum, diese Freude – sukkha – noch weiter loszulassen und immer mehr diese Identifikation wahrzunehmen und aus der heraus zu finden mit dem Ziel, einen einfachen Geisteszustand zu er-reichen, um den Geist flexibler zu machen, um so zu einem weiteren tiefen Untersuchen der Natur der Dinge zu gelangen. Ja, das ist der springende Punkt. Dann treten wir in die siebente Stufe ein. Was passiert hier und was ist unsere Aufgabe bei: Ein- und ausatmend erlebe ich die geistigen Gestaltungen? Wir betrachten, wie der Geist durch Freude und durch das körperliche Wohlbefinden konditioniert wird und vergessen aber nicht, trotzdem des Atems gewahr zu bleiben. Wir beginnen, allem gegenüber eine gleichmütige Haltung zu entwickeln, was dazu führt, alles zu vertiefen. Jeder Gedanke, ob angenehm oder unangenehm, bringt uns aus der Ruhe heraus. Und was passiert auf der achten Etappe? Was ist unsere Aufgabe? Einatmend und ausatmend be-ruhige ich die geistigen Gestaltungen. Wir werden uns bewusst, dass all das, was wir so denken, eigentlich nur Wind ist. Das sind Filme, die durchlaufen, und wenn man diese tiefe Ruhe kennt, dann merkt man, dass all dieses Aufgewühltsein durch Gedanken eigentlich nur Wind ist, den man gleich loslassen kann. Erst dann, wenn sich wirklicher Gleichmut einstellt, sind wir in der Lage, die Realität und die Gesetz-mäßigkeiten zu durchschauen. Damit hast du auch beantwortet, was unsere Aufgabe ist, nämlich den Geist so flexibel und bereit zu machen, dass wir uns dem Untersuchen der Wirklichkeit zuwenden können.

Tschenresig - Achtsamkeit

Im Text von Shantideva heißt es ja im Kapitel über Geistesruhe, dass man den Elefanten nicht herum wandern lassen soll, sondern stets an der Säule der Achtsamkeit anbinden soll. Mir geht es in dieser Praxis jetzt so: Wenn ich nur beim Atem bin und diese Praxis für lange Zeit mache, dann ist es schwie-rig, die gleiche Ausrichtung und die gleiche Klarheit zu halten von dem wo ich hin will, von dem was richtig ist. Wenn ich die Tschenresig Praxis mache, dann habe ich mehr das Gefühl, dass ich mich auf alles ausrichte was ich will. Und hier komme ich in eine tiefere Ruhe hinein, ich bin weniger zerstreut, aber ich bin eben nicht so nahe am Dharma dran.

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Das hängt zum Teil damit zusammen, dass diese Praxis noch nicht bis zum Ende beschrieben wurde. Zum anderen Teil kann ich dir auch so schon helfen: Wir sind gerade dabei, die drei Schulungen des Dharma – sila, samadhi, prajna – zu praktizieren. Auf der Grundlage rechten Verhaltens üben wir me-ditative Versenkung, um damit Weisheit zu entwickeln, Seinserkenntnis, um uns dadurch zu befreien. Wenn du also den Pfeiler des Dharma einrammen möchtest, dann denke immer daran, dass du dabei bist die drei Schulungen zu praktizieren – heilsames Verhalten, meditative Versenkung, Weisheit. Das sind die drei elementaren Praktiken, die der Buddha gelehrt hat. Wir sind gerade im Glied Samadhi, am Übergang zum Entwickeln von Weisheit. Da sind wir gerade angekommen, und deshalb fehlt dir hier auch etwas, da dieses Glied der Seinserkenntnis noch nicht genug herausgearbeitet wurde.

Umgang mit den Stufen in der persönlichen Praxis

Ich habe eine Frage aus zwei Teilen: Gehen diese verschiedenen acht Stufen fließend ineinander über? Kann man auch einmal eine überspringen? Daran anschließend: Das ist ja Geist-Beruhigung. Kommt die Erkenntnis, die Weisheit automatisch, oder braucht man vorher Input dazu? Vielen Dank für deine Fragen. Die zweite Frage wird sich ab morgen beantworten mit den Unterwei-sungen zum Eintreten in das Entwickeln von Weisheit. Die erste Frage ist sehr, sehr wichtig. Für mich und meine persönlichen Erfahrungen – ich finde das in einigen Kommentaren wieder – sind diese acht Stufen eine gleitende Einheit und man kann Stufen auslassen bzw. man kann sie manchmal verkürzen. Wenn man gut geübt ist, kann man diese Stufen auch sehr, sehr schnell durchlaufen. Sie sind eine Beschreibung dessen, wie ein Praktizierender zu ei-ner tiefen Geistesklarheit findet. Eigentlich sind sie eine Beschreibung davon, was auf dem Weg dort-hin alles loszulassen ist. Da braucht man zum Beispiel nicht jedes Mal auszuprobieren was der lange Atem macht, was der kurze Atem macht, sondern man kann das hier und da einmal genauer beob-achten, aber man braucht es nicht jedes Mal zu machen. Man braucht zum Beispiel auch nicht unbe-dingt das Beruhigen der körperlichen Gestaltungen zu trennen vom Beruhigen der geistigen Gestaltun-gen. Aber es ist wichtig, zunächst den Akzent auf die Ruhe zu legen und dann aus der Ruhe in das offenere Wohlgefühl hinein zu gehen, wo man dann das Anhaften loslässt um so zu einem klaren, sehr flexiblen Geist zu kommen, der unabgelenkt ist. Diese Reihenfolge ist wichtig, aber so genau an den einzelnen Etappen zu haften brauchen wir dann tatsächlich nicht. Je erfahrener ein Praktizierender ist, desto kürzer werden die Etappen und desto weniger nimmt er sie wahr, bis er so weit kommt, dass er sich hinsetzen kann und das völlige Loslassen da ist und alle acht Etappen gleichzeitig arbeiten. Dann ist er direkt im Gleichmut, frei von Gedanken, ohne Festhalten, ohne Identifikation. Mit diesem Geist kann man dann arbeiten, aber das ist für weit fortgeschrittene Praktizierende.

Stufenweg im Zen?

Ist das wie im Zazen? Im koreanischen oder japanischen Zen gibt es ja diesen Stufenweg nicht. Ja, die Zen-Leute sagen, sie hätten keinen Stufenweg, dabei folgen sie aber genau dem Beispiel mit dem Elefanten von vorhin. Das ist die Grundlage des Zen. Ja, die Sichtweise wird aber am Anfang so geübt, dass es nicht als Stufenweg betrachtet wird. Aber du hast Recht, mit den Ochsenbildern ist es dann das Gleiche. Genau, es wäre schön, wenn es so wäre. Aber dann würde man sich fragen, warum man im Zen so lan-ge sitzt, wenn es keinen Weg braucht. Ja, das war meine zweite Frage, die erst morgen beantwortet werden wird. Das ist mir auch durch den Kopf gegangen. Man braucht ja noch etwas in den Kopf hinein, damit diese Weisheit freigelegt wer-den kann. Man bekommt ja keinen Anhaltspunkt zum Üben. Ich hab ja auch mit Zen angefangen. Wenn man sich hinsetzt, dann ist der Geist unglaublich aufge-wühlt und der Körper schmerzt. Damit hat man zu tun. Da kann einem jemand über Zazen erzählen, aber sich den Gleichmut zu erarbeiten ist ein hartes Brot, und das nennt man in anderen Traditionen

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den stufenweisen Weg. Das ist so wie wenn wir sagen: „Sei doch im Mahamudra!“ und gleichzeitig haben wir den stufenweisen Weg. Irgendwann kommen wir in der Gelöstheit an, die man Mahamudra nennt. Vielleicht wird den Schülern im Zen nicht so viel erzählt, damit sie nicht noch mehr anhaften. Sie sollen immer wieder dorthin zurück, bis sie den springenden Punkt knacken. Ja, das ist eine Möglichkeit, den Weg zu unterrichten. Der augenblickliche Zazen praktiziert sich in dem Augenblick nach einer ganzen Reise der Vorbereitung, wo es dann passieren kann, dass sich die spontane Öffnung einstellt. Mir ist ganz wichtig, dass wir alle verstehen, dass jedes Erwachen in jeder Schule des Buddhismus seit der Zeit des Buddha immer ein augenblickliches Erwachen ist – natürlich, anstrengungslos, nicht be-dingt durch irgendetwas. Es gibt keine buddhistische Schule, deren Erwachen nicht augenblicklich wä-re. Egal welche Schule wir uns anschauen – Dzogchen, Mahamudra, Madhyamika – ob Stromeintritt oder Arhatschaft der Theravadins, überall ist es ein augenblickliches Erwachen, das mit mehr oder we-niger Vorbereitung stattfindet. Es führt nur zu Verwirrung, wenn einzelne Schulen behaupten, ihre Schule hätte das natürliche, spontane Erwachen gepachtet und andere hätten das nicht. Das so darzu-stellen ist nur eine pädagogische Vorgehensweise, aber es macht keinen Unterschied was das Erwa-chen selbst angeht. Alle Schulen haben eine Atmosphäre aufgebaut, in der die Schüler über Jahre hin-weg einen Weg gehen. Das haben alle Schulen gemacht, und das nennt man den stufenweisen Weg, weil sich da die Stufen des Loslassens vollziehen, die notwendig sind. Immer wenn wir davon spre-chen eine Erfahrung zu stabilisieren oder den Zugang zu einer Erfahrung wieder zu finden, dann braucht es Arbeit durch Meditation. Das ist damit gemeint. Um den Punkt abzuschließen: Was die tibetischen Schulen angeht, so heißt es oft, dass im Dzogchen das augenblickliche Erwachen wäre, aber in einem Dzogchen-Drei-Jahres-Retreat macht man zuerst drei Mal die vorbereitenden Übungen – drei Mal die vier- oder fünfmal 111.000 – nur so als kleine Vorbereitung, um dann trekchö und thögal, die beiden Hauptpraktiken des Dzogchen, zu praktizieren. Damit soll noch einmal gesagt werden, dass jede Praxis, auch wenn sie noch so gut als augenblicklich verkauft wird, ihren stufenweisen Weg hat. Es ist nur eine Frage des pädagogischen Vorgehens, wie man das darstellt. Wenn ihr sicher gehen wollt, den Weg richtig zu gehen, dann geht diese acht Etappen jedes Mal durch – mal kürzer, mal länger – bis ihr so Experte bzw. Expertin darin werdet, dass ihr wisst was ihr weg-lassen könnt und was ihr betonen müsst, bis es völlig natürlich wird. Habt also keine Hemmungen, über lange Zeit mit diesen acht Etappen zu üben, bis das Ganze innerlich so klar wird, bis die Erfah-rungen so klar sind, dass ihr genau wisst was euer Geist braucht, um sich zu öffnen und zu entspannen. Wie kann man denn mit einer Praxis wie Tschenresi diese Etappen praktizieren? Alles wo hier Atemmeditation steht, verbindet man mit der jeweiligen Praxis, die man gerade macht, z.B. mit der Mantra-Rezitation. Es sind genau dieselben Stufen wie hier. Bei der Mantra-Rezitation wird man sich bewusst was sich alles abspielt: wie sich schnellere bzw. kürzere Rezitation auf den Geist auswirkt; was die verschiedenen Ebenen des Erlebens sind, die sich da gegenseitig durchdringen und bedingen; wie man dieses Erleben beruhigen kann. Dann wird man Freude erfahren, die man los-lässt und ruhigeres, tieferes Glück erfahren, bis man auch die geistigen Formationen beruhigen kann und in tiefen Gleichmut eintritt, in dem es dann möglich ist z.B. in die Natur des Rezitierens hineinzu-schauen – „Wer rezitiert da eigentlich? Wer ist Tschenresi? Was ist die Natur des Mantras, des Klan-ges?“ – und entdeckt auf diese Art und Weise die Abwesenheit eines Selbst, eines Ichs, die illuso-rische Natur der Dinge usw.

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In unserer Diskussion des Anapanasati Sutra haben wir von den sechzehn Stufen bisher die acht ersten kennen gelernt. In diesen acht ersten Stufen haben wir im Absatz 18 die Achtsamkeit auf den Körper und im Absatz 19 die Achtsamkeit auf Empfindungen. Aber das ist nur eine grobe Einteilung, denn es ist uns ja be-wusst, dass wir den Körper nicht ohne unsere Empfindungen wahrnehmen können. Bei der Körper-betrachtung sind also immer auch schon Empfindungen mit dabei und mit der Betrachtung von Emp-findungen im Absatz 19 wird verdeutlicht, dass dort schon stärker mit dem Anhaften und Ablehnen gearbeitet wird, und zwar hier speziell auch mit dem Haften an den Zuständen von Freude und Glück, die jeweils losgelassen werden müssen, um weiter zu gehen im Beobachten dessen, was an geistigen Empfindungen auftaucht.

Ablenkung - Hindernisse Heute kam nach der Morgensitzung jemand zu mir und sagte: „Ich kann diesen acht Stufen nicht fol-gen, denn ich bin von Anfang an erst einmal damit beschäftigt, überhaupt beim Atem zu bleiben. Es hat so viele Gedanken. Was soll ich tun?“ Im Grunde genommen ist das ganz einfach, denn diese acht Stufen lassen sich zusammenfassen als das gleichmütige Zurückkehren zum Atem. Wir kehren immer wieder gleichmütig zurück, wobei wir ein Gesamterleben haben von Körper und Geist. Dieses Erleben ist aufgewühlt, es ist einfach ganz schön stimuliert durch die vielen Gedanken, durch all das, mit dem wir beschäftigt sind. Unsere einzige Auf-gabe besteht darin, zu unserem Anker zurückzukehren und dies möglichst gleichmütig zu tun, ohne in Bewertungen zu verfallen wie: „Oh, das war jetzt aber schlecht!“, „Ich bin so blöd und schaffe über-haupt nichts!“ Wir lassen diese Bewertungen weg und sagen einfach: „Ach ja, jetzt hab ich es gerade wieder gemerkt!“ und schon sind wir wieder beim Atem, auch wenn wir fünf Sekunden später schon wieder abgelenkt sind. Wir kommen immer wieder zurück und üben uns darin, beim Atem zu bleiben und diese Verankerung auf die möglichst entspannte Art zu vertiefen. Gleichmut ist ja der entschei-dende Faktor auf der achten Stufe, er wird aber schon auf allen vorangehenden Stufen geübt und ist das wesentliche Element für die Beruhigung der körperlichen und geistigen Vorgänge. Was wir Geistestraining nennen, ist genau dieser Prozess, so schnell wie möglich zurückzukommen – immer wenn wir es merken, sind wir ja schon nicht mehr abgelenkt. In dem Moment kommen wir zu-rück, bis wir wieder bemerken, dass wir abgelenkt waren, und dann kommen wir wieder zurück. Und das geht durch zunehmende Praxis immer leichter. Wir üben uns darin, das loszulassen was uns gerade beschäftigt und zu dem zurückzukommen was den Atem ausmacht. Der wichtigste Faktor, den es braucht, um Erfolg in diesem Geistestraining zu haben, ist ein Interesse am Meditationsobjekt – hier am Atem. Die besten Meditationsobjekte sind immer die neutralen, jene, die kein Anhaften und Abneigen auslösen, die so gewöhnlich sind wie unser Atem. Wir haben seit un-serer Geburt geatmet, und nur dann, wenn wir nicht mehr atmen können, interessiert uns der Atem, aber ansonsten läuft das Atmen völlig automatisch. Wir nehmen also ein an sich belangloses Meditationsobjekt und tun so, als wenn wir die Katze wären, die eine Maus verfolgt. Der Beobachter – wir sind die Katze, und unser Atem ist die Maus – lässt sich nicht die geringste Bewegung des Atems entgehen. Aber das braucht am Anfang eine gewisse An-strengung, sich zu überzeugen: „Doch, das ist jetzt genau das, was ich machen werde!“ Später ist das viel einfacher, weil wir bemerken, wie viel uns der Atem zu lehren hat, wie viel wir daran lernen kön-nen. Aber zu Anfang ist der Atem ein ziemlich langweiliges Meditationsobjekt und wir lernen mithilfe von etwas Langweiligem, auf das wir unser Interesse lenken, unsere Aufmerksamkeit abzuziehen von all dem anderen, scheinbar so Interessanten was uns immer wieder ablenkt. Wir entdecken dann mit der Zeit, dass in dem so langweiligen Atem unglaubliche Unterweisungen schlummern – über Ver-gänglichkeit, über Nicht-Ich, über Leerheit, über das abhängige Entstehen, die wechselseitige Abhän-gigkeit aller Phänomene, Geburt und Tod … Wir können den gesamten Dharma mit dem Atem verstehen. Aber das ist uns natürlich zuerst noch nicht klar, am Anfang ist das alles noch ziemlich langweilig. Und es ist extra langweilig, damit wir den Kontrast merken zwischen der Faszination für das, was die Gedanken ausmacht, ihre Inhalte und das ziemlich banale einfach So-Sein. Und damit arbeiten wir, denn wir brauchen die Fähigkeit, im Sosein zu verweilen. Wenn wir das nicht schaffen, sind wir Gefangene der Faszination und brauchen immer stärkere Faszination, um glücklich zu sein. Um uns aus der Faszination zu befreien, müssen wir

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die Fähigkeit entwickeln, uns aus Gedanken zu befreien, aus dem was die faszinierenden Gedankenin-halte sind – wobei Faszination durchaus auch unangenehme Gedanken sein können. Auch die schaffen es, uns so zu fesseln, dass wir uns – obwohl sie unangenehm sind – völlig darin verlieren. Nur um euch zu beruhigen: Dieses Spiel mit Katz und Maus geht nicht die ganze Zeit weiter. Wir brauchen uns während der Shamata-Praxis nicht die ganze Zeit zu motivieren, so als würden wir da eine Maus verfolgen. Mit der Praxis von geistiger Ruhe lernen wir, die geistigen Erscheinungen, die Eindrücke, die Gedanken zu durchschauen. Wir sehen, dass sie es gar nicht wert sind, uns ständig mit ihnen zu befassen, und das ermöglicht dem Geist, einfach dort zu verweilen, worauf er gerichtet ist. Man braucht nicht ständig diese Anstrengung zu machen, sich einzubilden, da wäre etwas total In-teressantes, auf das man jetzt seine Aufmerksamkeit richtet. Die Aufmerksamkeit bleibt einfach unab-gelenkt dort, worauf sie gerichtet ist. Das ist die Frucht von Shamata. Beim Beispiel von Männern, die im Fernsehen ein Fußballspiel verfolgen, ist es genau dasselbe wie beim Beispiel mit der Katze. Ein Fußballfan möchte während eines Spiels nicht für fünf Sekunden ab-gelenkt werden, um ja nicht irgendetwas zu verpassen von diesem kleinen Punkt, der da über den Bild-schirm läuft. Diese Aufmerksamkeit, nichts verpassen zu wollen, die wir für völlig sinnlose Dinge ein-setzen, diese Fähigkeit des Geistes nutzen wir für den Atem, obwohl der Atem auch nur ganz banal Luft ist, die rein- und rauskommt, also nichts Besonderes. Wir benutzen das zunächst einmal, wir entwickeln dasselbe Interesse, um uns lösen zu können von all dem anderen was uns sonst fasziniert. Das ist der entscheidende Prozess, denn dieses ‚andere’, das sind die Quellen von Leid. Durch das Verhaftetsein in unseren Hoffnungen und Befürchtungen, in unseren Identifikationen, entsteht Leid. Wir nutzen das Meditationsobjekt, um uns rauszuholen aus dieser Verhaftung. Wenn wir das gelernt haben und die Verhaftungen durchschaut haben, dann kann der Geist einfach dort verweilen, worauf er gerichtet wird, weil er nicht mehr von irgendwelchen Faszinationen an der Nase herumgeführt wird. Wenn wir uns hinsetzen und mit dem Meditieren beginnen und noch nicht viel Gelegenheit hatten, uns darin zu üben, dann kommen wir uns bei Unterweisungen über Geistesruhe vielleicht total verkehrt am Platz vor. Wir sitzen da und sind nur abgelenkt, wir haben nur Gedanken. Es tut im Körper weh, im Geist fühlen wir uns völlig gefangen von den vielen Gedanken, die da durchsausen und wissen gar nicht, was wir damit anfangen sollen, wie wir das alles loslassen sollen. Wir schauen uns um, rechts und links, und alle sind so ruhig, so gesammelt, und wir fühlen uns irgendwie im verkehrten Film. Wir denken, es wäre vielleicht etwas verkehrt mit uns, dass wir das so erleben, alle sind so schön dabei und bei uns läuft ein totaler Zirkus ab, wo man überhaupt nicht weiß, wie man da rauskommen soll. „Ich bin froh, wenn ich einmal einen ganzen Atemzug verfolgt habe, oder zwei oder drei. Ich bin schon froh über das, und dann reden die davon, ununterbrochen damit verbunden zu sein, und ich weiß über-haupt nicht, wie das gehen soll!“ Das ist normal. So hat es auch bei mir angefangen. Wenn ich mich an meine ersten Sitzungen erinnere, wo Meditation angeleitet wurde, so war das einfach sehr schmerz-haft. Das hat sich dann allmählich gewandelt, da braucht man sich keine Sorgen zu machen. Es ist einfach dieses gleichmütige Zurückkommen, immer wieder. Es kommt darauf an, immer wieder zu-rück zu kommen und ein großes Interesse für das Meditationsobjekt zu entwickeln.

3. Achtsamkeit auf den Geist 20. Wir üben so: ‚Einatmend erlebe ich den Geist. Ausatmend erlebe ich den Geist.’ Wir kommen jetzt mit dem Abschnitt 20 in die dritte Vierergruppe der Unterweisungen zur Achtsam-keit. Hier geht es um die Achtsamkeit auf den Geist, wobei mit Geist einfach alles gemeint ist, was im Geist so vor sich geht. Wir sind in einem ganz ruhigen, beobachtenden Zustand, entspannt. Wir atmen ein, wir atmen aus. Und dann tauchen immer wieder Erfahrungen auf, die anders sind als das bloße At-men und das bloße Dasein. Das sind die geistigen Bewegungen, die auftauchen: Gefühlszustände, die verschiedenen Emotionen, Gedanken, Erinnerungen... Dank der ruhigen Grundsituation erleben wir den Kontrast mit diesen etwas aufwühlenden Geisteszuständen, beobachten sie und kehren wieder zum Atem zurück. Das ist die Arbeit mit citta, mit dem Geist.

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Geist – geistige Gestaltungen

Mir wurde auch die Frage gestellt: „Was ist der Unterschied zwischen geistigen Gestaltungen und Geist? Zuerst ist die Instruktion, die geistigen Gestaltungen zu beruhigen, und dann heißt es: ‚Ich erlebe den Geist.’ Was ist der Unterschied?“ Der Unterschied zwischen Geist und geistigen Gestaltungen ist eigentlich für den normalen Praktizie-renden nicht wirklich nennenswert. Es werden hier geistige Gestaltungen und Geist zunächst erwähnt, weil damit das Aufgewühltsein von Geist und Körper gemeint ist. Wenn also Ende des 18. und Ende des 19. Abschnittes von Gestaltungen die Rede ist, dann bedeutet das ‚das, was aufwühlt’ und das fin-det immer im Geist statt. Wenn wir den Geist betrachten, dann werden wir auch in erster Linie die geistigen Gestaltungen wahrnehmen. Wir werden das wahrnehmen, was durch das Bewusstsein zieht: Gedanken, Emotionen, Erinnerungen, verschiedene Geisteszustände. Aber der Begriff Geist ist etwas weiter, etwas breiter als der Begriff geistige Gestaltungen. Geist bedeutet auch, dass diejenigen, die einen sehr ruhigen Geist haben, hier nicht nur die Gedanken und die Emotionen erforschen, sondern dass sie die ruhigen und offenen Geisteszustände, also jene Bewusstseinszustände erforschen, die man nicht mehr Gestaltungen nennt. Das sind nicht mehr auftauchende Gedanken sondern es sind weite, offene Geisteszustände, mit denen man vorher noch nicht vertraut war. Man entdeckt in ihnen dann Spuren von Anhaftungen, löst sie auf und geht weiter. Das ist alles hier mit Geist gemeint. Also Geist hier ist ein etwas weiterer Begriff, der geistige Gestaltungen beinhaltet aber auch die tieferen Bewusst-seinszustände meint, die da auch auszukundschaften sind. – Die vorangestellten Fußnoten 28 und 34 sind hier um jeweils einen Abschnitt zu tief gerutscht. – Ich hatte ja gestern schon erklärt, dass Absatz 19 mit den ersten vier Versenkungsstufen zusammen-hängt, den Vertiefungen des Formbereiches. Absatz 20 hängt mit den Vertiefungen des formlosen Be-reiches zusammen. Praktizierende, die ganz tiefe Samadhis erfahren, kundschaften hier bei der An-wendung der Instruktionen von Absatz 20 die Bereiche aus wie unendlicher Raum, unendliches Be-wusstsein, nichts was auch immer, weder Wahrnehmung noch Nicht-Wahrnehmung, diese vier Vertie-fungen im formlosen Bereich, die Erfahrungen des Geistes sind, aber nicht klassischerweise als geisti-ge Gestaltungen klassifiziert werden. Da kundschaftet der Praktizierende Bereiche aus, die nicht mehr begrifflich sind, wo kein Benennen stattfindet aber trotzdem noch ein Anhaften zu bemerken ist, das losgelassen wird. Aber damit will ich diese kurze Beschreibung auch schon abschließen, denn das ist für die meisten von uns nicht relevant für die Praxis. Wir sprechen wohl eher darüber, wie wir diese Stufen praktizieren können. Für uns sieht die Praxis auf dieser Stufe so aus: Auf der Grundlage von geistiger Ruhe untersuchen wir den Unterschied zwischen ruhigem und bewegtem Geist. Ruhiger Geist ist das, was sich einstellt, wenn wir gerade losgelassen haben, wenn wir zurückkehren zum ruhigen Gewahrsein des Atems. Und dann passiert wieder was. Das, was dann passiert, nennt man den aktiven, den bewegten Geist. Da schaue ich hin und beschäftige mich nicht mit dem Inhalt der Gedanken, die da kommen, sondern be-trachte die Qualität der Gedanken – des Gedanken, der mir jetzt gerade durch den Kopf geht. Zum Beispiel denke ich gerade an meine Mutter. Ist das ein anhaftender Gedanke oder ist das ein ablehnen-der Gedanke? Ich schaue mehr darauf, was für eine Qualität dieser Gedanke hat. Ist da Anhaftung vor-handen? Ist da Ablehnung vorhanden? Bin ich völlig verwickelt ohne einen Ausweg zu finden, denke ich immer wieder die gleichen Gedanken? – Das wäre typische Unwissenheit, Verwirrung. – Ich bin also dabei, den Geist auf seine Beschaffenheit hin anzuschauen: Ist das ein entspannter Geist oder ist das ein angespannter Geist? Was führt zu dieser Anspannung? Ist es Anhaftung, Ablehnung, oder eine der anderen Emotionen? Hier erkundschaften wir, was unser persönliches Gefängnis ausmacht und was uns aus dem Gefängnis herausführt. Wir bemerken es an den und den Gedankenformen, die mit Anhaften, mit Ablehnen zu tun haben, vielleicht mit Stolz. – Wir sind stolz und kritisieren jemanden im Geist und wir merken dann: „Hoppla, ich hab mich zwar innerlich wohl gefühlt mit der Kritik, aber mein Geist ist ganz klein geworden.“ Dann lasse ich das los und merke: „Ah! Da stellt sich wieder Öffnung ein.“ Dann gibt es Sorgen, Ängste. Diese Gedankenformen werden beobachtet und wir sehen, was mit dem Geist passiert, während sie da sind und wir schauen, wie der Geist ist, wenn wir sie losgelassen haben und kehren wieder zum

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Grundrhythmus zurück, dem Ein- und Ausatmen. Das ist wie der Grundrhythmus in der Musik, wie die Bässe, die den Rhythmus halten und oben drüber spielen sich all die verschiedenen geistigen Ein-drücke. Wir kehren immer wieder zum Atem als unsere Basis zurück und warten, sind entspannt, und unweigerlich wird unser Karma wieder neue Eindrücke hervorbringen, neues Anhaften wird sich zei-gen. Und wieder beobachten wir, wie unser Geist enger wird, wie wir uns in Ablehnung und Anhaften verfangen, in Fixierungen reinkommen, in Verwirrung – und dann die Erleichterung des Loslassens. Wir bemerken, wie sich unser Gefängnis um uns herum schließt, und wir bemerken, wie wir wieder draußen sind. Das untersuchen wir, dadurch lernen wir den Geist kennen. Wir lernen den Geist kennen, indem wir als neutraler Beobachter hinschauen und sehen, was tatsächlich abläuft. Unser samsarisches Sein gau-kelt uns vor, dass wir total glücklich sind, wenn wir andere kritisieren, wenn wir an unseren Liebsten festhalten und unsere Feinde einmal abservieren. Das ist unser normales Verhalten, und wir denken, das wäre der Weg, um glücklich zu werden. Jetzt schauen wir aber in unseren Geist und merken, dass selbst durch die Gedanken, hinter denen wir sonst stehen, Geistesenge ausgelöst wird, dass das Fest-halten an jemand Geliebtem ein Zustand größerer Enge ist. Enge ist intensiver erlebbar, als wenn wir der geliebten Person Raum geben und uns innerlich dabei entspannen. Wir entdecken das und merken, dass wir in Illusionen gefangen waren, in großen Täuschungen darüber was glücklich macht, was offen macht, was entspannt. Wir entdecken, was wirklich entspannt und glücklich macht. Dieser erste Vers bezieht sich auf das, was wir in der Satipatthana-Praxis unter Achtsamkeit auf den Geist untersucht haben. Vielleicht erinnert ihr euch an diese längere Liste der Fragen: Ist der Geist ent-spannt oder angespannt? Ist er offen oder eng? Ist er voller Anhaften oder frei von Anhaften? Ist er voller Begierde oder frei von Begierde? Diese Liste enthält Beispiele, die der Buddha gegeben hat, um uns zu zeigen, wie wir den Geist anschauen können, und das alles lässt sich zusammenfassen in einer einzigen Frage: Ist das Anhaften oder kein Anhaften, Öffnung oder Enge? Alles lässt sich darin zu-sammenfassen. Wir schauen uns jeden Geisteszustand daraufhin an, ob er Enge mit sich bringt oder Öffnung und kommen damit zur Liste der wohltuenden Geisteszustände und der Leid auslösenden Geisteszustände. – Somit wissen wir dann auch, was zu kultivieren und was loszulassen ist. Wir beobachten einen ständigen Wechsel von Zusammenziehen und Weiten des Geistes – je nachdem, welche Geisteshaltungen auftauchen, zieht sich der Geist zusammen und ist im Anhaften, im Ableh-nen oder in der Verwirrung. Manchmal bewirkt einfach die Kraft der Vergänglichkeit, dass sich Öff-nung einstellt, die Welle ist einfach durchgerauscht. Öffnung – Schließen, Schließen – Öffnung. Wir bemerken, was das alles bewirkt, welche Kräfte dazu beitragen, dass sich der Geist tatsächlich öffnet. Das führt uns in die nächste Etappe hinein: ‚Einatmend erfreue ich den Geist. Ausatmend erfreue ich den Geist.’ In dieser Praxis geben wir dem Geist – unserem Bewusstsein – tatsächlich das, was ihn am meisten entspannt. Wir schenken uns die Entspannung. Das ist hier gemeint, wir schenken uns die Erfahrung des Herauskommens aus dem Gefängnis, des Heraustretens aus den Identifikationen, aus den Sorgen, aus den Ängsten. Wir können uns das mit jedem Einatem und Ausatem schenken: entspannt, los-lassend auszuatmen und uns im Einatmen zu öffnen und ebenfalls völlige Weite zu erfahren, ebenfalls loszulassen. So erfreuen wir den Geist. Wir tun uns selbst etwas Gutes. Diese banalen Sprüche, die man überall hört – „Tu dir doch einmal was Gutes!“ – sind gut, nur was man damit meint, ist nicht immer dasselbe. Aber hier geht es darum: „Tu dir doch endlich was Gutes! Lass los von all dem, was dich unglücklich macht!“ Das tun wir hier. Wir schenken uns das, was tatsächliche Freude bringt. Wenn wir einatmen, dann öffnen wir uns, ohne etwas zu verteidigen zu haben, wenn wir ausatmen, lassen wir los, ohne irgendetwas fest zu halten. Es ist unglaublich, was für eine Hilfe uns der Atem in diesem Prozess des Loslassens und Öffnens ist. Das ist eine unglaubliche Hilfe, er ist immer da, der nächste Atemzug kommt sofort, kaum sind wir uns bewusst geworden, dass wir irgendwo feststecken, kommt schon der nächste Atemzug und hilft uns beim Öffnen und Loslassen. Deswegen ist der Atem so gut geeignet, er ist gerade zur Stelle, wir brauchen ihn nicht zu suchen. Er kommt immer gleich und erinnert uns an das, was wir uns schenken wollen. Wir schenken uns Gefängnisurlaub, eine kleine Pause im Anhaften und Festhalten.

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Was wir hier mit diesem Vers praktizieren, ist total einfach. Wir brauchen nicht weit zu suchen, um uns zu erfreuen. Wir freuen uns den Dharma gefunden zu haben. Wir freuen uns in solcher Einfachheit angelangt zu sein. Wir freuen uns an jedem Einatmen, mit dem wir uns öffnen können, an jedem Aus-atmen, mit dem wir loslassen können. Die Quellen der Freude sind einfach das jetzige Erleben, und wir nehmen uns Zeit dafür, diesen Schatz, diese Entdeckung der Einfachheit wertzuschätzen und auch das Entdecken dieser Gesetzmäßigkeiten, wo wir jetzt genau wissen, worauf wir achten müssen. Um glücklicher zu sein, brauchen wir nur darauf zu achten, diese beengenden Geisteszustände immer wie-der loszulassen. Wir wissen es jetzt und in dem Wissen sitzen wir, lassen los und freuen uns an dem offenen, harmonischen Geisteszustand, der sich da einstellt. Und wir danken innerlich dem Buddha, den Lehrern, dem Dharma, wir freuen uns daran und bleiben in dieser Freude. Mir ist passiert, dass diese Praxis mit dem Atem, dass der Atem selber zur Quelle von Freude wurde, als ich sie im Krankenhaus bei Menschen angewendet habe, die im Sterben lagen, die letzten Tage vor dem Tod. Wenn dass Praktizierende sind oder Menschen, die zumindest dieses feine Gefühl haben, dann können wir sie dahin führen, dass sie merken: „Jetzt noch – obwohl der ganze Körper schon zer-fällt und kurz vor dem Ende steht – ist es möglich, mich beim Einatmen zu öffnen und beim Ausatmen loszulassen!“ Und die Freude des Atmens kommt dann zu diesem Menschen und wird eine Quelle tie-fer Ruhe und Heiterkeit in den letzten Tagen seines Lebens. Das ist etwas vom Schönsten, das wir mit sterbenden Menschen teilen können: Neben ihnen zu sitzen, selber zu atmen, mit ihnen zu atmen und sie können alles was in ihrem Geist auftaucht loslassen und sich öffnen für das Unwägbare was kommt, sie lassen alles hinter sich, was sie bedrängt und machen somit noch einmal in den letzten Ta-gen ihres Lebens eine große innere Öffnung durch und sind dadurch viel besser aufs Sterben vorbe-reitet. Auf dieser Etappe weiß man dann endlich auch wovon man spricht, wenn man sagt: „Ich habe eine kostbare menschliche Existenz erlangt!“ Da wird es zum ersten Mal richtig eine Erfahrung: „Das ist wirklich etwas, wofür ich dankbar sein kann. Jetzt beginnt der Dharma solche Früchte zu tragen, dass ich weiß, dass ich den Tag loben kann, in diesen Körper hinein gekommen zu sein, in diese Existenz, durch die ich dem Dharma begegnen konnte und lernen konnte, solche Öffnungen zu erfahren!“ Ajahn Buddhadasa sagt an dieser Stelle, dass Gedanken kommen können wie „Ich bin der Glücklichs-te von allen!“, weil man sich nicht vorstellen kann, dass es jemanden gibt, der noch glücklicher sein könnte. Man hat alles gefunden, man hat diesen Schatz gefunden, der einem jetzt ermöglicht, auszu-steigen aus dem ständigen Wiederholen von leiderzeugenden Mustern. Da steigen wir jetzt aus. Wenn wir das gefunden haben, taucht wirkliche Freude auf. ‚Einatmend sammle ich den Geist. Ausatmend sammle ich den Geist.’ Das bedeutet den Geist in Samadhi versetzen, in meditative Versenkung. Das ist hier mit sammeln gemeint, das ist also hier ein tiefes Sammeln des Geistes. Wir beobachten hier eine ähnliche Reihenfolge wie im vorhergehenden Absatz: Nach der Freude küm-mern wir uns darum, den Geist in noch tiefere Gelöstheit, in tiefere Versenkung zu bringen, ihn zu sta-bilisieren. Dank der Freude, die vorhergeht, wird es sehr einfach sein den Geist in diese tiefere Samm-lung zu bringen. Hier geht es darum, die Freude zu befreien von den Konzepten, die mit ihr verbunden sind, also von den Gedanken über die Freude und das Haften, das damit verbunden ist, und in die ge-sammelte, völlig unabgelenkte Gelöstheit einzutreten, die sich natürlicherweise aus der Freude ergibt. Freude schafft Raum und um diesen Raum in völliger Gelöstheit erfahren zu können – Sammlung – müssen wir all die begrifflichen Kommentare, diese Bemerkungen über die Freude sein lassen und alles Haften, Festhalten-Wollen an der Freude auch loslassen. Dann tauchen wir wie zuvor schon in einen noch tieferen Zustand geistiger Ruhe ein. Wenn wir hier von Samadhi sprechen, dann ist ganz wichtig zu verstehen, dass Samadhi nicht bedeu-tet in eine stabile Festung einzutauchen, wo der Geist wie ein Block, wie ein Fels wird und unbeirrbar einfach so ist. Samadhi ist ein höchst flexibler Geisteszustand, der unabgelenkt ist. Die Unabgelenkt-heit gibt diesem Geisteszustand seine Stabilität, deswegen nennt man ihn stabil. Er wird nicht durch

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Anhaften und Abneigung hin- und hergezogen. Er ist stabil, weil er frei von diesen Anhaftungen und Abneigungen ist, völlig flexibel, völlig bereit dazu, alles zu tun und wahrzunehmen, worum es jetzt geht. Man sagt, ein Buddha, ein Meister wäre ständig im Samadhi. Ob er unterrichtet, geht, steht oder sitzt, er ist immer in dieser vollkommenen Geistesgegenwart. So kann man sich Samadhi auch übersetzen: völlige Geistesgegenwart.

Die drei Qualitäten von Samadhi Wir können Samadhi mit drei Qualitäten beschreiben: Stabilität, Reinheit und Handlungsbereitschaft – da schwingt diese Flexibilität mit. Stabilität steht für das Gesammelte, Unabgelenkte, das macht den Geist stabil – unabgelenkt von An-haftungen und Abneigungen, die uns normalerweise ziehen und in all die verschiedenen Richtungen stoßen. Was wir Reinheit nennen, ist die Abwesenheit von emotionalen Schleiern. Im Samadhi sind die Kle-shas nicht aktiv. Die emotionale Verschleierung, die zu Leid führt, ist nicht aktiv im Geist, die groben emotionalen Filter sind abwesend, sie verzerren nicht den Blick auf die Wirklichkeit, das nennt man die Reinheit des Geistes. Mit rein, klar ist dieses Nicht-Aufgewühltsein durch emotionale Verblen-dung gemeint. Der dritte Faktor ist, was wir auf Pali kammanio nennen. Das ist diese Bereitschaft zu kamma, zu Akti-vität, zum Handeln. Ein gesammelter Geist ist in Bereitschaft zu handeln, etwas zu tun. Dabei geht es um das Anwenden des Dharma. Er kann den Dharma überall anwenden, kann untersuchen, den Geist zur Ruhe bringen, kann Dinge erklären, kann tun. Ein gesammelter Geist – ein unabgelenkter, reiner, stabiler Geist – ist bereit, ist ein super Werkzeug für alle Handlungen, was es auch immer ist. Jemand, der einen gesammelten, klaren Geist hat, wird anders gehen, anders Auto fahren, anders sprechen, an-ders denken, lesen usw. Alles wird beeinflusst von dieser Qualität geistiger Sammlung. Und das nennt man Handlungsbereitschaft. Damit verstehen wir, dass Samadhi nicht eine Sackgasse ist, wo man den Geist parkt, um ihn irgend-wann wieder einmal aufzuwecken und dann zur eigentlichen Sache überzugehen, sondern Samadhi bedeutet Handlungsbereitschaft. Das ist die Erklärung, die der Buddha gab. Eine andere Definition von Samadhi ist: Der Geist verweilt im Heilsamen. Wenn der Geist im Heilsa-men verweilt, dann ist er nicht irgendwo geparkt, sondern er verweilt im Dharma, in dem was zum Erwachen führt. Verweilen bedeutet hier wiederum nicht parken, sondern bedeutet unabgelenkt sein – eine unabgelenkte Präsenz in dem was heilsam ist. Samadhi ist Unabgelenktheit in allen geistigen Ak-tivitäten. Den Geist zu sammeln bedeutet also, den Geist im Heilsamen zu stabilisieren, frei von Ablenkungen, rein, d.h. frei von emotionalen Schleiern und handlungsbereit, einsatzbereit. Wann sind wir eigentlich selber als Menschen einsatzbereit? Wann sind wir nicht einsatzbereit? Wir sind nicht einsatzbereit, wenn wir noch an der vorhergehenden Erfahrung festhalten. Dann stehen wir nicht zur Verfügung. Wir stehen für den nächsten Geistesmoment nicht zur Verfügung, wenn wir noch am letzten fest-halten. Wir stehen für eine Aufgabe nicht zur Verfügung, wenn wir noch mit anderem beschäftigt sind. Wir stehen nicht zur Verfügung, wenn unser Geist völlig durcheinander ist. Das sind genau die Quali-täten, die wir hier für den einzelnen Geistesmoment definieren: Wir sind bereit, unbelastet, stehen zur Verfügung. Ganz fein, ganz beweglich können wir uns einlassen auf das, was als nächstes kommt. Samadhi ist genau das, wie wir es für die Person beschrieben haben, auf den Moment bezogen: ein Geist, der nicht am Vergangenen festhält, nicht aus dem Gegenwärtigen ein Ding macht – nicht verge-genständlicht – und der sich nicht in die Zukunft projiziert. Er ist im Gegenteil völlig offen, unabge-lenkt, erfährt oder nimmt die gegenwärtige Erfahrung frei auf, handelt und geht entsprechend damit um, ohne belastet zu sein. Das ist, was wir Samadhi nennen. Es ist interessant, dass dieser Samadhi keineswegs mit der Sitzhaltung verknüpft ist, sondern dass der Samadhi – wie der Buddha es beschreibt – in allen Aktivitäten präsent sein kann. Ihr erinnert euch: im Sitzen, Gehen, Stehen und Liegen. Damit meint der Buddha alle Aktivitäten des Lebens.

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Wir üben uns im Samadhi im Sitzen, weil wir da am stabilsten sind und nicht einschlafen, und bringen diese Geistesqualität dann in alle Lebensbereiche hinein. ‚Einatmend befreie ich den Geist. Ausatmend befreie ich den Geist.’ Auf dieser Stufe – die wir das Befreien des Geistes nennen – sind die Erklärungen eigentlich nicht sehr verschieden von denen zum vorhergehenden Vers, nur ist die Situation jetzt schon eine andere. Vorher waren wir im Gefängnis und erlebten Spaziergänge in die Freiheit und jetzt sind wir grundle-gend schon in einer offenen, gesammelten Geisteshaltung und wollen nicht mehr zurück ins Gefäng-nis. Wir versuchen zu vermeiden, wieder gefangen genommen zu werden. Wenn also emotional gefärbte Gedanken auftauchen, dann bemerken wir, wie es wieder in Richtung Gefängnis geht und lassen los, wir entlassen die Emotion, entlassen das Festhalten in die Offenheit. Die Welle geht durch, ohne dass sie uns wirklich in einen gefangenen Geisteszustand hineingebracht hätte. Wir lernen, das immer schneller zu praktizieren. Wir kennen ja jetzt schon so viele Geistes-zustände, haben sie angeschaut, haben gesehen, wie sie den Geist eng machen und lassen sie los. Wenn sie das nächste Mal kommen, lassen wir unmittelbar los, wir brauchen nicht mehr zu analysie-ren. Geisteszustände, wo uns nicht so klar ist, ob sie heilsam sind oder Leid bringend, schauen wir uns an. Wir untersuchen sie und nachdem wir sicher sind, dass es sich um einen Zustand handelt, der zu Leid führt, lassen wir los. Das ist dieses Hinschauen und Fragen: „Na! Was macht das mit dem Geist?“ Und wenn ich merke, dass es wieder in Richtung Geistesenge geht, dann lasse ich das wieder los.

Die vier Kategorien von Anhaften - Ablehnen Wenn wir hier vom Befreien sprechen, dann geht es um das Sich-Befreien von Anhaftungen, wobei auch immer das Befreien von Abneigungen mitschwingt. Wenn wir uns anschauen, was die vier For-men von Anhaftungen sind, dann sind immer auch die entsprechenden Abneigungen gemeint. Wenn wir uns z.B. von Anhaftung an Sinneserfahrungen befreien, dann müssen wir uns auch von den Ab-neigungen, von dem Wegstoßen bestimmter Sinneserfahrungen befreien. Das ist die erste Kategorie. Die zweite Kategorie betrifft verkehrte Anschauungen oder Anschauungen überhaupt, Hypothesen, Meinungen über die Wirklichkeit. „So sind die Dinge und nicht anders!“, „Das existiert, das existiert nicht!“ Von all diesen Fixierungen darüber, wie die Wirklichkeit zu sein hat, müssen wir uns befreien. Dann befreien wir uns von allem was Ich und mein ist, all diese Gedanken mit Ich: „Ich bin … Ich habe … Ich sollte…“ und dann mein! Mein Körper, mein Ärger, meine Gefühle, meine Liebe, meine Angehörigen, meine Kinder, … Der vierte Bereich ist das Loslassen von allen abergläubischen Riten und Ritualen. Es hilft nichts, ir-gendeine magische Formel zu sagen oder einen Ritus auszuführen, um sich zu befreien. Das Einzige was befreit, ist das Loslassen von Fixierung, von Identifikation. Wenn Rituale befreien, dann nur, weil sie einen Geisteszustand hervorbringen, in dem man loslässt, sonst befreien Rituale nicht. Es ist also nie das Ritual, das befreit, nur das Loslassen befreit. Diese vier Bereiche der Anhaftung beschreiben insgesamt das, was man die Faktoren nennen könnte, die zu einem engen Geist führen. All die lässt man los, von denen befreit man sich und tritt dadurch in immer entspanntere, offenere Geisteszustände ein. Bis hierher sind wir so vorgegangen, dass wir uns mit vielen einzelnen Geistesmomenten befasst ha-ben. Wir haben geschaut, was sie mit dem Geist machen, ob sie ihn verengen oder ob sie ihn weiten, und wir kommen jetzt allmählich zu Schlüssen. Wir kommen zu Schlussfolgerungen wie z.B.: „Jedes Mal, wenn ich mich identifiziere, entsteht Leid. Wenn ich eine Identifikation loslassen kann, entsteht Offenheit.“ Wir beginnen dergleichen Beobachtungen zu machen wie z.B.: „Ich brauche eigentlich gar nichts zu tun, um etwas loszulassen, ich brauche es nur nicht festzuhalten.“ Das geht ganz von selbst. Ein Gedanke entsteht und vergeht von selbst. Wenn ich ihn nicht festhalte, brauche ich ihn auch nicht loszulassen. Das ist die Natur von all diesen Geisteszuständen, sie vergehen ganz von selbst. Ich brauche gar nichts zu tun, um sie in die Vergänglichkeit hineinzuschubsen, ich

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darf nur nicht verhindern, dass sie sich auflösen. Wir beginnen diese Dinge zu beobachten und sind damit an der Schwelle zur nächsten Stufe, was man das Beobachten der Dharmas nennt, die Achtsam-keit auf Dharmas. Wir sind dabei, aus den vielen, vielen Einzelbeobachtungen valide Schlussfolgerun-gen zu ziehen über Gesetze im Geist: Ursache und Wirkung – diese Form von Verhalten führt zu Leid, diese Form führt zu Offenheit, zu freien Geisteszuständen. Und damit sind wir im Beobachten der Dharmas gelandet. Das wäre dann der nächste Absatz. Darum geht es, wenn wir den Geist auf die ganz grundlegenden Zusammenhänge richten, deren tiefes Verständnis uns summa summarum von den unzähligen Einzelanhaftungen befreit. Das ist dann der noch tiefere Schritt des Hineinschauens in die Wirklichkeit, in das, wie die Dinge tatsächlich sind. Man nennt dieses Verstehen ‚Verständnis von einem Dharma’, wobei hier Dharma die Bedeutung von Gesetz annimmt. Das ist eine andere Bedeutung des Wortes Dharma. Wir verstehen die Gesetze des Geistes, die Gesetze von Samsara und die Gesetze von Befreiung, Nirwana. Wir verstehen, wie das alles zusammenhängt. Und das tiefe Verständnis genau dieser Gesetzmäßigkeiten ist genau das, was dann völlig befreit.

Wirken Rituale befreiend?

Frage: Wie ist das mit all diesen Ritualen? Wir machen ja viele, viele Praktiken und Rituale. Und nun heißt es, man soll dieses Festhalten an Riten und Ritualen loslassen. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass diese Rezitationen sehr hilfreich sind, um zum Praktizieren zu kommen, Geistesruhe zu ent-wickeln usw. Ja, viele Praktizierende anderer Traditionen fragen sich auch, was die Tibeter mit ihren Ritualen da machen, was der Sinn von all dem ist. Ich habe das mit ihnen oft durchgesprochen. Erst die historische Perspektive: Die ersten Sadhanas, die es in der buddhistischen Sangha gab, waren die Rezitationen der Erklärungen des Buddha. Die Mönche lernten viele solcher Sutras auswendig, und wenn sie sich zur Praxis hinsetzten oder auch beim Gehen, holten sie die Sutras zurück aus dem Gedächtnis ins Jetzt und das war ihre Sadhana. Sie sagten sich diese Passagen vor, um dann das zu praktizieren, was in diesen Passagen erklärt wird. Das ist der Beginn von Sadhana, sich die Instruk-tionen, die man auf keinen Fall vergessen möchte, wieder in Erinnerung bringen. Und so haben sich auch die anderen Sadhanas entwickelt. In einer Sadhana geht es immer darum, den Dharma in Erinne-rung zu bringen. Da gibt es Praxistexte, die sehr meditativ sind, die viele Meditations-Instruktionen enthalten, und dann gibt es Sadhanas, die sehr symbolisch sind, die mit Symbolen arbeiten und da-durch den Dharma in Erinnerung bringen. Tschenresi, Avalokiteshvara z.B.: In der Sadhana wird seine Visualisation beschrieben, meist ohne noch zu erwähnen, was hinter den Symbolen steht, das wird in den Begleiterklärungen vermittelt. Man erinnert sich an die vier Arme von Avalokiteshvara und das löst die Erinnerung an die vier grenzen-losen Vertiefungen aus – Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut. Man sieht die Augen von Avaloki-teshvara und erinnert sich an die Einheit von meditativer Vertiefung und Mitgefühl. Man denkt an die Krone, die fünf Juwelen auf dem Kopf, und erinnert sich an die fünf Haupt-Geistesgifte, die fünf Emo-tionen, die es aufzulösen gilt und die fünf Facetten zeitlosen Gewahrseins. So ist jedes Symbol wie zu einem Sammelpunkt geworden für eine große Unterweisung des Buddha, die sich in diesem knappen Symbol verbirgt. Im Grunde genommen ist das Arbeiten mit solchen Sadhanas eine Arbeit mit der Gesamtheit von Dharma-Unterweisungen. Eine Sadhana ist dann komplett, wenn sie alle Unterweisungen des Buddha abdeckt, und das schaffen Sadhanas auf wenigen Seiten, aber unter Zuhilfenahme von ganz vielen Symbolen, die in sich ganz viel anderes enthalten und die man entschlüsselt bekommen muss. Das geschieht, wenn einem die Lehrer diese Sadhanas geben und einem Stück für Stück, Satz für Satz die mitschwingende Bedeutung vermitteln. Dann erschließt sich für uns eine Sadhana und dann wird das Lesen der Sadhana zu einem Erinnern an die essenziellen Botschaften des Dharma und ist damit wie-der dasselbe wie das Erinnern oder Lesen einer Unterweisung. Aber die Sadhanas versuchen, viele Unterweisungen in einer Praxis zusammenzuführen, und das sieht man von außen nicht so deutlich. Wenn Praktizierende anderer Traditionen die Sadhanas miterleben, dann taucht in ihnen die Frage auf – und die haben sie mir auch gestellt: „Na, Lhündrub, bist du dir sicher, dass die Praktizierenden eurer Tradition nicht im Anbeten eines Gottes landen, dass sie Tschenresi anbeten und dann meinen, die Erleuchtung käme von außerhalb?“ Die Frage stellt sich ihnen, weil sie nicht wissen, was für Erklä-

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rungen mit so einer Praxis einhergehen, wie man damit arbeitet, die Gottheit in sich zu verschmelzen, wie man sie als den eigenen Geist erkennt usw. Wenn das nicht klar wäre, dann würde es sich um ein abergläubiges Ritual handeln, dann wäre es genau das, was man loslassen müsste. Das Mantra OM MANI PEME HUNG sammelt in sich alle Dharma-Unterweisungen, alles ist darin enthalten, aber man muss es natürlich entschlüsseln können, man muss wissen was darin mitschwingt. Man kriegt vielleicht intuitiv ein wenig mit, aber nur Intuition und das Mantra hören wird nicht befrei-end wirken. Das ist wiederum Aberglaube. Wenn man meint, man könnte das Mantra einfach an die Wand schreiben und die Leute, die das lesen, würden dadurch Befreiung erlangen, das ist Aberglaube. So wird Erwachen nicht zu erlangen sein. Selbst wenn es vorgekommen ist, dass einzelne Praktizierende beim bloßen Lesen eines Mantra Be-freiung erfahren haben, dann war das nicht aufgrund des einen Mantra sondern aufgrund der Praxis von vielen Leben vorher. In dem Moment, wo sie vertrauensvoll mit dem Mantra in Berührung ge-kommen sind, hat sich dieser Knoten gelöst, sodass sie tatsächlich Befreiung erlangen konnten. Aber das ist nicht die Regel sondern die extreme Ausnahme.

Loslassen heilsamer Geisteszustände

Frage: Du hast vorhin gesagt, dass man unheilsame Geisteszustände loslässt. Da ist in mir die Frage aufgestiegen, man sollte vielleicht auch heilsame Geisteszustände loslassen. Aber es hat sich schon erübrigt. Was wäre deine Antwort zum jetzigen Zeitpunkt? Auf der relativen Ebene ist die Arbeit, unheilsame Dinge zu erkennen und loszulassen und die heilsa-men Dinge zu kultivieren. Aber im Kultivieren von heilsamen Geisteszuständen steckt ja auch eine Identifikation mit einem heilsamen Zustand. Und im Prinzip geht es dann darum, diese scheinbaren heilsamen Geisteszustände loszulassen. Du hast das völlig richtig verstanden, dem brauche ich nichts beizufügen.

Gedanken – geistige Gestaltungen

Frage: Während der Morgenmeditation habe ich mir die Frage gestellt: „Was ist denn der Unter-schied zwischen Gedanken, Gedankenketten und geistigen Gestaltungen?“ Und meine Antwort war, dass ich keinen Unterschied sehen kann. Was wir geistige Gestaltungen nennen, beinhaltet alle Gedankenketten. Aber geistige Gestaltungen be-inhalten auch alle einzelnen Gedanken und auch alle heilsamen sowie schädlichen, nicht-heilsamen Geisteszustände. Es gibt eine Liste von 51 Geistesfaktoren, die eine gute Übersicht über die großen Kategorien von geistigen Gestaltungen gibt. In dem, was wir die geistigen Gestaltungen nennen, gibt es auch allgegenwärtige Geistesfaktoren, die bei jedem Bewusstseinsakt, bei jedem Erkenntnisakt vor-handen sind, die an sich neutral sind – weder heilsam noch schädlich. Ihr könnt darüber auf meinem Blog in Französisch und Englisch nachlesen. Es gibt zu diesem Thema viele Bücher, aber ich habe versucht, es zusammenzufassen: www.awakeningtosanity.net Frage: Was ist der Zusammenhang zwischen den Geisteszuständen und dem Verhalten? Wo kann man da eine Linie ziehen? Der Geist geht dem Verhalten voraus, die Geisteszustände sind das, was ein Verhalten beginnen lässt und die Geisteszustände begleiten ein Verhalten, d.h. im Verhalten finde ich immer eine bestimmte Geisteshaltung, einen Gedanken, ein Gefühl, das dieses Verhalten auslöst und auch begleitet. Man kann es also nicht trennen. Man kann sagen, das eine ist eher die Ursache, der Auslöser des anderen.

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Vergänglichkeit Wie versprochen werde ich heute nicht mit den traditionellen Erklärungen aus dem Kommentar weiter machen, sondern euch eine freie Unterweisung über Vergänglichkeit geben, wie wir Vergänglichkeit mit unserer Praxis mit dem Atem verbinden, denn dass ist der nächste Schritt, um den es dann im Sutra gehen wird. Wir können sagen, dass wir hier mit dem nächsten Schritt in das eintreten, was wir Kontemplation der Dharmas nennen, die Achtsamkeit auf Gesetzmäßigkeiten, deren Beobachtung uns zur Befreiung führt. Die erste und grundlegendste dieser Gesetzmäßigkeiten ist die Beobachtung des Wandels. So wie ein guter Koch – in der französischen Küche zumindest – morgens seine Messer schärft, bevor er zur Arbeit geht, gehen auch wir vor. Wir haben mit den bisherigen Etappen vorwiegend unsere Geistesruhe vertieft, um zu einem klaren, präzisen Geist zu kommen, der nicht aufgewühlt ist, der von emotionalen Schleiern weitestgehend befreit ist, so dass wir eine ganz scharfe, ganz klare Beobach-tungsgabe zur Verfügung haben. Das tun wir so gut wir können. Wir sind begrenzt dadurch, wie klar wir an dem Tag gerade sind, aber jedes Mal wenn wir uns hinsetzen ist es angebracht, den ersten Teil der Praxis damit zu verbringen, den Geist zu beruhigen und klar werden zu lassen. Dann richten wir ihn auf das, was wir untersuchen möchten. Der Buddha hat die Kontemplation der Vergänglichkeit, des Wandels, aufs Höchste gelobt und immer wieder unterrichtet. Alle Meister seither haben die Betrachtung der Vergänglichkeit als den wesent-lichen Schlüssel zur intuitiven Einsicht – zu Vipassana oder Lhagtong – hervorgehoben. Das hat viele Gründe und ich werde versuchen, sie euch zu entschlüsseln. Das ist alles nichts Neues für euch, aber es ist gut sich noch einmal ausführlich damit zu befassen, denn es beantwortet die Frage: Was mache ich eigentlich, wenn der Geist dann einmal ein bisschen ruhig ist und die grobe Arbeit des Mich-Lö-sens aus den Verhaftungen gerade einmal geschafft ist? Was mache ich dann mit meinem Geist, wenn ich nicht mehr damit beschäftigt bin, mich mit all den aufsteigenden Gedanken und Emotionen herum-zuschlagen, wenn ich ein bisschen Freiraum habe? Was mache ich dann? – Eine Möglichkeit wäre, einfach sitzen zu bleiben, die zweite wäre aufzustehen, und die dritte ist, da-mit was Gescheites zu tun. Der Buddha hat ganz offensichtlich die dritte Möglichkeit bevorzugt, Weisheit zu entwickeln mit der Hilfe von Geistesruhe. Der erste Schritt ist die Achtsamkeit auf den Wandel zu richten. Nun müssen wir aber nicht unbedingt warten, bis der Geist ruhig geworden ist, denn auch mitten im emotionalen Durcheinander können wir den Geist immer wieder auf den Wandel, auf die Vergänglichkeit richten und damit eine enorme Erleichterung erfahren. Wir bekommen etwas Abstand zu den Emotionen, in-dem wir bemerken und uns daran erinnern, dass ohnehin alles vergeht, dass nichts bleibt. Aber wir beginnen jetzt mit der Beschreibung dessen, was wir tun, wenn der Geist einigermaßen ruhig ist, man ihn also untersuchen kann. Der Buddha geht da wiederum sehr praktisch vor, das ist seine pä-dagogische Art. Er sagt: „Wenn ihr solchen Freiraum habt, untersucht doch zuerst einmal alles was Form hat – Körper und materielle Gegebenheiten um euch herum. Schaut, ob das, was Form hat, soli-de ist oder ob es sich wandelt.“ Dieses Beobachten der Vergänglichkeit ist nicht das Suchen nach einem Konzept, nach einer Idee, sondern besteht im Erleben des Wandels. Da besteht ein großer Unterschied, das ist genau das, was wir Dharmas nennen. Diese Dharmas, die wir untersuchen, sind keine abstrakten Dharmas, Gedanken, Ideen über die Wirklichkeit, sondern sind ein Hineingehen in das, was erfahrbar ist, so tief wie nur irgendwie möglich. Im ersten Schritt wenden wir uns dem eigenen Körper zu. Wir können das auf zweifache Art und Wei-se angehen: a) Wir können durch den Körper gehen und überall, wo immer sich der Geist hinwendet, den Wandel erfahren – das Vibrieren der Zellen, die vielen verschiedenen Empfindungen. Wir können den Wandel leben, erleben, bis Wandel zur gelebten Erfahrung wird. Wir sitzen im Wandel, alles wandelt sich.

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b) Wir testen, ob es sich tatsächlich um ein universales Gesetz handelt. Dabei schauen wir, ob wir ir-gendwo einen Ort finden, der sich nicht wandelt, irgendeine Stelle, irgendeinen Erfahrungsbereich, der eine Ausnahme darstellen würde. Das wäre zunächst einmal die Übung mit dem eigenen Körper – später auch mit den anderen Ebenen unseres Erlebens – und dann tun wir dies auch mit der äußeren Welt. Nun sind wir mit der äußeren Welt nicht so eng verbunden. Wir müssen uns durch Schauen, Hören, Fühlen mit der äußeren Welt in Beziehung setzen und können dann die Spuren der Vergänglichkeit sehen. Wir können kleine Staub-teilchen im Licht sehen, wir bemerken den Unterschied zwischen einem Moment und dem nächsten bei Dingen, die sich bewegen. Wir bemerken die Veränderung von einem Tag zum nächsten, bei Ob-jekten, die schnelle Veränderung aufweisen und bei anderen Dingen wie z.B. bei diesem Tisch hier oder bei dieser Klangschale. Da sieht man die Spuren der Vergänglichkeit über längere Zeiträume, aber alles wandelt sich. Und wir untersuchen auch da: „Gibt es im Universum irgendetwas, das sich diesem Prinzip des Wandels entziehen würde? Gibt es da irgendeine Ausnahme?“ Wir gehen also immer den doppelten Schritt: Wir schauen zuerst was ist, und dann schauen wir, ob es Ausnahmen gibt. Nur so kommen wir zu einem tatsächlichen Verständnis der Dharmas. Wir bemühen uns, Ausnahmen zu finden und kommen nicht einfach schnell zu einem Schluss über die Wirklichkeit. Manchmal ist es schwierig, die Veränderung gleich zu sehen, dann müssen wir uns damit helfen, über größere Zeiträume zu kontemplieren. Auch wenn einzelne Objekte die Veränderung von Moment zu Moment nicht wahrnehmen lassen, so ist doch ganz klar, dass diese Uhr oder ein Stein oder ein Felsen im Laufe von Jahrhunderten ganz deutliche Veränderungen aufweisen. Dann machen wir das Gleiche mit unserem gesamten Erleben und gehen dabei in die Empfindungen. Mit Empfindungen sind die sechs Bereiche von Empfindungen gemeint. Die ersten fünf Bereiche sind Geschmack, Geruch, Gehör, Sehen und Fühlen – inneres und äußeres Körpergefühl – und dann gehen wir in den sechsten Sinn, die geistigen Empfindungen, das Wahrnehmen von dem, was im Geist pas-siert. Damit sind wir auch schon beim Geist und den verschiedenen Bewusstseinszuständen. Bei all dem schauen wir, ob es irgendetwas gibt, was sich nicht wandeln würde, ob das, was wir jetzt gerade erfahren, sich tatsächlich ändert. – Wir kommen nicht mit dem abstrakten Konzept, „Das ändert sich!“, sondern wir versuchen zu erleben, wie es sich ändert. Dafür brauchen wir diese Geistesruhe, damit wir nicht einfach das Konzept der Vergänglichkeit aufdrücken, sondern dass die Vergänglichkeit zu einer gelebten Erfahrung wird. Das ist ganz wichtig! Wir erinnern uns immer wieder daran, nicht nur ein-fach zu sagen „Das ist vergänglich, das ist vergänglich.“, sondern es zu spüren, bis zu dem Punkt, wo wir es gar nicht mehr zu sagen brauchen, es ist so offenkundig. Wenn wir nicht über ausreichende Geistesruhe verfügen im Erleben des Wandels, dann werden wir ihn nicht sehr lange erfahren können. Wir werden von unseren Anhaftungen und Abneigungen rausgeris-sen in die Welt des Denkens, in unsere Gedankenketten hinein und sind nicht mehr in der direkten Erfahrung dessen was ist, und damit kommen wir auch nicht zu einem Begreifen, einem Erleben der Wirklichkeit, das uns von innen her verändern würde. Es geht darum, dass ein tiefes Erkennen des un-vermeidbaren Wandels stattfindet, das dann zu einem Loslassen führt, zu einem In-Fluss-Kommen. Das Schöne am Loslassen ist, dass wir dadurch in Fluss kommen. Wir kommen in Fluss mit den Din-gen und sind nicht überrascht, sondern wir wissen es und sind im Einklang mit der Wirklichkeit. Wir kommen ins Fließen, weil wir nicht mehr festhalten. Wir können nicht im Fluss sein, wenn wir noch festhalten, das ist so wie mit Zufriedenheit und Entsagung. Um im Fluss zu sein, muss man loslassen. Um zufrieden zu sein, muss man loslassen. Das geht miteinander einher. Wir werden dann die wichtige Erkenntnis machen, dass wir eine schöne Erfahrung nicht wiederholen können. Wir sitzen hier z.B. zusammen, wir teilen den Dharma. Das haben wir auch in den früheren Jahren schon getan, aber jedes Jahr war es anders. Auch wenn die Erfahrungen vergleichbar sind, so ist doch nie dieselbe Erfahrung wiedergekommen. Und wir können es auch mit aller Anstrengung nicht schaffen, dass sich nächstes Jahr das Gleiche wiederholt. Das schaffen wir nicht, es wird anders sein. Das ist jetzt im großen Zeitraum gesprochen, aber schauen wir uns einmal den jetzigen Moment an, gerade diesen Moment jetzt. –

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Ein Atemzug, und schon der nächste Atemzug ist ein wenig anders. Schon der nächste Moment ist ein wenig anders, und nichts kann den vorhergehenden Moment zurückbringen. Niemand kann den nächs-ten Moment so gestalten, dass er dem Moment entspricht, der uns so gut gefallen hat, den wir gerne wieder erleben würden. Das geht nicht, das schaffen wir nicht. Es geht weiter. Das Bemühen, einen geliebten Moment, geliebte Situationen, eine geliebte Phase in unserem Leben wiederherzustellen, ist zum Scheitern verurteilt. Dieses Bemühen ist Ausdruck von Unwissenheit. Die Unwissenheit besteht darin, nicht zu erkennen, dass wir nicht die Macht haben, die verschiedenen Ursachen und Bedingungen zu kontrollieren, die zum Entstehen einer solchen Situation führen. Wir schaffen es mit Mühe und Not, unseren Geist ein kleines Bisschen zu kontrollieren, ein kleines Biss-chen. Aber selbst dieser Geist ändert sich, auch wenn wir unseren Geist gut kennen und immer wieder in ähnliche Öffnung z.B. hineinbringen können. Aber wir kontrollieren überhaupt nicht, was mit anderen passiert, was mit dem Wetter geschieht, was mit den materiellen Objekten passiert. Der Körper entzieht sich unserer Kontrolle, unser eigener Kör-per verändert sich mit jedem Atemzug. Daher ist es ganz wichtig, dass uns die Praxis zu einem solch intimen Erleben des steten Wandels führt, dass wir diesen Kampf gegen die Vergänglichkeit aufgeben. Das können wir zunächst einmal als eine Niederlage erleben, und zugleich ist es der erste große Schritt in die Befreiung. Da lockert sich etwas und da sind wir dann bereit, mit dem Sein zu arbeiten, mit dem Wandel. Da ist dann die Möglichkeit, tatsächlich vom Leben zu lernen, mit dem Leben zu gehen und zum Leben zu werden. Ganz wichtig in dieser Betrachtung ist, sich für das Leben selbst zu öffnen. Nur dann können wir vom Leben lernen. Leben ist Wandel. Leben gibt es nur mit Wandel, das sind eigentlich sogar Synonyme. Es ist in der Natur der Dinge, dass das, was lebt sich wandelt. Es gibt keinen Moment im Universum, wo es so etwas wie einen Tod geben würde. – Einen Tod in dem Sinne, dass der Wandel aufhört, gibt es nicht. Tod als Ende des Wandels existiert nicht, ist nicht zu finden. Tod ist Wandel, Tod ist Teil des Lebens, es ist einfach das Aufhören von einem und das Weitergehen in etwas anderem. Es gibt den Tod insofern, als ein Lebewesen z.B. aufhört zu atmen, der Körper dann zerfällt und der Geist im Prozess des Wandels weitergeht. Das gibt es. Wenn wir das Tod nennen, ist das nur ein ande-rer Ausdruck für Wandel – ein krasser Wandel, könnte man sagen, ein großer Übergang, wobei aber dann auch zu fragen ist, wo dann der Tod beginnt und wo er aufhört. Hat das Sterben nicht schon mit der Geburt begonnen? Ist es nicht schon da angelegt? Ist nicht das Altern der Zellen usw. schon angelegt im Geborenwerden? Kann man überhaupt von diesem Tod sa-gen, dass es ein präziser Moment ist? Eigentlich ist im Entstehen immer schon das Vergehen angelegt und deswegen sprechen wir vom gleichzeitigen Entstehen und Vergehen. Das ist eine der großen Betrachtungen, wenn wir über Ver-gänglichkeit meditieren: die Gleichzeitigkeit von Entstehen und Vergehen. Nehmen wir das berühmte Beispiel des Aufgehens und Untergehens der Sonne. Die Sonne geht auf … und sie geht unter. Wo beginnt das Untergehen? Wenn man genau hinschaut, beginnt das Untergehen bereits mit dem Aufgehen. Man kann nicht sagen: „Hier geht die Sonne auf, bis zum Zenit ist alles o.k. und dann beginnt sie unterzugehen.“ Nein, der Beginn des Verschwindens ist schon im Entstehen. Es ist ein ständiges Zusammenspiel von Entstehen und Vergehen, gleichzeitig. Manche Prozesse gehen so schnell, dass wir gar nicht so schnell benennen können: „Das ist jetzt das Entstehen, das ist das Ver-weilen und das ist das Vergehen.“ Ein Dharmazentrum wird genau so entstehen, eine Weile existieren und vergehen. Nichts kann das aufhalten, nichts in der Welt. Jede Liebesbeziehung wird entstehen und vergehen, und der Lauf der Vergänglichkeit ist bereits im Entstehen mit inbegriffen. Nichts, keine Kraft der Welt kann das auf-halten, denn die Ursachen und Bedingungen, die zum Entstehen führen, werden sich ändern. Das Ver-ändern der Ursachen und Bedingungen, die etwas in die Erfahrung bringen, bewirken, dass sich diese Erfahrung ändern wird, denn die Ursachen und Bedingungen sind ihrerseits auch dem Wandel unter-worfen. Es ist ein fortwährendes Zusammenspiel dieser vielen Ursachen und Bedingungen. Ich habe euch bereits das Stichwort für den nächsten vertiefenden Prozess der Meditation geliefert:

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Ursachen und Bedingungen Ursachen und Bedingungen kommen zusammen, wandeln sich und führen deswegen zum Wandel des-sen, was von ihnen bedingt und verursacht ist. Alles ist von Ursachen und Bedingungen abhängig. Fangen wir doch einmal bei uns selber an. Wo-durch bin ich hier – dieses vermeintliche Ich – was für Ursachen und Bedingungen bringen mich in diese vermeintliche Existenz? Wenn ich daran denke, von was allem wir abhängen, was für Ursachen und Wirkungen dazu bei-tragen, dass wir jetzt hier sind, da wird mir ganz schwindlig. Es ist so unglaublich, was alles dazu bei-trägt, und es ist so wenig, was es bräuchte, um diesem Ding da ein Ende zu setzen – einfach nur ein paar Tage nichts essen und trinken, oder eine Arterie wird irgendwie durchstochen, oder ich ver-schlucke was, habe es quer im Hals und ersticke daran, um gar nicht von all den Ursachen und Bedin-gungen zu sprechen, die dazu geführt haben, dass ich nach so vielen Jahren jetzt hier sitze. Es ist ja Schwindel erregend, wenn wir uns überlegen, in was für einer Welt von Bedingungen wir leben und was für ein Wunder es im Grunde genommen ist, dass wir so weit gekommen sind. Wir hängen vom guten Willen der anderen ab. Wir hängen davon ab, dass die Leute schön auf der rechten Fahrbahn bleiben, wenn wir ihnen im Auto entgegenkommen. Kürzlich musste ich durch den Graben fahren, weil das nicht der Fall war. Ja, dann ist es eventuell auch grad einmal vorbei. Wenn wir so im Betrachten von Ursachen und Bedingungen sind, dann kommen wir zu zwei ganz we-sentlichen Unterweisungen des Buddha, dem Entstehen in Abhängigkeit und der wechselseitigen Be-dingtheit, Interdependenz. Das sind zwei verschiedene Erklärungen, die man etwas getrennt halten sollte, weil sie unterschiedliche Aspekte der Wirklichkeit beschreiben. Die 12 Glieder bedingten Entstehens beschreiben, was alles zum Haften und dann zum Ergreifen führt, nämlich das Verlangen aufgrund von Empfindungen, die aus dem Kontakt der Sinnesquellen entstehen, die wiederum auf der Annahme eines Ichs, einer Identifikation mit Körper und Geist be-ruhen. Diese Identifikation beruht auf karmischen Faktoren und Unwissenheit. Diese Kette führt hin bis zum Ergreifen und das Greifen verdichtet diese Identifikation, führt zu dem Faktor, den wir Wer-den nennen. Das wiederholte Sich-Bestätigen im unwissenden Handeln führt zur Verstärkung von Un-wissenheit und so geht die Kette weiter – über Zwischenglieder, die man Geburt, Alter und Tod nennt, mit Klagen, Kummer und so weiter. Das ist die Kette des abhängigen Entstehens, die uns zeigt, dass Leid immer dann entsteht, wenn wir in Unwissenheit sind, und das hat eine Kettenreaktion zur Folge. Diese Kette zeigt uns auf, wo wir sie unterbrechen können, um zum abhängigen Entstehen der Befreiung zu kommen. Wenn es keine Iden-tifikation mehr gibt, kommt es nicht zum Ergreifen und nicht zu Handlungen, die die Unwissenheit verstärken. Ein wesentliches Element dabei ist, dass wir die Vergänglichkeit verstehen und nicht mehr nach den vergänglichen Erfahrungen greifen und uns damit identifizieren. Damit ist die Vergänglichkeit unseres Körpers, unserer Empfindungen, unserer Bewusstseinszustände gemeint, was uns als Erkenntnis hilft, uns nicht mehr mit diesem vergänglichen Körper-Geist zu identifizieren. Die andere Beschreibung der Wirklichkeit ist das, was wir wechselseitige Bedingtheit nennen, wobei die Betonung auf wechselseitig ist. Alles bedingt sich gegenseitig, jedes Entstehen von etwas bedingt wieder anderes und zwar in vielfältiger Wechselbeziehung. Dieses Blatt Papier, das ich in der Hand halte – Ihr kennt es schon, ihr wisst! Ich spreche euch von etwas sehr Vertrautem – entsteht aus Holz, aus Kleber … in einer Fabrik. Da waren Holzfäller, ihre Gedanken und Motivationen, da waren Verkäufer, Zulieferer von Papier, Fotokopiermaschinen, Leute, die die Fotokopierer gebaut haben… Da waren Leute, die das Sutra gelehrt und übersetzt haben, dann gibt es Leute, die diese schwarzen Farbpartikel auf dieses Blatt Papier schießen, damit es lesbar wird. Und dieses lesbare Papier kann dann tatsächlich gelesen werden, es kann verbrannt werden, es kann dazu führen, dass jemand darauf ausrutscht. Es ist seinerseits wieder Teil von anderen Phänomenen. Es geht weiter, die Geschichte hört mit dem Papier nicht auf.

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Dieses Papier besteht nur aufgrund der Ursachen, die dazu geführt haben, dass es entsteht und auf-grund der Bedingungen, dass es weiter besteht. Ein bisschen mehr Feuchtigkeit und dieses Papier löst sich auf, ein bisschen Feuer und es wird zu Asche, ein wenig daran rupfen und es sind nur noch Fetzen. Was auch immer, Bedingungen führen dazu, dass dieses Papier jetzt immer noch in meiner Hand ist. Wenn ich ein bisschen stärker dran reißen würde oder es über die Flamme halten oder es ins Wasser legen würde oder das Dach undicht wäre, dann wäre von diesem Papier bald nichts mehr übrig. – Nichts mehr übrig ist unsauber ausgedrückt, es ist natürlich immer etwas übrig. Das was übrig ist, führt in einer Kette von Ursachen und Wirkungen zu anderen Phänomenen. Es gibt Wärme, es gibt Erde, es gibt was auch immer. Es geht weiter. Dieses Papier ist also nur ein Moment in einer Kette von Ursache- und Wirkungsbedingungen, die zum Erscheinen dieses Phänomens geführt haben und wird irgendwann aufhören als solches zu existieren und in irgendetwas anderes übergehen. In dieser Zeit hat es auch schon wieder etwas bedingt: Es nimmt seinen Platz im Raum ein, es kann gelesen und genutzt werden. Es bedingt wiederum anderes. Das ist mit allen Dingen so. Durch viele Ursachen und Bedingungen kommen sie in eine vermeintliche Existenz, bewirken durch ihre Existenz wieder dieses und jenes, bis sich diese Form der Präsenz auf-löst. Eigentlich ist es nur ein Name, den wir diesem Etwas geben, dass wir es ein Blatt mit dem und dem gedruckten Inhalt nennen können. Eigentlich ist es eine Illusion die Dinge zu benennen und zu meinen, das wäre jetzt ein Endstadium. Nichts ist ein Endstadium. Alles ist weiterhin Ursachen und Bedingungen ausgesetzt und ist seinerseits Ursache und Bedingungen für anderes. Wenn wir Dinge beschreiben, ihnen einen Namen geben, dann greifen wir nur aus dem Prozess der Vergänglichkeit kurz etwas heraus, benennen es, um damit arbeiten zu können, um uns verständigen zu können. – Ein sehr sinnvoller Prozess, aber leider verbunden damit, dass wir im Benennen verges-sen, was für Ursachen und Bedingungen es braucht damit es weiter besteht, damit es nicht vergeht. Wir sind in der Illusion von tatsächlich existierenden Dingen. Wenn wir nicht mehr in Kontakt mit der Wirklichkeit sind, dass alles vergänglich ist in wechselseitiger Abhängigkeit, so ist das Ursache von Leid. Wenn wir den Prozess des Benennens von Phänomenen, von Erscheinungen betrachten, dann hat es ja durchaus etwas Sinnvolles. Wir benennen etwas, um damit arbeiten, um uns austauschen zu können. Das Dumme ist aber, dass wir dabei vergessen, dass es sich nicht um ein Endprodukt handelt, um et-was Stabiles, Unwandelbares, sondern dass wir durch das Benennen – und das immer wieder gleich Benennen – dem Glauben aufsitzen, es würde sich immer um etwas Identisches handeln. Dadurch dass die Namen gleich bleiben, aber das Benannte sich ändert, entfernen sich die Namen von der Wirklich-keit. Das kann man ganz deutlich spüren, wenn man Menschen benennt: Ich, derjenige mit dem Namen Lhündrup. Ich bin der, du bist die mit den und den Qualitäten. Wer ist denn dieser Lhündrup, die Dag-mar, die Dorit? Wir haben sie einmal kennen gelernt. In dem Moment haben wir den Namen kennen gelernt, haben uns den Namen eingeprägt und da waren bestimmte Qualitäten im Raum. Und dieses Bild von dem was eine Dorit, eine Rita oder ein Andras ist, müssten wir eigentlich in jeder Situation korrigieren. Wir müssten uns wieder einlassen können darauf, was sich hinter dem Namen verbirgt, denn der Name ist nicht dieser Geistesstrom mit dem Körper, in dem er sich gerade manifestiert. Wenn wir nicht aus Unwissenheit handeln wollen, dann müssten wir eigentlich bei all den Benennun-gen immer im Bewusstsein der Vergänglichkeit, des Wandels und der wechselseitigen Bedingtheit al-ler Phänomene bleiben. Wenn wir das in allen seinen Ausmaßen wahrnehmen würden, dann würden wir in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit handeln. Dann wäre zwischen unserem Betrachten der Wirklichkeit und der Wirklichkeit kein Unterschied mehr. Wenn wir aber abheben und in Begriffen le-ben, dann werden wir – auch wenn die Begriffe an einem bestimmten Punkt die Wirklichkeit exakt beschrieben hätten – im Laufe des Wandels auf jeden Fall eine Diskrepanz zwischen den Begriffen und dem Benannten entdecken. Und das ist diese Diskrepanz, dieses nicht in Übereinstimmung-Sein mit der Wirklichkeit, die zu Leid führt – bei allem, in jeder Situation. Wenn ich meine Idee von dem was Karl ist, nicht korrigiere, wenn ich an den Karl denke, den ich vor soundso vielen Jahren kannte, dann kann es passieren, dass ich, wenn ich dem Karl heute begegne, eine große Überraschung erlebe, weil da ein Unterschied ist. Das Gleiche habe ich auch für mich selbst zu verantworten. Ich habe eine Idee von mir als Lhündrup, die sich irgendwann einmal gebildet

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hat. Und wenn ich diese Idee von mir als Lhündrup nicht an den Entwicklungsprozess anpasse, an den Wandel, an das Leben, dann habe ich mit meiner Idee von mir selbst und dem, was tatsächlich ist, irgendwann ein Problem. Dann bin ich im Konflikt mit der Wirklichkeit. Im Grunde genommen müss-ten wir unsere Begriffe von dem, was wir beschreiben wollen, ständig an die Entwicklungen, die statt-finden, anpassen. Wir müssen ständig unsere Idee von uns selbst, von den anderen und von den Din-gen um uns herum korrigieren. Wir müssen sie neu definieren. Und das Beste wäre tief zu verstehen, dass es den Lhündrup als ein Ich – als Name mit dem was dahinter stehen sollte – als solches gar nicht gibt. Es gibt einen Bewusstseinsstrom, der sich in einem Körper ausdrückt, all das ist ständigem Wan-del unterworfen, und obwohl ich dafür immer denselben Ausdruck Lhündrup benutze, ist damit nie dasselbe gemeint. Keinen einzigen Moment ist es dasselbe. Das gilt auch für die materiellen Objekte wie auch für andere Personen. So wie es für mich zutrifft, dass ich von mir sagen muss, nicht einen Moment derselbe zu sein, dass mit meinem Namen nicht einen Moment dasselbe gemeint ist, genauso ist es mit den Namen der anderen, der Freunde und Ver-wandten, der Partnerin oder des Partners, der Kinder, … nicht einen Moment ist damit dasselbe ge-meint. Das gilt auch für mein Auto, nicht einen Moment ist mein Auto dasselbe, nicht einen Tag. Das können wir ausdehnen auf mein Haus, meinen Garten, was auch immer. Im Universum ist nichts, was wir bemerken und benennen können, je für einen Moment dasselbe wie im Moment zuvor. Die Meditation auf die Vergänglichkeit hilft uns, immer aufs Neue das zu entdecken, was gerade ist. Die Meditation auf die Vergänglichkeit, auf den Wandel, ist nie abgeschlossen – nie, zu keinem Zeit-punkt. Sie muss immer fortgesetzt werden, weil sie das korrigierende Element in unseren falschen An-nahmen über die Wirklichkeit ist. Wir müssen immer im Kontakt bleiben mit dem Leben. Wir können es uns nicht erlauben, jetzt einmal eine gute Analyse über die Vergänglichkeit vorzunehmen und dann damit aufhören. Wir müssen immer weitermachen. Das bedeutet es, im Fluss zu sein, im Wandel mit völlig offenem Geist, um all die sich wandelnden Bedingungen zu spüren, mit uns selber als ein nicht näher zu definierender Geistesstrom, der ebenfalls im Wandel ist. Wenn wir nicht in Konflikt mit der Wirklichkeit geraten wollen ist es wichtig, immer im Bewusstsein des Wandels, des Lebens, des Flusses zu bleiben, denn sonst entsteht Spannung zwischen unseren Vorstellungen über die Wirklichkeit und dem, wie die Dinge tatsächlich sind. Das ist eines der wichtigen Ergebnisse der Meditation auf Vergänglichkeit.

* * * Wir meditieren erst ein wenig, damit ihr dann eure Fragen direkt aus der Erfahrung stellen könnt. Es wäre schön, wenn die Fragen das Thema Vergänglichkeit betreffen würden.

* Meditation *

Was ist der Wandel, den ihr jetzt gerade beobachten könnt? – Diese Meditation fühlt sich gut an, wir hätten da noch lange weiter machen können. Ich wollte euch aber noch Gelegenheit geben Fragen zu stellen. Es liegt mir dabei vor allen Dingen am Herzen zu hö-ren, was ihr noch braucht, um solche Zeiten stiller Meditation – wie z.B. heute morgen, wo ich über-haupt keine Anleitungen gegeben habe und wir einfach eine Stunde still saßen – alleine gut zu nutzen. Ich würde also gerne wissen, was ihr noch an Hilfestellungen braucht. Oder auch wie gerade jetzt bei diesem stillen Verweilen: Was fehlt euch noch, wenn ihr nach Hause kommt oder auch in der nächsten Woche hier meditiert? Was braucht ihr noch, um selber mit eurem Geist sinnvoll arbeiten zu können?

Das Prinzip des Benennens in der Meditation

Frage: Zur Meditation auf den Wandel: Da gibt es Geräusche, die entstehen und vergehen, Gedanken, die entstehen und vergehen. Wenn ich mich mit diesem Entstehen und Vergehen befasse, wie kann ich

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verhindern, dass es nicht aufgrund dieser Beobachtung des Wandels zu neuen Gedankenketten kommt? Als ich zum ersten Mal mit dieser Praxis vertraut gemacht wurde – das war während der Kurse zu Anapanasati, wo wir die Aufmerksamkeit auf die Vergänglichkeit gerichtet haben – da sagten unsere Lehrer aus der burmesischen Tradition, dass es völlig ausreicht „Wandel … Vergänglichkeit …“ zu sagen. Es reicht völlig aus ein einziges Wort zu nehmen, das diese Beobachtung ein wenig unter-streicht und dadurch tiefer im Bewusstsein verankert. Das Wort, das wir damals benutzt haben, war anicca – nicht beständig oder unbeständig. Das braucht man nicht auf Pali zu sagen, man kann diese Bemerkung auch gleich in seiner eigenen Sprache machen und kann geistig sagen: „unbeständig … Wandel.“ Das Gleiche kann man machen, wenn man Bedingtheit beobachtet: „Ah! Bedingt!“ Oder man sagt sich: „Ursache und Wirkung.“ Man nimmt einfach etwas, das unterstreicht, was man gerade beobachtet hat, aber ohne in weiteres Denken und Spekulieren über das Beobachtete zu gehen. Dieses Prinzip des Benennens lässt sich dann auf alles andere auch anwenden, das ist derselbe Prozess. Man kann z.B. die Aufmerksamkeit auf das Haften lenken und unterstreicht dann, was man gerade bemerkt hat, ganz neutral: „Ah, Anhaften!“, oder: „Ärger!“ Man benennt es, um klarer zu machen was man ge-rade gesehen hat. Nach Wochen, Monaten kommt man dann mit seiner Praxis aber auch an den Punkt, wo man merkt, dass man das Benennen gar nicht mehr braucht. Das Bewusstsein ist klar genug und braucht dieses Unterstreichen nicht mehr. Dann lassen wir das mentale Benennen sein oder machen es seltener. Ich erlebe immer noch als hilfreich bei Emotionen – speziell bei den ganz subtilen, die sich manchmal nur durch einzelne Gedanken zeigen – dann kurz anzutippen: „Ah, Stolz!“, „Ah, Rivalität – Eifer-sucht!“ und die eben gemachte Beobachtung zu unterstreichen, um mir nicht zu erlauben, so zu tun als wären die Emotionen nicht vorhanden. So bleibt im Bewusstsein, dass da solche Impulse sind und da-mit sind sie auch losgelassen, man beschäftigt sich nicht mehr damit. Aber es ist klar zur Kenntnis ge-nommen worden, was auch bewirkt, dass man es nicht verdrängt. Ja, das ist ein neutrales Benennen von dem, was man beobachten konnte und dann geht das Leben weiter. Das Loslassen ist dann kein Wegschieben sondern dem geht ein Annehmen voraus. Und das wär’s dann auch schon. So bleiben wir klar bewusst über die Tendenzen, die in uns aktiv sind.

Freude und Wohlergehen – Präzision und globale Wahrnehmung

Frage: Ich bin heute Morgen in der Meditation die Stufen durchgegangen, so gut wie ich mich daran erinnern konnte. Beim Verfolgen des Atems habe ich dann bemerkt, dass ich doch lieber zähle. Ich habe dann auch gezählt und konnte so den Atem gut verfolgen. Ich war wie schon zwei, drei Mal zuvor erstaunt, dass keine besondere Freude aufgetreten ist, aber dann weitete sich die Aufmerksamkeit aus und wurde globaler und umfasste mein ganzes Sein, was durchaus ein Gefühl von Wohlergehen her-vorgerufen hat. Dann habe ich mich aber in diesem Wohlergehen etwas verloren, ich habe das Gefühl, es wurde dann unscharf. Ich weiß nicht, ob das jetzt das Problem des Wohlergehens ist oder ob es mit etwas anderem zu tun hat. Ich hätte dabei gerne Unterstützung. In deiner Beschreibung fällt auf – und ich glaube, das dürfte vielen von euch so gehen – dass keine spezielle Freude auftaucht. Das hängt zum einen damit zusammen, dass man sich ein bisschen ge-wöhnt und auch gar nicht mehr so fasziniert ist mit dem was passiert – das ist der Vorteil von wieder-holter Praxis. Das andere ist, dass die Tiefe unserer hochgeistigen Ruhe gar nicht so stark ist, uns mit der Ruhe so verliebt werden zu lassen. Sie ist nicht so außergewöhnlich, dass wir in ein starkes Grei-fen nach dieser Ruhe kommen, weil sie einfach recht normal ist, etwas ruhiger als vorher. Wie dem auch sei, man tritt eigentlich ohne über die Phase der Freude zu gehen, die viel Anhaften auslöst, direkt ein in eine heitere Gelöstheit, eine heitere Gelassenheit. Mit ‚heiter’ ist einfach dieses Wohlergehen in tiefer Gelöstheit gemeint. Es ist geistige Ruhe mit einem Wohlempfinden. Das tut sich regelmäßig auf, wenn sich der Geist beruhigt, und da ist nichts Besonderes, Außergewöhnliches dran. Da ist auch gar nicht viel daran loszulassen, es ist einfach eine gute Arbeitsbasis. Mit dieser Arbeitsbasis öffnet sich der Geist und es ist ganz normal, dass wir dann zu dieser globaleren Wahr-nehmung kommen.

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In dieser weiteren, umfassenderen Wahrnehmung von all dem was lebt und was ist, verlieren wir uns oft. Das ist bekannt. Es ist ein bekanntes Phänomen, dass eine entspannte, globale Wahrnehmung dazu führt, dass man unpräzise wird. Da braucht es als nächsten Schritt die Rückkehr zum Atem. Wir bleiben wirklich beim Atem, ohne aber das andere auszugrenzen. Die Wahrnehmung all dessen was auch ist – physischer Körper, Atem-körper, all das, was mitatmet und mitlebt – bleibt im Hintergrund im Bewusstsein, aber vordergründig kommen wir wieder auf ein präzises Wahrnehmen des Atems an der Nasenspitze, den Nasenflügeln, der Oberlippe oder im Bauchraum zurück und schärfen unsere Bewusstheit wieder. Das ist eine neue Art von Atembewusstheit, die jetzt mit einbezieht was drum herum auch noch lebt und atmet, aber mit Präzision. Präzision und globale Wahrnehmung werden miteinander verbunden. Dieses Thema der Präzision bei panoramischer Wahrnehmung finden wir auch im Alltag wieder. Bei jeder Handlung im Alltag – wo es auch ist – brauchen wir diese Fähigkeit konzentriert bei dem zu sein, was es zu beobachten und zu tun gilt und gleichzeitig den Kontakt mit allem anderen drum he-rum nicht zu verlieren – die panoramische Wahrnehmung und die Präzision im Detail. Das zusammen-zubringen, ist einer der Nutzen der Praxis: präzise sein zu können, ohne den Sinn für das Ganze zu verlieren. Manche Anthropologen würden behaupten, das kommt dem gleich, Mann und Frau in sich zusammen-zubringen – den Jäger, der ganz darauf fokussiert ist, was es zu jagen gibt, und die Mutter, die zu Hau-se alle Kinder überschaut und dieses Gruppengewahrsein, dieses Umgebungsgewahrsein kultiviert. Wie dem auch sei, wir brauchen beide Qualitäten. Das findet sich ebenfalls in den Mahamudra-Belehrungen wieder. Gendün Rinpoche sagte uns – alle anderen Meister zitierend – immer wieder: „In deinem Verhalten sollst du so präzise sein wie beim Einfädeln eines Fadens durch ein Nadelöhr und dein Geist sollte dabei so weit sein wie der Himmels-raum, im Mahamudra.“ Also Präzision im Handeln, während der Geist vollkommen weit bleibt. Anmerkung: Ich fand die Meditation auf die Vergänglichkeit in dieser Hinsicht leichter. Darin konnte ich mehr Präzision entwickeln als im Beobachten des Atems, der alles ausfüllt. Ich brauchte etwas Spezifischeres. Du kannst das auch verbinden: Meditation auf den Wandel in der Atem-Erfahrung und das präzise An-schauen.

Buddhanatur

Frage: Mir fehlen ja die Werkzeuge, um die Buddhanatur auf ihre Vergänglichkeit oder Beständigkeit zu untersuchen. Wieso ist die Buddhanatur denn unabhängig von Ursache und Bedingungen? Wenn du von Buddhanatur sprichst, dann meine ich jetzt zu hören, dass du diesen Zustand des Erwa-chens meinst, diese Dimension des Erwachens? Ja? Du kannst diesen Zustand nicht als etwas nehmen, das man sich anschaut, es schimmert so durch. Im-mer wenn ein Loslassen stattgefunden hat oder wenn wir in Gelöstheit sind, dann taucht mehr von die-ser Offenheit auf, die sich ihrerseits dem Zugriff entzieht. Wir haben nicht wirklich Werkzeuge, um sie anschauen zu können und erleben diese Dimension als etwas, was irgendwie immer da ist, aber nicht greifbar ist. Und dann schauen wir im nächsten Schritt: „Ist diese Dimension ein Ich, ist es etwas Individuelles oder ist es etwas, was gar nichts mit dem Ich und dem Haften zu tun hat?“ Wir schauen hin, aber irgendwie schaffen wir es immer nur, das aufzulösen was uns hindert, in dieser Dimension zu sein. Die Dimension selbst entzieht sich uns. Wir gewöhnen uns in der Praxis allmählich daran, dass es kein Werkzeug gibt, das die Buddha-Di-mension fassen könnte. Die Werkzeuge, die wir haben, schaffen es bloß die Hindernisse beiseite zu räumen. Wir können dieser Dimension nichts beifügen, nichts wegnehmen, sie entzieht sich dem Zu-griff der Analyse. In dem Moment wo wir analysieren wollen, bemerken wir unser Wollen, aber wir sind nicht mehr in dieser Dimension. Das sind Erfahrungen, die wir damit machen. Und es geht da-rum, solche Erfahrungen zu machen. Dein Vorgehen ist völlig o.k. Mach so weiter, versuche ruhig, diese Dimension zu erhaschen, zu fassen, und mach deine Erfahrungen damit.

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Wir entdecken in dieser Dimension – jedes Mal wenn sie näher kommt oder wir sogar darin aufgehen können – ihre befreiende Qualität, dass wir völlig frei sind, dass dieser Geistesstrom völlig frei ist von Leid, frei von Haften. Aber das ist auch wiederum nur die Abwesenheit von etwas, was vorher war. Wir können dieser Dimension kein klares Merkmal zuschreiben. Sie ist nicht etwas, das Merkmale hätte und von daher ist sie schwierig zu analysieren. Shine und Mantra-Rezitation Frage: Ich bräuchte Unterstützung dabei, dass ich noch eine starke Trennung mache zwischen Shine und z.B. Mantrarezitation. Gibt es da Anleitungen, wie ich das mehr verbinden kann? Mantrapraxis ist Shine-Lhagtong-Praxis. Da braucht man gar nichts zusammenzuführen. Das ist in sich bereits die Praxis geistiger Ruhe und intuitiver Einsicht. Während wir Mantra rezitieren, lösen wir uns aus den verschiedenen Verhaftungen, aus der Ichbezogenheit, und beruhigen so den Geist. In die-sem ruhigen Geist, der mit Hilfe des Mantras im Fluss bleibt, sind wir in klarer Wahrnehmung dessen was ist, und das führt zur Einsicht. Ich kann dir also nicht helfen, die beiden zusammenzubringen, weil sie schon immer dasselbe sind. Mantrapraxis ist Shine-Lhagtong-Praxis. Es hat vielleicht noch nie je-mand so klar gesagt, aber in allen Kommentaren wird es ganz eindeutig so beschrieben, und es gibt da gar nichts anderes. Das Meditationsobjekt in der Mantrapraxis ist das Mantra und die Visualisation, die damit einhergeht. Und in dem, was wir allgemein Shine nennen, haben wir andere Meditationsobjekte. Aber was wir mit dem Geist machen, ist immer dasselbe. Die Arbeit mit dem Geist ist immer dieselbe: aus den Anhaftungen aussteigen, was zur geistigen Ruhe führt, und betrachten was ist.

Vorteil von Struktur

Frage: Mir ist bei der Meditation wichtig, dem Ablauf zu folgen. Egal ob es heißt ‚Ich beruhigen die körperlichen Gestaltungen’ oder ‚Ich erlebe Freude’, es kommt ja auf das Gleiche raus, dass ich mich auf den Atem konzentriere und probiere, auf dieser Welle des Augenblicks zu bleiben, nicht nach hin-ten in die Vergangenheit abzurutschen, nicht nach vorne. Ich weiß nicht, ob es sinnvoll ist, die Instruk-tionen dazu auswendig zu lernen. Wenn ich es ohne diese Abschnitte mache, und dann nur eine Stunde so sitze, dann schaffe ich es nicht so gut, auf dieser Welle zu bleiben.. Ja, das ist der Vorteil von Struktur, dazu habe ich gar nicht viel zu sagen. Das ist einfach genau der Grund, warum ich euch diese Stufen unterrichte: Damit ihr Bezugspunkte habt und die Zeit, die sonst einfach so dahin fließt, ein bisschen gezielter nutzen könnt, damit ihr genau wisst, was ihr mit dem Geist tun könnt. Das ist wohl der Grund, warum Buddha Shakyamuni diese Stufen beschrieben hat. Er hat das, was von selber passiert, einfach einmal benannt um Praktizierenden eine Orientierung zu ge-ben, eine Struktur, an der sie sich entlang hangeln können, damit sie sich nicht so im zeit- und raumlo-sen Meditieren verlieren, wo man dann nach vielen Jahren doch nicht weiter ist auf dem Weg. Wenn man diese Stufen verfolgt, die Vorbereitungen gut macht, den Geist beruhigt, ihn dann auf die richti-gen Dinge lenkt, die zu beobachten sind – Geist, Emotionen, Dharmas und dergleichen – dann kann man sicher sein, dass das Resultat Befreiung ist. Deswegen gibt es diese Stufen, auch wenn sie dann ineinander zusammenfließen, auch wenn sie dann nicht so klar voneinander getrennt sind. Das ist ja ein Entwicklungsfluss, ein Prozess.

Verstärken von Tendenzen durch Analyse?

Frage: Hilft uns das Beobachten und einfach nur Benennen von Tendenzen mehr um uns davon zu be-freien als genaue Analysen zu machen wie “Warum bin ich so?” oder „Was kann ich tun, um das los zu werden?“? Kann die Atemmeditation ein sehr guter und noch besserer Weg sein, um frei zu werden von unseren Tendenzen, ohne sie zu verstärken, je mehr wir an ihnen arbeiten? Wir sprechen hier zunächst einmal nur von Personen, die in der Lage sind diese Arbeit selbständig zu tun. Die klassische therapeutische Arbeit beinhaltet die Arbeit mit einer zweiten Person, die einem hilft bewusst zu werden und hinzuschauen. Hier handelt es sich schon um Menschen, die diese Arbeit ganz selbständig tun können.

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Diese Arbeit, die wir in der Meditation mit dem Benennen von emotionalen Zuständen machen, ist tat-sächlich in der Lage, eine Objektivierung herbeizuführen, eine De-Identifikation. Wir benennen nicht, indem wir sagen: „Ich bin ärgerlich!“, oder indem wir einfach den ichbezogenen Satz wiederholen: „Ich möchte dies und das!“ sondern wir sagen ganz nüchtern: „Begierde … Ärger … Eifersucht.“ Im Beobachten dieser Phänomene – wie sie entstehen und vergehen – bemerken wir, dass wir dieselben Beobachtungen machen, wie sie uns aus den Lehren, aus den Texten auch vertraut sind. Diese Beob-achtungen werden offenbar seit Tausenden von Jahren gemacht. Ich brauche also keine einzige per-sönliche, spezielle Unterweisung, die mir hilft, mit meinem Problem umzugehen. Es handelt sich um ganz menschliche Phänomene, und wir bekommen dieselben Antworten wie alle Menschen vor uns und nach uns. Und das hilft uns, aus diesem persönlichen Zirkus auszusteigen, indem wir merken: Es ist einfach ein Geistesstrom, der gerade bestimmte Emotionen hat und schon im nächsten Moment ist wieder etwas anderes da. Wo eben noch Enge war, kann jetzt schon wieder Weite sein, und wir neh-men das als einen unpersönlichen Prozess wahr, was unglaublich hilft, um frei zu werden. Das ist aber nur möglich, wenn wir reif genug sind, diesen Prozess auch selber zu gehen. Wir müssen uns fragen: „Bin ich an dem Punkt, wo ich ohne therapeutische Hilfe diesen Prozess gehen möchte?“

Gesundes Ich

Die Frage leitet in eine andere über, die im Hintergrund mitschwingt, und die ich gerne aufgreifen möchte: Welche Art von Person kann eigentlich diese Art von Dharma-Arbeit mit dieser Analyse der Emotionen, dem Hinschauen, Benennen und dem De-Strukturieren machen? Was ist das eigentlich, was wir ein intaktes Ich oder eine intakte Persönlichkeit nennen? In den Diskussionen mit den Psychotherapeuten sind wir in den letzten Jahren zu dem übereinstim-menden Schluss gekommen: Was die Therapeuten ein gesundes Ich oder eine intakte Persönlichkeit nennen, muss im Sinn des Dharma ein Mindestmaß an Paramitas haben. Wir brauchen ein Mindest-maß an Freigebigkeit, an wohltuendem Verhalten, an Geduld, an Ausdauer in Schwierigkeiten, an geistiger Stabilität und Weisheit, um einen gesunden Prozess einleiten zu können. Wenn wir in diesen Bereichen stark defizitär sind, wenn unsere Person, unser Sein zerrissen ist und noch nicht zu einer gewissen inneren Stabilität gefunden hat, dann wird die Arbeit mit solchen analytischen Methoden im Dharma immer schwierig sein, aber unter Umständen ist sie auch gefährlich. Man muss genau hin-schauen, ob man tatsächlich selber in seiner Praxis am richtigen Punkt ist, und wenn man mit anderen darüber spricht, muss man das auch wissen. Wenn wir Personen begegnen, die offenkundig solch eine Zerrissenheit erfahren, dann helfen wir ih-nen zuerst Achtsamkeit auf den Körper zu praktizieren, ganz bewusst achtsam zu sein mit den Hand-lungen des Alltags – Geschirr spülen, gehen, sich anziehen usw. Wir helfen ihnen Freigebigkeit zu entwickeln, Ausdauer in Schwierigkeiten, Geduld, eine gesunde ethische Basis aufzubauen. Wir helfen ihnen in diesen grundlegenden Qualitäten, womit wir die Paramitas in ihrer Basis stärken. Es sind Grundqualitäten menschlichen Seins, die wir stärken, bevor wir zur analytischen Arbeit übergehen. Diese Grundqualitäten müssen erst einmal durch mehr positives Karma gestärkt werden, bevor wir uns in die analytische Arbeit begeben. Frage: Ich möchte kurz nachfragen, ob ich das auch richtig verstanden habe. Es können ja auf dem Weg auch Situationen oder Bedingungen auftauchen, wo es eventuell auch sinnvoll ist, Unterstützung zu holen oder auch Unterstützung anzunehmen. Da schließt das eine ja nicht das andere aus, oder? Überhaupt nicht, jederzeit auf dem Weg können wir uns auch therapeutische Unterstützung holen. Je-de Art von Unterstützung ist willkommen. Die Schwierigkeiten, von denen ich jetzt gerade sprach, liegen in dem Bereich von Persönlichkeitsstö-rungen, die es sehr schwer machen zu meditieren. Aber wer meditieren kann, braucht vielleicht trotz-dem therapeutische Hilfe.

Freude – Erinnerungen

Frage: Bei mir ist es schon so, dass sehr starke Freude, starkes Wohlgefühl auftaucht, sobald der Geist ruhig wird. Allerdings bringt das dann auch viel anderes mit sich, manchmal könnte ich weinen. Das Wohlgefühl ist auch sehr stark im Körper. Ich habe versucht, mich davon nicht mitreißen zu las-

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sen, bin nicht so sicher, ob ich es auch wirklich geschafft habe, aber ich habe versucht, einfach ruhig zu bleiben damit. Erfahrungen von Freude und Wohlbefinden in der Meditation lösen unweigerlich ein Erinnern aus, ein nichtbegriffliches Erinnern an ähnliche, freudige Erfahrungen. Wir erinnern uns an ähnliche Erfahrun-gen der Vergangenheit und machen eine Verknüpfung mit all dem, was damals mit diesen Erfahrun-gen zusammenhing. Das können auch Enttäuschungen, Frustrationen der Vergangenheit sein, wo wir diese Freude nicht haben erfahren können aber ahnten, dass sie eigentlich grad um die Ecke ist, aber wir haben es irgendwie nicht geschafft, dahin zu kommen. Das führt beim Erleben der gegenwärtigen Ruhe und Freude dazu, dass sich Freude und Trauer auf seltsame Art miteinander vermischen. Man weiß gar nicht mehr, ob man aus Freude weint oder aus Trauer und es steigen viele Bilder auf. Das ist also Teil des normalen Prozesses. Was den Körper angeht, so haben wir durch die Ruhe, die sich einstellt, durch das Aussteigen aus Be-griffen, ein anderes Erleben. Die subtilen Energien zirkulieren anders und es öffnen sich kleine Knoten in unserem subtilen Energiesystem – so beschreiben es die tibetischen Lehrer immer. Man merkt tat-sächlich, dass plötzlich Bereiche unseres Körpers durchströmt werden, die vorher nicht durchströmt wurden, und es kann zu ganz starken körperlichen Empfindungen von Wohlergehen, von Freude, von Erregung und dergleichen kommen. Das geht vorbei, aber es ist Ausdruck des Sich-Öffnens dieser subtilen Energiekanäle. Man nennt das den Prozess der Reinigung, und zwar hier Reinigung durch Freude, durch Wohlgefühl, was all die Erfahrungen des Wohlergehens und des Nicht-Wohlergehens anstößt, die mit diesen Em-pfindungen zusammenhängen, mitschwingen. Dem muss man Raum geben. Erst wenn man dem Raum gegeben hat und die Welle durchrauschen konnte, kann man zum nächsten übergehen.

Oberflächlichkeit

Frage: Ich habe eine gewisse Oberflächlichkeit bemerkt. Der eine Aspekte davon ist, dass ich mich schnell damit zufrieden gebe, wenn kleine Früchte der Praxis auftauchen und der andere Aspekt der Oberflächlichkeit ist das Gefühl zu haben, es aufgrund der Unterweisung ohnehin schon zu verstehen und dass es dann in der Praxis, in der eigentlichen Meditation – hopp, hopp, hopp – ganz schnell weitergeht, ohne wirklich tief genug hinzuschauen. Kaum, dass es uns besser geht, eine gewisse Ruhe eingekehrt ist und wir ein bisschen klarer im Geist sind, so ist uns das schon genug. Es geht doch vielen so, wenn es nicht sogar uns allen so geht. Wir sind mit wenigem zufrieden. Da wird der ganze Weg vor uns ausgebreitet, man spricht uns vom Erwa-chen, was es da alles zu verwirklichen gibt, und wie toll das ist. Wir sind es zufrieden, einfach einmal entspannt durchatmen zu können und uns wohl in unserer Haut zu fühlen. Das reicht uns – zumindest den meisten – bis das nächste Leid kommt, das uns auf dieser kleinen Raststation, auf der wir uns ge-rade befinden, anstupst und sagt, „Ja, es geht noch weiter. Die Reise geht weiter!“ Das Leben wird uns nicht in Ruhe lassen in diesem Raststopp, auf dem wir uns da eingefunden haben. Es wird uns auch da einholen mit Wandel und Vergänglichkeit, wenn es nicht die Weisheit ist, die uns aufgrund tiefen Ver-stehens dazu bewegt, weiterzugehen und zu wissen: „Hier kann ich mich nicht dauerhaft aufhalten. Das wird nicht reichen, es ist ein Glück, das wieder zerfließt.“ Die Weisheit kann uns helfen, da wei-terzukommen. Was dieses Überfliegen der Praxis angeht, wo wir so – husch, husch – die verschiedenen Etappen ab-haken, da ist es die Weisheit, die uns dazu bringen wird, die Etappen sorgfältiger zu praktizieren. Es ist so wie wenn wir einen Hausputz machen und nur – husch, husch – drüber wischen. Es sieht alles soweit o.k. aus, nur darf man nicht in die Ecken schauen. Die Weisheit, Gründlichkeit weiß, dass ich eigentlich in dem Schrank noch einmal nachputzen sollte, da um den Ofen rum, hinterm Herd, im Kin-derzimmer. Ich weiß es genau. Und weil ich auch da weiß, dass mich das früher oder später einholen wird, mache ich mich auf, bei nächster Gelegenheit die Arbeit gründlicher zu machen. Genau derselbe geistige Faktor der Bewusstheit, des Wissens, der Weisheit bringt uns dazu. Probleme zu überfliegen und nur oberflächlich anzugehen – wir wissen, dass uns das später einholen wird. Das weiß jeder. Man kann sich drum rumdrücken bis sie kommen, oder man kann sich ihnen stellen, solange sie noch leicht zu bearbeiten sind.

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Das Problem, dem wir hier nicht ausweichen können, ist die Ichbezogenheit. Sie wird auf jeden Fall Probleme verursachen. Wenn wir sie nicht rechtzeitig und von verschiedenen Seiten her angehen, um sie aufzulösen, wird sie Probleme machen, sie wird zu Leid führen. Es ist natürlich schwieriger, sich mitten im Leid darum zu kümmern.

* * *

Zusammenfassung In unserer Besprechung der 16 Stufen von Anapanasati, der Achtsamkeit mit dem Atem – genauer ge-sagt sogar auf den Ein- und Ausatem – haben wir bereits die 12 ersten Stufen besprochen. Das ent-spricht den Absätzen 18, 19 und 20 in unserem Sutra. Ich hatte euch das das Wort Anapanasati nie erklärt: Ana bedeutet einatmen und pana bedeutet ausat-men, sodass das Wort Anapanasati wirklich genau bedeutet: Achtsamkeit auf den Ein- und Ausatem. In diesen 12 Stufen sind wir von Gröberem zu Feinerem fortgeschritten. 1) Wir haben uns in den ersten vier Unterweisungen vor allen Dingen mit dem Körper befasst. Da geht es darum, den Körper, die körperlichen Gestaltungen zu beruhigen. Wenn wir von körperlichen Gestaltungen sprechen – von Aufgewühltheit im Körper, von all dem, was das körperliche Erleben bestimmt – dann ist es ja der Geist, der den Körper erfährt, und das Ganze läuft über das Wahrnehmen von Empfindungen. Um den Körper zu beruhigen, müssen wir natürlich den Geist beruhigen und entspannen. So ist auch die etwas gröbere Arbeit zu Anfang bereits ein Ar-beiten mit dem Geist, obwohl es sich hier erst einmal wirklich auf den Körper konzentriert. 2) Mit den nächsten vier Unterweisungen haben wir uns den Empfindungen zugewendet. Empfindun-gen sind hier in erster Linie einmal die fünf Sinnesempfindungen der äußeren Sinne und dann das Wahrnehmen der Gedanken, der sechste Sinn. In diesem zweiten Abschnitt geht es darum, die geisti-gen Gestaltungen zu beruhigen. Das ist schon eine Arbeit direkt mit dem Geist, wobei es hier aber noch um das Aufgewühltsein des Geistes geht, um das, was den Geist unklar macht. Wir benutzen als wichtigstes Mittel, um den Geist zu beruhigen die Entspannung. Entspannung, Ruhe, Loslassen führen von selbst zu Erfahrungen von Freude und Glück und zu Wohlbefinden. Wir nutzen das sich einstel-lende Wohlbefinden, um den Geist zu entspannen, um die geistigen Gestaltungen zu beruhigen. Im Grunde genommen passiert hier folgendes: Da wir uns hier mit Wohlbefinden verbinden, haben wir gar kein Interesse mehr, den vielen Eindrücken, die im Geist auftauchen, hinterher zu laufen. Wir erinnern uns immer wieder an die Vorteile des Entspannens, des Loslassens, wir spüren sie. Es ist nicht nur ein intellektuelles Wissen, wir spüren wie angenehm es ist, den Geist in entspanntere, freiere Zustände hinein zu entlassen. Das nutzen wir, um die geistigen Gestaltungen zu beruhigen. Damit klärt sich unser Geist. 3) Die Arbeit auf den ersten acht Stufen bringt uns soweit, dass der Körper schon recht ruhig ist, und die geistigen Gestaltungen haben sich soweit beruhigt, dass wir jetzt mehr mit dem Geist selber in Berührung kommen. Wir nehmen die Qualitäten der Geisteszustände deutlicher wahr. Wir sind nicht mehr nur damit beschäftigt, auftauchende Gedanken zu erkennen und loszulassen sondern können merken, ob der Geist insgesamt entspannter ist oder ob er noch angespannt ist, ob er offener oder en-ger ist, ob er unter dem Einfluss von Schleiern ist oder nicht, ob er noch dumpf ist oder ob er schon zu seiner Klarheit gefunden hat. Diese Betrachtung des Geschmackes von dem, was gerade unser Geisteszustand ist, nutzen wir, um mit dem Einatem und Ausatem Entspannung dort hinein zu bringen, wo wir etwas noch als beengend oder angespannt erfahren. Und das sind die nächsten vier Schritte. Diese Arbeit mit dem Geist wird so beschrieben, dass wir zunächst einmal den Geist erleben. Wir erfahren, was die verschiedenen Geschmäcker des Geistes sind, und dann erfreuen wir den Geist. Die-ses Erfreuen machen wir genauso wie vorher, wir schenken dem Geist was ihm am meisten wohl tut: Offenheit, Entspannung, Gelöstheit. Das nennt man den Geist erfreuen. Wir können das natürlich auch mit Liebe und Mitgefühl machen, so wie wir es aus der Tonglen-Praxis kennen. Wir können das auch mit Hingabe machen, egal welche Qualität dem Geist gerade wohl tut, das können wir nutzen, um den

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Geist zunächst zu erfreuen und dadurch noch weiter zu öffnen. Diese Form von Freude ist das, was den Geist auch tatsächlich öffnet. Freude und Geistesöffnung gehen zusammen. In diesem ruhigen Wohlergehen machen wir dann dieselbe innere Bewegung wie auch zuvor, wo wir nach der Freude und dem Glück die geistigen Gestaltungen beruhigen. Wir sammeln den Geist, wir stabilisieren ihn in Offenheit durch noch tieferes Loslassen, um nicht in der Erfahrung von Wohlge-fühl hängen zu bleiben sondern zu einem ganz einfachen Verweilen zu kommen, wo uns klar ist, dass der offene Geist immer glücklich ist. Und da ist nichts Besonderes dran. Wir lassen die Faszination an diesem vermeintlich Besonderen los und kehren in noch natürlichere, entspanntere Gelöstheit hinein, mit jedem Loslassen, mit jedem Ein- und Ausatmen öffnen wir uns weiter. Wir merken dann, dass wir an Grenzen kommen, wo wir immer noch festhalten, wo immer noch Kontrolle ausgeübt wird, wir uns immer noch fesseln, immer noch Geistesenge da ist. Diese Stufe nennen wir dann: Einatmend und ausatmend befreie ich den Geist. Wo wir können, lassen wir Kontrolle los, lassen wir Enge los, Ängs-te, Hoffnungen, Erwartungen, Vorstellungen darüber wie es zu sein hat. Vergleiche, Beurteilungen, all das lassen wir auf dieser Ebene los. Wenn wir hier ankommen und falls es uns möglich war, die verschiedenen Stufen zu verfolgen, mitzu-machen, dann sind wir jetzt an einem Punkt, wo unser Körper fast nicht wahrgenommen wird. Wir bemerken noch das Ein- und Ausatmen, aber der Körper zieht keine Aufmerksamkeit auf sich. Er ist so zur Ruhe gekommen, dass er den Geist nicht beschäftigt. Wir könnten uns wieder dem Körper zu-wenden und ihn untersuchen, aber das ist jetzt nicht unser Anliegen, wir möchten uns den Gesetz-mäßigkeiten des Lebens selbst zuwenden, ohne uns mit dem Körper in seinen groben Zügen zu be-schäftigen. Er sitzt einfach von selbst, oder er ist gut abgelegt – ‚phhh…’ Und da alles so ruhig ist, er-leben wir auch keine Schmerzen und dergleichen, die unsere Aufmerksamkeit abziehen. Und das Glei-che ist mit dem Geist. Dadurch dass wir jetzt diese Stufen mit dem Geist durchlaufen haben, ist der Geist vorübergehend frei von Aufgewühltsein, von Emotionen, von all dem, was ihn sonst so verwirrt macht, und er ist ganz ruhig, ganz wach, gelöst. Diesen wachen, gelösten Geist wollen wir jetzt nutzen, um die Gesetzmäßigkeiten anzuschauen, die uns tatsächlich befreien werden. Dieses Verständnis wird ermöglichen, was uns dann aus dukkha, aus dem Leid befreit. Darum geht es. Wir wollen das untersuchen, was tatsächlich zur Befreiung führt.

4. Achtsamkeit auf Dharmas Wir werden uns also jetzt mit den nächsten und letzten vier Instruktionen, dem Untersuchen der Ge-setzmäßigkeiten zuwenden. Wir untersuchen die Natur der Dinge selbst, die Wirklichkeit, wobei uns all das interessiert, was tatsächlich befreiend wirkt. Das ist also ein Verständnis, das befreiend wirkt. – Wir könnten diesen ruhigen Geist natürlich für das Untersuchen von allen möglichen Phänomenen nutzen, das Universum bietet dafür eine Unzahl von Möglichkeiten. Aber wir wenden uns mit unserer Untersuchung speziell dem zu, wo die Ursachen des Leides sitzen und wo die Lösung für Leid sitzt, also der Befreiung von Leid. Genau dem werden wir uns zuwenden. Wenn wir uns jetzt der Betrachtung der vier edlen Wahrheiten zuwenden – der Wahrheit von dukkha, von Leidhaftigkeit, der Wahrheit der Ursachen von dukkha, der Wahrheit der Befreiung von dukkha und der Wahrheit des Weges, der dorthin führt – dann werden wir dies im Zusammenhang mit dieser Unterweisung hier mit einem einzigen Schlüssel tun. Der Schlüssel ist das Beobachten des Wandels aller Dinge – Vergänglichkeit. Damit haben wir uns ja in diesem Kurs schon beschäftigt. Wir haben uns angeschaut, wie umfassend die Kontemplation der Vergänglichkeit ist, wie der gesamte Dharma darin enthalten ist. Für die Erklärung dieses Sutra wollen wir es wirklich bei diesem einen Schlüssel bewenden lassen und es uns nicht schwieriger machen als nötig. In diesem einen Schlüssel ist der ge-samte Dharma enthalten. Um es ganz praktisch zu machen, werden wir jetzt das Betrachten der Ver-gänglichkeit mit dem Ein- und Ausatmen verbinden.

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Betrachten der Vergänglichkeit

21. Wir üben so: ‚Einatmend sehe ich die Unbeständigkeit. Ausatmend sehe ich die Unbestän-digkeit.’ Wir werden hier als Praxis der Kontemplation der Vergänglichkeit all die Übungen noch einmal durchgehen, die wir schon gemacht haben. Wir werden die zwölf Stadien, die wir bisher durchlaufen haben noch einmal durchlaufen, noch einmal anschauen, und zwar jetzt unter dem Blickwinkel der Vergänglichkeit. Wir haben ein großes Interesse, bei allen beobachtbaren Phänomenen den Wandel zu entdecken, und so schauen wir hin: Der lange Atem, der nie lange bleibt, der von einem kurzen Atem gefolgt wird. Der kurze Atem, der nie kurz bleibt und von einem langen Atem gefolgt wird – der ständige Wandel in der Atemlänge. Wir schauen dann weiter, was sich im Körper, in den Körperempfindungen alles wandelt. Wir bleiben direkt bei unserem unmittelbaren Erleben, wir spekulieren nicht über die Vergänglichkeit, wir schauen genau hin. Wir können in dem Moment jetzt schon einmal hinzuschauen: Wie ist der Körper jetzt und wie war er vorhin noch? – Da besteht oft ein Riesenunterschied. Da liegen einige hundert Atemzüge dazwischen und im Körper fühlt es sich ganz anders an. Dann untersuchen wir den Unterschied von Moment zu Moment, wie sich der Körper von einem Moment zum anderen anders anfühlt. Und dann tun wir das mit den anderen Wahrnehmungen, mit all dem, was wir körperliche Gestaltungen nennen – sei es im Atem, sei es im Körper, im Energiekörper – was wir so unser körperliches Empfinden nennen können. Dann wenden wir uns den Empfindungen zu, wobei die restlichen Sinne gemeint sind und auch die Gedanken. Wir gehen die Schritte von Freude und Glück durch und erleben, dass weder die Freude noch das Glück anhalten, dass sie nicht dauerhaft sind. Auch die Präsenz und Klarheit des Geistes – auch das ist nicht ewig, alles wandelt sich. Auch die geistige Sammlung, die Vertiefung, alles wandelt sich. Was immer da an Ruhe entsteht, kann in einem Moment vorbei sein. Da sind zwischendurch Mo-mente von Unruhe, wir bemerken das und wir leben das. Wir nehmen wahr: „Ah! Anicca – nicht be-ständig – unbeständig – Wandel!“ Die Erfahrungen sind nicht beständig. Dann gehen wir weiter in den Geist und gehen durch die verschiedenen Untersuchungen, die wir vor-her praktiziert haben und schauen die verschiedenen Geisteszustände an. – Das was etwas länger zu dauern scheint wie z.B. Weite des Geistes, Enge des Geistes, Trauer oder Unruhe, Ängste, Verlangen, Abneigungen. Wir schauen uns den Geist in den vielen verschiedenen Schattierungen an und bemer-ken, dass auch die Stimmungen, diese Strömungen, diese emotional gefärbten Geisteszustände keine ewige Dauer haben, alles wandelt sich. Und nun fahren wir weiter mit dem Geist und schauen uns auch an, was mit den noch subtileren Geis-teszuständen ist. Wenn wir den Geist durch dieses tiefe Loslassen erfreuen und der Geist in wahre Sammlung, in große, stabile Offenheit eintritt: Ist das dauerhaft? Ist das ewig oder wandelt sich auch das? Wir bemerken, dass sich nach langen Strecken der Offenheit durchaus im nächsten Moment eine Enge einstellen kann, dass es keine geistige Sammlung gibt, die für immer dauert, und dass auch das, was wir das Befreien des Geistes nennen, keineswegs eine dauerhafte Befreiung des Geistes ist, ein dauerhaftes Freisein von Schleiern, von Identifikationen, von Anhaften. Es kommt erneut zu Anhaften und Festhalten. Während wir auf diese Art und Weise diese zwölf Stufen nochmals unter dem Blickwinkel der Ver-gänglichkeit durchlaufen, stellt sich etwas ein, was wir gar nicht zu erzwingen brauchen: das Los-lassen, das sich immer weiter vertieft. Das Sehen des Wandels, der Nicht-Beständigkeit führt zu einer Neueinschätzung der Wirklichkeit. Was mir vorhin noch eine mögliche Basis für mein Ich-Gefühl oder für mein Glück zu sein schien, eine Basis für meine Existenz, das betrachte ich jetzt plötzlich realistischer als nicht dauerhaft. Ich sehe, dass es keine dauerhafte Basis für mein Glück ist – kann es nicht sein, denn es vergeht, es ist dem Wandel unterworfen – und ich gehe sehr viel behutsamer damit um. Ich kann mich an diesen Erfahrungen freuen, aber ich werde mich nicht mehr so daran festhalten.

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So kommen wir zu einer neuen Sichtweise des Körpers. Wir haben uns vielleicht mit dem Körper identifiziert, merken aber jetzt, dass er in ständigem Fluss und Wandel ist, da ist nichts Dauerhaftes. Wir haben uns vielleicht mit unseren Empfindungen identifiziert, mit unserer Erlebniswelt, der Welt unserer Sinneserfahrung und merken, dass da nichts ist was bleibt, nichts ist beständig. Das ist auch keine so hervorragende Basis für eine Ich-Identifikation. Unsere Basis für das, was wir meinen zu sein, schwindet, bricht weg. Wir merken, dass alles im Fluss ist. Wir haben uns vermutlich mit dem Geist identifiziert, wir haben uns vermutlich mit unseren Emotionen identifiziert, mit unseren Sicht-wiesen, mit unserem Streben, unseren Aspirationen, Ausrichtungen, Zielen und wir merken, dass all das Momente, auftauchende Geisteszustände sind, die wieder vergehen. Wir haben uns vielleicht da-mit identifiziert, was wir für Meditations-Erfahrungen haben und merken, dass auch die alle vergehen. Nichts von dem bleibt. Und so lösen wir uns durch das kontinuierliche Betrachten der Vergänglichkeit allmählich aus dem Haften an vermeintlich Beständigem. Wir kommen zu einer realistischeren Ein-schätzung der Wirklichkeit. Wenn wir so schauen, dann merken wir, dass es eigentlich gar keine Grundlage gibt, auf der wir eine Identität aufbauen können. Durch die Meditation auf die Vergänglichkeit werden wir ausgenüchtert. Wir werden aus unserer Faszination geweckt, aus unserem Verliebtsein in Körper, Empfindungen, Geisteszustände und mit einem etwas nüchterneren Blick merken wir, dass es unweigerlich zum Scheitern verurteilt ist und zu Leid führt, wenn wir auf etwas sich ständig Wandelndem eine Identität aufbauen. Das führt unweigerlich zu Spannungen, weil das, was wir für stabil halten, in Wirklichkeit nicht stabil ist. Es wird zu einem Widerspruch zwischen Idee und Wirklichkeit kommen.

Annica, dukkha, anatta

Wenn wir auf diese Art und Weise die Nicht-Beständigkeit aller Phänomene betrachten, dann machen wir drei wesentliche Erfahrungen: Wir beginnen zu begreifen, was mit annica, dukkha und anatta ge-meint ist. Annica, die Nicht-Beständigkeit, kennt ihr schon. Dukkha übersetzen wir einfach mit Leid und anatta ist das Nicht-Selbst. Wir erkennen, dass die Identifikation mit Nicht-Beständigem unwei-gerlich zu Enttäuschung führt. Wir täuschen uns, weil wir das Haus unserer Identifikation auf Sand bauen, es wird zu Spannungen mit der Wirklichkeit kommen, weil wir unser Leben nicht im Bewusst-sein des Wandels führen sondern meinen, Körper, Empfindungen, Geisteszustände oder gar die äuße-ren Dinge hätten etwas Beständiges. Und das führt in die Katastrophe. Diese Katastrophe nennen wir dukkha, die Erfahrung von Leidhaftigkeit. Enttäuschung – wir wachen auf und merken: So geht es nicht. Wir entdecken, dass es in all dem, was wir beobachten können, kein Selbst gibt, dass sich die Dinge einfach wandeln. Dass sie sich wandeln, ist nicht augenblicklich dukkha. Dass sie sich wandeln, führt nicht unmittelbar zu Leid. Das führt nur zu Leid, wenn man an den Dingen festhält in dem Gedanken, dass sie beständig seien. Das führt zu dukkha. Die Erfahrungen des Lebens sind nur dukkha, wenn man im Anhaften ist, ansonsten sind sie einfach so wie sie sind – im Fluss, im Wandel. Das nennt man die Soheit, tathata. Mit diesem Einfach-so-Sein, mit diesem Im-Wandel-Sein kommen wir in Berührung, wenn wir Ver-gänglichkeit kontemplieren – tief schauen. Wir sehen: „Aha! So ist es jetzt! … Aha! So ist es jetzt! … Aha! So ist es jetzt! …“, und haben einen ganz nüchternen Blick, wir sind nicht mehr verzaubert von der vermeintlichen Stabilität der Dinge. Nüchtern betrachten wir ihr Erscheinen und Vergehen. Immer erscheint etwas Neues und nichts ist dauerhaft, kein Ich ist zu finden in dem allen, kein stabiles Selbst. Anatta – kein stabiles Selbst zu finden, nur konstanter Fluss. Wenn wir die Wirklichkeit so betrachten, dann entdecken wir, dass die Abwesenheit von etwas Soli-dem, von solch einem Wesenskern, geradezu die notwendige Voraussetzung ist, dass eins nach dem anderen entstehen kann, weil das Vorangegangene nicht das Nachkommende behindert. Der Gedanke von gerade eben verhindert nicht den nächsten Gedanken. Stabilität des Geistes ist kein Hindernis da-für, dass eine Bewegung entsteht. Eine Bewegung ist kein Hindernis dafür, dass sich Ruhe ausbreiten kann. Nichts hat Dauer, nichts bewirkt, dass z.B. ein Wort, das wir jetzt gerade hören, das nächste Wort verhindern würde, dass es nicht mehr gehört werden kann. Klänge, Körperempfindungen, Ge-schmäcker, Gerüche, Gedanken, visuelle Eindrücke – nichts behindert den nächsten Eindruck. Kein Geisteszustand behindert den nächsten. Das nennt man shunyata, Leerheit, die Abwesenheit von etwas Solidem, das anderes verhindern könnte. Und wir verstehen, dass gerade weil es nichts gibt, was ande-res hindert, dass es gerade das ist, was Leben ermöglicht. So kann Wachstum stattfinden, so kann Ent-

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wicklung stattfinden, so entstehen und vergehen die Dinge, weil nichts einen Wesenskern hat, der et-was anderes hindern würde, diesen Raum einzunehmen. Das nennt man das tiefe Erkennen von Leer-heit, der Abwesenheit von einem Wesenskern. Eine ganz klare Schlussfolgerung aus der Abwesenheit eines Selbst bedeutet, dass es da nichts gibt, was leidend ist, was für immer und ewig da ist und einen Platz in der Wirklichkeit beansprucht, den anderes dann nie und nimmer einnehmen kann. Das wäre tot, da würde kein Leben mehr stattfinden. Leben ist möglich, weil alles im Wandel ist und alles ist im Wandel, weil es nichts hat, was diesem Wandel entgegensteht. Durch diese Betrachtungen tut sich uns einiges an Verständnis auf, zuerst anicca, die Nicht-Bestän-digkeit. Wir verstehen, dass durch das Anhaften an dem Nicht-Beständigen dukkha entsteht, Leid. Wenn wir nicht daran anhaften, entdecken wir, dass es da gar kein Selbst gibt – anatta. Wir entdecken, dass diese Abwesenheit von einem Wesenskern, von einem Selbst shunyata ist, diese Leerheit, Offen-heit, wodurch zum Ausdruck kommt, dass nichts im Entstehen und Vergehen behindert ist. Die Leer-heit ermöglicht das Entstehen und Vergehen und beschreibt zugleich auch das, was wir die Soheit nen-nen, tathata. Die Dinge sind einfach so, sie entstehen und vergehen in wechselseitiger Bedingtheit. Das ist pratitya-samutpada, das Entstehen in Abhängigkeit. Entstehen in Abhängigkeit ist eine andere Sichtweise von der Vergänglichkeit. Dinge vergehen und entstehen durch Ursachen und Bedingungen und wir entdecken nichts, was nicht innerhalb dieser Ur-sachen und Bedingungen entstehen und vergehen würde. Alles hängt so zusammen, bedingt sich wechselseitig, entsteht und vergeht, es sind Ursache-Wirkungs-Beziehungen aktiv und sie können wir-ken, weil nichts etwas Dauerhaftes in sich hat, was sich diesen Ursachen und Bedingungen wider-setzen oder entziehen würde.

Die beiden Ebenen der Wirklichkeit Durch dieses Hineinschauen in die Wirklichkeit entdecken wir alle wichtigen Unterweisungen des Buddha – dank der Kontemplation der Vergänglichkeit, alles hängt zusammen. Mit der Entdeckung der Bedingtheit aller Phänomene – dafür gibt es verschiedene Ausdrücke auf Pali und Sanskrit – ent-decken wir Karma, Ursache und Wirkung. Das nennt man die relative Ebene der Wirklichkeit, wie alles bedingt und verursacht ist. Zugleich entdecken wir in dieser Bedingtheit, dass es keinen Wesenskern gibt, der sich der Bedingt-heit entzieht, und das nennt man die letztendliche Ebene der Wirklichkeit. Relative und letztendliche Ebene der Wirklichkeit sind im Grunde genommen völlig eins. Man kann nicht einmal sagen, dass sie sich gegenseitig bedingen, sie sind völlig eins. Nur weil es keinen Wesenskern gibt, können Dinge ent-stehen und vergehen, und weil sie bedingt sind, entstehen und vergehen, haben sie auch keinen We-senskern. Man kann es drehen und wenden wie man will, die beiden gehören immer zusammen. Es gibt keine Ebene, die vor der anderen da war und die andere bestimmen würde. Das alles können wir entdecken, indem wir einfach das Entstehen und Vergehen beobachten. Welche Ebene der Wirklichkeit wir auch betrachten, ob wir mit den Formen, Empfindungen, Unter-scheidungen, Gestaltungen oder den verschiedenen Bewusstseinsformen arbeiten, all das entdecken wir als entstehend und vergehend, als ohne Wesenskern. Wir sehen die Entwicklungslinien, wir sehen Ursachen und Wirkungen und sehen, dass jede Wirkung wieder in sich ohne Wesenskern ist und des-wegen zu etwas Neuem werden kann. Das alles lässt sich in der Meditation entdecken und verstehen. Wenn wir so praktizieren, dann kommen wir von der ersten Stufe, der Betrachtung der Vergänglich-keit, zum Betrachten des Nachlassens der Anhaftungen. ‚Einatmend sehe ich das Nachlassen. Ausatmend sehe ich das Nachlassen.’ Im Bewusstsein der Vergänglichkeit lassen unsere Anhaftungen nach, auch die Abneigungen. Wenn dieses Nachlassen fortschreitet, kommt es zum Aufhören – Aufhören der Identifikation, Aufhören des Haftens. Das nennt man niroda auf Sanskrit, ein Synonym für Nirwana. ‚Einatmend sehe ich das Aufhören. Ausatmend sehe ich das Aufhören.’

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Dieses Aufhören oder Nirwana kann man auch im Mini-Format haben. Wir können unser kleines Nir-wana jeden Tag erleben. Das sind die Momente, wo wir mit einem Anhaften arbeiten und merken, dass das Objekt unseres Anhaftens tatsächlich vergänglich und ohne Wesenskern ist, was zu einem Nachlassen unseres Verhaftetseins führt, bis es zu einem Aufhören kommt, wo wir uns völlig frei füh-len. Wir erleben einen Moment, eine Zeit von völliger Freiheit in Bezug auf das, wo wir früher gefan-gen waren. Das ist unser Mini-Nirwana, unser kleiner Moment des Freiseins. Und der Weg zum Erwa-chen ist aus vielen solchen kleinen Momenten gepflastert. Jetzt geht es aber darum, dass dieses Loslas-sen, Nachlassen, Aufhören in solche Tiefen geht, dass es zu völliger Gelöstheit kommt im allerletzten Schritt, wo wir – wie der ursprüngliche Ausdruck uns sagen möchte – wieder alles zurück geben in den natürlichen Zustand aller Dinge. Wir lassen die Dinge, wir geben sie zurück in die Soheit. ‚Einatmend sehe ich völlige Gelöstheit. Ausatmend sehe ich völlige Gelöstheit.’ Alles womit wir uns vorher identifiziert haben, alles was wir uns angezogen haben als ich und mein, all das lassen wir los und belassen es im Zustand der Soheit. Dann entsteht kein neues Anhaften und Abneigen mehr. Das ist tatsächlich dann die völlige Gelöstheit, die Entsagung, die bis zur völligen Gelöstheit geführt hat. Das ist das völlige Erwachen. Das ist das Belassen aller Dinge in ihrem natür-lichen Zustand, es kommt nicht mehr zu erneutem Identifizieren. Der Buddha beschließt mit dem Satz: 22. „So wird die Achtsamkeit mit dem Atem entfaltet und geübt, dass sie von großer Frucht und großem Nutzen ist.“ Das Geniale hier ist, dass diese Achtsamkeit, dieses Verständnis mit jedem Ein- und Ausatem entfaltet werden kann. Es ist so ungeheuer praktisch, dass wir uns mit jedem Ein- und Ausatem an Offenheit und Entspannung erinnern können. So einfach ist der Weg, und so vollzieht sich der Weg.

* * * Macht bitte während der nächsten Tage kurze Sitzungen. Versucht nicht, die Sitzungen künstlich zu verlängern – zehn Minuten, eine Viertelstunde, wieder eine Pause und dann wieder bei vollem Ge-wahrsein eine kurze Sitzung. Versucht nicht, die Sitzungen so lange zu machen wie wir sie hier als ganze Gruppe gemacht haben. Das macht man vielleicht zwei Mal am Tag, aber nicht zu oft, sonst wird es viel zu anstrengend und man wird immer unruhiger. Was die Früchte der Praxis bringt, ist die Unabgelenktheit, die wir kontinuierlich aufrechterhalten – in den Pausen wie auch in der formellen Meditation – immer so eine sanfte Achtsamkeit, immer dabei, immer präsent.

* * * Wir richten unsere Aufmerksamkeit noch einmal auf den Absatz 21 mit den letzten vier Unterweisun-gen zur Meditation mit dem Atem. Diese vier letzten Unterweisungen sind etwas – man könnte sagen – kryptisch formuliert. Es ist schwer, sie spontan mit allem, was alles dahinter steckt, zu verstehen. Wir haben uns gestern die ganze Unterweisung hindurch damit befasst, was alles in Vergänglichkeit enthalten ist: * Das Erkennen von Vergänglichkeit als Tatsache. * Herauszufinden, dass es notwendigerweise zu dukkha, zu Widersprüchen zwischen Idee und Wirk-lichkeit führt, wenn etwas vergänglich ist und wir daran festhalten. * Was immer vergänglich ist, hat kein permanentes Selbst, keinen Wesenskern. Das lässt sich auch folgendermaßen zurück schließen: etwas Vergängliches ist aufgrund von Ursache und Wirkung ver-gänglich und das, was Ursachen und Wirkungen unterliegt, kann nichts haben, was sich diesen Ur-sachen und Wirkungen widersetzt. Es kann also keine unabhängige Existenz haben.

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Wir haben gesehen, dass die Dinge so sind. Das ist wie es ist – im Wandel, ohne Wesenskern, bedingt, halt so. Das alles steckt in ‚Sehe ich die Unbeständigkeit’. Aber schwer zu verstehen ist, was mit Aufhören, Nachlassen und völliger Gelöstheit dann gemeint ist, obwohl völlige Gelöstheit schon eine deutlich einfachere Übersetzung ist als das, was im Pali oder im Englischen mit relinquishment steht. Wenn wir die Vergänglichkeit auf diese Art und Weise betrachten, dann sehen wir, dass es gar nichts gibt, an dem wir als etwas Beständigem festhalten könnten, an einem Ich, das beständig wäre. Wir se-hen es und deswegen kommt es zu einem Nachlassen des Anhaftens, ganz automatisch. Da brauchen wir gar nichts dafür zu tun. Das ist nicht mehr so wie vorher, wo wir uns wieder und wieder zum Los-lassen ermutigt haben, um tiefer in die Meditation hinein zu kommen. Hier ist es das Sehen selbst, das Verständnis, das ganz automatisch das Nachlassen des Greifens mit sich bringt. Das ist eine andere Form von Praxis, wirklich auf Einsicht beruhend. Es kommt zu einem Nicht-mehr-Greifen, Nicht-mehr-Hinterherlaufen, weil wir sehen, dass das gar nichts bringt. Wir merken, es ist ein völlig unsinni-ges, ermüdendes Unterfangen den Erscheinungen hinterherlaufen zu wollen. Wenn wir so meditieren, dann sitzen wir im Leben. Das Leben selbst ist unsere Meditation, nichts ist mehr ausgeschlossen, alles wird zum Gegenstand unserer Betrachtung. Alle Dharmas, alle Phänomene werden auf ihre Wirklichkeit hin betrachtet, in ihrem Wandel, ihrer Vergänglichkeit erkannt und es stellt sich immer tieferes Wissen ein darum, dass nichts sich der Vergänglichkeit entzieht. Was auch immer bedingt ist vergeht, wandelt sich. Und es ist die Weisheit selbst, die bewirkt, dass wir diesen auftauchenden Erfahrungen nicht mehr nachlaufen. Das ist es, was man hier das Aufhören nennen könnte – wobei hier natürlich mit Aufhören (niroda) das völlige Aufhören allen Anhaftens gemeint ist, die vollkommene Befreiung – aber wir haben unsere Befreiung jetzt gerade im Sosein, im Erkennen der Wirklichkeit, so wie sie ist. Das ist Mahamudra, zu sitzen in der Schau dessen, wie die Dinge sind.

Mahamudra Mahamudra wird definiert als das Meditieren in der Sichtweise, in der Sicht der Dinge, im Verständnis der Dinge. Deswegen wird Mahamudra auch als anstrengungslos beschrieben, weil es das Verständnis selbst ist, das alles Loslassen bewirkt. Dieses Loslassen beruht also nicht auf einem Wollen oder ei-nem Ermutigen, sich ein bisschen mehr zu entspannen, sondern wir sind bereits in Entspannung und Ruhe und sind in der Sicht von allem wie es tatsächlich ist: vergänglich, bedingt und ohne Wesens-kern, leer – einfach so, undefiniert. Darin bei völliger Frische und Klarheit des Geistes zu verweilen, das ist Mahamudra-Praxis. Ich habe auch im Deutschen Mühe, einen noch besser geeigneten Ausdruck zu finden als völlige Ge-löstheit. Das Englische relinquishment bedeutet die Dinge zurückzugeben, zurückzulassen. Ich hatte da auch einmal völliges Zurücklassen verwendet, aber das macht auch nicht so viel Sinn. Man gibt die Dinge in ihre wahre Natur zurück. Es ist so, als hätten wir uns unser ganzes Leben lang, alle Leben hindurch alles angeeignet, alles mit Ich besetzt – mit Ich und mein – und alle Dinge zu diesem Ich oder Selbst in Beziehung gesetzt. Und jetzt hat sich die vollkommene Erkenntnis eingestellt, dass es da gar niemanden gibt. Die Idee eines Ich oder Selbst hat sich völlig aufgelöst und es gibt keine Bewegung mehr im Geist, die Dinge mit einem vermeintlichen Ich in Beziehung zu setzen, es gibt kein Besitzer-greifen mehr. Dieses Besitzergreifen ist vorbei, alles gehört sozusagen nur mehr sich selbst, gehört nur noch dem Zustand wie die Dinge sind. Teilnehmer: Völliges Aufgeben Ja, das könnte man vielleicht auch sagen. Es hat allerdings noch eine andere Konnotation: Hier ist vom Erwachen die Rede. Das ist nicht mehr eine kleine Stufe der Praxis, sondern wenn man sie wirklich voll und ganz erfährt, dann ist das das vollständige Erwachen und annäherungsweise ist es für uns das Sitzen in völliger Gelöstheit. – Nur ein Erwachter ist völlig gelöst. So haben wir also in diesen vier letzten Instruktionen eigentlich die Basis für die Mahamudra-Praxis, das Sitzen in völliger Gelöstheit, in der Sicht der Dinge wie sie sind – ohne sie zu ergreifen, offen wie der Himmel ohne Mittelpunkt und Grenzen. In dieser Weite lassen wir alles auftauchen und sich in Nicht-Ergreifen reinigen. Das ist eigentlich die Mahamudra-Meditation. Sie wird auch anstrengungs-

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los oder natürlich genannt, weil keinerlei Beruhigen-Wollen mehr stattfindet. Der Geist lässt von sel-ber los, weil er versteht. Wir sitzen so in dieser Offenheit – die Sprache wird jetzt immer trügerischer. Da sitzt niemand, es sind nicht wir, es ist kein Ich, das da noch sitzt – und es atmet ein, es atmet aus, es atmet im Bewusstsein der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit wird voll und ganz erfahren, so wie sie halt ist, in ihrer Undefinier-barkeit. Nichts lässt sich greifen, und dieses Nicht-Greifen-Können ist voll und ganz akzeptiert wor-den. Es gibt kein Herummachen mehr damit, es gibt kein Definieren-Wollen, es gibt niemanden mehr, der noch eine Bestätigung bräuchte, dass es das jetzt ist. Es gibt niemanden, der das noch analysiert, noch versucht sich das anzueignen. All diese Mechanismen haben aufgehört. Es ist ein Geistesstrom, der praktiziert, der im Fluss ist wie alle anderen Dinge auch. Die Trennung zwischen einem vermeint-lichen Ich und einem vermeintlichen anderen hat aufgehört. Das alles steckt in diesen vier Unterweisungen drin und muss natürlich auch entschlüsselt werden. Dieses Entschlüsseln, um Praktizierende da hinein zu führen, hat dann über die Jahrhunderte hinweg zu verschiedenen Meditationsschulen mit ihrer Terminologie geführt. Jede Schule hat es ein bisschen anders dargstellt, um Praktizierende in diese Erfahrung hineinzuführen, die an sich nicht greifbar und nicht beschreibbar ist. Es war mir wichtig, diese Verbindung mit unserer Mahamudra-Praxis herzustellen, denn ihr konntet hier hoffentlich ein wenig erfahren, warum man auch im Mahamudra von dieser vorbereitenden Phase des Shine spricht, des ruhigen Verweilens. Es braucht einfach eine gute geistige Stabilität, eine Ruhe, in der wir zwar auch schon die ganze Zeit Einsicht praktizieren – es kommt ständig zu Erkenntnissen – aber wenn der Geist völlig ruhig geworden ist, dann wird er so klar, dass die Kraft des Verstehens un-vergleichbar ist mit der Kraft des Verstehens, die uns vorher möglich war, als der Geist noch aufge-wühlt war. Dann arbeitet man nicht mehr mit dem Beruhigen des Geistes sondern mit dem Verstehen selbst. Das Verstehen selbst ist es, was zur Befreiung führt, und wir nennen das den Übergang von Shine – Beruhigen des Geistes – in Lhagtong. Wenn dieses Betrachten der Wirklichkeit zu echter Er-kenntnis führt, das ist dann Mahamudra. Das ist da, wo der Geist so frei und frisch geworden ist, dass er die Wirklichkeit tatsächlich als das erkannt hat, was sie ist. Dann praktizieren wir damit weiter und bleiben so weit wie wir können in diesem Erkennen und immer, wenn der Geist aufgewühlt und un-scharf wird, praktizieren wir wieder Shine und Lhagtong, um den Zugang wieder zu finden. Der Rest des Sutra ist eigentlich sehr einfach. Dem Buddha geht es im abschließenden Teil darum, Zweifel auszuräumen und Vertrauen zu schaffen. Er integriert diese Unterweisung über das Praktizie-ren mit dem Atem in das, was er schon an anderen Stellen zur Praxis von Achtsamkeit und zum Er-leuchtungsweg gesagt hat. Er macht zunächst klar, dass diese Praxis tatsächlich das ist, was er anderen Ortes als den einzigen Weg beschrieben hat. – Wie ihr euch sehr gut erinnert, steht dieser Begriff der eine Weg im Einführungssatz des Buddha zur Praxis des vierfachen Kultivierens der Achtsamkeit.

* * *

III. Das vierfache Kultivieren der Achtsamkeit

23. Und wie vollenden wir das vierfache Kultivieren der Achtsamkeit durch das Üben und Ent-falten der Achtsamkeit mit dem Atem? 24. Immer wenn wir voll bewusst, lang oder kurz einatmen oder ausatmen, oder uns wie be-schrieben darin üben, den ganzen Atemkörper zu erleben oder den Körper zu beruhigen – dann verweilen wir im Betrachten des Körpers als Körper – ausdauernd, wissensklar und achtsam, weltliche Verlangen und Sorgen aufgebend. Dies entspricht dem Kultivieren von Achtsamkeit auf den Körper, wobei Ein- und Ausatem als Körper gelten.

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Nichts Neues, hm? 25. Immer wenn wir uns beim Ein- oder Ausatmen darin üben, Freude, Glückseligkeit oder die Gestaltungen des Geistes zu erleben oder zu beruhigen – dann verweilen wir im Betrachten der Empfindungen als Empfindungen – ausdauernd, wissensklar und achtsam, weltliche Verlangen und Sorgen aufgebend. Dies entspricht dem Kultivieren von Achtsamkeit auf Empfindungen, wobei Ein- und Ausatem als Empfindungen gelten. Der Buddha sagt uns hier nur, dass wir mit den ersten vier Instruktionen alles bekommen haben, um die Achtsamkeit auf den Körper zu praktizieren und dass sich die zweite Vierergruppe auf die Acht-samkeit auf Empfindungen bezieht. Und er bringt die allgemeinen Unterweisungen des Satipatthana hinein, dass wir immer ausdauernd, wissensklar und achtsam sind, weltliche Verlangen und Sorgen aufgebend. Das erwähnt er noch einmal, damit klar ist, dass natürlich die allgemeinen Unterweisungen des Satipatthana hier berücksichtigt werden müssen. 26. Immer wenn wir uns beim Ein- oder Ausatmen darin üben, den Geist zu erleben, zu er-freuen, zu sammeln oder zu befreien – dann verweilen wir im Betrachten des Geistes als Geist, ausdauernd, wissensklar und achtsam, weltliche Verlangen und Sorgen aufgebend. Ihr erinnert euch vermutlich, was es bedeutet, den Körper als Körper zu betrachten, Empfindungen als Empfindungen, Geist als Geist. Diese Formulierung beinhaltet, diesen Körper nicht mehr als meinen Körper zu betrachten, die Empfindungen nicht als meine Empfindungen, den Geist nicht als meinen Geist, sondern einfach die Phänomene als solche zu betrachten, in ihrem Sosein, ohne davon Besitz zu ergreifen. Diese Achtsamkeit finden wir nur, wenn wir nicht abgelenkt, sondern klar sind. Deshalb verwei-len wir im Betrachten ausdauernd, wissensklar und achtsam, weltliche Verlangen und Sorgen aufgebend. Es ist so, als würde der Buddha hier ein bisschen schmunzelnd sagen: „Also, liebe Bikkhus, ihr seid jetzt alle sehr inspiriert, aber ich kenne niemanden, der diese Achtsamkeit hätte entwickeln können, solange er abgelenkt war und solange er nicht weltliche Verlangen und Sorgen aufgegeben hat. Es ist unbedingt notwendig, dabei ausdauernd zu sein, Achtsamkeit und tiefes Verständnis zu nähren. Nur wenn man das tut, dann stellen sich auch die Ergebnisse dieser Praxis ein. Es gibt da keine Wunder. Es gibt Voraussetzungen, die erfüllt werden müssen.“ 27. Immer wenn wir uns beim Ein- oder Ausatmen darin üben, Vergänglichkeit, Nachlassen, Aufhören oder völlige Gelöstheit zu betrachten – dann verweilen wir im Betrachten der Dhar-mas als Dharmas, ausdauernd, wissensklar und achtsam, weltliche Verlangen und Sorgen aufge-bend. Das war also das Benennen der vierten Vierergruppe, das Betrachten der Dharmas, wobei mit Dhar-mas die Gesetzmäßigkeiten oder die Wirklichkeit gemeint ist. Wer mit Weisheit das Aufgeben von Verlangen und Sorgen sieht, schaut sorgfältig und mit Gleichmut. Deshalb verweilen wir im Betrachten ausdauernd, wissensklar und achtsam, welt-liche Verlangen und Sorgen aufgebend. Schaut euch den ersten Satz dieses Abschnittes noch einmal genauer an. Das ist eine wunderschöne, kurze Beschreibung von Meditation, wie sie zu sein hat, egal ob man sie Mahamudra, Dzogchen oder was auch immer nennt. Wir sehen, wir schauen mit Weisheit. Wir sind im Schauen dessen, wie die Dinge wirklich sind. Wir schauen mit dieser Weisheit wie Verlangen entsteht und wieder vergeht, aufgegeben und losgelassen wird. Verlangen steht für Anhaftungen. Wenn Sorgen entstehen, so hat das mit Schwierigkeiten,

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Ängsten, Ablehnungen zu tun. Wir schauen wie sie entstehen und wie sie losgelassen werden, was dazu führt, dass sie entstehen und was dazu führt, dass sie losgelassen werden. Das meint man mit sorgfältig. – Wir schauen im Detail. Sorgfältig bedeutet wirklich, nicht nur grob hin zu schauen son-dern ganz genau den Prozess im Innersten kennen zu lernen. Und das tun wir mit Gleichmut. Das ist die Haltung eines Forschers, der ganz neutral hinschaut. Er hat nichts zu verteidigen und nichts zu be-weisen. Wir schauen einfach hin, sind in der Schau der Dinge und verweilen – verweilen, schauen. Bis Gewissheit, Sicherheit entsteht, bis sich aller Zweifel aufgelöst hat, schauen wir immer wieder hin. 28. So vollenden wir das vierfache Kultivieren der Achtsamkeit im Entfalten und Üben der Achtsamkeit mit dem Atem. Ihr habt in den vergangenen Tagen gemerkt, dass der Atem eigentlich nur als Anker dient. Er wird zwar auch untersucht auf seine Qualitäten – alles lässt sich im Atem selbst entdecken – aber alles an-dere wird ebenfalls einbezogen. Deswegen ist es zutreffender, von Achtsamkeit mit dem Atem zu sprechen als auf den Atem. Wir sind nicht die ganze Zeit auf den Atem konzentriert, sondern je ruhi-ger der Geist wird, desto mehr öffnen wir das Feld unserer Untersuchung bis wir alle Phänomene des Lebens mit einbeziehen. Deswegen korrigiere ich im Text: Achtsamkeit mit dem Atem. Frage zum langen und kurzen Atem: Ist diese Reihung, zuerst den langen und dann den kurzen Atem zu üben einfach so oder hat sie einen Grund? Ich habe versucht, den Unterschied zu spüren und den Grund herauszufinden. Ich habe dazu keine Erklärung gehört oder gelesen, warum der lange vor dem kurzen Atem kommt. Aus der Erfahrung würde ich sagen, dass es hilfreich ist, mit dem langen Atem zu beginnen, weil er uns bereits etwas beruhigt.

Gestaltung einer kurzen Sitzung

Frage: Wie kann man eine kurze Sitzung gestalten? Ich hab nicht immer die Zeit dazu und komme auch nicht immer zur tiefen geistigen Ruhe. Man kann sich z.B. eine Instruktion aus jeder Vierergruppe herausgreifen und so mit nur vier aufein-ander folgenden Instruktionen arbeiten. Ein Beispiel: Aus der ersten Gruppe können wir die dritte oder vierte Instruktion nehmen und sagen: „Ich atme ein, ich atme aus und erlebe dabei alle Körper, alles was ich mit körperlichem Empfinden beschreiben kann.“ bzw. „Ich beruhige die körperlichen Gestaltungen.“ in dem Wissen, dass damit das ganze körperliche Erleben gemeint ist. Damit wäre die erste Gruppe abgedeckt, wenn wir das Wissen um die anderen Instruktionen mit dieser kurzen Instruktion verbinden. In der zweiten Gruppe können wir es so machen, dass wir da auch das Erleben oder Beruhigen der geistigen Gestaltungen nehmen, wobei wir wissen, dass das Beruhigen der geistigen Gestaltungen be-deutet, auch mit dem Anhaften am meditativen Erleben zu arbeiten, Freude und Wohlgefühl loszu-lassen. Dann kann man sogar sagen: „Ich atme ein und atme aus und beruhige die körperlichen und geistigen Gestaltungen.“ Man könnte sogar diese beiden Instruktionen für Körper und Geist zusam-mennehmen und einfach alles, was im Bewusstsein aufsteigt, in dieses Loslassen, in dieses Beruhigen hinein bringen. Da muss man aber gut aufpassen, dass man nicht aus Mangel an Präzision abgelenkt wird. Das ist das Problem dabei. Frage: Ich würde gerne eine der Instruktionen herausgreifen, mit der ich dann zum Beispiel in dieser Sitzung arbeiten möchte und mich auf diese eine Unterweisungen konzentrieren um genau zu wissen: „Damit arbeite ich.“ Ja, das kannst du machen. Du kannst eine nach der anderen nehmen, musst aber darauf achten, ob du wirklich in der Lage bist, die Arbeit auszuführen. Eventuell sind die vorhergehenden Etappen ein biss-chen nachzuarbeiten, um wirklich in die Übung hineinzukommen und die Übung umzusetzen.

Freude - Glück

Frage: Wie ist es denn mit der Freude und mit dem Glück?

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Im Grunde genommen könnte man diese Stufen überspringen. Wir brauchen uns nicht um sie be-mühen, solange sie nicht von selber auftauchen. Wenn sie dann von selber auftauchen, kümmert man sich um sie und erinnert sich daran, dass es da etwas zu entspannen gibt und dass es darum geht, mehr Gleichmut hineinzubringen. Aber vergesst nicht, dass diese Instruktionen auch auf ein Mittel hinwie-sen, den Geist mithilfe des Wohlgefühls zu beruhigen und zu weiten. Lasst dieses Mittel nicht einfach beiseite. Es kommen auch noch andere Mittel in Frage, wie Mitgefühl, Hingabe, Zuflucht. All das sind Mittel, mit deren Hilfe wir die Ruhe und Weite des Geistes vertiefen können. Frage: Ich fühle mich viel wohler mit dem langen Atem. Wenn ich den kurzen Atem übe, bekomme ich fast Beklemmungszustände. Ich merke aber, dass ich dann, wenn viele Gedanken da sind, einen kürze-ren Atem habe. Ja, das könnte zum Schluss führen, dass dann, wenn du viele Gedanken hast ohne es zu merken, Ängs-te im Spiel sind. Wenn man Gedanken hat, verkürzt sich der Atem aus dem Grund, weil die Gedanken Ausdruck von Spannung sind. Da ist eine innere Anspannung, die einen kürzeren Atem bewirkt. Erfahrung eines Teilnehmers: Ich bin oft müde und habe Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren, dann zähle ich einfach weiter. Ich setze mir ein Ziel, zähle und beobachte den Atem. Wenn ich dann bei 108 ankomme, dann habe ich zwar viele Phasen durchgemacht, wo es schwierig war und ich mich wirklich konzentrieren musste, aber dann wird es leicht. Dann hat sich der Geist gesammelt. Für mich ist dieses lange Ausharren mit dem Zählen richtig sinnvoll. Ist das der richtige Weg? Das ist natürlich der richtige Weg, denn diese Ausdauer führt zu Früchten, und die Früchte zeigen, dass du auf dem richtigen Weg bist.

Wahrnehmung ohne ein Ich

Frage: Du hattest gegen Ende von Paragraph 21 gesagt, dass – wenn sich das Ich nicht mehr mit den Objekten oder Dingen in Beziehung setzt – sich die Objekte dann selbst gehören. Nach dem, wie ich es bisher verstanden habe, scheint es aber so zu sein, dass die Dinge dann aufhören. Wenn das Ich als solches und die Wahrnehmung nicht mehr da ist, was ist dann mit den Objekten? Die sind dann auch nicht mehr da? Wenn das so wäre, dann könnte ein Buddha, ein Erwachter, der nicht in der Dualität wahrnimmt, mit uns nicht in Beziehung treten. Der Buddha hat darauf Bezug genommen. Er hat gesagt: „Obwohl da kein Haften an einem Ich ist – kein Gedanke von ‚Ich bin etwas’ oder ‚Mir gehört!’ – ist es doch mög-lich mit jedem zu sprechen, den Körper und die Umgebung wahrzunehmen.“ Man kann sich dazu in Beziehung zu setzen, obwohl dieses Vergegenständlichen und Aneignen im Geist nicht passiert. Die Phänomene hören nicht auf, ihrer eigenen Dynamik von Ursache und Wirkung zu folgen. Bloß weil einer aufwacht, hört die Welt der Phänomene, z.B. die Welt, die wir Erde nennen, nicht auf zu existie-ren. Bezieht sich das vielleicht dann auf tiefe Samadhi-Zustände, dass da die Objekte einfach nicht da sind? Und wenn man wieder herauskommt, sind sie wieder da? Ja, bei tiefem Samadhi, bei tiefem Eintauchen in die Non-Dualität nimmt man keine Objekte wahr, da ist keine Wahrnehmung, es manifestieren sich keine Gedanken. Wenn wir tief in diese Frage eintauchen würden, dann würden wir mit einer Diskussion in Berührung kommen, die in Indien und Tibet über viele Jahrhunderte hindurch geführt wurde: Wie kann man die Erfahrung eines Erwachten beschreiben? Wie ist es möglich wahrzunehmen, ohne sich als Zentrum zu positionieren? Was ist eigentlich authentisches Erkennen? Wie ist das Erkennen eines Erwachten in Bezug auf Phänomene? Darauf möchte ich jetzt nicht eingehen. Wenn man das Leben eines Erwachten zu beschreiben ver-sucht, bleibt immer ein letzter Rest von etwas, das nicht zufrieden stellend ist. Darüber haben sich schon viele den Kopf zerbrochen.

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Finden des Atems in der Nachmeditation

Frage: Wir sprechen in der Gruppe zu Hause über die Unterweisungen hier und haben festgestellt, dass wir alle dieselbe Erfahrung machen: Selbst wenn es sich auf dem Kissen gut abspielt, wir durch die Etappen durchgehen, die verschiedenen Qualitäten entwickeln, sobald wir mit einem anderen der Gruppe in Kontakt kommen, ist es sofort vorbei damit. Wir sind mehr oder weniger abgelenkt, viel-leicht sogar ein bisschen aufgeregt. Auf jeden Fall sind wir dann nicht mehr im Zustand wie auf dem Kissen. Diese Erfahrung ist wohlbekannt, unzählige Generationen von Praktizierenden haben sich damit he-rumgeschlagen, dass sie ihre Sammlung verlieren, sobald sie wieder in die Aktivität eintreten. Es gibt da eigentlich keine andere Lösung, als in der Aktivität selber darauf zu schauen, sich immer wieder an diese Sammlung und Offenheit zu erinnern. Man muss es schaffen, sich in der Aktivität immer wieder einen kleinen Moment daran zu erinnern, um diese Erfahrung wieder ein wenig zurück zu bringen. Wenn ich z.B. unterrichte, so kann ich nicht über diese Themen sprechen und dabei nicht damit ver-bunden sein, worüber ich spreche. Ich muss immer wieder darauf achten, z.B. beim Luftholen und wo auch immer in diese Sammlung, Offenheit hineinzufinden, um dann aus dem direkten Erleben heraus, ohne Fixierungen den Dharma zu unterrichten. Das geht nur so, dass man immer wieder abwechselt, bis die Zustände sich vermischen, bis der Unterschied immer kleiner wird und sie sich immer mehr durchdringen. Dieses Hineinholen in die Aktivität geht einfach nur so, dass wir erst einmal akzeptieren, dass da ein echtes Problem ist, und dieses Problem erlebt ihr ja schon ganz stark. Es gibt Momente von gewisser Ruhe und Sammlung und dann gibt es die Aufgewühltheit in dem, was wir Nachmeditation nennen. Das Problem verschärft sich noch, wenn ihr tiefe Sammlung erfährt – das kann jederzeit auch jetzt möglich sein – und danach den normalen Zustand des Aufgewühltseins erlebt. Da ist der Unterschied einfach riesig. Der ganze Prozess bis zum Erwachen wird in den Meditations-Texten so beschrieben, dass die Nach-Meditationspraxis sich an die Meditationspraxis angleicht und schließlich genauso tief und offen wird. Das kriegen wir nur hin, wenn wir uns immer wieder daran erinnern, d.h. Atem holen. Wir können den ganzen Prozess des Verlierens der Achtsamkeit beschreiben, indem wir sagen, dass wir unseren Atem verloren haben. Wir müssen den Atem wieder finden, d.h. wir müssen unsere Be-wusstheit wieder finden, unser Gewahrsein. Das können wir z.B. so machen wie Thich Nat Hanh mit dem kleinen Gong, der nach so und so vielen Minuten am Computer erklingt. Je nachdem, wie wir uns das einstellen. Wir können bei jedem Tele-fonanruf erst drei Mal ein- und ausatmen bevor wir abnehmen und wir können das vor allen Dingen auch beim Gehen machen. Immer wieder gehen wir von einer Stelle zu einer anderen, wo unsere Acht-samkeit voll in Anspruch genommen wird, aber beim Gehen dazwischen passiert selten etwas wirklich Wichtiges. Wir sind entweder noch bei dem, was wir gerade hinter uns gelassen haben oder wir eilen schon dorthin voraus, wo wir hin wollen, und sind gar nicht dabei, wirklich zu gehen. Wir könnten das Gehen eigentlich dazu nutzen, um unseren Atem wieder zu finden, und das muss man sich richtig vor-nehmen. Es muss eine gewisse Anstrengung geleistet werden, um immer wieder zum Atem zurück zu kehren. Diejenigen, die Vajrayana praktizieren, kehren zum Mantra oder zur Visualisation zurück, oder zur Zuflucht. Was auch immer für uns der beste Anker ist, wir nehmen das, mit dem wir gerade am besten vertraut sind, um wieder ins Gewahrsein zurück zu finden.

Maß unseres Anhaftens

Frage: Ist das die effektivste Methode, beim Entstehen und Vergehen einfach zuzuschauen und die Dinge sich so auflösen zu lassen? Das ist noch nicht die effektivste Methode. Es ist gut, das so zu tun, und es vermindert das Anhaften. Wenn wir aus einem gewissen Abstand beim Entstehen und Vergehen der Dinge zuschauen, nähren wir doch ohne es zu merken eine Anhaftung an dem, was wir beobachten. Das bewirkt, dass die Dinge entstehen, dann ein bisschen da sind und sich wieder auflösen. Wenn wir in unserer Betrachtung etwas näher an die Dinge herangehen und ihrer gewahr sind, dann sind Entstehen und Vergehen gleichzeitig, dann gibt es keine Dauer des Verweilens mehr. Die Dauer des Verweilens eines Gedankens ist das Maß unseres Anhaftens, d.h. zurückgelehnt zu betrachten: „Entsteht, … mhm …, löst sich auch wieder auf.“ Das war das Anhaften. Das genau war die Phase, wo wir nicht genau hingeschaut haben.

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Schade, dass ihr euch nicht so zurücklehnen könnt wie ich. Ich würde euch das wünschen, damit ihr einen ganz bequemen Sitz findet. Findet euren Atem wieder. – Wenn wir darüber sprechen, den Atem wieder zu finden, dann bedeutet das jetzt für uns, die Entspan-nung wieder zu finden, Offenheit, Präsenz. … Der Atem wird zum Stellvertreter für Gewahrsein. – Ihr könnt euch jetzt, während ich euch den weiteren Abschnitt aus dem Sutra vorlese, darin üben, Me-ditation und Zuhören oder Meditation und Mitlesen miteinander zu verbinden. Bringt die Einfachheit der Meditation in das Hören und Lesen in der Postmeditation. Das wäre so eine Übung. – Während ich mir gerade Tee einschenkte, ist mir aufgefallen, dass ich voll bewusst war im Ergrei-fen der Thermoskanne, des Ausstreckens des Armes, des Einschenkens. Da wir gerade darüber spra-chen, möchte ich euch ermutigen, wirklich diese kleinen Handlungen des Alltags voll bewusst auszu-führen. Das macht über den Tag verteilt, wenn hier und da solche kleinen Handlungen bei voller Be-wusstheit ausgeführt werden, einen großen Unterschied und verringert die Diskrepanz zwischen Medi-tation und Nachmeditation.

IV. Die sieben Glieder des Erwachens 29. Und wie üben und entfalten wir das vierfache Kultivieren der Achtsamkeit, so dass sie die sieben Glieder des Erwachens vollendet? 30. Immer wenn wir im Betrachten des Körpers als Körper verweilen, ausdauernd, wissensklar und achtsam, weltliche Verlangen und Sorgen aufgebend – dann ist unsere Achtsamkeit stetig und ununterbrochen. Dies bringt Achtsamkeit als Glied des Erwachens hervor, entfaltet es und bringt es zur Vollendung. Achtsamkeit ist der erste Faktor des Entwickelns der sieben Glieder des Erwachens, die unerlässlich sind, um das Erwachen zu verwirklichen. Immer wenn wir ein Phänomen voll bewusst betrachten bzw. untersuchen, dann ist Achtsamkeit vorhanden und wenn diese Achtsamkeit von diesen zusätzlichen Kriterien – wissensklar, frei von weltlichen Verlangen und Sorgen – begleitet ist, dann wir sie zu einem Glied des Erwachens. Diese Voraussetzung muss erfüllt sein. Wenn das nicht der Fall ist, dann ist es einfach weltliche Achtsamkeit. 31. Achtsam verweilend ergründen, untersuchen und verstehen wir jene Erfahrung mit Weis-heit. Dies bringt Untersuchen der Dharmas als Glied des Erwachens hervor, entfaltet es und bringt es zur Vollendung. Wir nutzen also diese Achtsamkeit, um die jeweiligen Erfahrungen zu untersuchen, z.B. in Hinblick auf Vergänglichkeit, Ursache und Wirkung und dergleichen Gesetzmäßigkeiten. 32. Mit Weisheit ergründen wir jene Erfahrung, untersuchen und erforschen sie genau. Dies bringt unermüdliche freudige Ausdauer als Glied des Erwachens hervor, entfaltet sie und bringt sie zur Vollendung. Das Untersuchen der verschiedenen Erfahrungen und das Bemerken, wie sie wirklich sind, bringt Ent-spannung in den Geist, Offenheit, Gelöstheit. Wir bemerken diese Gelöstheit und sie stimuliert uns, noch weiter zu gehen. Wir haben Energie, weiter in diese Richtung zu gehen, weil die bisherigen Erfahrungen diese Energie freisetzen. Wir lösen uns aus Verhaftungen, in denen die Energie festsaß, und haben jetzt den Elan, den Enthusiasmus, die Motivation, weiter und weiter in die Richtung des Erkennens zu gehen.

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33. Praktizieren wir mit unermüdlicher freudiger Ausdauer, so bringt dies Herzensfreude als Glied des Erwachens hervor, entfaltet sie und bringt sie zur Vollendung. Mit Freude des Herzens ist das Wohlergehen gemeint, das durch immer tiefere Gelöstheit entsteht, wenn wir uns unermüdlich der Natur der Dinge zuwenden und sie untersuchen. Jedes Mehr an Ver-ständnis bringt ein Mehr an Offenheit und damit zusätzliche Freude. 34. Aufgrund dieser Herzensfreude werden Körper und Geist still. Dies bringt Ruhe als Glied des Erwachens hervor, entfaltet sie und bringt sie zur Vollendung. 35. Wenn unser Körper und Geist ruhig sind, sammelt sich der Geist. Dies bringt meditative Ver-senkung als Glied des Erwachens hervor, entfaltet sie und bringt sie zur Vollendung. 36. Gelassen und umsichtig betrachten wir den gesammelten Geist mit Gleichmut. Dies bringt Gleichmut als Glied des Erwachens hervor, entfaltet ihn und bringt ihn zur Vollendung. Meditative Versenkung ist ein klarer Geist, noch wacher und klarer als zuvor. Wir sehen noch deut-licher das Sosein aller Dinge, was ein noch tieferes Loslassen mit sich bringt, das wir hier als Gleich-mut beschreiben. Wir können von hier aus wieder vorne anfangen und sagen: Mit solchem Gleichmut vertieft sich die Achtsamkeit, bringt ein noch tieferes Unterscheiden der Dharmas hervor, damit noch mehr freudige Ausdauer, noch mehr Freude, Ruhe, die meditative Versenkung vertieft sich und der Gleichmut wird noch tiefer, weil die Gelöstheit immer weiter zunimmt. Und wenn diese Gelöstheit, dieser Gleichmut vollständig wird, dann sprechen wir von zeitlosem Gewahrsein der Gleichheit aller Phänomene. Das ist das völlige Freisein von Anhaften eines Buddha. Das ist eine Art und Weise, das Gewahrsein eines Buddha zu beschreiben – das Gewahrsein der Gleichheit aller Phänomene – und das führt zu dem allertiefsten Gleichmut. Ihr seht hier, dass Gleichmut auf Weisheit, auf tiefem Seins-Verständnis beruht. Es ist nicht der sto-ische Gleichmut sondern die Weisheit selbst, und deswegen ist Gleichmut das letzte Glied in dieser Kette genauso wie auch das letzte Glied im Aufzählen der Vier Unermesslichen – Liebe, Mitgefühl, Freude, Gleichmut. Gleichmut steht für Weisheit. Weisheit wird hier nicht extra aufgeführt. Das wun-dert uns vielleicht und hat damit zu tun, dass Gleichmut sich nur bei Weisheit findet. Nur Weise sind wirklich gleichmütig. Wenn wir nicht weise sind, sind wir auch nicht gleichmütig, das lässt sich leicht beobachten. 37. Dies geschieht in gleicher Weise, wenn wir im Betrachten von Empfindungen als Empfin-dungen ausdauernd, wissensklar und achtsam, weltliche Verlangen und Sorgen aufgeben. Unse-re Praxis wird Achtsamkeit, Unterscheiden der Dharmas, freudige Ausdauer, Herzensfreude, Ruhe, meditative Versenkung und Gleichmut als Glieder des Erwachens hervorbringen, entfal-ten und zur Vollendung bringen. Es ist ja nur das Objekt unserer Betrachtung, unseres Kultivierens von Achtsamkeit anders. Wir sind jetzt in der zweiten Gruppe – Achtsamkeit auf Empfindungen. Und dort führt der Buddha nochmals auf, dass auch das die sieben Glieder des Erwachens nährt. Dann sehen wir, dass das dasselbe ist für den Geist: 38. Ebenso gilt dies, wenn wir im Betrachten des Geistes als Geist ausdauernd, wissensklar und achtsam, weltliche Verlangen und Sorgen aufgeben. Unsere Praxis wird Achtsamkeit, Unter-scheiden der Dharmas, freudige Ausdauer, Herzensfreude, Ruhe, meditative Versenkung und Gleichmut als Glieder des Erwachens hervorbringen, entfalten und zur Vollendung bringen. 39. Und gleichermaßen gilt dies, wenn wir im Betrachten der Dharmas als Dharma ausdauernd, wissensklar und achtsam, weltliche Verlangen und Sorgen aufgeben. Unsere Praxis wird Acht-

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samkeit, Unterscheiden der Dharmas, freudige Ausdauer, Herzensfreude, Ruhe, meditative Ver-senkung und Gleichmut als Glieder des Erwachens hervorbringen, entfalten und zur Vollen-dung bringen. 40. So vollendet das Entfalten und Üben des vierfachen Kultivierens von Achtsamkeit die sieben Glieder des Erwachens. Jede Qualität wird durch diese Praxis hervorgebracht, entfaltet und zur Vollendung gebracht, z.B. auch Mitgefühl, Liebe oder Freigebigkeit, die wir vielleicht jetzt nicht aufgeführt haben. Wir brauchen nur diese offene, nicht wertende Präsenz, dieses Gewahrsein in die Richtung zu führen, wo wir einer Qua-lität mehr Raum geben wollen. Teilweise werden sie sich völlig spontan manifestieren und teilweise braucht es nur einen kleinen Impuls und die Qualität zeigt sich. Ohne diese Achtsamkeit, ohne dieses Gewahrsein leben wir unser Leben vielleicht nur zur Hälfte – wenn überhaupt. Wir sind nicht ganz im Kontakt mit dem, was passiert, leben unser Potential nicht voll aus, da wir ständig mit anderem beschäftigt sind. Es sind ständig Gedanken im Geist darüber, wie etwas zu sein hat oder wie etwas nicht ist, wir sind immer mit anderem beschäftigt. Das führt dazu, dass sich der Geschmack, das Aroma des Lebens gar nicht voll entfalten kann. Wir nehmen es nicht in all seiner Vielfalt und Schönheit wahr, was jedoch möglich sein wird, sobald mehr Achtsamkeit da ist. Dann wird das Leben insgesamt sehr viel reicher, die Qualitäten strömen freier und wir erleben andere, uns selbst und Situationen um uns herum auch viel deutlicher. Wenn wir sehen, wie groß die Verstär-kung der Lebensqualität durch Erfahren von mehr Achtsamkeit ist, dann wird uns das diese freudige Ausdauer bringen. Dann haben wir wirklich Lust, weiter zu machen und diesen Weg weiter zu gehen, weil wir so viel befriedigter sind, weil wir so viel mehr mitbekommen. Wenn wir diese Achtsamkeit genießen lernen, dann führt das automatisch dazu, dass wir den alten Ne-bel nicht mehr möchten. Wir möchten nicht mehr vernebelt sein, wir suchen nach Möglichkeiten, das Leben mit mehr und mehr Klarheit und Offenheit zu leben und haben keinen Spaß mehr an Geistes-haltungen und auch Handlungen, die uns den Geist vernebeln, ihn mit Sorgen füllen, ihn immer wieder aufwühlen, sodass wir gar nicht richtig präsent sein können. Ohne Achtsamkeit zu leben wird nichts Gutes zur Folge haben. Wir werden es nicht schaffen, irgend-etwas zur Zufriedenheit umzusetzen. Auch wenn wir noch so motiviert sind Liebe und Mitgefühl, Bo-dhicitta zu praktizieren und zu leben, allein mit dem guten Willen ist es nicht getan. Wir brauchen die-se Achtsamkeit, die das Bodhicitta stützt, nährt, begleitet und zur Vollendung bringt. Buddha sagt uns mit diesem Sutra: Ohne Achtsamkeit gibt es kein Erwachen. Es gibt auch keinen Geist des Erwachens – Bodhicitta – ohne Achtsamkeit. Er führt diese Zusammenhänge auf, um uns klar zu machen, wie zentral das Kultivieren von Achtsamkeit ist. Sonst hätte er sich auch sparen kön-nen, diese Zusammenhänge darzustellen und immer wieder darauf zurückzukommen: „Schaut, so führt das Entwickeln von Achtsamkeit zu dem und dem und dem!“ Der letzte Absatz wird dann behandeln, wie wahres Gewahrsein und Befreiung dank der Achtsamkeit entstehen. Gewahrsein ist Bodhicitta, Gewahrsein bedeutet, dass wir sind, dass wir bewusst sind was wahr ist, und das nährt das Mitgefühl. Das ist Weisheit, das ist Gewahrsein. Gewahrsein ohne Acht-samkeit ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Anhaften an Achtsamkeit?

Frage: Muss man nicht aufpassen, dass man nicht an der Achtsamkeit anhaftet? Wäre es nicht blöd sich nicht um das Kultivieren der Achtsamkeit zu kümmern? Es klingt zwar gut, nicht an der Achtsamkeit anzuhaften, das klingt sehr weise. Aber was passiert, wenn man sagt „Ich darf nicht anhaften an Achtsamkeit“? Man räumt dann der Achtsamkeit nicht den ihr gebührenden Platz ein und lässt das Kultivieren der Achtsamkeit sein. Es ist völlig klar, dass wir alles, was wir in diesem Leben an Dharma praktizieren, mit derselben Anhaftung praktizieren werden, wie wir jetzt un-sere samsarischen Anliegen verfolgen. Das ist programmiert, das ist klar, wir können es gar nicht ver-meiden. Wir werden mit Anhaftung Dharma praktizieren, aber das wird auf die Dauer nicht schädlich

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sein, es wird von Anfang an gute Resultate mit sich bringen, weil es die Achtsamkeit ist, durch die das Anhaften bemerkt und aufgelöst werden kann. Ein Mehr an Achtsamkeit wird ein Mehr an Bemerken bewirken, was diese ganzen Mechanismen des Anhaftens mit sich bringen. Man kann die Frage auch weiter ausformulieren, denn da schwingt mit: „Es wäre besser, nicht am Er-wachen, an der Erleuchtung anzuhaften.“ Das ist so ähnlich, wie wenn die Katze sich in den Schwanz beißt. Das Erwachen, die Erleuchtung ist selber die Lösung, da gibt es kein Anhaften mehr. Sich an dem, was gesund macht, fest zu halten ist das Sinnvollste, was man tu kann. Das ist Weisheit. Es nicht zu tun, wäre Dummheit. Und wenn wir das tun, ist klar, dass wir es mit Ängsten und Hoffnungen tun und jemand also berechtigt sagen könnte: „Wir haften da ein bisschen an!“ Aber es ist die beste Form des Anhaftens, die man nur haben kann: Wir halten fest an dem, was unsere Arznei ist. Es kann sein, dass du an Leute gedacht hast, die an ihrer Geistesklarheit so anhaften, dass sie völlig unnatürlich werden. Die müsste man einmal mit in die Disco nehmen und kräftig tanzen lassen, damit sie ihre Geistesklarheit einmal für eine Weile vergessen und einfach nur natürlich sind. Aber abgese-hen von solchen Beispielen, wo das Anhaften an Klarheit vielleicht zu einem Hindernis für die natür-liche Entwicklung wird, ist es das Beste, was wir tun können. Gendün Rinpoche hat uns viele solche Beispiele aufgezählt, ein wichtiges Beispiel war die Anhaftung an den Lama. Aber dann gab es auch noch Anhaftung an die Meditation, an den Dharma überhaupt, Anhaften an die Natur, Anhaften an verschiedene Dinge, die uns gut tun. Die Antwort war jeweils, die Arznei zu schlucken, dabei aber immer weniger anzuhaften, immer entspannter und gleichmütiger zu werden – im Verhältnis zum Lama, zur Praxis, zum Dharma überhaupt, auch das Anhaften an der Na-tur aufzugeben, immer dasselbe. Das Beispiel mit dem Lama kam sehr, sehr oft und da gibt es ja durchaus die gute Überlegung, sich aus der Beziehung zurückzuziehen, wenn man am Lama anhaftet. Da muss man allerdings aufpassen, sich damit nicht die Arznei zu entziehen und die Beziehung zu kappen, die in der Lage wäre, ein Licht mit einer Korrektur auf unsere Praxis zu werfen, was wir durchaus brauchen. Und das könnte eine Ent-schuldigung für unseren Stolz sein. Damit nicht an unserem Verhaftetsein an uns selber gearbeitet wird, zieht man sich aus dieser Beziehung zurück mit der Entschuldigung, dass man nicht in Anhaften, Gurukult oder dergleichen verfallen möchte. Da muss man also aufpassen. Man sollte wirklich damit arbeiten, dass man eine entspannte Arbeitsbeziehung mit kompetenten Lehrern eingeht. Das ist es, was wir brauchen.

Vier Objekte, denen wahre Aufmerksamkeit gebührt

Frage: Ich habe das selber erlebt und finde mich darin wieder. Ich hatte diese große Verehrung und auch Anhaftung an Lama Gendün, auch als er schon gegangen war. Erst kürzlich hat mir eine Unter-weisung sehr weiter geholfen, worin es darum geht, was die vier Objekte sind, denen wahre Aufmerk-samkeit gebührt: 1) dem Dharma zu folgen und nicht der Person, 2) dem Sinn zu folgen und nicht den Worten, 3) der letztendlichen Wirklichkeit den Vorrang zu geben vor den relativen Implikationen, 4) dem tieferen Sinn zu folgen statt den Projektionen oder Annahmen, die einem so durch den Sinn gehen.

Sangha Diese Unterweisung, die Roger uns wunderbar wiedergegeben hat, muss man ergänzen durch die Un-terweisung über die dreifache Zuflucht in Buddha, Dharma und Sangha. Buddha und Dharma sind so-weit klar, der wesentliche Punkt ist hier die Sangha. Der Buddha hat die Sangha als die Gemeinschaft der Kayanamitras, der Freunde des Heilsamen, be-schrieben. Wir übersetzen dieses Wort immer als spirituelle Freunde. Wenn wir in die Sangha Zu-flucht nehmen, so heißt das, wir nehmen Zuflucht in diejenigen, die echte Freunde des Heilsamen sind. Kayanamitras sind solche, die den Weg kennen und uns auf dem Weg unterstützen können. Da-mit ist nicht z.B. die Sangha in Freiburg gemeint sondern die Sangha derer, die bereits auf den Stufen des Erwachens sind oder zumindest den Dharma gut kennen. Diese Kayanamitras sind für uns ganz konkret Teil der Sangha, in die wir Zuflucht nehmen und es ist diese Sangha, die uns trägt und stützt, das ist die Gemeinschaft der Meister. Es braucht nicht einer zu sein, auf den wir uns da einlassen, mit

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dem wir dann unter Ausschluss der anderen ein Band der Anhaftung knüpfen. Wir dürfen einmal zu dem einen gehen, dann wieder zu einem anderen und Nutzen ziehen daraus, dass es mehrere gibt. Na-türlich ist es gut, wenn sie uns kennen – je besser sie uns kennen, desto besser können sie uns führen – aber wir können tatsächlich zu zahllos vielen von ihnen gehen, denn die Sangha ist nicht begrenzt. Das, was wir Meister nennen, nimmt nicht die Stelle des Buddha in der Zuflucht ein, sondern ist in der Sangha inbegriffen. Um zu erklären, was Sangha als Zuflucht eigentlich ist, gibt es drei Ebenen, die der Buddha erklärt hat: 1) die vollkommen Erwachten, 2) die Verwirklichten auf den Stufen des Erwachens – das beinhal-tet Laienpraktizierende und monastische Praktizierende und 3) die monastische Sangha. Wenn eine schwierige Frage zu klären ist, reicht ein Vertreter der monastischen Sangha nicht, sondern es müssen vier sein, die ihre Gelübde vollkommen rein halten sollten. Diese vier zusammen würden die Frage überlegen und aufgrund ihrer tiefen Dharmakenntnis zu einer Antwort kommen. Der Buddha hat da eine Sicherheitsregelung getroffen: Wenn man keinen Verwirklichten treffen kann, dann kann man zur nicht-verwirklichten Sangha gehen, aber wenn man es wirklich genau wissen möchte, dann soll man darum bitten, dass mehrere von ihnen zusammen kommen und die Frage gemeinsam bespre-chen. Wenn einem die Antwort von einem einzelnen Praktizierenden ausreicht, ist es in Ordnung, aber so ist die genaue Darstellung des Buddha. Kann man dafür verschiedene Lehrer aus verschiedenen Schulen aufsuchen, zu denen man Vertrauen hat? Diese vier sollten an einem Ort versammelt sein und gemeinsam beraten. Man geht nicht nacheinander zu einzelnen von ihnen. In unserer Linie sind für mich die Kayanamitras die Meister, die zu uns kom-men. Zu ihnen man gehen kann, um seine wichtigen Fragen zu klären, und es wäre dumm, wenn man das nicht tun würde, bloß weil man Anhaftung an den einen oder anderen hat. Da würde man sich selber die Möglichkeit nehmen, eine Korrektur in der Praxis zu erfahren.

* * *

V. Wahres Gewahrsein und Befreiung 41. Und wie entfalten und üben wir die sieben Glieder des Erwachens, so dass wahres Gewahr-sein und Befreiung vollendet werden? Wahres Gewahrsein und Befreiung ist das Ziel des Weges, auf sie richtet sich der ganze Pfad. Die Er-klärung wurde deswegen hier angeschlossen, weil vielleicht noch offen ist, ob mit dem letzten Glied der sieben Glieder des Erwachens – dem Glied des Gleichmutes, das wir gestern auch schon be-sprochen haben – wirklich das höchste vollständige Gewahrsein und die Befreiung gemeint ist. 42. Die sieben Glieder des Erwachens – Achtsamkeit, Unterscheiden der Dharmas, freudige Aus-dauer, Herzensfreude, Ruhe, meditative Versenkung und Gleichmut – werden durch Abgeschie-denheit gefördert, sie werden durch Entsagung gefördert, sie werden durch Aufhören (des An-haftens) gefördert. Wenn die sieben Glieder des Erwachens in Abgeschiedenheit mit Entsagung und Aufhören praktiziert werden, führen sie in völlige Gelöstheit. 43. Ihr Mönche, so vollendet das Entfalten und Üben der sieben Glieder des Erwachens wahres Gewahrsein und Befreiung. Der Buddha sagt hier: „Ja, ihr habt bereits verstanden, dass dank der Achtsamkeit auch die anderen Glieder des Erwachens zur Entfaltung kommen, und jetzt will ich euch noch einmal sagen, worauf es wirklich ankommt, damit das alles tatsächlich auch zur Befreiung und zu völligem Verständnis führt.“

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Das ist es, was der Erhabene sagte. Die Mönche waren zutiefst angetan und erfreut über die Worte des Erhabenen.

Abgeschiedenheit Es braucht zu allererst Abgeschiedenheit – Abgeschiedenheit des Körpers und Abgeschiedenheit des Geistes. Mit diesem ersten Faktor sind ideale Bedingungen für die Praxis gemeint, wo wir aus unserer Geschäftigkeit herausfinden und durch nichts in unserer äußeren Umgebung und in unserem Geist aus der Praxis herausgezogen werden. Das ist auch genau der Grund, warum wir hier so auf Stille und Schweigen achten, damit wir – wenn wir schon mit so vielen Menschen zusammenleben und prak-tizieren – nicht durch die Gespräche ständig aus der Praxis herausgezogen werden und damit die Pau-sen tatsächlich auch Pausen sein können. Das heißt eigentlich, dass wir uns in den Pausen ausruhen, erholen können und nicht umgekehrt, dass wir uns in der Meditation von der Erschöpfung der Pausen erholen müssen. – So ist es nämlich normalerweise. Da haben wir so viel geredet, kommen in der Meditation an und müssen uns erst einmal erholen. Dann ist die Meditation auch gleich wieder vorbei, weil uns die Glieder schmerzen. Und dann gehen wir wieder in die Pause, sind so froh endlich Erleich-terung zu haben und reden wieder. Dann erholen wir uns wieder in der Meditation und kommen aber in der Meditation nicht so tief, wie wir das könnten, wenn wir die Pausen zum konsequenten Erholen genutzt hätten und dann völlig frisch, völlig ausgeruht in die Meditation gehen würden. Der Buddha verwendet für die Definition eines Ortes der Zurückgezogenheit den Begriff der Hör-entfernung. Mit Hörentfernung meint er jene Distanz, aus der man jemanden, der z.B. in einem Garten laut spricht, noch hören kann. Diese Hörentfernung verdoppelt man, um sicher zu sein, dass man auch die lautesten Geräusche, Stimmen, die sich erheben könnten, nicht mehr mitbekommt. Das ist ein Ort der Zurückgezogenheit, so wie es der Buddha unter Zurückgezogenheit des Körpers versteht. Mit Zurückgezogenheit oder Abgeschiedenheit des Geistes meint der Buddha, dass wir alle Kommuni-kation mit der Außenwelt unterbrechen, dass wir uns nicht mit Projekten beschäftigen, mit unserem Beruf, mit Sorgen oder Hoffnung in der Familie, sondern nur mit der Praxis. Das ist sie, die Zurück-gezogenheit des Geistes, die sich dann noch in der Praxis vertieft. Diese Bedingungen der Abgeschiedenheit gelten auch für unsere Tradition, ihr findet sie in Gampopas ‚Der Kostbare Schmuck der Befreiung’ genau beschrieben wieder. Sie gelten für die Mahamudra-Tradition, für die Dzogchen-Tradition, für Zen. Alle Traditionen haben sich der Abgeschiedenheit be-dient, um mit der Praxis in die Tiefe zu gehen, ganz unabhängig davon, ob die Meditation so erklärt wird, dass man alle Sinneserfahrungen mit einbezieht und so weiter. Überall sind Einsiedeleien ent-standen, die sich dann zwar auch zu Klöstern ausgewachsen haben, aber man hat Wege gefunden, das Leben zu beruhigen, sodass ideale Bedingungen für die Praxis möglich sind. Hier im Retreat kommen wir mit den Nachteilen von Kommunikation in Berührung – was ja sonst wunderbar ist und tatsächlich auch dazu beiträgt, das Herz zu öffnen. Wir teilen die Emotionen, die wir selber in uns tragen, mit den anderen, ob wir wollen oder nicht. Sobald wir sprechen, kriegen die anderen mit, was uns beschäftigt – das ist ja auch Sinn der Kommunikation – und der andere hat sich mit dem herum zu schlagen, was mein inneres Erleben ist, und ich habe das zu verdauen, was der an-dere mir erzählt. Es kann z.B. sein, dass es einem gerade nicht so gut geht. Und dann kommt jemand recht froh daher und das Ganze lockert sich. Aber was ist tatsächlich passiert? Derjenige, dem es nicht gut geht, ist eigentlich nur abgelenkt worden von seinen Schwierigkeiten und hat im Grunde genom-men eine Gelegenheit verpasst, um hinzuschauen und das selber aufzulösen. Es ist einfach eine nette Ablenkung gewesen, die das Ganze angenehmer gemacht und entspannt hat. Es kann auch sein, dass es jemandem gerade gut geht, er ist tief in Verbindung mit seinem Atem, mit seiner Präsenz und er erlebt eine große Offenheit. Dann kommt jemand mit seinen Sorgen daher und man muss sich damit beschäftigen. Das ist eine gute Herausforderung, aber wenn man noch nicht sehr stabil ist, ist das vielleicht gerade wieder das, was dann die eigene Praxis unterbricht. Da müssen wir uns anhören, was die Einzelnen so erleben. Da kommt der eine aus der Meditation und sagt, „Oh, das war super!“, und der andere sagt, „Ich war total abgelenkt, ich war zu nichts fähig.“ Der Nächste möchte abfahren, und der Vierte sagt, „Ich will das mein ganzes Leben lang praktizieren.“ Und so haben wir mit all den Meinungen und Einschätzungen der anderen zu tun und sind einfach nur dabei, die Erfahrungen der anderen mit zu verdauen.

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Bei längeren Retreats haben wir dann eine stabile Gruppe, z.B. für drei Jahre. In so einer Gruppe verbringt man zwölf Stunden pro Tag in Schweigen und hat vielleicht für zwei, drei Stunden die Mög-lichkeit zum Austausch. Aber es sind immer dieselben Leute und es kommen kaum Außeneinflüsse herein. Wenn die Leute sich an die Retreat-Bedingungen halten, dann kommen wenig Einflüsse von außen rein. Es kommen keine Besuche, niemand geht raus, und das ermöglicht es, ein Gleichgewicht von Kommunikation und Stille herzustellen. Dieses Gleichgewicht ist notwendig, so lange Zeit hin-durch zu schweigen, würde uns nicht gut tun. Wir würden ziemlich komisch drauf kommen, wenn wir so lange schweigen würden. Das können nur Leute, die enorm stabil und offen sind.

Nachlassen der Anhaftungen Als zweiten Punkt führt der Buddha an, diese Praxis der sieben Glieder des Erwachens sollte durch Nachlassen unterstützt oder gefördert werden – Nachlassen der Anhaftungen. Das geht nur, wenn wir diese Glieder in unserer Meditation tatsächlich so einsetzen, dass sie zum Nachlassen von Anhaftun-gen führt. Wenn wir es uns nur gut gehen lassen in der Meditation, verringert sich kein Anhaften, da können wir auch nicht von sieben Gliedern des Erwachens sprechen. Es geht in der Meditation oder überhaupt in aller Dharmapraxis um eine ganz gezielte Arbeit, die auf einen Punkt hinzielt: auf das Auflösen des Ich-Anhaftens. Das muss gewährleistet sein. Wir dürfen nicht irgendwo hier – z.B. beim Faktor Freude oder Ruhe – aufhören und dann in ruhiger, freudiger Meditation verweilen, ohne diese Arbeit weiter fortzusetzen. Dann kann man nicht sagen, dass das zur Befreiung und zur tiefen Erkennt-nis führt. Es geht nicht darum, einfach nur Ferien zu machen beim Meditieren. Man kann das schon als Ferien betrachten, weil es wunderbar ist, diesen Prozess durchzugehen. Aber da wir ja dem Ich-Anhaften ent-gegenarbeiten, wird es zwangsläufig auch Passagen geben, die sich nicht so recht wie Ferien anfühlen – nicht so, was wir uns unter Ferien vorstellen. Vielleicht kann man das Abenteuer-Ferien nennen, es wird manchmal ein bisschen eng. Dieses Nachlassen der Anhaftung sollte auf jeder Stufe unser Haupt-Augenmerk sein. Es gibt keine Stufe im Prozess, die nicht dem Nachlassen, dem Auflösen der Anhaftung gewidmet wäre.

Aufhören Der nächste Punkt, das Aufhören, beschreibt das völlig Aufgelöstsein, das völlige Aufhören allen An-haftens, aller Identifikation und ist das besonders Schwierige, wenn man schon eine Weile praktiziert hat. Dann spürt man dieses Nachlassen der Anhaftung und kann es sich gut einrichten im Leben. Das Leben wird sehr schön, wird sehr angenehm, weil wenig Anhaftungen da sind. Aber dann kommt die große Herausforderung, die ich selber auch gut kenne und wo ich oft nicht genug Ausdauer habe: die Herausforderung, weiter zu gehen und die Anhaftungen ganz aufzulösen, aber auch wirklich ganz rein zu gehen und ganz aufzulösen, bis die Ichbezogenheit völlig, völlig verschwunden ist und sich auch nicht mehr rührt, also entwurzelt ist. Die Ichbezogenheit muss entwurzelt werden, muss völlig aufge-löst werden. Das ist das Aufhören, von dem der Buddha als Niroda oder Nirwana spricht, und das bedarf natürlich einer Ausdauer in der Praxis. Diese Ausdauer ist dann wirklich ein Glied des Erwa-chens, weil da geht es nicht mehr drum, sich nur gut zu fühlen und einfach weniger Hindernisse im Leben zu haben, sondern weiter zu gehen, in die Tiefe der Anhaftungen.

Völlige Gelöstheit Wenn man also die sieben Glieder des Erwachens so praktiziert – mit Abgeschiedenheit, Nachlassen und Aufhören – dann werden sie zu wirklichen Gliedern des Erwachens, sie führen dann zu dem voll-kommenen Erwachen, was der Buddha hier mit völliger Gelöstheit beschreibt. Völlige Gelöstheit ist die völlige Offenheit des Geistes, wo alle Dinge in ihrem natürlichen Zustand verweilen, ohne dass es noch ein Ergreifen gibt. Und mit den drei letzten Worten Nachlassen, Aufhören und völliger Gelöstheit greift der Buddha die drei letzten Stufen des Anapanasati auf und führt die Zuhörer wieder zurück in die Erklärung von der Achtsamkeit mit dem Atem. Nur hat er ihnen zwischendurch den Horizont geöffnet. Er hat uns den Horizont geöffnet, indem er die zusätzlichen Erklärungen des Dharma noch mit eingebunden hat, und er sagt: „Wenn ihr diese 16 Stufen mittels der sieben Glieder des Erwachens durchläuft und so die vier

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Formen der Achtsamkeit praktiziert, dann führt das tatsächlich in diese völlige Gelöstheit, was ein Sy-nonym für wahres Gewahrsein und Befreiung ist“. Wahres Gewahrsein bedeutet – darüber haben wir schon gesprochen – die Dinge so zu sehen, wie sie sind, in ihrer Soheit, die Abwesenheit einer soliden Wirklichkeit, eines Wesenskerns. Wir sagen dazu in unserer Schule auch das sich gegenseitige Durchdringen von relativer und letztendlicher Wahrheit. Es ist die Tatsache, dass Formen, Empfindungen, Unterscheidungen, Gestaltungen und Bewusstsein in ihrer wahren Natur leer sind, leer von einem Wesenskern. Und das befreit den Geist von allem An-haften, befreit von Karma, von unfreiwilliger Wiedergeburt, von Samsara. Da ist der Geistesstrom von allen Fesseln befreit. Das nennt man das Erwachen.

Unterscheiden der Dharmas

Frage: Ich weiß, das ist eine doofe Frage, das wurde schon behandelt, aber noch mal ganz kurz zum Unterscheiden der Dharmas. Das Unterscheiden der Dharmas ist das, was in unserem Geist passiert, wenn wir mittels der Achtsam-keit den Geist auf die Gesetzmäßigkeiten richten. Wir setzen uns z.B. hin und üben Achtsamkeit. Wir erleben, wie unser Geist funktioniert und merken: „Ah! Immer wenn ich mich darauf fixiere, dann ent-steht Ärger…, wenn ich mich darauf fixiere, dann entsteht Anhaftung.“ Und das ist das Beobachten ei-nes Dharma – Dharma nicht nur als Phänomen sondern hier als Gesetzmäßigkeit. Und dann beob-achten wir: „Ah, und wenn ich mit dem Geist so umgehe, löst sich das schnell auf…, wenn ich mit dem Geist so umgehe, löst sich das langsam auf.“ Das ist auch wieder ein Dharma – die Gesetzmäßig-keiten des Auflösens von emotionalen Zuständen, Vergänglichkeit und so weiter. Das ist hier der tie-fere Sinn von Dharmas. Das sind die Zusammenhänge, deren Verständnis uns befreit. Wenn wir diese Zusammenhänge verstehen und dann so einsetzen, dass sie uns helfen, so führt das zur Befreiung. Wir untersuchen die Mechanismen, die das Leben ausmachen, die Mechanismen, die zu Leid führen, die Mechanismen, die zu Glück führen und die Mechanismen, die zu Befreiung führen. – Ich glaube, die Frage entstand deswegen, weil Dharma so viele verschiedene Bedeutungen hat.

Loslassen der Identität

Frage: Ich hatte gestern bei der Meditation folgende Erfahrung: Ich habe mir die Zeit genommen, wirklich jeden Punkt gut, in Ruhe durchzugehen und konnte mich zum Ende hin relativ gut konzentrie-ren. Ich hatte dann das Gefühl, dass schon der Bezug zur Umgebung ja auch so ein Greifen ist, zu wissen, wo ich mich gerade befinde. Wenn man irgendwo aufwacht, wo man sonst nicht schläft, fragt man sich zuerst „Wo bin ich?“ und versichert sich vielleicht, dass da keine Gefahren sind. Das ge-schieht irgendwie intuitiv. Und da habe ich gemerkt, dass man sich damit ja auch schon immer in Bezug setzt und identifiziert. Muss man das dort nicht eigentlich auch schon loslassen? Ja! Jaja, auch das lernt ihr jetzt gut loszulassen. Wenn du morgens dieses Suchen mitkriegst, dann kannst du dir statt weiter zu suchen sagen: „Ach bleib doch einmal in diesem Zustand nicht zu wissen, wo du gerade bist, wer du gerade bist!“ Ermutige dich einmal, in diesem Sein ohne klare Bezugspunk-te zu verweilen. Also nutze diese Gelegenheit, wenn sie einmal auftaucht. Schau die Ängste auch an, die auftauchen, wenn du so nicht weißt, wo du bist, vielleicht auch gar nicht so sicher bist, wer du bist. Lass es eine Weile in diesem Zwischenzustand und schau, was da alles auftaucht. Denn es sind diesel-ben Ängste, die uns daran hindern, in der Meditation solche Bezugspunkte loszulassen. Du weist damit auf etwas ganz Wichtiges für die Praxis hin: Wenn wir in tiefere und tiefere Entspan-nung eintreten, dann fallen all die normalen Bezugspunkte von uns ab. Wir sind nicht mehr der Mann mit dem und dem Namen, die Frau mit dem und dem Namen. Wir sind weder Mann noch Frau, wenn wir meditieren, wir haben auch keinen Namen mehr. Unser Beruf fällt ab, unsere Familien-Zugehörig-keit fällt ab, unsere Nationalität fällt ab. Und es spielt dann auch keine Rolle mehr, an welchem Ort wir meditieren. Die Erfahrung wird völlig unabhängig von Ort, Geschlecht, Volks-Zugehörigkeit. Es gibt keine Sprache mehr, die Zugehörigkeit zu einer Sprach-Familie fällt weg, das Erleben dieses Le-bens und das Erleben früherer Leben bestimmen nicht mehr unsere Meditation, auch das fällt weg. Es ist wie eine Zwiebel, wo eine Schale nach der anderen wegfällt. Und es ist so wie bei einer Zwiebel auch, dass in der Mitte gar niemand ist. Da ist keine Entdeckung von jemandem in der Mitte. Das ist nur die Offenheit, die große Offenheit, und die können wir nicht erfahren, wenn wir an einer dieser Hüllen festhalten. Wir müssen all die Hüllen fallen lassen.

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Untersuchen von Form

Frage: Ich habe eine Verständnis-Frage. Wir haben zur Untersuchung der Vergänglichkeit den ‚Roten Faden’ benutzt. Da ging es erstens darum, alles zu untersuchen, was eine Form hat, und zweitens alles in der äußeren Welt zu untersuchen. Aber da gibt es ja auch tausend Dinge, die eine Form haben. Und jetzt wollte ich wissen, ob der erste Punkt nur den physischen Körper, also meinen Körper oder einen anderen Körper betrifft. Die beiden Punkte sind einfach das Untersuchen von Form – zunächst der eigene Körper und dann die Formen außerhalb. Dann geht man weiter in die anderen Sinnesempfindungen hinein. Man nimmt erst Körperempfindungen und dann Formen, visuelle Empfindungen, das ist eigentlich nur das Ausweiten dieser selben Untersuchung. Bemerkung: Die meisten von uns vergießen beim Schälen einer Zwiebel ganz schön viele Tränen… Frage: Kann man die sieben Glieder des Erwachens irgendwie mit den Stufen des Erwachens, mit den Bhumis in Verbindung bringen? Ich weiß das nicht, mir ist solch eine Korrelation nicht bekannt. Mir ist das für die sechs und die zehn Paramitas bekannt, die man mit den sechs ersten und insgesamt den zehn Bhumis in Verbindung bringt. Aber für die sieben Glieder des Erwachens habe ich das nie gehört, und ich bin überzeugt, dass wir diese Glieder so wie wir jetzt sind, praktizieren können. Das hat direkt mit unserem jetzigen Erle-ben zu tun. – Die Frage ergab sich sicherlich daraus, dass einige der sieben Glieder des Erwachens identisch sind mit einigen der Paramitas.

Loslassen – ein schmerzlicher Prozess

Frage: Bezüglich dessen, was du vorhin zum totalen Aufhören und Nicht-Identifizieren und der völli-gen Gelöstheit bis zum Schluss erläutert hast, merke ich eine immense Hoffnungslosigkeit, wie man das jemals bewältigen soll. Wir haben ja auch gestern darüber gesprochen, dass man im Grunde ge-nommen das Sterben vorwegnehmen muss, um wirklich letztendlich befreit zu werden. Und da kam mir jetzt noch einmal ins Bewusstsein, dass selbst Menschen, die wirklich wissen, dass der Tod nahe bevorsteht, wo eigentlich gar keine Hoffnung mehr ist, noch teilweise ganz schön herumkämpfen. Da frage ich mich dann, wie unsereiner, der relativ gesund ist, sich sozusagen irgendwie selbst überlisten muss, um halt doch immer mehr loszulassen. Wir haben ja doch noch gewisse Optionen auf Glück. Und das ist ja immerhin ein Glück, was wir dann auch schon kennen. Und das andere Glück, da haben wir vielleicht ein kleines bisschen Ahnung bekommen, aber mehr auch nicht. Und dann liegt es ja auch teilweise jahrelang zurück, und das macht es einfach sehr, sehr schwierig, wirklich daran zu glauben, dass das möglich ist, was hier geschrieben steht. Ein Teil von dem, was du sagst, ist völlig richtig. Es geht tatsächlich darum, durch die Meditations-praxis einen Tod zu sterben – einen Tod zu leben – durch einen Tod zu gehen. Wir lösen uns von der Identifikation mit all diesen Identitäten wie Frau, Land, Sprache, Familie und so weiter. Missverständ-nisse oder Schwierigkeiten entstehen wohl unnötig da, wo vielleicht nicht klar genug gesehen wird, dass wir ja in diesen Rollen durchaus weiter funktionieren. Bloß dass wir uns aus der Identifikation lö-sen, heißt ja nicht, dass wir nicht weiter Frau, Mann und so weiter sind. Das Funktionieren in dem Körper hier, in diesen fünf Skandhas, die jetzt unseren Körper ausmachen, unsere Existenz, das geht ja weiter. Der Buddha war auch nach seinem Erwachen noch Mann, Inder und hatte einen Sohn und eine Familie. Das bestand auch nach dem Erwachen noch. Das Erleben dieses Seins in diesem Skandha-Körper ist aber dann frei von diesem verkomplizierenden Anhaften, wo man zum Beispiel das Mann-Sein verteidigt und nähren muss, das Inder-Sein verteidigt oder stärken muss. Der Kampf und das An-haften mit den jeweiligen Zugehörigkeiten hat völlig aufgehört, was das Leben selbst – wenn du es aus dieser Warte betrachtest – natürlich sehr viel lebenswerter macht, weil du nicht mehr in all diesen An-spannungen bist, in all den Hoffnungen und Befürchtungen. Das heißt, wir ziehen den Tod, der eigentlich am Ende des Lebens eingefordert wird – dort müssen wir loslassen, dort schwindet unsere Identität tatsächlich – in unserer Praxis schon vor. Wir ziehen diesen Tod vor, indem wir schauen, dass es ohnehin nur eine Illusion ist, an der wir festhalten, dass es nichts Konkretes gibt, was als Mann oder Frau oder Deutsche und so weiter weiterexistieren würde. Und wir merken, wie wenig verlässlich diese Grundlagen für unser Selbstgefühl sind. Wir erleben, wie heilsam

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es ist, ohne diese Identifikationen zu leben und wie viel mehr Offenheit ins Leben reinkommt mit je-dem Maß an Loslassen, das wir dazu gewinnen. Das ist der eigentliche Prozess. Und dieser Prozess geschieht auf jeder Stufe. Obwohl jedes Loslassen schwierig ist, wird auch jedes Loslassen mit einem höheren Maß an Freiheit belohnt sozusagen. Das ist das, was der Praktizierende entdeckt und was ihn dazu bewegt, weiter zu gehen. Das ist nicht so schmerzhaft wie am Ende des Lebens, weil es durch Weisheit ausgelöst wird. Es ist die Weisheit selbst, die das Loslassen bewirkt, es ist das Verständnis, das Erkennen, das uns möglich macht, dort loszulassen, wo andere in Unwissenheit immer noch grei-fen. Dadurch erleben wir die Freiheit von Greifen. Es gibt nichts Schöneres als das, weil der Geist da endlich frei ist, endlich offen ist. Und das Leben kann weiter gehen, ohne dass jemand da ist, der die-ses Leben mit Hoffnung und Furcht lebt. Wie geht es dir mit dieser Antwort? Kommst du damit soweit zurecht? Ich hab nicht den geringsten Zweifel, dass all diese kleinen Befreiungen uns letztendlich dazu bringen, insgesamt besser zu funktionieren und uns leichter zu fühlen, aber der Prozess als solcher bleibt ein-fach schmerzhaft. Das kann man jetzt glaub ich nicht irgendwie schönreden…. Gut, dass du das so sagst. Ich werde das jetzt noch einmal schönreden… Ich möchte dazu noch einmal Gendün Rinpoche zitieren. Ob dieser Prozess schmerzhaft ist oder nicht, hängt nur davon ab, wie stark und wie lange man festhält – gegen besseres Wissen. Der Prozess wird schmerzhaft, je länger man ge-gen besseres Wissen festhält. Und wer schnell loslässt und seinem jeweiligen Verständnis folgt, hat einen leichten, freudigen Weg, ohne große Aufs und Abs. Das ist der Unterschied zwischen Praktizie-renden. Für die einen ist es holprig und für andere ist es ein leichter Weg. Der Widerstand gegen das Loslassen macht den Weg schwierig.

Aufhören – Bodhisattva-Aktivität

Frage: Entspricht diese letzte Stufe, die hier beschrieben wird, dem ersten Bhumi und sind danach noch die weiteren feinen Anhaftungen aufzulösen, oder ist das bereits die endgültige Stufe des Er-wachens? Und wann findet denn die Bodhisattva-Aktivität statt? Der Buddha meinte hier mit den letzten beiden Gliedern – Niroda oder Aufhören und völlige Gelöst-heit – tatsächlich das völlige Erwachen. Wir gehen diese Glieder immer wieder durch, praktizieren sie immer wieder und bringen jedes Glied zur Vollendung. Wenn das Glied des Aufhörens zur Voll-endung gebracht wurde, dann ist das Niroda, das Aufhören allen Anhaftens, und das Aufhören von zwangsweiser Wiedergeburt. Wenn das erste Mal ein solches tiefes Aufhören passiert, dann ist das der Eintritt in die erste Bodhisattva-Stufe. Das ist der Stromeintritt bei den Theravadins. Aber das ist noch nicht das Vollenden dieses Gliedes. Das muss so tief gehen und sich auf alle Bereiche erstrecken, dann erst spricht man von Aufhören oder Niroda. Bodhisattva-Aktivität findet statt, während wir all diese Glieder praktizieren, Bodhisattva-Aktivität geht weiter. Und was das Glied des Aufhörens angeht, so macht der Bodhisattva auf seinem Weg vie-le, viele Wunschgebete, die dazu führen, dass es nicht zu einem Aufhören der Wiedergeburt kommt, sondern dass der Geistesstrom sich aufgrund der Kraft der Wunschgebete wieder manifestieren kann. Da besteht ein recht großer Unterschied zwischen dem Weg der Selbstbefreiung und dem des großen Fahrzeugs.

Dewatschen

Frage: Auf welcher Bodhisattva-Stufe ist man denn, wenn man nach Dewatschen kommt? Wenn man in Dewatschen geboren wird und – wie es in der Symbolik heißt – der Lotus sich öffnet, so bedeutet dies, dass der Geist sich öffnet für die Schau der wahren Natur der Dinge. Das ist das Eintre-ten in die erste Bodhisattva-Stufe. Wenn man in Dewatschen geboren wird, aber der Lotus sich noch nicht geöffnet hat, so ist das ein Symbol dafür, dass der Geist noch nicht in diese wahre Schau einge-treten ist und man noch in der Vorbereitung für die erste Bodhisattva-Stufe ist. Wenn der Bodhisattva dann in Dewatschen ist, wird er sich auf den verschiedenen Stufen des Er-wachens weiterentwickeln. Mit diesem Verständnis des Eintritts in die wahre Schau der Dinge entpup-pen sich alle Situationen als Lehrer. Was an Karma zu reinigen ist und dann aufsteigt, wird im Licht des gewonnenen Gewahrseins betrachtet und führt dazu, dass sich dieses Gewahrsein ausweitet.

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Geht das dort schneller als hier? Es geht leichter. Das sind die Unterweisungen der Meister, es sind nicht meine Unterweisungen. So wird es von Karma Tschagme Rinpoche, Shamar Rinpoche, Gendün Rinpoche beschrieben.

Widerstand gegen das Loslassen

Frage: Wie kommt es denn zu diesem Widerstand gegen das Loslassen? Ist das Verständnis vielleicht nicht tief genug? Das Verständnis ist da, es ist ausreichend, aber man möchte ihm nicht glauben, es sind Zweifel. Man will sich nicht darauf einlassen. Man kann sagen, das Verständnis ist noch nicht tief genug, aber ei-gentlich sind es Zweifel an dem, was man schon klar gesehen hat. Das ist unsere Neurose. Kein Pardon mit den Zweifeln! Wir tun einfach das, was wir verstanden haben. Die Zweifel haben kei-nerlei Existenz, wir brauchen nicht nett mit ihnen umzugehen. Dann heißt es z.B. „Und ich? Wer kümmert sich um mich? Ich will doch glücklich sein!“ Es gibt ganz einfache Leute, deren Weg auch ganz leicht ist. Sie tun das, was sie verstanden haben. Dann gibt es andere, die etwas gescheiter erscheinen, die sagen, „Aber man muss doch zu einer völligen Integration kommen.“ – Integration von was? Integration von den Zweifeln? Die haben doch nichts auf dem Weg zu suchen. Zweifel integrieren in die Praxis, bist du denn verrückt? Gift mit Arznei vermischen? Bist du verrückt? – Deswegen hat der Buddha Zweifel als sechstes Klesha genannt, als sechstes Wurzel-Gebrechen. Wir werden doch auch nicht Begierde und Hass mit in unseren Weg integrieren, in unser Erwachen. Das Gleiche gilt auch für Zweifel. Da diskutiert man dann immer mit sich selbst: „Na, gibt es denn keinen Weg, das noch mit auf den Weg zu nehmen, muss ich das wirklich loslassen?“ Ja, so kenne ich das von mir auch.

* * *

Wir haben ja nun jeden Morgen diese Meditation gemacht, heute Morgen war der Rhythmus etwas schneller. Dadurch kommen die Instruktionen etwas näher ran und man hat eigentlich gar keine Zeit für was anderes. Man muss richtig dran bleiben, und jedes Mal noch ein Stück weiter und noch ein Stück weiter und noch ein Stück loslassen. Mir kam es so vor wie bei einer Säge – hin und her – mit jedem Einatmen und Ausatmen werden die Anhaftungen durchgesägt – loslassen, entspannen, öffnen, loslassen, entspannen, öffnen – und das bei jeder Ein- und Ausatmung. Es geht kein einziger Atem verloren. Jeder Atemzug dient dazu, um noch tiefer einzutreten in die Präsenz, noch umfassender ge-wahr zu werden und das, was noch an Verhaftungen da ist, weiter aufzulösen. Kein einziger Atem geht verloren in dieser ganz intensiven Arbeit mit dem Gewahrsein. Ich kann auch gut verstehen, dass einige unterwegs ausgestiegen sind. Es waren einfach zu viele Schmerzen, zuviel von allem, ja? Das ist auch in Ordnung. Übrigens ist mir bei der Meditation klar geworden, dass ich die letzten Sätze der Instruktionen ändern werde. Das Wort betrachten werde ich durch sehen ersetzen. Ich sehe: Einatmend sehe ich das Nach-lassen, ausatmend … und Einatmend sehe ich das Aufhören. In diesem Sehen ist das Verständnis, das Betrachten mit drin, wir kommen da zu tiefen Verständnissen. Und dann verweilen wir in der Schau – ich meine damit die letzten Absätze der 16 Instruktionen. Wir kommen zur Schau und verweilen dann in dieser Schau. Das Pali-Wort lässt beides zu, es ist ein Betrachten, das zu einem Verständnis führt. Es erscheint mir wesentlich, das Verständnis zu unterstreichen.

Loslassen von allem, was im Geist aufsteigt

Frage: Mir ist an diesem Punkt jetzt auch aufgefallen – und ich weiß nicht, ob das so richtig ist – dass man sich an dieser Stelle ja zumindest nicht mehr nur auf eine Sache konzentriert, sondern es ist ein bisschen schon wie in einer Kontemplation, dass ich mich mit meinen Gedanken schon an die Punkte führe, wo ich vielleicht nicht loslasse – also zum Beispiel jetzt hier dieser Ort, dieser Körper. Was wä-re denn, wenn ich jetzt zum Arzt gehe und der mir sagen würde, ich …

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Du bringst das Loslassen, dieses Entspannen, in all das hinein, was gerade aufsteigt. Was auch immer in deinem Bewusstsein wahrgenommen wird, da hinein bringst du das Loslassen. Also es wird weiter, wie du sagst. Also ist es okay, wenn ich über diesen Augenblick hinausgehe mit dem Betrachten, also nicht nur die Veränderung des Atems oder … Ja. In den letzten vier Schritten, sobald wir zu Geist und Dharmas kommen, sind wir gar nicht mehr so mit dem Atem beschäftigt. Der Atem ist nur das, was uns hilft loszulassen. Das Nicht-Identifizieren zeigt sich in jedem Moment des Denkens.

Veränderung des Blickes bei den letzten Übungen

Frage: Mit den letzten Etappen hebt sich mein Blick wie von selber ein bisschen und geht mehr in die Weite. Soll ich den Blick wieder senken oder ist das so natürlich und okay? Ja, es ist ganz natürlich, dass sich in dieser letzten Phase die Blickhaltung verändert. Es ist normal, dass der Blick sich etwas hebt, und ihr könnt durchaus zulassen, dass der Blick dann einfach gerade vor euch in die Weite geht – völlig offene Augen, denn der Geist ist jetzt ja bereits gesammelt. Wir schauen, ohne irgendetwas zu sehen, ohne uns an visueller Wahrnehmung festzuhalten. Wenn wir so im reinen Schauen sein können, dann ist es nicht notwendig den Blick zu senken. Da können wir ihn einfach weit offen lassen, denn es führt nicht zu Ablenkung. Der Geist ist völlig gesammelt. Es kann in dieser Phase auch passieren, dass die Augen sich schließen und dass man bei geschlossenen Augen in großer Sammlung, einem ganz feinen inneren Spüren verweilt, ohne dass man dadurch abgeschlossen ist oder schläfrig wird. Wenn das der Fall ist, ist es okay, mit geschlossenen Augen zu meditieren. Wenn man merkt, dass man sich abschließt oder schläfrig wird, dann öffnet man die Au-gen wieder, genauso wie man den Blick beim weiten Schauen wieder senkt, wenn man dabei merkt, dass man doch den visuellen Eindrücken Bedeutung beimisst und abgelenkt wird.

Alle aufsteigenden Gedanken gleich behandeln

Frage: Wenn wir zum Beispiel diese Instruktionen eine Stufe nach der anderen machen und dann ein Gedanke kommt, vielleicht ein starker Gedanke, muss ich mich dann mit dem Gedanken irgendwie beschäftigen oder mache ich einfach gerade mit der Instruktion weiter, bei der ich bin, zum Beispiel Vergänglichkeit zu betrachten? Man macht einfach immer so weiter wie die Instruktionen gerade sind, wo man gerade ist und behan-delt alle Gedanken gleich wie ein Kämpfer, der völlig erbarmungslos alle gleich behandelt. Wir sind wie ein erbarmungsloser Krieger, der bei allem, bei jedem aufsteigenden Gedanken immer auf die wahre Natur schaut, immer die Unterweisung anwendet. Egal, ob depressive Gedanken auftauchen, euphorische, was auch immer, alle werden gleich behandelt und dadurch wird die Meditation nicht zum Sklaven der Emotionen.

Umgang mit Blockaden

Frage: Ich habe in der Morgen-Sitzung gemerkt, dass ich bei der vierten Stufe blockiert war. Ich hatte das Gefühl, die Säge würde das in dem Moment nicht schaffen und konnte die körperlichen Gestaltun-gen nicht beruhigen. Und dann wusste ich nicht, wie es weiter geht. Wie macht man denn das? – Gut, ich wurde dann weiter gezogen durch die Instruktionen, die gegeben wurden, aber wie macht man denn das, wenn man alleine ist? Wenn wir schon so technisch in Stufen und Etappen sprechen, dann kann man als technische Antwort geben: Ja, wir können länger bei dieser Stufe verweilen und schauen, ob wir es doch noch schaffen, dass die Säge – so wie du sagst – den Faden der Anhaftung an dieser Stelle durchtrennt. Oder wir können tatsächlich zur nächsten Stufe gehen und schauen, ob uns die nächste Stufe nicht eine Hilfe bringt, die wir durch Insistieren auf der jetzigen Etappe nicht verspüren. Weniger technisch ausgedrückt bedeutet das, dass wir mit unserem gegenwärtigen Anhaften so arbei-ten können, dass wir mit der gleichen Methode, die wir gerade benutzen, einfach noch ein bisschen

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länger verweilen. Oder wir schauen, ob uns ein anderer Zugang hilft zu entspannen, die Lösung zu fin-den. Es gibt immer die beiden Möglichkeiten, entweder bei der Methode zu bleiben oder eine andere Herangehensweise auszuprobieren. Mit diesen wunderbaren 16 Stufen, die der Buddha so gut erklärt hat, haben wir ein phantastisches Werkzeug in der Hand. Und wenn wir diese Stufen tatsächlich so durchgehen wie sie beschrieben wer-den, ist das ein Riesen-Vorteil. Ich weiß nicht genau, warum es so ist – ob man das Segen nennen kann, oder ob es einfach in der Natur der Dinge, in der Logik, der Funktionsweise des Geistes liegt – aber wenn wir diese Stufen in dieser Reihenfolge machen, so ziehen sie uns, sie saugen uns gleichsam in eine Offenheit hinein, in eine Entspannung. Es kann aber auch sein, dass wir irgendwo blockieren, dass es nicht weiter geht, und natürlich ist es dann ganz wichtig, immer diese Flexibilität zu behalten. Man kann spätere Stufen vorziehen, man kann noch einmal zurückgehen zu einer Stufe, die man schon gemacht hat. Das ist auf jeden Fall möglich. Wir sind da nicht fix in ein System eingebunden. Wenn wir uns alle Freiheiten geben, unsere Meditation so oder so zu machen, kann es allerdings auch passieren, dass unsere Meditation dann doch wieder zum Sklaven unserer Emotionen wird. Wir ent-scheiden uns für etwas, weil es sich gut anfühlt, aber im Grunde genommen gehen wir uns nur selber auf den Leim, z.B. beim Suchen nach einer Form der Entspannung, die aber unsere tiefen Anhaftungen unversehrt lässt. Da können wir uns ganz schön was vormachen. Deswegen würde ich euch als Quint-essenz empfehlen, immer wieder zu dieser Struktur zurück zu kehren, um eine Korrektur zu erfahren. Dann könnt ihr wieder entspannter damit umgehen, bei Bedarf wieder zurückkehren zur Struktur und dann wieder entspannter damit umgehen. Ich habe zum Beispiel im Laufe der Tage, die wir jetzt schon zusammen sind, beim Unterrichten gemerkt, dass ich selber auch manchmal das Bedürfnis hatte, euch die Struktur etwas aufzuweichen und näher zu bringen, etwas leichter zu machen. Und dann haben wir heute schon zwei Meditationen gemacht, wo ich einfach nur die Struktur gesprochen habe, ohne persönliche Bemerkungen, was ich für einen Riesen-Vorteil halte, was mich begeistert und mir richtig gut tut. Das ist so klar und so einfach und nicht selbst gemacht. Darin liegt ein großer Vorteil und im Moment fühle ich, dass es sinnvoll ist, immer wieder zu dieser klaren Struktur zurückzukommen.

Physische Phänomene als Anzeichen von Anspannung

Frage: Wenn ich die ersten Stufen durchlaufe und merke, der Körper und die Sinne sind ruhig und machen mir keine Scherereien mehr, dann tritt häufig das Phänomen auf – ich sehe normalerweise nichts, wenn ich die Augen offen habe – dass ich plötzlich einen Nebel sehe, einen richtigen Nebel. Es wabert alles so rum. Und dann merke ich, dass mich das wieder raus bringt und irritiert. Soll ich das als Symbol nehmen für meine emotionalen Schleier oder ist das ein physisches Phänomen? Wie soll ich damit umgehen? Das ist ein energetisches, ein körperliches Phänomen und hat gar nichts mit den Emotionen zu tun. Das hat damit zu tun, dass die Entspannung noch nicht vollständig ist. Wenn die Entspannung einsetzt, dann kommt es oft zu Verschiebungen in der visuellen Wahrnehmung. Man sieht Nebel, Schimmer, die Grenzen zwischen Farben beginnen stärker zu leuchten, anderes tritt in den Hintergrund, es gibt Bewegungen, die im visuellen Feld stattfinden. Es können jede Menge Phänomene passieren, und wenn du dich weiter entspannst, dann verschwinden die wieder. Wenn du noch tiefer entspannst, kehrt alles wieder in eine ruhige Wahrnehmung zurück. Du kannst das also für deine eigene Praxis einfach als eine Ermutigung verstehen, ruhig weiter zu gehen und noch weiter zu entspannen. Auch ich selber bin da nicht frei davon, ich habe das auch manchmal. Ich gehe dann einfach weiter, dann löst es sich spontan wieder auf.

Silben als Unterstützung der Übung

Frage: Kann ich dafür eine Praxis nutzen, die ich aus dem Geistes-Yoga kenne, wo ich beim Einatmen SO und beim Ausatmen AM sage? Es ist wie ein kleines Mantra, das mir hilft zu entspannen. Ja, wenn dir das hilft dich zu entspannen, kannst du das nutzen. Hilft dir das, zu einem tieferen Ver-ständnis zu kommen? Das kann ich nicht behaupten, aber es hilft mir auf jeden Fall zu entspannen.

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Wenn wir in unserer Linie z.B. die drei Silben OM AH HUNG benutzen und die Phasen Ausatmen – Pause – Einatmen damit verbinden, dann machen wir das nicht als eine reine Silbentechnik, sondern wir verbinden damit den tieferen Sinn von einer Kontemplation auf die drei Körper des Erwachens, die drei Kayas. Das hilft nicht nur den Geist zu beruhigen sondern tatsächlich auch tiefer zu verstehen, was die Natur des Erwachens ist. Darauf werde ich später zurückkommen, das ist mir zu hoch. Ich werde erst einmal mit meiner ein-fachen Technik weiter machen.

Überforderung

Frage: Ich habe mit den letzten beiden Instruktionen ziemliche Mühe, wenn ich das Wort ‚Aufhören’ und den Ausdruck ‚völlige Gelöstheit’ höre. Da kommen bei mir dann gleich Gedanken wie „Ach, das schaffe ich nie! Da bin ich nicht, das kann ich nicht!“ Dann rette ich mich damit, dass ich einfach zum Atem zurückkehre – Einatem, Ausatem – und darin verbleibe ich. Als ich begonnen habe, mit diesen Unterweisungen zu arbeiten, hat mir geholfen, die Kontemplation der Vergänglichkeit, der Unbeständigkeit auf das jeweils vorhandene Problem, auf die Anhaftung oder Sorge auszurichten. Es geht um das Sehen: „Aufgrund der Unbeständigkeit muss ich loslassen“. Es ist wichtig zu bemerken, wie sich das Loslassen vollzieht, bis wir an einem Punkt in unserem Leben tat-sächlich ganz loslassen können. Das ist das Aufhören der Identifikation und des Anhaftens und dann verweilen wir im vierten Schritt, in dieser Gelöstheit. Das ist das Schmecken, das Erfahren der Freude oder der Offenheit, die sich einstellt, nachdem die Anhaftung durchtrennt wurde. Damit es noch klarer wird, gebe ich euch als Beispiel die Sorgen einer Mutter, die ihr wahrscheinlich gut kennt. Wenn wir uns als Mutter Sorgen für eines unserer Kinder machen und uns das gerade be-schäftigt und in der Meditation hoch kommt, dann arbeiten wir mit dem Betrachten der Vergänglich-keit genau an diesem Punkt: Vergänglichkeit des Kindes, Vergänglichkeit der Situation, die das Kind erlebt, Vergänglichkeit unserer Beziehung, unserer Begegnung. Wir schauen uns ganz genau an, wie alles, was die Sorge umgibt, von Vergänglichkeit gekennzeichnet ist und merken, dass wir uns nicht dem Strom des Lebens entgegen stellen können. Wir müssen loslassen. Wir lassen los und sagen innerlich: „Ich überlasse das Kind dem Strom des Lebens, seinem Karma. Ich stelle es in die Zuflucht, ich vertraue es der höchsten Führung an, aber … phhh … ich muss es los-lassen!“ Wir beobachten, wie uns diese Arbeit mittels des Bewusstseins der Vergänglichkeit zu einem Nachlassen des Anhaftens der Identifikation führt, bis wir zu dem Punkt kommen, wo wir das Kind mit seinem Problem ganz in sein eigenes Leben hineinstellen können, sich bei uns diese überflüssige Identifikation aufgelöst hat und wir in dem Bewusstsein, dass wir unser Bestes tun werden, weiter-gehen, aber befreit von Hoffnung und Furcht, die uns in diesem Punkt belasten. Wir können frei mit der Situation umgehen und genießen dann im vierten Schritt diese wieder gewonnene Freiheit, die wir hatten, bevor das Problem auftauchte. Das Problem hat zu Identifikation geführt, die jetzt gelöst ist. Es ist so, als wenn etwas durchschnitten wäre, und wir haben diese Freiheit wieder gefunden, die uns voll handlungsfähig macht, ohne von Hoffnung und Furcht eingeengt zu sein. So können wir alles – egal, was für ein Thema im Leben uns gerade beschäftigt – in diese Kontem-plation hinein nehmen und daran arbeiten bis es … phhh … zum kompletten Loslassen kommt, und danach verweilen wir noch eine Weile in der wieder gewonnenen Freiheit.

* * *

Zusammenfassung Jetzt liegt die Praxis vor uns, wir haben sie ausführlich erklärt bekommen und ich werde jetzt noch einmal eine Zusammenfassung der verschiedenen Etappen geben – als Zusammenfassung für diejeni-gen, die schon da waren und als Einführung für die, die neu dazu gekommen sind. Der wichtige Abschnitt dieses Sutra sind die Absätze 15 bis 22, dort wird alles Wesentliche gesagt. Was vorher ist, ist Einführung, und was nachher kommt, ist das In-Beziehung-Setzen dieser Unterwei-sung zu den anderen Unterweisungen des Buddha.

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Für Menschen ist es sehr einfach, mit dem Atem zu meditieren, weil der Atem uns ständig begleitet und wir leicht zu ihm zurückkommen können. Wir können ihn, wenn wir abgelenkt waren, ohne Mühe finden und uns dadurch wieder mit der Achtsamkeit verbinden. Auch ist der Atem die Verbindung zwischen Körper und Geist, er ist an der Schnittstelle der beiden. Der Atem wird durch den Geist beeinflusst und beeinflusst seinerseits den Körper, der Körper beeinflusst den Atem und dadurch auch den Geist. Wenn wir also mit dem Atem meditieren, sind wir in Kontakt mit Körper und Geist. Um sich in der Achtsamkeit mit dem Atem zu üben, ist es wichtig, dass wir formelle Meditations-Sitzungen praktizieren, in denen wir uns tief mit dem Atem verbinden und die wechselseitigen Aus-wirkungen zwischen Geist und Körper und mit dem Atem tief untersuchen können. Vorbereitung – Haltung und Blick Um auf den Atem und mit dem Atem zu meditieren, nehmen wir eine Haltung ein, in der wir uns wohl fühlen und in der wir uns längere Zeit nicht zu bewegen brauchen. Das kann sitzend auf einem Stuhl sein, das kann liegend sein, das kann auf dem Boden sitzend sein, wo die Wirbelsäule schön aufrecht ist. Was jedoch auf keinen Fall geeignet ist, sind Haltungen, in denen der Atembereich komprimiert ist, wo man nicht frei atmen kann. Wenn man zum Beispiel auf einem Sofa sitzt, im Auto oder sonst irgendwo, dann kann man sich auch anlehnen – was normalerweise nicht so empfohlen wird – und steckt sich vielleicht noch ein Kissen hinter den Rücken, damit die Wirbelsäule im Anlehnen gerade bleibt und der Atem gut fließen kann, so dass man nicht so zusammensackt und der Bauch- und Brust-bereich offen ist und der Atem frei fließen kann. Nachdem wir uns eine gute Körperhaltung ausgesucht haben, achten wir dann auf die Blickrichtung. Der Buddha empfiehlt, die Nase entlang vor uns auf den Boden zu schauen, ohne einen bestimmten Punkt zu fixieren, einfach die Aufmerksamkeit vor uns zu sammeln und nicht den vielen Dingen zu folgen, die um uns herum passieren. Wir entsagen also den visuellen Eindrücken: „Jetzt bin ich hier und bleibe da, egal, was passiert! Ich wende nicht den Kopf und wende nicht den Blick!“ Wenn wir versuchen zu praktizieren, ohne den Blick zu kontrollieren, wird es uns schwer fallen zu einer Geistes-ruhe zu kommen. Wenn wir z.B. aus dem Zugfenster schauen und die Dinge vorbei ziehen oder viele Menschen um uns herum sind, und wir immer schauen was sie alles so machen, dann ist es sehr schwer, zu geistiger Sammlung zu kommen. Nach diesen beiden vorbereitenden Punkten – Körperhaltung und Blick – richten wir die Aufmerk-samkeit auf den Atem. Zunächst werden wir einfach der Tatsache bewusst, dass wir atmen. 1) und 2) Dann werden wir uns der Variationen der Länge unserer Atmung bewusst. Wir können das auch extra machen oder wir beobachten einfach, was natürlicherweise passiert. Mal ist der Atem län-ger, mal ist er kürzer. Auf dieser Stufe ist es wichtig innerlich nicht einfach davon auszugehen, dass man nach einem langen Einatem auch lang ausatmet und nach einem kurzen Einatem kurz ausatmet. Es kann gut sein, dass auf einen kurzen Einatem ein langer Ausatem folgt und umgekehrt. Wichtig ist, dass man sich bewusst wird wie man eigentlich atmet. Es ist also mehr als nur des Atems an sich be-wusst zu werden, wir schauen jetzt: „Wie atme ich eigentlich gerade, wie fließt mein Atem jetzt gera-de?“ Damit bekomme ich schon einige Hinweise auch auf meinen Geisteszustand und auf den Zu-stand, in dem mein Körper sich befindet. Es ist klar, dass der Atem uns zeigt, ob der Geist angespannt oder entspannt ist. Der Atem wird uns ebenfalls zeigen, ob wir gerade unter körperlicher Anspannung stehen oder eine körperliche Anstrengung hinter uns haben. Wenn wir den Atem so beobachten, dann fallen uns viele kleine Dinge auf, die wichtig sind, z.B. dass es nach einer körperlichen Anstrengung einfach Zeit braucht, um zur Ruhe zu kommen. Wenn wir uns gerade geduscht haben und uns beeilt haben, um uns anzuziehen und zur Meditation zu kommen, dann braucht es einfach mindestens zehn Minuten bis der Körper zur Ruhe kommt. Es wird uns auffallen, dass das auf jeden Fall einmal soviel braucht. Und manchmal fällt uns auf, dass der Körper gar nicht beginnt langsamer zu atmen, obwohl wir in völliger Ruhe sind. Womit hängt denn das zusammen? Dann merkt man, das kann mit bestimmten Geisteshaltungen zu tun haben, dass man eine Spannung aufrechterhält, die dazu führt, dass der Atem sich gar nicht beruhigt. Oder ganz einfach: Wir haben gerade einen halben Liter Kaffee getrunken und kommen dann eine ganze Stunde lang nicht zur Ruhe, weil der Kaffee den Kreislauf und damit auch die Atmung so anregt.

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3) Wenn wir auf der nächsten Stufe dann einatmend und ausatmend alle Körper erleben, so sind das in erster Linie der Atemkörper und der physische Körper. Aber bereits auf dieser Stufe tauchen auch eine Menge energetischer Wahrnehmungen auf, wo wir uns gar nicht so sicher sind, ob das jetzt physisch ist oder ob das Geist ist – die Wahrnehmung einer vibrierenden Präsenz. Und die kann bei Übungen, wo man z.B. intensiv Liebe und Mitgefühl praktiziert, dazu führen, dass man einen ganzen Liebes-körper, einen Mitgefühlskörper erfährt, genauso wie man auch einen Angstkörper erfahren kann. Die Körperwahrnehmung schließt also den Geist nicht aus. Die Übung an dieser Stelle ist zwar in Bezug auf den Körper, aber gleichzeitig sagt uns das so viel über den Geisteszustand. Ich erforsche also das Sein in diesem Körper, während ich mir gleichzeitig jedes Ein- und Ausatmens bewusst bin. Auf dieser Stufe können wir den Body-Scan durchführen, das langsame Wandern durch den Körper, wo wir jedem einzelnen Körperteil gleiche Aufmerksamkeit widmen, von den Fußsohlen anfangend bis hinauf zum Scheitel und wieder bis zu den Fußsohlen, um wirklich überall, in jedem Bereich unse-rer Gliedmaßen, unseres Rumpfes zu spüren, was da gerade los ist, was da zu erleben ist. 4) Auf der vierten Stufe beruhigen wir die körperlichen Gestaltungen. Bis hierher waren wir dabei, einfach zu erforschen, und jetzt machen wir tatsächlich eine gewisse zusätzliche Arbeit, wir entspan-nen mit dem Einatmen und mit dem Ausatmen das körperliche Erleben. Wir bringen ein Loslassen, eine Akzeptanz in alle Körperempfindungen hinein, in alle Körperbereiche und verlangsamen viel-leicht etwas den Atem, oder der Atem wird sanfter, ohne sich zu verlangsamen. Er wird einfach sanf-ter, weniger aufgewühlt. Eigentlich kann man hier das gleiche Beispiel wie für den Geist anwenden: Das ist wie ein See mit vielen Wellen, den der Wind aufgewühlt hat, und jetzt hört der Wind auf. Es gibt keine körperliche Anstrengung mehr, wir sitzen völlig ruhig in schlichter Präsenz und es ist so, wie wenn auf einem See der Wind aufhört, bald darauf hören auch die Wellen auf, sie beruhigen sich. Nachdem sich die kör-perlichen Wellen beruhigt haben, werden sich auch bald die geistigen Wellen beruhigen. Wir lassen es zu, dass unser körperlicher See zur Ruhe kommt – bildlich gesprochen – und dann wenden wir uns dem geistigen Bereich zu. 5) Dadurch, dass der körperliche See, also die körperlichen Empfindungen so zur Ruhe kommen, erle-ben wir Freude in Körper und Geist: Ein- und ausatmend erlebe ich Freude. Diese Freude ist zunächst noch etwas aufgewühlt und unsere Aufgabe besteht darin, sie zu entspannen und auch diese Welle der Freude zur Ruhe kommen zu lassen. Auf dieser Stufe findet durch das vorausgehende Beruhigen der körperlichen Gestaltungen bereits ein Beruhigen der groben Konzepte statt, die die Meditation beurtei-len, die dieses oder jenes wollen und nicht wollen. Also man kann sagen, dass sich der Stress beruhigt, wir steigen aus dem Stress aus. 6) Nur dadurch entsteht die nächste Stufe, wo wir Wohlgefühl erfahren. Das Freude-Gefühl wird ruhi-ger und wir nennen es hier Glück. Wir erleben ein ruhiges, sanftes Wohlgefühl. 7) In diesem ruhigen Wohlgefühl wird unser Geist deutlich klarer. Es ist so, als würde der Spiegel ge-putzt, und wir sehen deutlicher, was alles an geistigen Gestaltungen in unserem Geist vorhanden ist. Das wäre dann die Etappe: Ich erlebe die geistigen Gestaltungen. Wir atmen weiter ein und aus und nehmen wahr, was da so alles an Gedanken durchzieht. Emotional geprägte Gedanken werden als erstes unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und wir erleben auf dieser Stufe auch eine gewisse Überraschung, weil wir uns gar nicht bewusst waren, dass es so viele Gedanken gibt. Wir dachten: „Na ja, da sind so ein paar große Fische im See, okay!“ Aber der vielen kleinen Fische waren wir uns gar nicht bewusst. Die tauchen jetzt auf und wir lassen uns nicht erschrecken, wir atmen weiter und bleiben in dieser Ruhe, ohne an der Ruhe anzuhaften. Wir müssen in einen tieferen Gleichmut hinein-finden, in ein Loslassen von allem Beschäftigtsein mit diesen Fischen und Fischchen, denen wir da begegnen. 8) Das ist schon die nächste Stufe: Einatmend beruhige ich die geistigen Gestaltungen. Es entsteht ein tiefer Gleichmut, der in keiner Weise mehr an angenehmen und unangenehmen Empfindungen fest-hält. Ich arbeite hier in diesen vier Instruktionen mit den Empfindungen, das sind die Körperemp-findungen, Geruch, Geschmack, Gehör, visuelle Empfindungen und das Wahrnehmen der Gedanken, das gedankliche Empfindungen. All das beruhigt sich jetzt, überall kommt dieser Gleichmut hinein –

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Gleichmut gegenüber den körperlichen Empfindungen, Gleichmut gegenüber den visuellen Ein-drücken, den Gerüchen, den Geräuschen, Gleichmut gegenüber den auftauchenden Gedanken. Wenn diese Stufe tatsächlich stark wird, dann erleben wir solch einen Gleichmut, dass wir völlig un-aufgewühlt in tiefer Sammlung sitzen, ohne von einem Anhaften und Ablehnen irgendwelcher Erfah-rungen aufgewühlt zu werden. Auch für die Praktizierenden, die gerade anfangen sich darin zu üben, wird es auf dieser Stufe eine Zunahme des Gleichmutes geben. Es wird leichter sein mit den verschie-denen Erfahrungen umzugehen, man findet leichter in sein Gleichgewicht wieder zurück. Man be-merkt ein Anhaften, ist in der Lage es zu beruhigen, es loszulassen und fühlt sich deutlich wohler in seiner Haut als zuvor. 9) Ein- und ausatmend erlebe ich den Geist bedeutet, dass wir in unserer Beobachtung noch subtiler werden und jetzt bereits nicht mehr nur mit den Gedanken beschäftigt sind sondern dass wir in die Stimmungen, die Geisteszustände hineinschauen können. Aus tiefem Gleichmut heraus betrachten wir den Geist wie ein Wissenschaftler, wie ein Forscher, der einfach schaut und sagt: „Ah, da: Begierde, … Ah, Abneigung, Stolz, … Ah, ruhiger Geist“, er bemerkt. Und er bemerkt auch die Zusammenhänge. Wir können manchmal sehr deutlich sehen, dass wir noch gar keinen Gedanken haben, der diese Stimmung ausdrückt, aber dass der bereits genervte Geist sucht, wo er sich fest hängen kann: „Wo finde ich etwas, das ein Objekt meines Ärgers werden könnte?“, „Wo finde ich et-was, das ein Objekt meiner Begierde sein könnte?“ Wir bemerken die Stimmungen, die geradezu nach bestimmten Gedanken hungrig sind und sie einladen. Wir erleben so viele verschiedene Geisteszustän-de und jeder hat einen anderen Geschmack. Ein Geisteszustand von Begierde hat einen ganz anderen Geschmack als Ärger, als ruhiger Geist oder freudiger Geist, liebevoller Geist. Diese Geisteszustände haben ganz verschiedenen Geschmack. Man kann jedes Beispiel nehmen, man kann sagen, sie haben verschiedene Textur, sie haben verschiedenen Geruch, sie haben verschiedenen Klang, also was auch immer. Sie sind verschieden und sind eine durchaus andere Erfahrung. Obwohl es nicht immer so gro-be Gedanken hat, die wir auf ihren Inhalt hin analysieren können, so merken wir doch, dass da feine Stimmungen sind, die durch uns durch gehen, die durch schwingen. Man kann sagen, auf dieser Stufe beginnen wir wirklich uns kennen zu lernen, nicht nur unsere Ge-danken sondern auch die Stimmungen und das, was die Gedanken auslöst. Mit dem feinen Ein- und Ausatmen, das wir ständig weiter aufrecht erhalten, ermöglichen wir es uns, immer wieder zum Atem zurück zu kommen, und so verlieren wir uns nicht in Analysen über den Geist sondern bemerken nur und sind wieder beim Atem. Wir bleiben beim Atem während wir bemerken, was im Geist los ist. Eigentlich kann eine Ablenkung maximal die Dauer eines Atemzugs – eines Einatmens oder eines Ausatmens – dauern, weil uns die nächste Atembewegung schon wieder zurück bringt. Wir werden uns bei diesem aufmerksamen Beobachten des Geistes während wir atmen bewusst, dass der Geist bei keinem Atemzug derselbe ist. Selbst der ruhige Geist ist ein dynamischer Geist und wandelt sich von Moment zu Moment. Ganz feine Unterschiede sind da. 10) Dieses genaue Erleben des Geistes führt dazu, dass ich die Mechanismen besser kenne, ihnen nun nicht mehr aufsitze und beginne, tiefer und tiefer zu entspannen und loszulassen. So erfreue ich den Geist, das ist die zehnte Stufe: Ein- und ausatmend erfreue ich den Geist. Hiermit ist gemeint, dass ich den Geist durch das Loslassen erfreue. Ich freue mich daran, nicht mehr dem ganzen Zirkus aufzu-sitzen, und der Zirkus beruhigt sich mehr und mehr. 11) Der Übergang vom Erfreuen des Geistes zum Sammeln des Geistes bedeutet für den sehr gesam-melten Praktizierenden, mit den letzten Gedanken, mit dem letzten begrifflichen Denken aufzuräumen und hineinzufinden in Samadhi, wo kein begriffliches Denken (mit einem klar definierten Inhalt) mehr auftaucht. Es finden immer noch kleine Geistesbewegungen statt, kleine innerliche Anpassungen, um das meditative Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, um in dieser Sammlung zu bleiben, aber es kommt nicht mehr zum Auftauchen von Gedanken, die sich mit irgend etwas beschäftigen. Das ist der Fall, wenn man diese Stufe tief praktiziert, dann ist es völlige geistige Sammlung, man tritt in Samadhi ein, wenn man nicht schon vorher eingetreten ist. – Wie bereits bei den ausführlichen Unterweisungen erklärt, kann man sehr viel früher schon in Samadhis eintreten. – Spätestens hier sollte es zu dieser tiefen Sammlung kommen, und auch der Praktizierende, der noch nicht so ruhig geworden ist, sollte hier wirklich aufräumen mit dem Anhaften an den geistigen Ein-drücken. Er sollte aufräumen und das Anhaften daran rigoros loslassen und sein ganzes Augenmerk

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darauf richten, ganz beim Atem zu bleiben, ohne irgendetwas anderem im Leben noch irgendeine Wichtigkeit, irgendeine Bedeutung beizumessen. Es geht darum, ganz bei dem einen Meditationsob-jekt – hier ist es der Atem – zu bleiben und mit dem Atem eins zu werden, ohne dass anderes noch eine Rolle spielt. 12) Ein- und ausatmend befreie ich den Geist. Da geht es darum, in der tiefen Meditation die Kon-trolle loszulassen. Wir brauchen uns keine Sorgen mehr darum zu machen, ob der Geist ruhig bleibt oder nicht, gesammelt bleibt oder nicht, denn er wird von selber ruhig bleiben, weil dieses Interesse für die Dinge der Welt losgelassen wurde. Alle Faszination wurde losgelassen und der Geist ruht von selbst, ohne dass es noch einer Kontrolle bedarf. Das heißt, es braucht da ein tieferes Vertrauen, um den Geist sich befreien zu lassen. Wir geben dem Geist Raum, lösen den Zugriff des Meditierenden, der aufpasst, dass der Geist nicht abgelenkt wird, und vertrauen der geistigen Sammlung. Wir ver-trauen dem Nicht-Haften und lassen den Geist frei, so wie er ist. Das ist überhaupt ein Hinweis, wie man alle Meditation angehen kann. Gendün Rinpotsche sagte im-mer: „Euer Aufgewühltsein in der Meditation ist wie ein Sturm in der Teetasse. Und wisst ihr, wer den Sturm auslöst, wer den Sturm macht? Ihr selber!“ Wir selber machen den Sturm. Wir kreieren den Sturm die ganze Zeit. Der Sturm kommt nicht von außen. „Lasst doch einmal eure Tasse ruhig, dann kommt der Sturm ganz von selber zur Ruhe.“ Spätestens auf dieser Stufe lassen wir endlich einmal das Manipulieren dieser Tasse los und schwen-ken sie nicht immer hin- und her. Wir wühlen den Geist nicht auf durch Haben-Wollen, Nicht-Haben-Wollen, Kontrollieren-Wollen, Still-Haben-Wollen, wir lassen das los. Das könnten wir eigentlich schon viel früher in diesen Etappen praktizieren. Je früher wir es tun desto besser. Aber spätestens hier muss es dazu kommen, dass wir aufhören die Tasse immer zu schütteln. Dieses Beispiel mit der Tasse ist eigentlich die höchste Unterweisung, die man zur Meditation bekom-men kann, doch der Anfänger wird sagen: „Aber ich wühl die Tasse doch gar nicht auf! Ich mach doch gar nichts mit meinem Geist. Der ist doch ganz von selber so aufgewühlt. Ich mach da nichts. Der läuft mir ständig rum!“ Wir sind uns nicht bewusst, in welchem Maße wir mit unseren Anhaftungen, Abneigungen, mit dem ganzen Kontrollieren-Wollen, Ruhig-Haben-Wollen, Still-Haben-Wollen, wie sehr wir mit diesem Haben-Wollen und Nicht-Haben-Wollen ständig den Geist aufwühlen. Sonst könnten wir nämlich von Anfang an, vom ersten Moment der Meditation an einfach daran denken: „Tasse hinstellen, nichts mehr ergreifen“, und der Geist geht sofort in geistige Ruhe, ohne Übergänge. Der Geist er hat keine Substanz, er hat keine Trägheitskräfte, wo man ihm Zeit geben müsste sich zu beruhigen, er kann von einem Moment auf den anderen völlig seinen Zustand wechseln. Was aus-macht, dass es so lange Zeit braucht bis da allmählich Entspannung reinkommt, sind die Muster des Anhaftens, die sich allmählich beruhigen, diese Muster des Haben-Wollens und Nicht-Haben-Wol-lens. Der Geist selbst kann von einem Moment zum anderen völlig ruhig werden. Was es also braucht, um den Geist zu beruhigen, ist nicht etwa Zeit sondern Loslassen. Der Geist ist immer im selben Moment so entspannt und so offen, wie wir loslassen. Er ist genau so ruhig – und zwar im selben Moment – wie das Loslassen stattfindet. Wenn wir völlig loslassen, ist der Geist sofort völlig unaufgewühlt. Da wir aber erst ein bisschen loslassen und dann noch ein bisschen loslassen und dann noch ein bisschen loslassen und dann noch ein bisschen loslassen und uns auf diese Weise all-mählich mit unserer Entspannung runterfahren, bis wir ganz entspannt sind, verhält es sich mit dem Geist ebenso. Der Geist ist entsprechend zuerst aufgewühlt und allmählich ruhiger, ruhiger und ruhi-ger. Aber das ist nur der Spiegel für das Maß unseres Greifens. Es ist nicht, weil der Geist Zeit bräuch-te, um sich zu entspannen oder sich zu öffnen. Was ich jetzt zur geistigen Ruhe erklärt habe – dass es eigentlich keine Dauer braucht – gilt auch für die Offenheit des Geistes, was wir die Non-Dualität nennen. Der Geist braucht keine Zeit, um in die Non-Dualität einzutreten, er braucht nur völliges Loslassen, einen Moment völliger Nicht-Identifika-tion. Gendün Rinpotsche hat uns als Beispiele dafür erzählt, dass es zwar selten, aber gelegentlich passierte, dass Menschen beim Zuhören seiner Unterweisungen in diesen non-dualen Zustand ein-traten, und das, obwohl sie gerade dabei waren zuzuhören. Sie waren also in einem begrifflichen Prozess, in einem Verstehens-Prozess, umgeben von Menschen, nicht in tiefer Meditation. Es gibt viele solcher Geschichten.

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Eine einfache Geschichte ist die von einem Zen-Mönch, der den Hof fegt und mit seinem Besen ein Steinchen erwischt, das er gegen die Holzumrandung schleudert. Das Klacken des Steines öffnet etwas im Geist des Praktizierenden und er tritt dort in diesem Moment in völlige Offenheit ein. Er war gerade dabei, eine physische Handlung auszuführen und nicht in tiefer Meditation. Entscheidend ist, dass der Geist in dem Moment loslassen konnte. Zweck dieser Bemerkungen war, diese Beschreibung eines stufenweisen Weges etwas in Kontrast zu setzen mit einer anderen Möglichkeit, der des augenblicklichen Loslassens. Und da uns das so schwer fällt, lassen wir schrittweise los. 13) Mit diesem flexiblen, von groben Anhaftungen weitgehend befreiten Geist betrachten wir dann die Wirklichkeit. Und das, was wir uns anschauen, ist das eine wichtige Element, um das es geht, die Nicht-Beständigkeit, die Nicht-Beständigkeit oder Unbeständigkeit aller Phänomene, all unseres Erle-bens, all dessen, was wir wahrnehmen können, die Abwesenheit eines Wesens-Kerns. 14), 15) und 16) Wir sehen dadurch, dass in der Tiefe ein noch tieferes Loslassen stattfindet, das nennen wir das Nachlassen des Anhaftens, bis hin zum Aufhören, dem kompletten Aufhören des Anhaftens und dem Erfahren des Erwachens, der völligen Gelöstheit, das Leben in völliger Gelöstheit, völligem Freisein. Dazu werde ich jetzt gar nichts mehr weiter sagen, denn das haben wir ja sehr ausführlich vor kurzem noch besprochen.

* * * Lung für das Herzsutra Zwei Personen haben mich gebeten, den Lung für das Herzsutra mit der anschließenden Praxis auf die löwenköpfige Schützerin zu geben. Und ich bitte euch, die Zeit während des Lungs zum Meditieren zu nutzen, auch wenn ihr den Lung schon habt. Für diejenigen, die den Text gar nicht kennen: Das Herzsutra stammt aus dem Zyklus der Mahayana-Sutren, der Prajnaparamita-Sutren und ist eine Unterweisung über die Leerheit von Avalokiteshvara an Shariputra. [Lung]

Liebe für sich selbst entwickeln - Loslassen

Frage: Ich habe jetzt die Meditation mit der grenzenlosen Liebe und dem grenzenlosen Mitgefühl gemacht, die wir gestern Abend geübt haben. Ich habe mit allen Lebewesen begonnen, und bin dann näher an den Bereich der Menschen herangekommen, die ich kenne, und dann bin ich bei mir selber angelangt, und eigentlich war das am schwierigsten. Und dann habe ich gespürt, ‚Wie kann ich mir selber Liebe geben, Gutes tun?’ Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich mir vielleicht Liebe schenke, indem ich einfach Verhaftungen, Ängste loslasse und wo auch immer ich kann mich entspanne. Bei dieser Meditation ist mir im Herzen ganz warm geworden. Ist diese Art und Weise, da-mit umzugehen, geeignet? Auf jeden Fall, denn dadurch entwurzelst du die Ursachen für Leid. Durch dieses Entspannen und durch Abschwächen der Identifikationen wirst du immer weniger Leid erfahren und das ist das Beste, was man für sich selber tun kann. Mich interessiert, ob ihr wisst, was ihr mit eurem Geist tut, wenn wir still meditieren. Seid ihr sicher, zu spüren, was es bedeutet, in der buddhistischen Tradition zu meditieren?

Die Praxis mit OM AH HUNG

Frage: Ich habe wie an den letzten Tagen die 16 Stufen praktiziert, habe also gewusst, was zu tun ist. Aber seit vielen Jahren schon praktiziere ich das Mantra OM AH HUNG in Verbindung mit dem Atem. Und heute Morgen habe ich mich entschlossen, diese Methode auch während der 16 Stufen zu

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praktizieren, weil dieses Mantra mir wirklich geholfen hat, alles, was aufgetaucht ist, mit dem Atem loszulassen. Es vereinfacht die Dinge. Es ist so, als würde der Lama in mein Herz kommen und sich um alles kümmern. Und meine Frage ist, welche der Phasen am besten geeignet sei, um das zu prak-tizieren. Es ist für mich nicht leicht, das zu beantworten, da das zwei verschiedene Übertragungsströme sind. Für mich ist die Praxis mit OM AH HUNG gekoppelt mit den Erklärungen, die man zu den drei Silben OM AH HUNG jeweils erhält, wenn einem diese Praxis gegeben wird. Und da stehen OM AH HUNG für erleuchteten Körper, erleuchtete Rede und erleuchteten Geist. In derselben Reihenfolge stehen sie auch für Nirmanakaya, Sambhogakaya und Dharmakaya. Wenn man damit atmet, verbindet einen das mit dem Sinn, der dahinter steckt. – Das ist ein bisschen so, wie wenn wir hier über die Vergänglich-keit, die Nicht-Beständigkeit der Dinge meditieren. – Das ist eine Meditation über etwas, angestoßen von etwas in einer bestimmten Sichtweise. Beim OM spüre ich den Körper des Buddha, frei von allem Anhaften, der in dieser Welt zum Wohle der Wesen wirkt, da ist völlige Freiheit des Seins in einem Ausstrahlungskörper. Bei AH schwingt die Dimension der erwachten Rede mit, Sambhogakaya, die umfassende Fähigkeit zur Kommunikation. Bei beiden, OM und AH, Nirmanakaya und Sambhogakaya, schwingt das Mitgefühl ganz stark mit, weil das zur Manifestation dieser Formkayas führt. Und beim HUNG ist es die völlige Offenheit des Geistes, der Dharmakaya, das Ende allen Anhaftens, der Tod des Ich-Anhaftens und die Dimension, die alles an-dere durchdringt und die auch zum nächsten Zyklus führt, zur Ausstrahlung als Nirmanakaya und Sambhogakaya. Man könnte noch soviel dazu sagen. In dieser Meditation auf OM AH HUNG schwingt so viel mit, dass das für mich automatisch die Ebene wechselt. Ich bin dann eher mit dem Sinn verbunden als in einer Meditation mit dem Atem oder auf den Körper, auf die Empfindungen. Wenn man den Sinn beiseite lässt, dann kann das einfache innerliche Denken der Silben OM AH HUNG zusätzlich stabi-lisierend auf den Geist wirken. Das wäre dann eine total simple Praxis, die mit jeder dieser Phasen ein-hergehen könnte. Aber eigentlich muss ich dir die Antwort geben, dass ich dir keinen Ort sagen kann, wo es besser oder weniger geeignet wäre, mit OM AH HUNG zu praktizieren, weil das doch einfach auch etwas ver-schiedene Herangehensweisen sind. Man kann es überall machen oder auch einfach als eine separate Atem-Meditation. Sicher ist, dass sofort weniger Anhaften da ist sobald man dieses OM AH HUNG in dem Bewusstsein seiner Bedeutung benutzt, dass wir sofort weniger festhalten. Das ist auf jeden Fall so. Frage: Ich habe in meiner Meditation beobachtet, dass es recht gut ging, die Sätze fielen mir ein und ich konnte die Stufen in Erinnerung bringen. Aber dann – neben dem Vertiefen der Praxis, was ich er-fahren habe – gab es immer wieder Momente, wo die Sätze wie zu einem inneren Gedankenspiel wur-den und ich anfing, mit den Sätzen ein bisschen rumzuspielen. Ich habe mich gefragt, ob denn das nicht vielleicht auch ein Hindernis wäre. Vermutlich hast du das richtig beobachtet, denn da hat der Geist vielleicht die intellektuelle Beschäfti-gung, das Rumspielen mit den Sätzen als eine Ausrede genutzt, um nicht so gesammelt, nicht so kon-zentriert zu bleiben. Kann ich die Atemmeditation denn nicht auch überall im Alltag nutzen und eben speziell, wenn viel-leicht Ängste auftauchen oder andere Emotionen? Genau da ist es natürlich sinnvoll, sich an den Atem zu erinnern, sofort zum Ein- und Ausatmen zu-rückzukehren und die Emotionen zu beruhigen.

Anwendung im Alltag

Ich habe in diesem Kurs noch überhaupt nicht über die Anwendung dieser Meditation in alltäglichen Situationen gesprochen. Es ist eine der großen Stärken der Atem-Meditation, dass sie so leicht in auf-gewühlten Situationen im Alltag anzuwenden ist. Wenn wir dran denken, ermöglicht sie es uns recht leicht einen gewissen Abstand zu finden und nicht emotional zu reagieren, sondern erst einmal zu at-

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men und dann eher zu agieren als zu reagieren. – Obwohl man darüber diskutieren kann, wie frei das dann ist, aber man ist auf jeden Fall nicht in der unmittelbaren starken emotionalen Reaktion.

Vergleich: Anapanasati – Ozean des wahren Sinnes

Frage: Ich weiß nicht, ob ich das richtig verstanden habe. Das Werkzeug, das du uns jetzt vorgestellt hast, führt ja bis zur Erleuchtung. Das hier ist ja kein Vajrayana. Und die Frage ist: Wenn ich jetzt z.B. die einzelnen Übungen im zweiten Band des ‚Ozean des wahren Sinnes’ nehme, wie weit über-schneidet oder ersetzt sich das? Ja, das ist eine gute Frage. Die Meditation auf den Atem finden wir im zweiten Band des Ozeans des Wahren Sinnes des 9. Karmapa in der letzten Unterweisung der Liste über all die Objekte der Medita-tion. Der Atem ist hier nach der Unterweisung über die Meditation ohne Objekt das letzte der Objekte und fällt in eine eigene Kategorie, weil er weder ein äußeres, inneres, noch ein reines oder unreines Objekt darstellt. In den beiden zusätzlichen Kapiteln Konzentration stabilisieren und Stabilität weiter-entwickeln treten wir tiefer ins Shine, in Shamata, ein. All das, was in diesen Kapiteln beschrieben wird, können wir mit dem Atem praktizieren. In unserer Tradition sind das die neun Methoden, den Geist zu stabilisieren. Da wird von neun Stufen gesprochen. Sie lassen sich alle mit der Atem-Medita-tion praktizieren, wie es in unserem Sutra in den ersten 12 Absätzen beschrieben wird. Dann geht die Atem-Meditation weiter in den Bereich des Lhagtong, der intuitiven Einsicht, wo sie uns ermöglicht, ruhigen Geist und bewegten Geist zu vergleichen und immer tiefer zu einer Analyse dessen zu kommen, was eigentlich Geist ist – wer da atmet, wie Emotionen entstehen, wie sie sich auf-lösen. Wir machen alle Beobachtungen, die im Lhagtong-Kapitel beschrieben werden, wo es ja keine Methoden gibt. Karmapa gibt uns hier keine neuen Meditations-Objekte, sondern spricht direkt über das Untersuchen des Geistes. Dieses Untersuchen des Geistes findet im Anapanasati-Sutra in Absatz zwanzig statt, und dann kommen wir zu dem tiefen Beobachten von Entstehen und Vergehen, was hier der Meditation der Vergänglichkeit mit dem Atem entspricht. Und da machen wir ganz erstaunliche Entdeckungen über das Entstehen und Vergehen – was uns zunächst wie zwei getrennte Vorgänge vorkommt – in der Phase des Verweilens zwischendrin, und dann entdecken wir das gleichzeitige Ent-stehen und Vergehen, bis wir ganz tief das Nicht-Selbst der Phänomene erkennen. Also all die Lhag-tong-Phasen, die dann beschrieben werden, werden hier im Sutra anhand des Atems durchlaufen. Die Stufen des Mahamudra aus dem dritten Band des Ozeans werden mit Absatz einundzwanzig prak-tiziert, mit den Instruktionen über das Nachlassen und Aufhören und über völlige Gelöstheit, wo wir die Dharmas, die Gesetze des Geistes kontemplieren. Dort sind wir in der Schau der Dinge, wir sind in einer Geisteshaltung, die nicht mehr künstlich irgendeine Meditation erzeugt, sondern nur zuschaut, wie sich die Dinge manifestieren, wie sich alles ohne unser Zutun von selbst auflöst. In völligem Vertrauen in den Geist ruhen wir dort und lassen den Geist im Grunde genommen sich selbst befreien, rang-dröl (Tib.). Das ist eine der wichtigen Mahamudra-Instruktionen. Rang-dröl bedeutet Befreiung aus sich selbst heraus, Befreiung der Gedanken durch ihre unbeständige Natur. Und wir kommen schließlich zur Einsicht, dass sich die Dinge gleichzeitig mit ihrem Entstehen auflösen, shar-dröl, Befreiung im Entstehen. Es gibt keine Trennung mehr in das Entstehen eines Phänomens und seine Auflösung. So beobachten wir bei der Praxis des Anapanasati das Nachlassen und Aufhören, bis wir in völlige Gelöstheit hinein finden. Das ist alles, was es braucht, um die Stufen der Verwirklichung zu durchlaufen und bis in die völlige Gelöstheit zu finden, die die völlig spontane, natürliche Praxis ist. Der Buddha hat hier beim Geben dieses Sutra nicht unterschieden in einen Weg der Selbst-Befreiung und ein großes Fahrzeug, einen Mahamudra-Weg. Er hat einfach von dem völligen Auflösen des Anhaftens gesprochen. Die Unter-scheidungen kamen alle später. Deswegen sollten wir uns nicht verwirren lassen, wenn irgendwelche Kritiker meinen: „Das sind doch aber Unterweisungen der Selbst-Befreiung!“ Nein, das sind einfach Buddhas Unterweisungen. Und der Buddha war ein Buddha. Er hat nicht diese Kategorien unter-richtet, die erst in späteren Jahrhunderten verwendet wurden, um verschiedene Erklärungen gegenein-ander abzugrenzen. Wir folgen hier nicht den Kommentaren des Theravada zu diesem Sutra – wir lassen uns zwar davon inspirieren – sondern wir praktizieren die Unterweisung Buddhas mit dem je-

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weils tiefstmöglichen Verständnis. Und da können wir alles Verständnis herbeiziehen, das wir in ande-ren Unterweisungen bekommen haben. Der Buddha war also tatsächlich nicht im Unterrichten dieser verschiedenen Fahrzeuge, das ist später gekommen. Und auch unsere Lehrer, angefangen von Gampopa, der das ganz klar ausgedrückt hat, bis hin zu den Karmapas sagen alle: „Wenn unser Verständnis tief genug wird, erkennen wir, dass es nicht verschiedene Fahrzeuge gibt. Es gab immer nur ein Fahrzeug. Dieses eine Fahrzeug stellt zwar ver-schiedenen Praktizierenden verschiedene Methoden zur Verfügung, aber es gibt immer nur ein Fahr-zeug, und das ist das Fahrzeug des vollkommenen Erwachens.“ Es ist ganz wichtig, das in Erinnerung zu behalten. Wir führen also diese Praxis mit all dem Verständnis aus, das wir aus anderen Unterweisungen bereits erhalten haben – z.B. die Unterweisung, dass wir die Buddha-Natur in uns haben. Wir können diese Praxis aus der Buddha-Natur heraus ausführen. Wir können sie ausführen im Bewusstsein, Buddha zu sein, Yidam zu sein. Alle Unterweisungen, die wir über entspannten, offenen Geist im Mahamudra erhalten haben, können wir hier anwenden. Niemand und nichts verlangt von uns, dass wir in unserem Geist künstliche Grenzen ziehen und sagen: „Das ist das Kapitel dort, und hier ist das Kapitel, jetzt praktiziere ich in dieser Schublade und öffne nicht die andere Schublade“. Es ist wichtig, dass jedes Verständnis, das wir je erlangt haben, auf all unsere Meditationen Auswirkungen hat. Der Grund für die Beschäftigung mit diesen Sutren war, dass ihr – nachdem wir uns jahrelang mit Mahamudra-Unterweisungen befasst haben – all das Verständnis, das ihr aus den Mahamudra-Unter-weisungen gewonnen habt, in die Praxis dieser Sutren hineinbringt. In den Jahren zuvor war mir aufgefallen, dass ihr zwar immer recht inspiriert wart in dem Moment, wenn die Mahamudra-Unterweisungen gegeben wurden und wenn wir gemeinsam praktizieren konn-ten, aber dass es zu Hause an Klarheit und an Struktur mangelte, dass ihr oft nicht wusstet, wie ihr wieder in diesen Segen, diese Öffnung hineinfinden könntet. Es brauchte also mehr Struktur. Und gleichzeitig gab es immer mehr Menschen, die sich fragten: „Was haben denn diese Instruktionen aus der tibetischen Tradition mit den Unterweisungen Buddhas zu tun? Sind das tatsächlich Unterweisun-gen, mit denen der Buddha einverstanden wäre, oder ist das etwas anderes? Ist das eine Eigen-Ent-wicklung?“ Da war ein bisschen der Wurm des Zweifels und des nicht genau Wissens im Geist. Deswegen haben wir den Schritt gemacht, uns mit drei grundlegenden Sutras – Satipatthana, Maha-Satipatthana und Anapanasati – zu befassen, die von allen Schulen anerkannt werden und die die Worte des Buddha selber sind. Ich habe gar nicht viel drüber gesprochen, inwieweit das mit den Mahamudra-Unterweisungen über-einstimmt. Hier und da habe ich Bemerkungen gemacht darüber, aber ich habe es euch überlassen, selber herauszufinden, ob es stimmig ist oder nicht, ob es so verschieden ist oder nicht. Und ich habe bei euch eine Zunahme an Vertrauen in die Unterweisungen des Buddha selbst und in unsere Linie bemerken können und auch, dass ihr Nutzen habt von der sich klärenden Struktur, worum es eigentlich geht in der Meditation. Von daher war dieser kleine, dreijährige Ausflug für mich erst einmal schon befriedigend. Dass ich es richtig verstehe: Man könnte das, was als Werkzeug Band zwei und Band drei umfasst, komplett ersetzen durch … … könnte man komplett hiermit praktizieren. Du könntest Band zwei und drei vom Ozean des Wahren Sinnes als einen Kommentar hierzu verstehen, nicht ersetzen. Du könntest es als einen Kommentar hierzu verstehen, wo man dann vereinfacht und sagt, mit einem Objekt kann man alles machen, mit dem Atem kannst du alles machen. Karmapa stellt uns zunächst viele Meditationsobjekte vor und lässt den Praktizierenden dann selbst aussuchen, mit welchem Objekt er die folgenden Kapitel praktizieren möchte. Er sagt nicht, ein Objekt ist das Beste. Und das hat seinen Grund, denn die Unterweisungen, die er dort gibt, sind gleichzeitig auch gültig für die Yidam-Praxis. Die Unterweisungen im Ozean des Wahren Sinnes sind genauso gültig für die Yi-

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dam-Praxis mit dem Objekt des Yidam, des Mantra und all das, was er in seinen Erklärungen schon aufzeigt. Dieser Vorteil kein einziges Meditationsobjekt zu geben, sondern den Praktizierenden selbst aussu-chen zu lassen, ist ja offenkundig. Jeder kann das Objekt finden, das ihm am ehesten zusagt, und er kann zum Beispiel auch einen Yidam nehmen. Es kann sein, dass der Buddha in einer ähnlichen Situa-tion war, dass seine Praktizierenden über die Jahre hinweg einfach seine verschiedenen Instruktionen anwendeten und er in diese sich auftuende Vielfalt der Meditationen eine gewisse Klärung hinein-bringen wollte, speziell für die, die mit ihrer Meditation noch so ein bisschen am Schlingern waren. Und er zählt ja zu Beginn des Sutra auf, was seine Schüler alles so praktizieren. Er hat da eine ganze Liste. Und dann sagt er: „Das ist alles schön und gut, aber hört, es gibt hier eine Methode, und die ist recht einfach, speziell für die, die nicht wissen, was sie sich aussuchen sollen. Das ist der Atem, und damit kann man alles machen. Ihr braucht nicht lange zu suchen. Wenn euch die anderen Meditationen nicht zusagen, hier ist eine, von der ich euch vielleicht noch nicht deutlich genug gesprochen habe, da-mit könnt ihr alles machen.“ Gampopa erklärt die Meditation auf den Atem als das, was das Heilmittel für alle Emotionen ist, nach-dem er erst andere Heilmittel für die einzelnen Emotionen aufzählt. Da spiegelt er offenbar ein Ver-ständnis der Mahayana-Vajrayana-Tradition wieder, dass die Instruktionen des Buddha zum Atem gül-tig sind für alle Emotionen, was hier auch zum Ausdruck kommt, denn man kann allein damit bis zum Ende des Weges gehen. Und deswegen wird für diejenigen, die sich nicht zu einem anderen Objekt hingezogen fühlen, das als das geeignete Objekt gelehrt – ganz einfach, steht jedem zur Verfügung. Aus diesem Grund habe ich euch auch gebeten mir doch zu sagen, wie ihr weiter machen möchtet, was ihr spürt. Für mich ist das, was mich motiviert hat diese Unterweisung zu geben, erst einmal geschafft, das ist erledigt. Die Struktur ist klar geworden und der Zusammenhang zwischen Mahamudra und Buddhas Unterweisungen ist offenkundig geworden.

* * * Obwohl diese 16 Etappen ganz tief mit Meditationsstufen in Verbindung stehen, können wir mit ihnen durchaus etwas anfangen. Auch wenn es dann zum Schluss heißt ‚Wir sehen die völlige Gelöstheit’ – was ein Synonym für das vollständige Erwachen ist – so können wir uns doch mit unserer relativen vollkommenen Gelöstheit in jede dieser Unterweisungen einstimmen. Für mich ist diese Unterweisung des Buddha ein Beispiel dafür, wie eine einzige Unterweisung unter-schiedlichsten Praktizierenden nutzen kann – Anfängern genauso wie ganz weit Fortgeschrittenen. Das hat auch sehr mit der Wortwahl des Buddha zu tun. Seine Ausdrucksweise zwängt uns nicht in Schub-laden hinein, er erklärt nicht zu viel und seine Sprache lässt viele Möglichkeiten des Verständnisses zu, je nach Niveau. Und nun wenden wir uns mehr dem zu, wie wir diese Unterweisungen in unsere tägliche Praxis ein-bauen können.

Anapanasati in der täglichen Praxis Was ist eure Meinung dazu? Ich weiß einfach, dass es möglich ist diese Praxis auszuführen. Ich hab das drei Jahre lang während meines Studiums morgens und abends gemacht. Frage: Ich finde das sehr praktisch, weil man diese Praxis überall machen kann. Ich habe mich im Februar beim Tschenresig-Kurs entschieden, Tschenresig zu praktizieren, aber diese Praxis hier finde ich noch praktischer. Der Atem ist immer mit uns. Kann man das einfach nur mit Zufluchtnahme, kurzem Gebet und dann ohne den Text des Sutra zu rezitieren, z.B. für 20 Minuten oder eine halbe Stunde und mit abschließender Widmung praktizieren? Und das mehrmals am Tag. Kann das die eigene Praxis sein? Wenn du die Praxis kurz ausführst, ohne die Stufen wie sie Buddha Shakyamuni lehrt formell durch-zugehen, dann möchte ich dir einen Rat mit auf den Weg geben: Lass nie die Kontemplation auf die

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Vergänglichkeit weg. Das muss dabei sein. Das ist der Schlüssel dafür, dass die Praxis nicht nur zur Beruhigung führt sondern auch zu Erkenntnis. Ist das Teil der Kontemplation der vier Grundgedanken? Nein, dieser kleine Gedanke bei der allgemeinen Kontemplation reicht nicht aus, wir müssen diesen Gedanken in die eigentliche Meditationspraxis hineinholen. Wir haben bei der Atempraxis das Augen-merk auf das Entstehen und Vergehen der Phänomene – während wir den Geist beruhigen, während wir den Körper beruhigen. Wenn wir stets den Blick auf das Entstehen und Vergehen der Phänomene gerichtet haben, wird mit der Zeit ein ganz tiefes Verständnis der Vergänglichkeit entstehen. Immer wieder lenken wir den Blick auf die Unbeständigkeit. Behaltet das als die eine, wichtigste zusätzliche Unterweisung zur Praxis mit dem Atem.

Zuflucht – Text von Thrungpa Rinpoche

Teilnehmerin: Ich würde gerne mit euch einen Text von Thrungpa Rinpoche teilen. Ich habe das Ge-fühl, dass dieser Text gut zum Thema passt, wie man diese Praxis in den Alltag hinein bringen kann. Thrungpa Rinpoche benennt das Zuflucht, es ist sein persönlicher Stil, wie er die Zuflucht darstellt. Die Zuflucht Da alle Dinge nackt und frei von Schleiern sind, gibt es nichts zu erlangen und nichts zu verwirk-lichen. Unsere tägliche Praxis besteht einfach darin, in völliger Öffnung ein völliges Annehmen aller Si-tuationen und Emotionen und aller Lebewesen entstehen zu lassen. Es geht um die vollständige Erfahrung eines jeden Dinges ohne Rückhalte, ohne Blockaden – so, dass man nie sein Zentrum in sich selber sucht. Ich widme mein Leben, diese Rüstung abzulegen. Thrungpa Rinpoche Die Rüstung, die Thrungpa Rinpoche verspricht aufzulösen, ist die Geisteshaltung, sich in sich selbst zu sammeln, in sich selbst zu konzentrieren, sich selbst für den Mittelpunkt der Welt zu halten. Teilnehmer: Ich finde diese Meditation auf den Atem wirklich großartig. Der Atem ist ständig in Be-wegung und leer, und wenn wir uns mit unserem Atem identifizieren, dann identifizieren wir uns mit etwas Leerem und sich ständig in Veränderung Befindlichen – vergänglich, niemals gleich bleibend. Wir können uns also nicht mit etwas Beständigem identifizieren, diese Praxis hilft also sehr, um jeg-liche Identifikation loszulassen. Teilnehmer: Ich habe versucht, diese Praxis in die Mantra-Rezitation einzubinden und war überrascht über die Präzision, die dadurch entstanden ist. Ich finde die Mischung aus Spontaneität und Offenheit und dieser Präzision, die durch die Achtsamkeits-Praxis entsteht, besonders hilfreich. Ich habe ge-spürt, dass der Geist, die Gedanken sich auf diese Weise stark aus Anhaftung, Gewohnheit und Un-achtsamkeit lösen. Findet ihr sofort euren Atem wieder, sobald eine kleine Pause eintritt? Es ist gut, zusätzlich zur Praxis mit dem Atem auch eine Mantrapraxis zu haben, denn im Bardo gibt es keinen Atem mehr. Aber wir können dann dort Mantras rezitieren. Frage: Können wir im Bardo denn auch Liebe und Mitgefühl ausstrahlen? Ja, das können wir. Das wäre auch eine Alternative. Wir können im Bardo alles praktizieren, was sich auf den Geist bezieht.

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Frage: In meiner Praxis ist jetzt das Anhaften an mich selbst und meine Kinder und die Angst vor dem Tod ganz stark geworden. Ich sehe umso mehr Anhaften je mehr ich meditiere. Aber das kann doch nicht der Weg zur Befreiung sein, immer nur Anhaften, Anhaften, Anhaften zu sehen! Wie soll ich das denn dann loslassen? Wenn wir das Anhaften so stark verspüren und nicht wissen, wie wir loslassen können, dann ist es un-erlässlich, die Unbeständigkeit aller Phänomene zu kontemplieren, den Wandel, die Vergänglichkeit. Dabei geht es darum, hinzuschauen: Derjenige, der meditiert, wandelt sich ständig, wird seit seiner Geburt älter und geht auf den Tod zu genauso wie diejenigen, an denen man haftet, ebenfalls älter werden und auf ihren Tod zugehen. Jede Begegnung endet mit Trennung. So schön sie auch sein mag, wir können nichts tun, um Trennung zu verhindern. Alles was einmal zusammen kommt, wird auch wieder auseinander gehen. Alles was bedingt ist, wird vergehen. Überall wo Ursachen und Bedingungen im Spiel sind, werden sich die Ursachen und Bedingungen ändern und das, was dadurch zustande kam, wird sich wieder auflösen. Das ist die tiefe Kontemplation der Unbeständigkeit – des Subjekts und des Objekts. Sie wird durch das zunehmende Verständnis zu einem Nachlassen unseres Festhaltens führen und zu einem Loslassen. Wir werden sehen, dass es Schmerz bereitet festzuhalten, und wir werden aus Weisheit, aus Verständnis heraus loslassen. Während wir so die Vergänglichkeit betrachten, sehen wir wie kostbar jeder Moment ist. Wir geben in jedem Moment unser Bestes – liebend, mitfühlend, freigiebig. Wir nutzen jeden Moment, ohne in der Illusion zu sein, dass er dadurch länger dauern könnte. Auch wenn wir noch so viele Qualitäten in einer Situation leben, sie wird dadurch um kein Bisschen länger. Wir tragen die Illusion mit uns zu glauben, dass wir die guten Situationen verlängern könnten, wenn wir unser Bestes geben. Aber das können wir nicht. Frage: Über diesen letzten Satz stolpere ich doch ein bisschen. Wenn diese Ursache-Wirkungs-Ge-setze sauber funktionieren, dann müsste ja doch irgendwie was Gutes dabei rauskommen, wenn wir unser Bestes geben. Ja! Gut, dass du noch einmal nachfragst! Die jetzige Situation wird sich dadurch nicht verlängern, aber wir erzeugen Ursachen für das erneute Entstehen von heilsamen Situationen. Es ist nicht dasselbe, was wir gerne verlängert hätten, es wird etwas Neues sein. Es entsteht etwas Neues, durchaus Angeneh-mes. Wenn wir in unserem Leben jetzt unser Bestes geben, wird im nächsten Leben sehr viel Heil-sames passieren. Es ist nicht das Verlängern dieser Situation, es wird mit anderen Menschen, in einem anderen Körper sein. Selbst wenn wir jetzt in die grenzenlose Liebe eintauchen, wir könnten es nicht fertig bringen das Herz zum Stillstand zu bringen, die Zellen am Wandel zu hindern, die Menschen um uns herum am Wandel zu hindern. Wir könnten nichts machen, um den Wandel aufzuhalten. Der Wandel vollzieht sich, egal welche großen Qualitäten da sind. Er vollzieht sich etwas anders, weil der Körper mitbekommt, dass da viel Liebe ist und Entspannung. Der Wandel verläuft vielleicht etwas harmonischer, aber er voll-zieht sich. Nichts kann eine Situation stabilisieren so wie sie ist. Die Qualitäten einer Mutter, die liebt ohne sich zu identifizieren, werden die Mutter wie auch die Kin-der begleiten im Wandel. Die Qualitäten der Eltern werden Eltern wie die Kinder begleiten im Leben wie im Tod.

* * *

Vergleich von Anapanasati-Sutra und Mahamudra-Praxis

1. Achtsamkeit auf den Körper

Wenn wir an einen ruhigen Ort gehen, uns mit gekreuzten Beinen hinsetzen und die Aufmerksamkeit vor uns stabilisieren, so wie es im Sutra gesagt wird, so ist das identisch mit den Vorbereitungen für die Mahamudra-Praxis. Bei jeder Shine-Lhagtong-Mahamudra-Praxis nehmen wir dann zunächst die Haltung, den Atem und das gesamte physische Erleben in unser Bewusstsein auf.

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Nach den ersten drei Stufen im Anapanasati Sutra – den langen, den kurzen Atem beobachten und alle Körper erleben – kommen wir im vierten Schritt zu einer Grundbestandaufnahme von dem, wie es uns gerade geht. Wir erleben den Körper mit dem Atem und der Haltung. Dem entspricht in der Maha-mudra-Meditation, Körper und Atem zur Ruhe kommen zu lassen. Das Beruhigen der körperlichen Gestaltungen passiert natürlicherweise, wenn wir uns in der Shine-Praxis der Mahamudra-Tradition auf ein Objekt einlassen, z.B. auf das Objekt des Atems, was auch dort bekannt ist. Erst einmal beruhi-gen sich der Atem und der Rest des Körpers.

2. Achtsamkeit auf Empfindungen

Aus dem Beruhigen der körperlichen Gestaltungen geht es weiter – diese Darstellung des Buddha ist etwas überraschend – mit dem Erleben von Freude und Glück (Stufe 5 und 6). Wenn man dazu das Pendant in der Mahamudra-Praxis sucht, ist die zweite Stufe der Shine-Praxis gemeint, die dann in die dritte übergeht. – Ihr erinnert euch vielleicht an die drei Stufen: wie ein Wasserfall, wie ein Fluss und wie der Ozean. Das Verlangsamen des Gedankenstromes bringt Wohlgefühl mit sich und das wird hier Freude ge-nannt. Wenn sich der Gedankenstrom weiter verlangsamt, wird dieses Wohlgefühl ruhiger, und wenn der Geist in die dritte Shine-Stufe (ozeangleich) eintritt, dann entstehen sehr tiefe Empfindungen von Glückseligkeit, von Freude, die dann weiter beruhigt werden durch das Sich-Auflösen der Anhaftun-gen, die damit einhergehen. Nach dem Beruhigen von Freude und Glück durch das geringere Haften daran, wird der Geist so weit klar, dass die geistigen Bewegungen ganz deutlich wahrgenommen werden können. Das ist im Sutra die Stufe 7, wo wir die geistigen Gestaltungen wahrnehmen, erleben. Die geistigen Gestaltungen wer-den in der Mahamudra-Tradition Wellen genannt, die Wellen, die den Ozean – den Geist – aufwühlen oder wie die Wellen, die vielen Strömungsbewegungen im Fluss. Wir bemerken hier bereits den Kon-trast zwischen aktivem und ruhigem Geist, sind aber mehr mit dem aktiven Geist beschäftigt, weil der uns tatsächlich noch aufwühlt. Das ist dann bereits der achte Schritt: Wir beruhigen diesen aktiven Geist, wir lassen ihn sich noch mehr entspannen. Dieser achte Schritt im Sutra entspricht im Mahamu-dra einem weiteren Verlangsamen des Gedankenstromes oder sogar einem Aufhören des Gedanken-stromes und dem Eintritt in den Ozean. Das hängt einfach davon ab, wie weit der Praktizierende ist.

3. Achtsamkeit auf den Geist

Im Beruhigen der geistigen Formationen beruhigt sich unser Gesamtzustand und wir bemerken noch stärker den ruhigen Geist. Was wir für den ruhigen Geist hielten, entpuppt sich als immer noch bewegt von weniger offenkundigen Strömungen des Anhaftens und Ablehnens, und das nennen wir im neun-ten Schritt des Sutra Erleben des Geistes. Wir erleben, wir atmen ein, wir atmen aus im Hinblick auf das, was den Geist ausmacht, auch wenn er nicht so von geistigen Gestaltungen aufgewühlt ist. Wir bemerken, dass es deutliche Unterschiede gibt zwischen dem befreiten Geist und dem verschleierten Geist; zwischen dem Geist, in dem noch Anhaftungen aktiv sind und dem Geist frei von Anhaftungen; zwischen dem Geist, wo noch Abneigungen aktiv sind und dem Geist ohne Abneigungen; dem schläf-rigen Geist und dem Geist frei von Schläfrigkeit… Ihr kenn ja all die Beispiele. Das ist das Erleben des Geistes wie in einem klarer und klarer werdenden Spiegel, in dem wir deutlich Zusammenhänge zwischen bestimmten Geisteshaltungen und der Anspannung, die im Geist auftaucht, sehen. Wir sind also im Mahamudra an diesem Übergang von dem ruhiger werdenden Fluss und dem Eintreten in den Ozean. Hier und da tauchen noch grobe Gedanken auf, aber wir bemerken viele, viele feine Gedanken, viele feine Strömungen des Geistes, wo sich Anhaften ausdrückt und gehen dann in die Stufe zehn über: Einatmend und ausatmend erfreue ich den Geist. Damit ist gemeint, dass ich das Loslassen praktiziere und damit den Geist in größere Freiheit hinein entlasse. Dadurch erfreue ich den Geist. Das Erfreuen des Geistes durch das Loslassen wird immer konsequenter durchgeführt und wir kom-men zur 11. Etappe, dem Stabilisieren des Geistes. Dieses Stabilisieren ist ein wirklich radikales Schlussmachen mit allem diskursiven Denken. Das diskursive Denken hört auf durch die noch weiter zunehmende Entspannung und damit treten wir endgültig – wenn es nicht schon vorher passiert ist – in den Ozean von Shine ein, wo es keinen groben Gedanken mehr hat oder nur mehr ab und zu einen

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einzelnen. Gleichzeitig sind aber damit noch nicht alle Anhaftungen aufgelöst, wir bemerken auch da noch feines Anhaften, das wir im Schritt 12 loslassen, wenn es heißt: Wir befreien den Geist. Wir befreien den Geist vom restlichen Haften, insbesondere vom Haften an Stabilität. Wir geben dem Geist noch weiteren Raum und machen ihn damit einsatzbereit. Der Geist ist ruhig (stabil), rein (wenig Anhaften) und einsatzbereit. Das sind die drei Begriffe für Samadhi, die wir aus dem Theravada ken-nen gelernt haben. In der Mahamudra-Terminologie würden wir sagen, wir befreien den Geist von Hoffnung und Furcht d.h. vom Festhalten am stabilen Zustand und von der Angst vor der Bewegung und machen ihn flexi-bel. In der Theravada-Sprache wird dieser geschmeidige, flexible Geist der einsatzbereite oder ar-beitsfähige Geist genannt. Damit treten wir tatsächlich in tiefe geistige Ruhe ein, die jetzt – genauso wie es der 9. Karmapa er-klärt – für Lhagtong genutzt wird, um in die Dinge hinein zu schauen. Der 9. Karmapa sagt, es wäre gut, die 3. Stufe von Shine zu erfahren, aber auch wenn wir nur einen ganz ruhigen Fluss erfahren, reicht das aus, um in die Natur der Dinge zu schauen. Das ist aber die Minimum-Voraussetzung, um wirklich zu einer durchdringenden Erkenntnis kommen zu können. Was also den Buddha angeht, sind wir hier in der 3. Phase des Shine angekommen, müssen nicht den Ozean weiter vertiefen, sondern wir nutzen die relative Freiheit des Geistes von Schleiern, um im 13. Schritt die Vergänglichkeit anzu-schauen.

4. Achtsamkeit auf Dharmas

Dieser Übergang vom Befreien des Geistes von den Anhaftungen, die man noch loslassen kann, in die 13. Stufe, das Untersuchen der Vergänglichkeit, markiert auch den Übergang in die 4. Phase der Acht-samkeits-Praxis. Wir waren zunächst mit dem Körper beschäftigt, dann mit dem Geist und jetzt mit dem Untersuchen der Dharmas. Das Untersuchen der Dharmas benötigt diesen stabilen, ruhigen Geist. Mit den letzten vier Instruktionen beginnt also das, was man im Tibetischen Lhagtong nennt – auf Pali Vipassana und auf Sanskrit Vipashyana. Diese Unterteilung ist etwas technisch gesprochen, eigentlich haben Lhagtong bzw. Vipassana schon vorher begonnen und haben uns geholfen in diese Ruhe hinein zu finden, aber jetzt nutzen wir diesen ruhigen, flexiblen Geist, um der Natur der Dinge direkt auf den Grund zu gehen. Da gibt der Buddha einfach nur eine Unterweisung: Einatmend und Ausatmend sehe ich die Nicht-Be-ständigkeit. Und damit ist für den Buddha alles andere auch schon gesagt. Das haben wir ja ausführ-lich besprochen. Wir können beim Studieren der Mahamudra-Unterweisungen die gesamten Lhag-tong-Erklärungen in diese 13. Phase hinein packen, genau dort untersuchen wir noch einmal den akti-ven und ruhigen Geist, das Entstehen und Vergehen. „Ist das Entstehen und Vergehen von einem Verweilen begleitet oder gibt es ein sofortiges Entstehen und Vergehen?“ Wir kommen da zu shar-dröl und rang-dröl, Befreiung im Erscheinen, Befreiung aus sich heraus. All diese Lhagtong-Instruktionen, von denen es in der Mahamudra-Tradition so viele gibt, finden genau dort statt. Wie wir aus der Mahamudra-Tradition wissen, drehen sich alle um das Ent-stehen und Vergehen der Phänomene, was uns zeigt, dass Anhaften an Vergänglichem zu Leid führt, dass Identifikation damit allem gesunden Verstand widerspricht, weil kein Wesenskern zu finden ist. Wir kommen zu einem Verständnis von shunyata, zu einem Verständnis von gegenseitiger Bedingt-heit und von Soheit. Im Theravada werden dieselben Begriffe verwendet, aber alles ist in der einen Instruktion hier verpackt, Vergänglichkeit zu meditieren. Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass all das, was Lhagtong genannt wird, in dieser 13. Stufe unterzubringen ist. In diesem Betrachten des Entstehens und Vergehens wird uns klar, dass wir nur loszulassen brauchen. Die einzige Praxis, die wir zu machen haben, ist das Loslassen des Anhaftens, das Leid verlängert und Identifikation erzeugt. Diese Praxis führt uns in die 14. Stufe, das Wahrnehmen des Nachlassens der Anhaftungen. Das entspricht im Mahamudra den Unterweisungen zur völlig natürlichen Praxis in völliger Gelöstheit – z.B. den rang-bab-Instruktionen der Shangpa-Kagyü-Tradition oder anderen, die ich schon genannt habe. In diesen Unterweisungen geht es nur darum, kein Anhaften sich aufbauen zu lassen und immer wieder in das Sosein der Dinge hinein zu entspannen, in das, was die Theravadins auch die Soheit nennen – tathata. Das ist ein gemeinsamer Begriff, oder shunyata – Leerheit – oder anatta – Nichtselbst. Dahinein immer wieder zu entspannen ist die einzige Praxis, und das meint der Buddha mit der 14. Stufe, wo wir das Nachlassen kontemplieren.

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Die 15. Stufe, das Sehen des Aufhörens, ist das eigentliche Mahamudra, da ist keinerlei Anhaften mehr. Dieses eigentliche Mahamudra ist nur möglich, wenn es nicht die Spur eines Anhaftens mehr gibt. Die Stufen vorher waren alle noch ein bisschen verschleiert durch weiterhin bestehende Anhaf-tungen. Aus diesem Aufhören allen Anhaftens kommt die 16. Stufe, das Praktizieren in völliger Gelöstheit – niroda. Das ist das Praktizieren in Mahamudra und daraus entsteht Mahamudra-Aktivität. Aus dieser völligen Gelöstheit begibt sich der Erwachte in die Aktivität. Die Dinge sind wie sie sind, es gibt keine Anstrengung zu machen, es gibt in dieser völligen Gelöstheit niemanden, der meint, die Phänomene ändern zu müssen. Aus dieser Schau der wahren Natur der Dinge, aus dieser völligen Gelöstheit he-raus vollzieht sich das Wirken eines Erwachten, ohne Vorüberlegungen, ohne dass es je zu einer er-neuten Identifikation mit einem Ich kommt. Das ist die 16. und letzte Stufe. Diese Unterweisungen habe ich natürlich von niemandem erhalten. Das sind Unterweisungen, die ich euch aus meinem Verständnis der Mahamudra-Tradition und der Sutra-Tradition gegeben habe. Es war die Antwort auf die Frage von Rabjam in der Pause, wie die beiden zusammen gehen. Ich habe gedacht, ich spreche das einmal aus. Es ist offenkundig, dass sich die beiden unterscheiden – in den Worten, ein bisschen im Geschmack, im Aroma, das mit den beiden einhergeht. Aber in der Tiefe unterscheiden sie sich nicht. Das ist dieselbe Unterweisung, nur sind inzwischen 2500 Jahre vergan-gen, die Unterweisungen des Buddha haben reiche Kommentare erfahren, viele Erfahrungen sind ent-standen, und so wurde jede Etappe immer deutlicher erklärt, immer weiter ausgeweitet. So kommt es z.B. dazu, dass so ausführliche Lhagtong-Erklärungen entstanden sind und dass diese 13. Etappe eine so ausführliche Beschreibung erfahren hat. Man hat gemerkt, dass das der entscheidende Punkt ist. Wenn diese Etappe gut praktiziert wird, dann kommt es zu Einsicht. Deswegen wurden so viele Erklä-rungen dazu gegeben.

* Meditation * Wenn ihr wollt, dann praktiziert Mahamudra. – Das bedeutet, dass wir den Geist natürlich lassen, so wie er ist. Wir machen keine zusätzlichen An-strengungen, wir entspannen den Geist und lassen ihn im natürlichen Zustand ruhen. –

* * * Sobald der Geist einmal ruhig ist, kann man ihn lenken wohin man möchte, ob es auf die Vergänglich-keit ist oder das Untersuchen anderer Aspekte der Wirklichkeit oder das Gebet, Liebe und Mitgefühl, was auch immer. Der Praktizierende entscheidet selbst, wo er diesen ruhigen Geist hinlenken möchte.

Gefahren der Praxis

Frage: Würdest du bitte etwas zu den möglichen Gefahren sagen, die mit der Mahamudra-Praxis ein-hergehen? Ich habe das Gefühl, dass – je mehr man sich öffnet und die Qualitäten des Geistes erfährt – man sich im Nachhinein relativ schnell was darauf einbilden kann und dann glaubt, gewisse Kräfte zu haben und dass man magische Dinge mit seinem Geist machen könnte. Das ist eine Gefahr von aller Meditations-Praxis. Das ist die Gefahr allen Wissens überall in der Welt. Sobald man in einem Bereich etwas mehr weiß und versteht, kommt erst einmal unser Stolz hinein, der sagt: „Ich weiß mehr als andere, ich bin etwas Besonderes!“ Dazu kommt dann unsere Tendenz, manipulieren zu wollen, oft auch mit einer Selbstüberschätzung, die Dinge so zu interpretieren, dass man meint, man hätte besondere Kräfte und z.B. etwas im Geist der anderen bewirkt. Das alles kommt von einer unvollständigen Einsicht. Das Mittel wäre, mit Schau, Meditation und Erkennen noch weiter zu gehen, bis wir merken, dass all diese Qualitäten absolut nichts Persönliches sind, dass sie nichts mit einer Person, mit einem Ich zu tun haben, dass sie die natürlichen Qualitäten des Geistes selbst sind. Gendün Rinpoche sagte immer: „Das sind die Qualitäten des Dharma. Das sind die Qualitäten der Wirklichkeit!“ Wenn man das zutiefst versteht, dann unterhöhlt das auch die

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Basis dieses Manipulieren-Wollens, Sich-Einbildens, des Stolzes. Da muss die Praxis noch viel tiefer gehen. Man kennt bereits Bereiche, wo man mit dem Geist etwas spielen kann, ist aber den Stolz noch nicht angegangen. Wenn wir so vorgehen und tiefer praktizieren, dann durchtrennt das diese Einbildung, diesen Stolz. Wir sehen, dass die echten Qualitäten, die wir dann deutlicher und deutlicher wahrnehmen, tatsächlich keineswegs aus dem Ich geboren sind. Wir sehen, dass sie ganz im Gegenteil nur da sind, wenn das Ichanhaften nicht präsent ist und sie aus sich selbst heraus erscheinen, weil sie die natürlichen Qualitä-ten des Geistes sind. Und obendrein betrachten wir die Wirklichkeit viel nüchterner und merken, dass das, was im Geist anderer passiert, keineswegs von unserem Einfluss abhängt, wie wir uns das vorher eingebildet haben. Wir werden sehr viel nüchterner, realistischer im Einschätzen der Möglichkeiten in dieser Welt helfen zu können, denn gleichzeitig mit dem Erkennen der letztendlichen Ebene der Wirk-lichkeit nimmt auch das Verständnis der relativen Ebene mit Ursache und Wirkung zu und man sieht, wie stark die Lebewesen gefangen sind und wie wenig man sie im Grunde genommen beeinflussen kann. Man kann Lebewesen nicht in die Erleuchtung oder in befreite Geisteszustände bringen. Man kann es nicht. Selbst ein Buddha kann das nicht. Wenn die Buddhas das könnten, würden sie uns ja alle befrei-en! Man wird da sehr viel realistischer. Wir können weiter helfen, inspirieren, unterstützen, Vertrauen wecken. Wir können ziehen und schieben, aber es bleibt aber immer noch der Weg des anderen. Trotz aller vermeintlichen Kräfte wird man da noch mehr realistisch. Frage: Um dieses Gegenmittel anzuwenden, da noch tiefer zu schauen, braucht es ja schon eine große geistige Kraft. Gibt es auch Gegenmittel, die man mit weniger Stabilität einsetzen kann? Gerade am Beginn, wenn man mehr und mehr in diese Tiefe reinkommt? Ein Mittel, das ebenfalls hilft und zunächst mit der Meditation nicht so in die Tiefe geht, ist das Bodhi-citta. Wenn der Praktizierende in seiner Einbildung, in seinem Stolz es tatsächlich schafft, sich dem Bodhicitta zuzuwenden und sich sagt: „Was auch immer ich tue, möge es nur zum Wohle anderer sein!“ und diese Einstellung immer wieder in sich wach ruft, so ist das auch ein echtes Heilmittel für diese krankhaften Geisteszustände, unter denen wir alle leiden. Das Bodhicitta ist dann unsere Rettung – das relative Bodhicitta. Die Ausrichtung auf die anderen befreit uns von diesem Betrachten der Dinge aus dem Stolz heraus und von der Identifikation. Man wird dann schauen: „Jetzt hast du gut meditiert und für was ist es gut im Alltag?“ Das ist das relative Bodhicitta, es kontrolliert uns auch. Es korrigiert uns auf dem Weg und schaut: „Hast du dich wirklich verändert? Bist du da für andere? Bist du weiterhin vorwiegend mit dir selber beschäftigt?“ Das ist die wunderbare Korrektur für unseren Stolz.

Körperliche Aktivitäten frei von Haften

Frage: Meinst du, dass das auch auf körperliche Fähigkeiten zutrifft und man sie besser entwickeln kann, wenn man das Ich eher zurück stellt, z.B. beim Tanzen? Ich bin ja kein Tänzer und auch sonst in körperlichen Aktivitäten nicht besonders versiert, aber soweit ich davon verstehe, bestehen doch Unterschiede im Üben und Trainieren je nachdem, ob man von Ich-anhaften motiviert ist oder ob man sich frei von Ichbezogenheit in eine körperliche Aktivität begibt. Die Ergebnisse sind nicht ganz gleich. Jemand, der ohne Ichbezogenheit tanzt, wird keine perfekte Ballerina werden. Dazu braucht es so starke Vorstellungen im Geist wie etwas zu sein hat, und das wi-derspricht dem Fluss der inneren Energien, wenn man nicht im Anhaften ist. Aber wenn sich eine Tänzerin geübt hat und dann mehr und mehr dieses Loslassen praktiziert, wird sich ihr Tanz so ent-wickeln, dass er unglaublich schön, ausdrucksstark und harmonisch wird. Ich glaube, das gilt für alle Bereiche. Alice war früher Profitänzerin und kann sicher einiges dazu sagen: Der klassische Tanz erfordert sehr viel Training und Einsatz. Man studiert sehr spezifische Bewegun-gen ein und kann damit sehr viel Leichtigkeit, Meisterschaft entwickeln. Aber viele Tänzer entscheiden dann an einem Punkt ihrer Karriere, entweder da drin zu bleiben oder sie haben so was wie ein Er-wachen in ihrer Laufbahn, lassen dieses von Ehrgeiz geprägte Tanzen hinter sich und wenden sich ei-

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ner natürlicheren, spontaneren Form des Tanzens zu. Sie werden dabei sicherlich die Anmut, die Meisterschaft der Bewegung behalten, aber um in wirklich spontanen Ausdruck zu kommen, müssen sie alles loslassen. Und das ändert den Ausdruck im Tanz auch sehr stark. Als ich jung war und auf den großen Bühnen getanzt habe, war das wie für jede Tänzerin der große Traum. Aber das ist eine Welt, die von Ehrgeiz, Eifersucht und Stolz geprägt ist und so künstlich, das hat mir sehr bald nicht mehr zugesagt. Ich bin ausgestiegen. Ich komme noch einmal zur allgemeinen Frage nach allen körperlichen Fähigkeiten zurück: Ich glau-be, was wir hier am Beispiel des Tanzes gehört haben, kann man in jeden Bereich übertragen. Wenn wir freier von Anhaften werden, nimmt unsere Belastbarkeit zu, unsere Entspannung nimmt zu, der Körper findet sehr viel schneller in eine Regeneration hinein. Es kommt also durchaus zu einem Zu-wachs an körperlichen Fähigkeiten. Gleichzeitig ist aber so ein Geist nicht für Wettkämpfe geeignet, obwohl der Körper eigentlich fit ist. Man kann mit so einer Entspannung Berge besteigen und lange Radfahrten machen. Ohne allzu viel Übung kann der entspannte Geist ganz erstaunliche körperliche Fähigkeiten zeigen. Ich erinnere mich an eine Reportage über einen Marathonläufer, der in Afrika entdeckt und von einem Trainer zur Olympiade gebracht wurde. Er lief den Marathon barfuss und lief als Erster ins Stadion ein, wurde aber im Stadion von einem anderen Läufer überholt, der all seine Energie einsetzte und dann auch noch gewonnen hat. Der Schwarze machte keinerlei Anstrengungen, den anderen wieder zu überholen. Er hat die Silbermedaille gewonnen und war ganz offenkundig nicht erschöpft. Er hatte einfach nicht diesen zusätzlichen Ehrgeiz, um sich über seine Grenzen hinaus anzustrengen. Der Erste hingegen war völlig erschöpft und brauchte Unterstützung, nachdem er über der Ziellinie war, wäh-rend der Zweite total entspannt am Podest stand und alle grüßte. Das ist mir unvergesslich geblieben, weil da zwei vollkommen verschiedene Welten zusammen ge-kommen sind – eine Welt ohne Ehrgeiz und eine Welt mit Ehrgeiz. Man kann den Körper üben und trainieren, aber was dabei rauskommt an Eleganz, Natürlichkeit und Wohlgefühl, das sind ganz ver-schiedene Welten, obwohl sie einander manchmal so begegnen können.

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Widmung Sobald wir uns hinsetzen – sobald wir eine kleine Pause haben – kommt sofort wieder die Achtsamkeit auf den Atem. – Diesmal lenken wir unsere Aufmerksamkeit ins Herz, mit einem Gefühl der Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, dass wir den Dharma erhalten konnten. – Wir denken dankbar daran, dass der Buddha und viele erwachte Meister und Meisterinnen den Dhar-ma über Generationen hinweg zur Verfügung gestellt haben. – Sie haben uns den Dharma gelehrt, die Unterweisungen gegeben, die uns mit dem Dharma in Berüh-rung bringen, der die Wirklichkeit, die Natur der Dinge ist; dieses Verständnis, das tatsächlich befreit. Wir können aus dem Herzen Gedanken in alle Richtungen schicken, in alle Universen, wo erwachte Meister den Dharma unterrichten. – Das was unsere Dankbarkeit, unser Respekt, unsere Hingabe für die Meister ist, diese selbe Herzens-qualität ist die Liebe und das Mitgefühl für all die vielen Wesen, die noch in Dunkelheit, in Leid stecken. – Und erneut schicken wir Lichtstrahlen aus, in alle Universen, zu allen Lebewesen und teilen unsere Freude mit ihnen. – Mögen sie alle in die Einfachheit des erwachten Geistes hineinfinden. – Lasst uns all das Gute, das wir gemeinsam erlebt haben, dem Erwachen aller Lebewesen widmen. – Möge diese Widmung von allen Buddhas verstärkt werden, sodass sie jenseits davon geht, wo es noch jemanden gibt, der widmet und etwas, das gewidmet wird. – Mögen sich all jene, die einen Geist besitzen, mögen alle Geister frei werden von Haften, Identifika-tion und Trennung. – Einatem – Ausatem. –

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Mögen alle Wesen glücklich sein und die Ursachen des Glücks besitzen. – Mögen sie frei von Leid und dessen Ursachen sein. – Mögen sie niemals von wirklicher, leidfreier Freude getrennt sein. – Mögen sie alle in großem Gleichmut verweilen, frei von Anhaften, Ablehnen und Parteilichkeit. – Mögen sie alle das völlige Erwachen verwirklichen. – Das war die Widmung für den Schluss des Kurses. Ich danke euch allen. Ich danke euch für eure Pra-xis. Bis zum nächsten Mal!

* * *

Abendunterweisungen

B. Die Meditation mit dem Atem in der Kagyü-Tradition

In den Abendbelehrungen werde ich über die Achtsamkeit mit dem Atem aus der Sicht der Kagyü-Tradition sprechen. An den Vormittagen werde ich jeweils über das Anapanasati-Sutra sprechen – anapana ist die Achtsamkeit mit dem Atem. Diese Übertragung habe ich während meiner Theravada-Praxis bekommen, während die Übertragung der Kagyü-Tradition über Gendün Rinpoche und die an-deren Lehrer unserer Tradition kommen. Obwohl beide vom selben sprechen, sollte man die beiden Erklärungsströme nicht miteinander vermischen, weil es etwas verschiedene Ansätze sind.

Gampopa Was unsere Kagyü-Linie angeht, so ist der ‚Schmuck der Befreiung’ von Gampopa ja Referenz. Wer von euch hat denn wohl den Schmuck der Befreiung gut genug studiert, um zu wissen, wo man das Kapitelchen über die Atem-Meditation findet? Im Kapitel über meditative Stabilität. Ja, in diesem Kapitel spricht Gampopa von den Gegenmitteln zu verschiedenen Emotionen, darüber, mit welchen Gegenmitteln welche Emotion bearbeitet wird. Was ist denn dort das Gegenmittel zu Begierde? – Weisheit, Vergänglichkeit, Großzügigkeit, Mitge-fühl – ja, nicht schlecht. Das Abstoßende, ja das Nicht-Anziehende! Bei dieser Meditation über das Nicht-Anziehende, das Nicht-Schöne – wir haben das im Sutra in der Liste der Praktiken der Mönche gesehen – geht es da-rum, bei allem, was wir als besonders schön und verlockend finden, diese Qualität des Verlockenden einmal beiseite zu lassen und etwas tiefer zu kratzen. Wir schauen, was alles unter der Oberfläche so vorkommt, um die weniger anziehenden Aspekte dieses Verlockenden zu entdecken. Was wird denn von Gampopa als Gegenmittel zu Ärger und Hass empfohlen? – Meditation von Liebe.

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Und das Gegenmittel für Unwissenheit? – Die 12 Glieder des abhängigen Entstehens. Diese Glieder haben wir vor einigen Jahren durchgenommen. Wir haben uns damals vier Tage lang mit diesem Ge-genmittel für Unwissenheit beschäftigt. Dabei haben euch die Köpfe geraucht, dass man hier am liebs-ten einen Schornstein eingerichtet hätte… Und was übt man bei Neid, Eifersucht? – Die Meditation der Gleichheit von uns selbst und anderen. Wir haben alle denselben Wunsch glücklich zu sein, wollen Leid vermeiden, usw. Stolz? – Das Austauschen von sich selbst und anderen. Sich an den Platz des anderen versetzen und die Dinge aus seiner Sicht sehen, eigentlich Tonglen-Praxis. Hier aber speziell den Platz des anderen einnehmen, um aus seinem eigenen Elfenbeinturm herunter zu kommen und die Dinge einmal aus der Sicht des anderen zu sehen. Und wenn die Emotionen alle etwa gleich stark sind und ein starker Gedankenzustrom besteht, was wäre dann das Gegenmittel? – Die Meditation auf den Atem! Ja, die Achtsamkeit auf den Atem ist dann das, was wir praktizieren, wenn keine der Emotionen dominiert und wir viele Gedanken erfahren. Es sieht so aus, als ob Gampopa uns zunächst die anderen Gegenmittel bearbeiten lässt, um beim letz-ten anzukommen, das für alle Emotionen geeignet ist und wo man sich nicht zu überlegen braucht, welche Emotion gerade dominiert und welches Gegenmittel man gerade anwenden muss. Dieses Ge-genmittel ist gut für alle. Dieser Hinweis, dass die Achtsamkeit mit dem Atem für alle Emotionen gut ist, geht ja schon zurück auf Buddha Shakyamuni. Er beschreibt die Meditation mit dem Atem als die Meditation, die alle Glie-der des Erwachens entwickelt und bis zum vollkommenen Gewahrsein und zur Befreiung führt. Daher kommt dieser Hinweis von Gampopa, und natürlich kommt er auch aus der persönlichen Erfahrung der vielen Praktizierenden seither. Ganz kurz, was Gampopa zu diesem Thema im ‚Kostbaren Schmuck der Befreiung’ sagt: – das Gegenmittel bei gleich starken Emotionen oder starker Gedankentätigkeit Wenn unsere Emotionen alle etwa gleich stark sind, sowie bei starkem Gedankenzudrang, üben wir die Meditation auf den Atem. Dabei gibt es sechs Methoden: das Zählen, das Dem-Atem-Fol-gen usw., wie es die Abidharma-Schatzkammer erwähnt: „Zählen, Folgen, Setzenlassen (oder Halten), Untersuchen, Wandeln und völliges Reinigen werden als die sechs Formen [der Atemmeditation] betrachtet.“ Gampopa nimmt wohl an, dass wir diese sechs Formen der Atemmeditation kennen… Da das aber nicht der Fall ist, eine kurze Erklärung dieser sechs Formen.

Die sechs Stufen der Atemmeditation

1. Zählen

Das Zählen ist für die Anfänger in der Meditation auf den Atem, für diejenigen, die noch nicht damit vertraut sind und nicht wissen, wie sie sich mit dem Atem in Verbindung bringen können. Bei dieser ersten Methode des Zählens sucht sich der Praktizierende automatisch einen Ort, an dem er den Atem deutlich spürt und genau wahrnehmen kann, wann er ein- und ausströmt. Man nennt das das Aufstel-len des Wachtpostens. Wie ein Wachtposten an einem Stadttor schaut, wer rein- und rausgeht, genauso postiert man den Wachtposten der Achtsamkeit irgendwo auf dem Weg von der Nasenspitze bis in den Bauchraum, dort wo man am besten des Atems gewahr ist. Und dann bemerkt man das Vorbeistrei-chen des Atems als Ein- und Ausatem. Das ist, was beim Zählen eigentlich passiert.

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Es gibt die Diskussion unter den verschiedenen Schulen, wo der beste Ort für diesen Wachtposten ist. In der Theravada-Tradition nehmen viele die Nasenspitze, manche auch den Brustraum und manche gehen tatsächlich auch in den Bauchraum. Wir in der Kagyü-Tradition kennen auch den Wachtposten an der Nasenspitze, aber oft wird auch der Bauchraum empfohlen, weil das so sehr entspannt. Wenn wir zu meditieren beginnen, müssen wir uns besonders auf die Entspannung einlassen, deswegen wird der Bauchraum so oft empfohlen. Diese Praxis auf den Bauchraum erweist sich später dann als etwas schwieriger, weil der Atem so fein wird, dass er im Bauchraum früher verschwindet – nicht oder kaum zu spüren ist – als an der Nasenspitze. Deswegen ist es später oft günstig zur Nase zu gehen. Was das Zählen angeht, so ist das in den verschiedenen Traditionen gleich. Man fängt an zu zählen und immer, wenn man die Zahl vergisst, fängt man wieder bei Null an. Man gibt sich eine Zahl wie z.B. zehn in der Theravada-Tradition, wo man ohnehin wieder von vorne anfängt. Man macht also nicht Riesenzahlen. Gendün Rinpoche sprach immer von 21 Atemzügen, das ist für die Tibeter eine runde Zahl, eine Glück verheißende Zahl. Dann fängt man wieder von vorne an. Wenn Shamar Rin-poche allerdings Westler unterrichtet, dann gibt er auf bis 500, 1000 und weiter zu zählen, um damit den Ehrgeiz auch aufzulösen. Man zählt, bis man sich wirklich dabei vergisst und einfach über das Zählen dann in einer ganz kontinuierlichen Achtsamkeit bleibt. Man hört auf mit dem Zählen, wenn man in der Lage ist sich jederzeit hinzusetzen und den Atem zu zählen ohne durcheinander zu kommen, also sich auch mit einer Emotion hinzusetzen und die Emo-tion zu beruhigen, indem man einfach seinen Atem beobachtet und dabei zählt. Wenn man das erreicht hat, dann braucht man nicht mehr zu zählen. Das Zählen wird dann eher zu einem Hindernis.

2. Folgen

Wenn wir an dem Punkt sind, wo wir merken, dass das Zählen zum Hindernis wird, dann gehen wir dazu über den gesamten Atemweg zu verfolgen: Einatmen bis hin zur Pause – ausatmen, bis hin zum Wendepunkt – einatmen – und jeder Punkt auf dem Weg, jede Phase, jede kleine Veränderung wird wahrgenommen. Und das ist natürlich eine viel engmaschigere Achtsamkeit als das Zählen. Zählen ist nur: eins – eins, zwei – zwei und dazwischen kann man jede Menge denken. Man braucht nur gerade die Achtsamkeit zu haben die Zahl nicht zu vergessen und dazwischen können sich leicht Gedanken einmischen, die aber nicht so wuchern können, weil immer wieder die Zahl kommt und sie unterbricht. Wenn wir von Folgen sprechen, dann bedeutet das nicht nur, dass wir die Atembewegung als die Be-rührung des Atems auf dem Luftweg verfolgen sondern wir verfolgen auch alles drum herum: das Ausdehnen und wieder Zusammenfallen des Brustkorbs; das Aus- und Einstreichen des Atems; das Sich-Ausdehnen und wieder Kleiner-Werden des Bauchraums; die Bewegungen, die bis in die Schul-tern gehen, den Nacken hoch, bis in die Hüften. Der ganze Körper, der atmet, alles was da so mitatmet in der Atembewegung, das alles gehört zum Folgen mit dazu. Das nennt man das Verfolgen des gesamten Atemzyklus. In dieser zweiten Phase sind wir sehr viel näher dabei, wir werden zu der gelebten Erfahrung des Atmens. Wir bemerken so viele Dinge, Erfah-rungen, Empfindungen, die sich gleichzeitig abspielen, dass wir völlig in der Erfahrung des Atmens aufgehen. Alles atmet, alles ist in Bewegung und das ist die Erfahrung des Folgens.

3. Setzenlassen

Die nächste Praxis nennt sich Kontakt oder Setzenlassen und dann Fixieren oder Aufrecht-Erhalten der tiefen Versenkung. Wir können es auch das Sich-Versenken, das Absorbieren im Atem nennen. In die-ser Phase wird der Atem so fein, dass er kaum noch wahrnehmbar ist. Er wird so fein, dass man ihn nur noch spürt, wenn man wirklich hineingeht in den Ort, wo Kontakt stattfindet, wo Bewusstsein und die physische Bewegung den Kontakt empfinden. In dieser Feinheit sind wir direkt im Entstehen der Empfindung mit dabei. Zunächst müssen wir uns hinein finden, das nennt man das Eintreten in diese Versenkung, und dann geht es darum, diese Versenkung zu stabilisieren. Auf dieser Stufe lösen sich die fünf Hindernisse für meditative Versenkung auf: Anhaften, Ablehnung, Trägheit, Aufgewühltsein und Zweifel. Man kann auch sagen: Begierde und Hass – das sind die grö-beren Formen von Anhaften und Ablehnen, Trägheit, Aufgewühltsein und Zweifel. Und der Geist wird ganz ruhig und freudig. Wenn man so praktiziert, dann tauchen zunächst feine Zeichen auf wie ein Lichtfaden oder das Gefühl wie wenn da Baumwolle oder Watte wäre, oder das Gefühl von einem elektrischen Kreis oder von Ne-

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bel, Dunst, oder ein Silberfaden. Diese Zeichen sind an dem Ort, wo man vorher des Atems gewahr war und jetzt aber in Kontakt kommt mit dem subtilen Atem, der subtilen Energie, die eine viel feinere Ebene des Atems ist.

4. Untersuchen

Wenn wir in dieser Vertiefung ankommen, die wir das völlige Stabilisieren oder die völlige Versen-kung nennen können, so ist dieser Geist ganz subtil und völlig in Kontakt mit dem, was ist. Und wir nutzen diesen Geist, um in der nächsten Phase zu beobachten. Wir untersuchen die Wirklichkeit von dem, was sich da manifestiert. Diese Phase heißt Untersuchen. Wir schauen hinein in Vergänglichkeit, in die Natur des Atemprozesses, in die Abwesenheit von einem Selbst, in all die wesentlichen Punkte der Einsichtsmeditation. Das ist die Phase, in der Lhagtong oder Vipassana beginnt.

5. Wandeln

Wenn durch dieses tiefe Beobachten und Untersuchen dessen was ist, tatsächlich eine Einsicht ent-steht, dann wandelt sich unsere Sichtweise von dem was Körper ist, von dem was Atem ist, von dem was ein Ich zu sein scheint. Unsere Sichtweise der Welt wandelt sich. Das ist die fünfte Phase der Atemmeditation, man nennt sie Wandeln. Sie wandeln uns in jemanden, der nicht mehr gebunden ist an die alten Sichtweisen der Wirklichkeit. Jeder Atemzug, kann man sagen, wird zu einem Atemzug der Befreiung. Denn die Erkenntnis, dass da niemand atmet, dass es da gar keinen soliden Körper gibt, der atmet, dass die Umwelt ebenfalls aus dieser feinstofflichen Ebene besteht, bewirkt, dass jeder Atemzug zum Wandel des Bewusstseins beiträgt.

6. Völliges Reinigen

Auf dieser Stufe sind dann alle falschen Vorstellungen über die Wirklichkeit gereinigt, weil alles in dieser Dimension des Nicht-Ich, des Nicht-Selbst erfahren wird. Wir sprechen zwar immer noch über Atemmeditation, aber Atem ist auf dieser Ebene zu etwas geworden, das alles umfasst. Der gesamte Prozess des Entstehens und Vergehens, wie die Gedanken erscheinen und wie sie wieder vergehen, all das ist eigentlich nur wie ein- und ausatmen. Was immer für Empfindungen auftauchen und sich wie-der auflösen, all das ist der gesamte Prozess des Ein- und Ausatmens. Und in diesem Prozess gibt es gar niemanden, der etwas versteht; es gibt niemanden, der atmet; es gibt niemanden, der Anstrengun-gen macht; es gibt niemanden, der Erleuchtung erlangt. Dieses tiefe Erfahren wird völlige Reinigung genannt und führt zu einem Abwenden, einem Hinter-sich-Lassen. Einem Sich-Lösen von all dem, mit dem man vorher identifiziert war. Nach dieser Erklärung versteht ihr sicher, warum normalerweise nur die ersten beiden Stufen der Atemmeditation beschrieben werden. Danach wird es tatsächlich sehr subtil. Wir treten dann in medi-tative Versenkung ein und benutzen die meditative Versenkung zum Untersuchen der Wirklichkeit. Aber das werden wir in diesem Kurs auch versuchen. Wir werden mit dem gewissen Grad an medita-tiver Stabilität die Wirklichkeit untersuchen, um ein gewisses Maß an Einsicht auch hervorzurufen. Ich möchte euch sehr ermutigen, mit der Achtsamkeit auf den Atem während dieses Kurses die ganze Zeit fortzufahren, auch während jetzt noch ein paar Fragen besprochen werden. Nehmt beim Einschla-fen, wenn ihr in der Nacht aufwacht und beim Aufwachen morgens wirklich Zuflucht in die Atemme-ditation so wie sie der Buddha erklärt hat und verfeinert sie immer mehr, bis die Achtsamkeit konti-nuierlich wird. Das Zeichen, dass die Atemmeditation tatsächlich stark wird, ist, dass wir Tag und Nacht mit unserem Atem verbunden sind. Wenn wir uns in der Atemmeditation so üben, dann wird der Atem ganz fein, ganz flexibel und wir sind tatsächlich in der Lage, dann auch die Wirklichkeit zu untersuchen. Dazu brauchen wir aber diese tiefe Ruhe, die von einem feinen, ruhigen Glück begleitet ist. Und das ist die-ser flexible Geist, mit dem man dann alles untersuchen kann. Frage: Ich hab das so verstanden: Wenn man relativ weit verwirklicht ist, dann ist man in der Lage, ständig mit dem Atem verbunden zu sein. Trifft das auch dann noch zu, wenn man sich sehr stark kon-zentriert? Wenn ich z.B. am Computer Unterrichtsstunden entwerfe, merke ich im Anschluss immer,

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dass ich den Atem komplett verloren habe. Ich frag mich dann, ob es – wenn man so stark konzentriert ist – überhaupt möglich ist, die Verbindung zum Atem noch zu halten. Man braucht nicht verwirklicht zu sein, um diese kontinuierliche Achtsamkeit aufrecht halten zu kön-nen, diese Kontinuität der Achtsamkeit ist wirklich nur eine Shine-Praxis. Es ist genau wie du es be-schreibst: Wenn der Geist völlig woanders ist, dann bemerkt er den Atem nicht mehr. Die Übung be-steht also darin, zwar entspannt und ganz klar seine Arbeit am Computer oder was auch immer zu ma-chen, aber immer noch einen gewissen Teil der Achtsamkeit beim Atem zu lassen. Wenn uns das ge-lingt, haben wir bei der Arbeit am Computer eine gewisse Körperachtsamkeit, eine Atem-Achtsam-keit. Wir verspannen uns nicht, wir merken immer wieder, wie wir uns in dieser Arbeit entspannen und lösen können, und die Arbeit gewinnt dadurch. Ich kenne das Problem, denn mich zieht es auch manchmal so hinein und dann denke ich wieder: „Oh! Wo warst du jetzt?“ und komme wieder zurück zum Atem. Der entscheidende Punkt ist wirklich motiviert zu sein, den Kontakt mit dem Atem zu halten. Wenn wir ausreichend motiviert wären, wenn uns das ausreichend wichtig wäre, dann würden wir das eher schaffen. Und um dich vielleicht mehr zu motivieren und alle anderen auch: Wir wollen ja alle nicht krank werden. Wir wollen ja alle, dass unsere Organe gut funktionieren. Wenn wir im Bewusstsein un-seres Atems bleiben und immer wieder Entspannung in dieses Atmen hineinbringen, ist das die beste Art und Weise, gesund zu bleiben, weil das den harmonischen Energiefluss im Körper ermöglicht. Das ist wie unsere Gesundheitsversicherung! Entspannt, ruhig zu atmen, ist das Beste was wir tun können, um Spannungen im Körper aufzulösen. Der zweite Aspekt ist, sobald wir mit der Aufgabe fertig sind, können wir den Geist auf die nächste Tätigkeit ausrichten. Immer wieder können wir hineinschauen in die Natur dessen, der atmet, des Atems selber. Aber allein, dass es uns so sehr hilft gesund zu bleiben, das dürfte eine ganz starke Mo-tivation sein. Was ich noch gar nicht erwähnt habe: Die Bewusstheit auf den Atem ist ja eine der Voraussetzungen, die ganze Zeit über Tonglen zu praktizieren. Das ist ja die Basis dafür, jeden Atem dafür zu nutzen, Liebe auszuströmen und mitfühlend einzuatmen. Wir können das ja dann damit verbinden – nicht nur mit Einsicht sondern auch mit dem Entwickeln von Bodhicitta. Es eröffnen sich also dadurch unglaub-liche Möglichkeiten. Frage: Ich habe beim Zählen beobachtet, dass bei mir der Einatem kürzer war als der Ausatem. – An-dere haben das Gegenteil erfahren. Beides ist in Ordnung, so oder so, alles kommt vor. Es ist interessant, dass es uns jetzt erst auffällt, wir es bisher nicht gemerkt haben, und dass wir vielleicht – wenn wir es weiter beobachten – sogar heraus-finden, wie das mit bestimmten Geisteszuständen zusammenhängt. Da gibt es Momente in meiner Be-obachtung, wo – wenn ich loslasse – der Ausatem kürzer ist als der Einatem. Oder wenn Angst im Geist ist, dann atmet man fast nur ein und möchte gar nicht ausatmen. Oder dann gibt es einmal Freude und der Ausatem wird unglaublich lang, als hätte man unglaublich viel Zeit und Raum, und da ist überhaupt keine Notwendigkeit einzuatmen. Es gibt also ganz verschiedene Geisteszustände, die auf den Atem wirken und natürlich dann auch auf den Körper. Wir können herausfinden, wie das alles zusammenhängt. Frage: Wenn jetzt ein Nasenloch zugeht und man nur noch durch das andere atmen kann, hat das mit bestimmten Emotionen zu tun? Ja, das stimmt: Es gibt Erklärungen, dass die beiden Seiten mit verschiedenen Emotionen zu tun ha-ben. Leider habe ich vergessen, welche Seite für was steht und ich kann das bei mir nicht beobachten, weil ich eine etwas krumme Nase habe und bei mir sowieso eine Seite viel eher zugeht als die andere.

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Karmapa Wangtschug Dorje In „Mahamudra – Ozean des wahren Sinnes“ des 9. Karmapa Wangtschug Dordje findet sich die Erklärung zur Meditation mit dem Atem an einer ungewöhnlichen Stelle. Sie steht an letzter Stelle all dieser Meditationsobjekte, die Karmapa empfiehlt, um stufenweise die Praxis der geistigen Ruhe – Shine – zu entwickeln, und zwar nachdem zunächst die äußeren und inneren Objekte und dann die Objekte ohne Bezugspunkt, ohne Objekte erklärt werden. Und danach kommt die Meditation auf den Atem, die offenbar für Karmapa der Schlusspunkt der Entwicklung ist. Man findet, nachdem man all das andere durchlaufen hat, zu etwas Einfachem, Verlässlichem, sehr Tiefgründigem, mit dem man den Rest seines Weges gehen kann. Karmapa schreibt hier nicht viel über die Atem-Meditation, denn dieses Buch ist für die Lehrer ge-schrieben, für die Lamas, die die Meditation unterrichten. Und so gibt er zu jedem Objekt nur ganz kurze Instruktionen. Hier sagt er – Seite 149: Halte den Atem in der Vasenart und richte den Geist darauf. Wenn du dies nicht kannst, dann zähle die Atemzüge, aufbauend von einundzwanzig bis neunundachtzig, hundert und so weiter, indem du das Ein- und Ausatmen einschließlich der Atempause als einen Atemzug rechnest. Halte den Geist einsgerichtet an den Nasenlöchern, ohne abzuschweifen. Den Atem in der Vasenart halten kann ich euch jetzt leider nicht erklären, weil das nicht in der Öffent-lichkeit unterrichtet wird. Das ist eine Yoga-Übung, bei der der Atem angehalten wird und man für eine Weile nicht atmet. Diese Atemübung wird nur unterrichtet, wenn die Schüler bereits so weit sind, dass sie dies machen können, ohne in den Fehler falscher Anstrengung zu verfallen. Deswegen wird das nicht öffentlich unterrichtet, sondern nur persönlich weiter gegeben im Unterricht zwischen Lehrer und Schüler. Es gehörte zum Programm der Drei-Jahres-Retreats. Ob wir das jetzt im Grundlagen-Retreat unterrichten, wissen wir noch nicht. Bis jetzt haben wir es jedenfalls nicht unterrichtet.

Barlung Gendün Rinpoche unterrichtete an dieser Stelle als guten Ersatz für die Vasen-Atmung die Zwischen-Atmung, wir nennen sie Barlung. Das ist eine sehr hilfreiche und ungefährliche Methode mit dem Atem zu arbeiten und sie führt uns gut in die Mahamudra-Meditation ein. Der Barlung besteht darin, dass wir die Aufmerksamkeit in den unteren Teil des Bauchraums lenken – in die Gegend des Nabels, aber mehr unterhalb des Nabels, großflächig, nicht auf einen Punkt gerich-tet, recht breit – und dabei lassen wir den Bauch ganz rausfallen. Wir müssen gerade sitzen und lassen den Bauch rauskommen, sodass er wie bei einer schwangeren Frau richtig gut gewölbt ist. Wir denken daran, dass wir wie ein chinesischer Bodhisattva praktizieren und lassen beim Ein- und Ausatmen das Bewusstsein immer verbunden mit dem Bauch. Das ist eine ganz natürliche Praxis, wir brauchen kei-nen Atem zurück zu halten, aber dadurch dass wir das Bewusstsein immer ein wenig im Bauchraum halten und auch den Bauch nach außen kommen lassen, ist es so, als würden wir ein wenig Atem zu-rückhalten. Aber da ist nichts, was zurückgehalten wird, wir atmen ganz normal. Wir atmen ganz nor-mal ein und aus und sind dabei im Bauchraum verankert. So zu praktizieren gibt einem ein Gefühl von großer Stabilität, so wie in den Kampfsportarten auch, wo man von Hara oder von Qi spricht, und wir erleben die Welt aus dieser inneren Mitte heraus, aus der Mitte unseres Körpers, hier ist der Schwerpunkt. Lama Walli erklärte uns das im ersten Retreat so: ‚Versuch doch einmal so zu tun, als hättest du da eine kleine Kamera innen drin und würdest die Welt aus dem Bauchraum betrachten.’ Damit ist gemeint, die Aufmerksamkeit von den Sinnesorganen, die zum größten Teil im Kopf lokalisiert sind, abzuziehen und in den Bauchraum zu verlagern, und dann vom Bauch heraus die Welt zu erleben. Wir üben das jetzt ein wenig:

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* Meditation * Setzt euch so wie gewohnt zur Praxis hin und lasst euren Bauch hervorkommen, so als ob ihr schwan-ger wäret. – Das gibt viel Raum im Bauch – keine Angst und kein Schutz. Wir brauchen keinen Schutz. – Es ist gut, den Hosenbund aufzumachen, damit er uns auf keinen Fall einengt. Man kann auch die Hand auf den Bauch legen, um das Aus- und Einatmen deutlicher zu spüren. Es ist, als würden wir in die Hand hinein atmen. – Lasst uns die Welt vom Bauch aus betrachten. – Ohne jegliche Anstrengung – es hat nichts mit den Muskeln zu tun – wir bringen nur das Bewusstsein dort hinein und geben die Erlaubnis, dass sich der Bauchraum ganz ausdehnt. – Dabei sind das Ein- und Ausatmen gar nicht so wichtig. Viel wichtiger ist, das Bewusstsein immer entspannt in diesem Bereich zu halten. –

* * * Diese Barlung-Praxis braucht nicht aufzuhören, wenn wir aufstehen. Wir können sie überall praktizie-ren, beim Gehen, beim Kochen, beim Autofahren. Wo immer wir sind, wir können immer im Bauch verankert bleiben, immer diese Präsenz aufrechterhalten und es gibt keine weiteren Erklärungen als das, was ich soeben erklärt habe. Es ist nicht noch komplizierter, gerade das. Und es ist sehr, sehr hilf-reich. Falls ihr diese Praxis tatsächlich länger anwendet, werdet ihr sehen, dass Emotionen dazu führen, dass wir uns im Bauchraum verspannen. Indem wir immer wieder die Achtsamkeit da hinein führen, arbei-ten wir mit den Emotionen, mit den Anspannungen, die sich einstellen wollen und entspannen uns zugleich mit der Emotion. Für mich persönlich hat diese Praxis unglaublichen Nutzen gebracht und bringt ihn noch. Es ist eine der wichtigsten Methoden, die ich auf meinem Weg angewendet habe. Man sagt von den tibetischen Lamas, dass das Zeichen, dass sie diese Praxis ausführen, dieser große Bauch ist, so als ob sie schwanger wären. Und es hat keine anderen Gründe als das. Auf Thangkas kann man sehen, dass die Mahasiddhas immer mit großem Bauch dargestellt werden, obwohl der Rest des Körpers mager ist. Das hängt mit dieser Bauch-Atmung, mit diesem Barlung zu-sammen. Die weiteren Unterweisungen – Atemzüge zählen bis einundzwanzig, neunundachtzig, hundert usw. – kennen wir. Was noch gut ist, im Geist zu behalten, ist die Empfehlung Karmapas, die Achtsamkeit an den Nasenlöchern zu halten, ohne abzuschweifen. Der Schluss – ohne abzuschweifen – macht dann doch etwas Mühe. Das bedeutet, dass wir keinerlei Ablenkung in diese Praxis hineinkommen lassen, damit sie eine echte Praxis des tiefen, ruhigen Verweilens ist, die in die Versenkung hineinführt. Frage: Warum ist der Atem bei Wangtschug Dordje ein so wenig wichtiges Objekt und kommt erst am Schluss des Kapitels? Die wichtigen Objekte kommen bei Karmapa gegen Ende des Kapitels. Das sind die, bei denen man sein ganzes Leben lang bleibt, während die anderen nur dazu da sind, um in die Praxis hineinzufinden. Gendün Rinpoche hat zwei Objekte besonders gerne als Hauptpraxis für Shine-Praktizierende unter-richtet: die Meditation auf Buddha Shakyamuni und die Meditation auf den Atem. Das waren die bei-den Hauptobjekte, die er unterrichtet hat. Frage: Welche der beiden Übungen soll ich denn nun praktizieren, Achtsamkeit an den Nasenlöchern oder im Bauchraum? Da du schwanger bist, empfehle ich dir, für die gesamte Zeit der Schwangerschaft die Praxis auf den Bauchraum vorzuziehen, immer Raum zu geben und zu entspannen. Aber später, wenn die Schwan-gerschaft vorbei ist und falls du eine Praxis ausüben möchtest, wo du stark auf Sammlung, Konzen-tration aus bist, empfehle ich, als Anker für die Achtsamkeit die Nasenlöcher zu nehmen. Die Barlung-

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Praxis ist tatsächlich sehr gut dafür geeignet, diese angstfreie Öffnung zu ermöglichen, die wir im Ma-hamudra praktizieren. Frage: Was ist eigentlich mit dem Herz als Wächter? Der Atem fließt ja nicht durch das Herz, aber er fließt durch den Brustraum. Wenn du da einen guten Ort findest, an dem du verweilen kannst, dann kannst du den nehmen. Die Meditation auf das Herz mit dem Atem zusammen wird besonders stark im Tonglen genutzt. Da werden die Herzenskräfte mit dem Atem verbunden – Liebe und Mitgefühl gehen vom Herzen aus. Das ist eine spezielle Atempraxis des Mahayana, die ich mir für morgen aufgehoben habe. Frage: Ich habe eine technische Frage. Du hast bei der Barlung Atmung den Bauchraum wie einen Ballon, wie etwas Statisches beschrieben. Ich kenne das als etwas Dynamisches, der Bauchraum ver-bunden mit dem Beckenboden, er hat etwas Elastisches. Gut, dass du nachfragst. Der Bauchraum hat etwas Dynamisches, deshalb habe ich auch gesagt, dass man die Hand drauflegen kann, um die Atembewegung zu spüren. Er bewegt sich die ganze Zeit, nur dass wir normalerweise die Atembewegung im Bauchraum einschränken und eine kleine Anspannung haben, die verhindert, dass der Bauch rauskommt. Gerade in unserer Kultur heute wollen alle einen schlanken Bauch haben. Es gehört eine ganz schöne Courage dazu, den Bauch einfach raushängen zu lassen. Aber der Bauch bewegt sich, er ist sehr dynamisch. Frage: Ich hatte das Gefühl, dass ich beim Ausatmen nicht ganz entspannen konnte, wenn ich den Bauch draußen gelassen habe. Ich bin eher entspannt, wenn ich den Bauch beim Ausatmen wieder zurück nehmen kann. Es ist wie ein Behältnis, das sich wieder leert. Wenn ich den Bauch draußen lassen sollte, dann braucht das Anstrengung. Diese Anstrengung sollst du nicht bringen. Was macht der Bauch beim Aus- und Einatmen im Bar-lung? Übt und schaut einmal. Ihr müsst dabei aber schon ein bisschen loslassen. Was habt ihr beobachten können? Physisch bewegt sich der Bauch nicht wirklich nach außen, die Bewegung ist innen, wie eine Massage. Wir atmen mit den Lungen und das Zwerchfell bewegt einfach die Organe. Ich hab die Hand auf meinen Bauch getan und jedes Mal, wenn ich ausgeatmet habe, ist er ein biss-chen herausgekommen und hat sich aber auch ein bisschen abgesenkt. Ich hatte das Gefühl, dass sich der Bauch beim Einatmen ausdehnt und beim Ausatmen ein bisschen zurücknimmt, nur ein bisschen. Ich habe es so erlebt, dass sich der Bauch beim Einatmen entspannt und am Ende der Ausatmung – wenn ich tief ausatme – gibt es eine kleine Kontraktion, ein kleines Zusammenziehen der Muskel, um zu helfen, den restlichen Atem hinauszubringen. Da gibt es also verschiedene Erfahrungen und alle sind gut. Es ist wichtig, keine Anstrengung mit den Muskeln zu machen, sondern diese Entspannung geschehen zu lassen. Bei mir war es so, dass der untere Teil des Bauches völlig entspannt blieb, auch in derselben Position beim Ausatmen. Aber der obere Teil des Bauches macht die Atembewegung jeweils mit. Das hat aber nicht viel zu sagen, es ist einfach jetzt so bei mir. Frage: Du hast gesagt, dass wir die Bauchatmung machen oder zählen. Wir sind nach der Bauchatmung zum Zählen übergegangen, das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. Aber ihr könnt es kombinieren. Ihr könnt bei dieser Bauchatmung auch zählen, wenn ihr das könnt.

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Das schien mir auch etwas kompliziert zu sein. Da habe ich manchmal das Gefühl, dass die Luft nicht mehr raus geht. Dann war eine Anstrengung dabei irgendwo. Wenn man diese Praxis über einen gewissen Zeitraum hinweg wirklich entspannt ausführt, dann ent-wickelt sich eine Wärme im Bauch. Diese Wärme breitet sich aus und ist total wohltuend. Das ist ein Zeichen, dass ihr auf dem richtigen Weg seid. Aber dann dürft ihr nicht forcieren, nur entspannt sein und die Erfahrung nicht halten wollen. Frage: Ich habe nicht verstanden, warum diese Praxis mit der Mahamudra-Linie verknüpft ist. Weil sie eine der Praktiken ist, die gelehrt wird, um Mahamudra zu entwickeln. Es ist die tägliche Pra-xis des Mahamudra-Yogins, die er in allen Situationen praktiziert. Ich weiß nicht, warum diese Methode besser sein soll als die normale Atem-Meditation. Du musst für dich selber herausfinden, ob es für dich so ist. Ich sage nicht, dass diese Methode besser sei, ich sage nur, dass beide gut sind. Jede Übung hat ihren eigenen Geschmack. Man muss sie auspro-bieren und entscheiden, was für einen passt. Frage: Mich interessiert, ob der Atem von einem Buddha etwas Besonderes ist. Vielleicht auch inso-fern, als er mit seinem Atem seine Umgebung beeinflussen kann. Ist das so? Es ist etwas ganz Spezielles beim Atem des Buddha: dieser Atem findet ohne Ich-Bezogenheit statt. Das ist das Außergewöhnliche, es gibt nicht mehr das Gefühl von jemandem, der atmet. – „Ich atme, ich muss atmen, ich will atmen.“ Angst, den Atem zu verlieren, Angst zu sterben, Angst zu ersticken – All das ist fort und das ist das Außergewöhnliche. Es ist also ein völlig entspannter Atem und insofern als dieser Atem ja auch mit dem tiefen Samadhi des Buddha zu tun hat, ist es in seiner Gegenwart möglich, dass Menschen in tiefen Samadhi fallen. Ob das mit seinem Atem oder mit seinem Samadhi zu tun hat, lässt sich nicht herausfinden, denn beide gehören zusammen. Man sagt, dass die Buddhas mit ihrem Atem segnen können. Einige von euch haben ja Gendün Rin-poche erlebt. Er segnete uns am Scheitel und machte zum Abschluss dieses „Ah…“ wo er ganz tief ausatmete und selber in völliger Offenheit aufging. Das war ein immenser Segen, der sich in diesem Moment ausbreitete. Man sagt, dass dieser Segen damit zusammenhängt, dass so jemand wie er un-zählige Mantras und Gebete gesprochen hat und Sprache und Atem von so einem großen Yogi da-durch völlig von Ich-Bezogenheit gereinigt sind.

* * *

Gendün Rinpoche Heute Abend möchte ich euch zur Praxis der Achtsamkeit mit dem Atem recht einfache, klare Unter-weisungen von Gendün Rinpoche geben. Ihr findet sie auf S 161 der ‚Herzensunterweisungen eines Mahamudra-Meisters’. Diese Unterweisungen zur Atempraxis habe ich erhalten, als uns Gendün Rinpoche die Lodjong-Über-tragung gab. Da gibt es zuerst immer eine Phase, wo man auf den Atem meditiert, und das hat er zum Anlass genommen, etwas ausführlicher über die Atem-Praxis zu sprechen. Als weiteren möglichen Bezugspunkt können wir den Atem wählen. Bei der Meditation auf den Atem verfolgen wir dessen stetes, natürliches Ein- und Ausströmen, ohne ihn in irgendeiner Weise zu beeinflussen. – Da sind sich alle Meister einig: Wir folgen normalerweise dem Atem, ohne ihn in irgendeiner Weise zu beeinflussen. – Wir setzen weder Körper noch Geist unter Druck, son-dern bleiben vollkommen entspannt und sind einfach des Ein- und Ausströmens gewahr – ohne anderen Gedanken zu folgen.

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Wichtig hier ist der Hinweis, sich nicht unter Druck zu setzen. Wir setzen uns in keiner Weise unter Druck, wenn wir diese Achtsamkeit üben, denn was wir damit erreichen würden, wäre vielleicht eine kurze Phase von Konzentration aber dann würden wir die Praxis fortschmeißen, weil wir uns unter Druck fühlen. Wir fühlen uns nicht normal damit. Um die Praxis tatsächlich kontinuierlich ausführen zu können müssen wir sie entspannt ausführen. So natürlich wie möglich geben wir uns einfach immer wieder diesen kleinen Kick, um wieder zurückzukommen. Ohne anderen Gedanken zu folgen bedeutet genau das, was es heißt: ohne andere Gedanken. Das ist eine ausschließliche Aufmerksamkeit auf den Atem. Da sollten wir aufpassen, dass wir nicht das Na-türliche, was er auch sehr betont, verwechseln mit so einem Mischmasch, wo wir ein bisschen mit dem Atem meditieren und uns ganz natürlich den Raum lassen, alles Mögliche noch zu denken. Dabei sind wir dann in einem Tagtraum, in dem wir ein bisschen Atem dabei haben, aber ansonsten folgen wir einfach den Gedanken, ohne dass sich die Gedankenketten zu sehr auswachsen, aber man denkt so vor sich hin und hier und da hat es einen Atem, der das Ganze ein bisschen entspannt. Das ist nicht ge-meint! Es geht darum, sich ganz auf den Atem einzulassen und dabei so entspannt wie möglich zu sein. Wir lassen den Geist sich mehr und mehr mit der Atembewegung verbinden, bis er vollkommen darin aufgegangen ist. Das ist ganz typisch für die Vorgehensweise Gendün Rinpoches und der Meister unserer Linie: Wir fahren mit jedem Meditationsobjekt so weit fort bis keine Trennung mehr besteht zwischen Beobach-ter und Beobachtetem, dass der Geist und die Atembewegung eins werden. Als Erfahrung bedeutet das, das Gefühl zu haben, dass wir der Atem voll und ganz sind, dass es einfach atmet, basta! Da ist niemand mehr, der den Abstand dazu erzeugt. Als Hilfe können wir dabei zunächst die Atemzüge zählen, zum Beispiel bis 21, und versuchen, uns dabei von nichts ablenken zu lassen. Dann ist es gut, eine kleine Pause zu machen. Damit meint er, dass wir für kurze Zeit – drei, vier Minuten, so lange es eben dauert, 21 Atemzüge zu zählen – eine konzentrierte Anstrengung machen, wirklich schauen unabgelenkt zu bleiben. Dann ma-chen wir eine Pause, wirklich Pause – wie Ferien – und dann machen wir wieder eine Anstrengung, wir konzentrieren uns wieder für kurze Zeit. Dann wieder Pause. Dieses Abwechseln von konzentrier-ter Praxis mit Anstrengung und dem völligen Loslassen, dem Feriengefühl, führt dazu, dass die Lockerheit der Pause allmählich in die Konzentration hineinkommt und die Sammlung des Geistes im-mer natürlicher wird. Zunächst machen wir richtig starke Anstrengung und bemühen uns, 21 Atemzüge lang unabgelenkt am Ball zu bleiben, und dann lassen wir los und sind glücklich, dass wir es geschafft haben, endlich! Endlich drei, vier Minuten am Ball geblieben ohne große Ablenkung! Dann merken wir, dass wir das Gleiche auch mit weniger Anstrengung erreichen können, und dann mit noch weniger. Wir versuchen herauszufinden, wie viel Anstrengung es eigentlich braucht, um unabgelenkt zu bleiben. Und nur diese Anstrengung machen wir, nur die, die es braucht. – Bis wir dann tatsächlich herausfinden, dass es ei-gentlich gar keine Anstrengung braucht, um unabgelenkt zu bleiben, dass der entspannte Geist natür-licherweise unabgelenkt ist. Das finden wir dann heraus. Aber was ist das für ein entspannter Geist, der nicht abgelenkt wird? Das ist der entspannte Geist, der nicht mehr nach den Objekten greift, der nicht mehr in den Anhaftungen und Abneigungen verfangen ist. Und das müssen wir erst herausfin-den. Wie ist es möglich, in so einer Geisteshaltung zu sein und zu praktizieren? Wenn man an dem Punkt ankommt, wo man diese Erfahrung macht, dass der entspannte Geist ohne Anstrengung ruhig gesammelt bleibt, entsteht ein großes Vertrauen in den Geist. Man entdeckt, dass der Geist kein wildes Tier ist, das man zu bezähmen hat. Da entsteht tiefes Vertrauen in den Geist. Dass der Geist sich durch Entspannung beruhigen lässt, das ist unglaublich. Zunächst denken wir im-mer, dass man den Geist durch Anstrengung bezähmen müsste, aber eigentlich bezähmt man ihn durch eine Loslösung von all dem, nach dem man normalerweise greift. Wenn man nicht mehr greift,

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braucht es keine angestrengte Konzentration, um den Geist von irgendetwas weg zu halten. Eltern müssen ein Kind z.B. immer zurück halten, damit es sich nicht verbrennt, ins Wasser fällt usw. Dieses Kind braucht Anstrengung. Wenn es sich aber entspannt, in sich selber Einkehr hält und nicht mehr nach allem greift, in dem Moment braucht es auch keine Anstrengung von den Eltern mehr, es bleibt einfach da und spielt ruhig mit dem was ist. Unsere Anstrengung, um Konzentration zu erlangen, ist proportional zu dem Greifen in unserem Geist, darauf möchte ich hinaus. Und das hat uns Gendün Rinpoche ganz klar gemacht, das schwingt hier in seinen Unterweisungen mit. Wir brauchen umso mehr Anstrengung, um konzentriert zu bleiben, je mehr unser Geist noch im Haften, im Greifen gefan-gen ist. Entschuldigt, wenn ich euch so den Spiegel vorhalte, aber es ist tatsächlich so, dass nicht das Meditie-ren schwierig ist sondern dass unser Anhaften stark ist. Das ist unser Problem. Das natürliche Sein ist nicht schwierig. Aber es ist so schwer, all das Anhaften loszulassen. Das ist unsere Schwierigkeit. Wenn wir entspannt und kontinuierlich des Atems gewahr sind, können wir auch für längere Perioden meditieren, wobei wir die Atemzüge aber nicht weiter zählen, sondern einfach achtsam bleiben. Achtsamkeit bedeutet nicht, sich mit aller Macht auf sein Objekt zu konzentrieren. Wir sollten uns nicht sagen: „Ich darf die Achtsamkeit auf den Atem unter keinen Umständen verlieren. Ich muss mich mit aller Kraft konzentrieren.“ Solche Gedanken nähren unsere Unru-he und stören die Meditation und das natürliche Ein- und Ausstreichen des Atems. Gendün Rinpoche meint hier, wir sollten uns nicht diesen Gewaltanstrengungen unterwerfen, sondern immer sanft zum Atem zurückkehren. Er führt aber dann weiter aus, dass dieses sanfte Zurückkom-men eigentlich gar kein richtiges Zurückkommen ist in dem Sinn, dass es da etwas zu tun gäbe. In dem Moment, wo wir merken, dass wir abgelenkt waren, sind wir nicht mehr abgelenkt. Der Moment ist ein Moment klarer Präsenz und da brauchen wir nur weiter zu machen mit der Meditation. Wir brauchen uns nicht mehr damit zu beschäftigen, dass wir abgelenkt waren. Die Tatsache, dass wir ab-gelenkt waren, und der Inhalt des Abgelenktseins interessieren uns gar nicht mehr, wir sind jetzt be-wusst und machen gerade da weiter. Wir verlieren unsere Zeit nicht damit, uns zu verurteilen für all die Ablenkungen, sondern wir freuen uns daran, dass wir jetzt präsent sind und machen da weiter. Das macht die Dinge ganz einfach. Gendün Rinpoche bezieht sich auf das, was vorher als Fehler beschrieben wurde und sagt: Wir kommentieren unsere Meditation und schaffen eine Distanz, die verhindert, dass wir in der Meditation aufgehen. Eigentlich brauchen wir nur ohne große Anstrengung des Atems gewahr zu sein und dabei ist vor allem eine sanfte, regelmäßige Praxis wichtig. Die entstehende Stabilität wird uns helfen, tiefer in die Meditation einzudringen. Jeder Kommentar ist sinnlos, ist nutzlos in der Meditation. Das ändert nichts an der Tatsache, dass wir abgelenkt waren und es jetzt nicht mehr sind. Das sind die Tatsachen, da brauchen wir nicht noch ei-nen Kommentar darüber abzugeben, was wir davon halten. Unsere Meditation zu kommentieren be-wirkt nur, dass wir eine Distanz schaffen, wir verstärken so wie die Mama oder der Papa, der immer sagt: „Du machst es nicht richtig!“ oder „Du solltest es so machen!“ Diese Distanz ist penibel, die macht uns die ganze Meditation kaputt. Da sind wir dann im Grunde genommen nur dabei, dieses alte Spiel von Vater oder Mutter und Kind zu wiederholen, was wir ohnehin schon die ganze Zeit prakti-zieren. Hier könnten wir aussteigen aus dem ganzen Bewerten.

Die Schlüssel zur Meditation Wenn wir wirklich so praktizieren, dass wir ohne große Anspannung des Atems gewahr sind und uns nicht beurteilen und verurteilen sondern uns einfach den Raum geben, immer wieder sanft zu üben, ganz entspannt, dann entsteht allmählich Vertrauen. Und dadurch entsteht Stabilität.

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1. Freude

Es entsteht Vertrauen darin, dass dieser Geist tatsächlich in der Lage ist, sich zu entspannen, dass da-durch Ruhe, Freude usw. zum Vorschein kommt. Der Schlüssel ist, immer nach der minimalen An-strengung zu suchen: „Wie krieg ich es mit geringster Anstrengung hin, dabei zu bleiben? Was braucht es eigentlich? Was ist das Minimum?“ Und dann entdecken wir, dass es da Schlüssel gibt, die die Meditation sehr leicht machen. Darüber möchte ich auch ein bisschen sprechen. Wir haben schon den Schlüssel der Freude kennen gelernt. Ein freudiger Geist, ein glücklicher Geist entspannt sich viel leichter, er ist viel leichter prä-sent. Wenn wir das nähren können, dass wir mit Freude praktizieren, dann wird es umso leichter.

2. Entsagung - Zufriedenheit

Der zweite Schlüssel ist Entsagung – kein geliebtes Wort –, das Loslassen von all dem, was wir das Verfolgen des persönlichen Glücks nennen. Im Grunde genommen ist es das, was wir die acht welt-lichen Dharmas nennen: das Verfolgen von Glück, Erfolg, Lob und Gewinn, Sieg – das sind die positi-ven – und das Vermeiden-Wollen von Verlust, Niederlage, Kritik – Tadel und Leid. Dieses Gefangen-sein in den Mechanismen nennt man die weltlichen Dharmas, das sind die Gesetzmäßigkeiten, die un-sere Welt bestimmen, genau danach funktioniert unsere Welt. Alle streben danach bzw. versuchen es zu vermeiden. Wir müssen aus diesen Gesetzmäßigkeiten aussteigen, um aus dem Gefängnis raus zu kommen. Wir werden den auftauchenden Gedanken immer solche Wichtigkeit beimessen, weil sie sich um diese Themen drehen. – „Ich bin zu Unrecht kritisiert worden!“, „Jemand hat mir das weggenommen!“ oder „Ich hab das geschenkt bekommen!“ oder „Derjenige mag mich so gern, er hat mich gelobt!“ – Das ganze Zeug, das uns durch den Kopf geht, sind eigentlich immer nur die acht weltlichen Dharmas, wenn man genau hinschaut – oder eine Unterform. Es geht um Glücklichsein und nicht Glücklichsein, und das hinter sich zu lassen nennt man Entsagung. Man entsagt dieser Art, man sagt: „Damit hab ich nichts mehr zu tun!“ und wendet sich ab. Wenn man das positiv ausdrückt – man muss aber das Wort gut verstehen – dann nennt man es Zufrie-denheit. Zufriedenheit ist ein Schlüssel für unsere Praxis: zufrieden sein mit dem, was gerade ist – in dem Moment, jetzt gerade. Jetzt sitze ich hier, da tut was weh, da stimmt die Temperatur nicht, die Lichtverhältnisse stimmen nicht – zufrieden sein! Zufrieden sein mit dem, was gerade ist. Und das hört sich sehr einfach an. Gut, ich bin zufrieden und meditiere! Na ja, und dann kommt eine Fliege und schon bin ich nicht mehr zufrieden, es juckt mich und ich bin nicht mehr zufrieden. Und dann hat man seine Meditation auch schon gleich verloren. Zufriedenheit bedeutet, dass ich all die anderen Alternativen, wie es in meiner Vorstellung auch noch sein könnte, loslasse. Das alles muss ich los-lassen und einfach so mit dem sein, wie es jetzt halt ist. Darin finde ich sofort einen entspannten Geist, das ist dann ganz leicht. Wenn wir so praktizieren können, sparen wir uns Tausende und Tausende von Gedanken. Merkt Euch beide Worte: Entsagung und Zufriedenheit. Man kriegt das eine nicht ohne das andere, das ist ein Doppelpaket.

3. Dankbarkeit

Das braucht man nicht zu erklären? Ab hier lasse ich euch sprechen, ihr gebt die Unterweisungen. Ihr kennt alle die Schlüssel zur Medi-tation. Ihr wisst genau, was das Meditieren einfach macht. Teilen wir doch einfach unser Wissen.

Unterweisung der Praktizierenden

Es ist ganz wichtig, das Beschäftigtsein mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufzugeben, sich z.B. – nachdem man sich an den Blumen gefreut hat – nicht mehr darum zu kümmern, ob da jetzt Blumen sind oder keine. Selbst aus der Gegenwart keinen Gegenstand machen und sich schon gar nicht mit Vergangenheit und Zukunft beschäftigen.

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Wenn wir wissen, dass wir dem Anderen nichts zuleide getan haben, dann haben wir ein gutes Ge-wissen, und das kann helfen. Ja, das ist eine alte Unterweisung von Buddha: sila, samadhi, prajna. Sila bedeutet ein gutes Gewissen zu haben, dass das Gewissen nicht aufgewühlt ist. Ich denke, es wichtig die verschiedenen Meditationssitzungen nicht zu vergleichen und gewisse Erwar-tungen einfach sein zu lassen, und dass man die Situation so nimmt wie sie ist und nicht am Geist herum manipuliert. Ich glaube, es ist wichtiger, bequem zu sitzen als sich in irgendeine Haltung zu zwingen – wichtiger bequem als gerade. Es ist ganz wichtig, Vertrauen in den Lama und in die Unterweisungen zu haben und Geduld. – Das sind gleich zwei wichtige Schlüssel: Vertrauen und Geduld. Ausdauer ist wichtig, immer zur Meditation zurückzukommen, regelmäßig und es sollte freudige Aus-dauer sein. Eine entspannte Umgebung, ein schöner, geborgener Platz, an dem man sich auch wohl fühlen kann und sich sicher fühlt. Für mich ist die Motivation ganz wichtig und der Entschluss zu meditieren. – Getragen sein von dem Wissen, von dem Vertrauen, dass das, was man tut was Gutes ist und Früchte tragen wird, davon überzeugt sein und das auch füllen mit dem eigenen Entschluss, dran zu bleiben. Da kommt dann die Ausdauer dazu. – Man kann ja auch motiviert sein, viel Geld zu verdienen oder schön zu sein. Für mich ist wichtig, nicht in dieser Hoffnung zu stecken Früchte von der Praxis zu erwarten und mich an die Motivation zu erinnern, mich daran zu erinnern, was mich bewegt jetzt zu praktizieren, damit es nicht mechanisch wird: „Was mach ich eigentlich hier?“ Es wird sicherlich jeden Tag eine etwas andere Motivation sein. Ich denke, es kann hilfreich sein, wenn man die Unterweisungen versteht und es wird noch hilfreicher sein, wenn man in der Lage ist, die Praxis an die Umstände anzupassen. Es geht darum, die Unterweisungen als geschickte Mittel anzuwenden und die Unterweisungen nicht nur bezogen auf eine Sache zu praktizieren, sondern sie auf verschiedene Gegebenheiten, Umstände anzuwenden, flexibel zu sein. Wenn man einen Blick in die Zeitungen wirft und sieht wie viel Leid es auf der Welt gibt oder wenn man persönliche schmerzhafte Erfahrungen in Erinnerung ruft oder Vergänglichkeit kontempliert, das ist für mich ein starker Schlüsselpunkt. Weil es mit Geduld und freudiger Ausdauer ja nicht immer so klappt, ist – denke ich – eine gewisse Frustrationstoleranz auch wichtig. Die Voraussetzung für Frustrationstoleranz ist Selbstvertrauen. Ich bin sehr berührt von dem, was vorhin über Leid gesagt wurde. Man muss sich aber auch am eigenen Schopf packen können, Ver-trauen haben und sagen, dass es geht, die Kraft zu erwecken. Mir erscheint Gleichmut ein sehr wichtiger Faktor zu sein, um meditieren zu können. Zeiten wie hier, wo man miteinander teilen kann, wo man nicht nur eine Unterweisung erhält sondern sich mit anderen Praktizierenden austauschen kann, hört, wie es ihnen mit der Praxis geht, wie sie mit der Praxis umgehen, das erscheint mir auch ganz wichtig. Vergänglichkeit und Tod.

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Wenn wir an Vergänglichkeit und Tod auch während der Praxis denken, wird sie unglaublich leicht. Und das nächste Thema in den Unterweisungen wird ja das Untersuchen der Dharmas sein, wo Ver-gänglichkeit und Tod Thema behandelt werden. Gesundheit – geistig und körperlich – ist ganz wichtig, die geistige noch mehr, ein stabiles Ich, es wurde ja schon alles genannt. Geduld ist eigentlich mein Favorit. Und mir ist eben eingefallen, wenn man nicht gesund ist, nicht sitzen kann, man fühlt sich auch vielleicht nicht in der Lage – ich begegne vielen Menschen, die nicht nur vorübergehend verwirrt sind, sondern kein stabiles Ich haben, um überhaupt meditieren zu können, das hat mich doch ein wenig erschreckt – und ich halte es für sehr wichtig, dass das auch berücksichtigt wird, dass wir alle glücklich und gesund sind, um den Dharma überhaupt verstehen zu können. Ich versteh dich so, dass wir die geistige Klarheit haben und die körperliche Energie. Du meinst wahr-scheinlich nicht, dass man mit einem gebrochenen Bein nicht meditieren kann, sondern die Kraft, die Energie zu haben? Ja, die Energie zu haben. Für mich ist wichtig, eine Art der Untersuchung des Geistes zu machen und zu entdecken, so wie ein Pionier, wir sind Pioniere neuer Situationen. Ich möchte noch den Mut anfügen! – Was meinst Du genau mit Mut? Mut, den Ängsten zu begegnen, dass die Dinge sich ändern, Schwierigkeiten zu begegnen, Mut hinzu-schauen. Mir ist wichtig, dass ich mich in schwierigen Situationen auch erinnere, dass es zutiefst heilsam in mir ist – was wir immer über die Buddhanatur hören – und das hängt dann mit Vertrauen und allem ande-ren zusammen, aber es ist wichtig, mich daran zu erinnern, dass es geht. Zu Mut fällt mir noch eine gewisse Furchtlosigkeit ein, dass man sich keine Sorgen macht, ob wohl alles klappt. Man hat ja schon einen Erfahrungsschatz und vertraut darauf, dass sich alles fügt, wenn man diesen Weg geht und wenn man die nötige Anstrengung aufbringt. – Ist das eine Art Zuversicht? – Ja, Zuversicht, Furchtlosigkeit, Vertrauen. Die vier grundlegenden Gedanken, die den Geist zum Dharma wenden, obwohl die ja schon zum Teil erwähnt worden sind – Vergänglichkeit, menschlicher Körper, Karma und Samsara – diese vier sind sehr wichtig, um zu meditieren. Für mich ist die Hingabe zum Lama, zum Meister ganz, ganz wichtig. Also, wenn wir schon über Mut sprechen: Es gehört ganz schön viel Mut dazu, nicht zu praktizieren im Angesicht dessen, dass man ewig in diesem Mist da herumhängen sollte. Wer will schon ewig leben? Vielen Dank für diese schöne Unterweisung!

* * *

Achtsamkeit mit dem Atem und Mitgefühl Das Thema liegt mir sehr am Herzen, aber es ist gar nicht so einfach darüber zu sprechen. Das bloße Sprechen darüber würde mich nicht befriedigen, denn man muss erfahren, was damit gemeint ist. Man muss es immer wieder erfahren und niemand hat das Mitgefühl gepachtet. Man kann nicht darüber sprechen, als ob es etwas wäre, was man gemeistert hätte. Mitgefühl lebt sich mit jedem Moment neu. Ihr habt vielleicht gemerkt – wenn man den Geist beruhigt, wie wir das morgens geübt haben –, dass mit der Achtsamkeit mit dem Atem die Gedanken nachlassen und der Geist tatsächlich ruhiger wird. Der Geist wird dann auch weicher, er wird beweglicher und ist weniger steif. Und von dieser Weich-

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heit des Herzens aus, mit dieser Sanftheit können wir weiter gehen in Richtung Meditation auf die vier Grenzenlosen, die vier unermesslichen Qualitäten: Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut. Das ist genau der Weg, den die Mahayana-Buddhisten im großen Fahrzeug beschreiten – jetzt vor allen Dingen vertreten durch die tibetische Tradition. Sie legen da nicht so viel Wert auf die Präzision des Beobachtens des Atems, sondern für sie ist das Allerwichtigste, dass wir immer Bodhicitta im Herzen haben und dass jeder Einatem und jeder Ausatem von Bodhicitta begleitet ist, vom Geist des Erwachens, der von diesen vier Unermesslichen durchdrungen ist.

Tonglen Wenn wir als Praktizierende des Mahayana versuchen, das Bodhicitta im Herzen zu tragen und das mit dem Atem verbinden, dann tun wir das, indem wir annehmen und teilen. Wir nehmen völlig an – das was der andere ist, was andere sind – und wir teilen alles, was wir mit anderen teilen können. Wir ge-ben alles. Und dieser Prozess, dass wir uns für all das öffnen was kommt und nichts zurückhalten, was wir unterstützend geben können, ist in der tibetischen Tradition zur Hauptpraxis mit dem Atem gewor-den. Die anderen Formen der Atemmeditationen sind weit hinter dieser Hauptpraxis zurückgetreten. Wenn ein großer Lodjong-Meister im Sterben zu seinem Begleiter sagt, dass er in seinem Leben nichts zu bereuen habe und keine Notwendigkeit bestehe, jetzt Phowa zu praktizieren und dergleichen, da er, seit er die Bodhicitta-Belehrung erhalten hatte, keinen einzigen normalen Atem mehr geatmet hätte, so ist das unglaublich. Jeder einzelne Atemzug war mit Bodhicitta verbunden gewesen! Und wenn man das am Ende eines Lebens sagen kann, so ist das natürlich unglaublich. Das bedeutet, dass jeder Atemzug mit Liebe, Mitgefühl und Weisheit verbunden war. Das ist die zentrale Praxis des tibetischen Geistestrainings. Diese Praxis nennt man tonglen – alles was von außen kommt annehmen und teilen, alles herschenken, was man an Unterstützung geben kann. Es ist so wunderbar, in dieser Tonglen-Praxis sind viele Möglichkeiten enthalten. Wir atmen ein und öffnen uns für alles, was wir aufnehmen können, was wir anderen an Schmerzen, an Leid abnehmen können, was wir teilen können mit anderen und wir schenken alles an Unterstützung, an Kraft, an Vi-talität, an Herzensenergie, was wir anderen geben können. Wir tun dies aber ohne Anhaftung und na-türlich auch ohne Ablehnung. Es ist ein Atem, wo wir in Liebe und Mitgefühl kreisen. Liebe ist das gebende Unterstützen und Mitgefühl ist das Empfangen von all dem Schwierigen. Wir atmen so in der Öffnung für alle Lebewesen und erleben dadurch ganz stark das völlige Verwobensein aller Geistes-ströme, da wir alle voneinander abhängig sind. Von meiner Erfahrung her gibt es keine Form der Atemmeditation, die glücklicher macht als diese, weil sie uns nicht nur Präzision und Ruhe bringt sondern gleichzeitig auch Liebe und Mitgefühl in uns nährt. In diesem mitfühlenden Atem bringen wir zwei große Formen oder Stränge der Praxis zusammen: die Praxis, die Weisheit unterstützt und verstärkt und die Praktiken, die Liebe und Mitgefühl verstärken. – Wie sehr die Atemmeditation die Einsicht, die Weisheit unterstützt, will ich hier nicht noch einmal ex-tra ansprechen, das sehen wir in den Morgen-Unterweisungen. Wenn wir mit Liebe und Mitgefühl im Herzen atmen, dann dehnen sich Liebe und Mitgefühl dadurch aus und sie reinigen sich auch, sie befreien sich von all den Anhaftungen und Abneigungen, die sich sonst mit unserer Liebe und unserem Mitgefühl vermischen. Die Faktoren Freude und Gleichmut haben wir ja auch schon morgens besprochen. Wir haben bereits erwähnt, wie durch Atemmeditation Freude auftaucht und wie dann der Gleichmut entwickelt wird. Und wenn wir da hinein noch Liebe und Mitgefühl nehmen, dann ist unsere Praxis so komplett, wie sie als Atemmeditation nur sein kann. Der Buddha selbst hat das an verschiedenen Stellen gelehrt. Er hat an vielen, vielen – über dreißig – Stellen diese vier Unermesslichen als Einstieg in die Samadhis, in die meditative Versenkung gelehrt. Er hat großen Wert auch auf die Atemmeditation gelegt. Die Praktizierenden in den Generationen nach dem Buddha haben diese beiden Strömungen zur Deckung gebracht und sie gleichzeitig praktiziert. Die Tonglen-Praxis an sich: Man nimmt zu Anfang Zuflucht als Startpunkt vor der Praxis und betet ganz intensiv zu Buddha, Dharma und Sangha. Dann lässt man den Buddha in sich verschmelzen, er tritt als eine Lichtfigur in uns ein und verweilt in einer Lichtsphäre im Herzen. Diese Lichtsphäre löst

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sich dann auf, bleibt aber in unserem Bewusstsein als das Gefühl vorhanden, dass diese Herzenspraxis nicht aus dem Ich heraus gemacht wird sondern aus dem Verbundensein mit diesem Buddha-Potential, das jeder von uns in sich trägt. Im übertragenen Sinn könnte man sagen, wir lassen den Buddha in uns praktizieren, atmen. Und aus diesem Gewahrsein heraus ist es auch möglich sich für alles zu öffnen, alles zu akzeptieren, anzunehmen und auch alles zu geben, alles zu teilen. Damit werden ganz, ganz viele Hindernisse in der Meditation aufgelöst, Hindernisse, die daraus ent-stehen könnten, dass wir aus Ichbezogenheit heraus praktizieren, dass wir denken: „Ich bin es, der at-met.“, „Ich bin es, der liebt.“, „Ich bin es, der mitfühlend ist.“ Es ist diese Buddha-Dimension in uns, aus der heraus geatmet wird. Und das ist eigentlich mit der Praxis des mitfühlenden Atems gemeint, dass man gar nicht aus dem Ich heraus mitfühlend atmet, sondern dieser Atem kommt aus unserer wahren Herzensnatur heraus und ist ganz einfach. Diese Praxis ist wirklich super einfach. Wir lassen den Buddha in uns verschmelzen, im Vertrauen da-rin, dass diese Güte tatsächlich die wahre Natur unseres eigenen Geistes ist, des Geistes aller Lebe-wesen. Aus diesem Vertrauen heraus lassen wir den Atem fließen und öffnen uns immer mehr, immer mehr, immer mehr … ohne Grenzen, völlig ohne Grenzen. Immer wenn es noch etwas zu öffnen gibt, lassen wir los und öffnen uns da hinein. Das ist die Praxis. Frage: Ich habe nicht so den Bezug zu Buddha. Deshalb wollte ich fragen, ob das auch mit Tara geht. Ja, mach es mit Tara oder auch mit Tschenresig. Es geht nur darum, dass es jemand völlig Erwachtes ist. Dann können wir damit praktizieren.

* Meditation * Während wir die Zuflucht rezitieren, stellen wir uns ganz intensiv vor, dass der Buddha wirklich als Lichtfigur ganz lebendig vor uns sitzt und dann als Licht in unser Herz verschmilzt. – Spürt eure Herzen. – Vielleicht ist da noch das Licht vorhanden, aber vor alle Dingen geht es um die Sanftheit. Das Wich-tigste ist, dass es da nicht das Ichanhaften ist sondern die Buddhadimension. – Wir atmen. … Einatem – Ausatem. – Wir lassen uns von der Güte erfüllen. … Einatem – Ausatem. – Unser ganzer Körper wird von dieser Sanftheit erfüllt. – Zuallererst akzeptieren wir uns selbst; ganz sanft, ohne Wertung. – Und dann öffnen wir uns für die anderen hier im Raum, werden ihrer bewusst … auch der Tiere um uns herum, Katzen, Vögel, Insekten, Kinder. Wir öffnen uns für alles was uns umgibt und teilen diese Sanftheit. Wir nehmen alles ganz tief an, so wie es ist. Einatem – Ausatem. – Sanftheit und Annehmen … Liebe – Mitgefühl. – Ohne in Sentimentalität zu verfallen, öffnen wir uns im Einatmen, entspannen uns im Ausatmen, hal-ten Liebe und Mitgefühl im Herzen. – Es ist immer noch der Buddha, der atmet. Das hilft uns, den Gleichmut darin zu finden. – Wenn ihr es wünscht, könnt ihr euch eine Person eurer Wahl vor euch vorstellen und in ihrer Gegen-wart so weiter atmen. – Einatem – Ausatem. … Beim Einatmen stellen wir uns vor, dass wir all das auf uns nehmen, in uns hinein nehmen, was der andere mit uns teilen möchte, dass wir ihn vielleicht erleichtern können. Beim Ausatmen stellen wir uns vor, dass wir Unterstützung, liebevolle Unterstützung schenken. – Und dann beschließen wir diese Sitzung, dieses Abenteuer. Das bedeutet eigentlich nur, dass wir kei-nerlei Anstrengung mehr machen, falls es irgendwo eine Anstrengung war und einfach so weiterat-men, wie es sich gut anfühlt.

* * * Das war also eine kleine Erinnerung an diese Atemmeditation, die in Tibet am berühmtesten ist und die sich dort am meisten verbreitet hat.

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Es sind ja viele hier, die die Tonglen-Praxis bereits kennen. Haben euch die Unterweisungen der letz-ten fünf Tage zur Atemmeditation noch etwas Zusätzliches für die Meditation des Tonglen gebracht? Für mich ist es eine angenehme Wiederholung dessen, was ich normalerweise erfahre. Und da ist noch der zusätzliche Aspekt der Sanftheit, was für mich im Moment sehr wichtig ist, da ich verstärkt in diese Richtung gehen soll und auch Sanftheit auf mich zukommt. Ich bin damit also sehr froh. Und die Übungen mit Henri am Nachmittag verstärken das auch und fügen sich sehr gut zu dieser Praxis. Ich habe den Eindruck, dass mir die letzten Tage geholfen haben, jetzt klarer und genauer dabei zu sein, genauer spüren zu können. Ich konnte leichter im Herzen bleiben, stabiler dabei bleiben, konnte mir meine Mutter gut vorstellen. Und im Unterschied zu anderen Malen war es auch so, dass ich we-niger sentimental war und die Lösungen wie von selbst kamen. Es war deutlich leichter. Mir haben die letzten Tage geholfen, da kommt mir das Wort ‚sezieren’ in den Sinn. Ich habe den Eindruck, dass ich die letzten Tage gelernt habe, auf verschiedenen Ebenen zu sezieren, also Gedan-ken zu erkennen, zu beurteilen und loszulassen. Und dieses feine Instrument hat mir jetzt in dieser Meditation sehr geholfen. Ich konnte damit in meinem Herzen oder in meinem Licht bleiben. Und ich hatte auch keine Form der Sentimentalität. Ich habe einen deutlichen Unterschied zu meiner bisherigen Tonglen-Praxis gespürt. Es ist sehr viel einfacher geworden – einfach ein- und ausatmen mit dem natürlichen Buddha und der Güte im Inne-ren ohne schwarzen Rauch ein- und weißes Licht ausatmen zu müssen. So ist es viel einfacher und na-türlicher. Ich hatte in den letzten Tagen schon die Idee und sie auch schon umgesetzt, den Wächter fest zu instal-lieren, dass er eben nicht nur während der Meditation sondern auch sonst da ist. Und ich denke, Tonglen würde dem jetzt noch eine neue Qualität hinzufügen, dass der Wächter selber ständig da ist und ständig mitfühlt, empfängt und sendet. Das werde ich probieren. Ich hatte dieses Konzept mit der schwarzen Wolke und dem weißen Licht auch irgendwann einmal ge-hört und immer wieder probiert. Heute Abend habe ich das Gefühl dafür bekommen, was Tonglen ei-gentlich bedeutet. Ich hatte scheinbar das Konzept, irgendetwas Künstliches hervorzurufen, alles auf-nehmen und gereinigt wieder ausstrahlen zu wollen. Aber das funktioniert so nicht. Ich glaube ver-standen zu haben, dass es darum geht hinzufühlen und nicht irgendetwas zu konstruieren sondern das, was in dem Moment da ist, zu nutzen. Als Karmapa uns im Retreat besucht hat, hat er uns erklärt, was für ihn Mitgefühl bedeutet. Er sagt, es wäre Verstehen, Verständnis (comprehension, understanding). Und das hat für mich die Welt verän-dert. Das Verständnis für Mitgefühl ist so etwas anderes geworden, in dem Moment wo ich es durch Verstehen, Verständnis habe ersetzen können. Eigentlich ist das Mitfühlen ein Verstehen des anderen, ein Sich-Einfühlen-Können und dadurch Verstehen. Das wollte ich noch einmal mit allen teilen, es könnte ja für andere auch eine Hilfe sein. Für Karmapa ist comprehension, understanding – also Verständnis – die Übersetzung sowohl vom re-lativen wie vom letztendlichen Bodhicitta. Er übersetzt Bodhicitta so: Verständnis auf der relativen Ebene ist Mitgefühl und auf der letztendlichen Ebene ist es Weisheit. Beides ist Verständnis. Das ist Karmapas Übersetzung für Bodhicitta. Wenn wir mit Verständnis im Herzen atmen, sind wir wohl mitten im Tonglen.

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The Path of the Sugatas

A concise practice of Buddha-Shakyamuni with offerings First a small introduction written by Shamar Rinpoche, then Refuge and Bodhicitta; afterwards there is the contemplation of the Four Immeasurables and the preparation of the offerings. During the recitation of the offering-cloud-dharani (page 2) just think everyone that all the offerings you can think of multiply in space, that they fill all space to invite the Buddha. They all gather around this wonderful throne, the whole sky is filled with offering-goddesses and so on and then the Buddha will be invited. (Page 2/3) It is easy to imagine, the visualisation is just here (the Thangka in the barn) We will imagine now that countless emanations of ourselves and countless offering-deities are prostra-ting in front of the Buddha and are presenting all these limitless offerings to him. In this way we are creating a great accumulation of merit. (Page 5) And then there is the Mandala-offering which includes all the other offerings. (Page 5) Then we recite the confession and the rest of the seven-branch-prayer. (Page 6) And this is now the mantra of Buddha Shakyamuni: TEYATA, OM MUNI MUNI MAHA MUNI SHAKYA MUNAYE SOHA The recitation of the mantra will be the main part of the practice. We will recite this and at the same time we will be developing our deep mental absorption and also our understanding of impermanence and non-self. The refuge dissolves into us and we practise tonglen. Do it as softly as possible: breathing in, opening your mind, opening, receiving, accepting and with breathing out sharing, giving. – Breathing in – breathing out with all the softness of our heart. – We are opening up for the suffering which is in this world, all the confusion; truly opening up to it and receiving it in our heart. – And from the heart we let our support go out to truly give help in this world of confusion. – In-breath – out-breath. – And then we conclude the practice with thanksgiving-offerings and praises. (Page 7)

* * * Ich weiß nicht, ob euch das so aufgefallen ist, aber was mich berührt hat, ist, dass man mit dieser Pra-xis – speziell mit dem Mantra von Buddha Shakyamuni – so unglaublich leicht in die Zuflucht hinein-finden kann. Ich weiß nicht, ob ihr das spüren konntet, ob es für euch einen Unterschied macht zu anderen Mantras. Wenn ihr etwas darüber, was ihr bei der Praxis erlebt habt, sagen wollt, würde ich mich sehr freuen. In the beginning of this practice I could feel many, many beings coming. I was surprised and I feel al-most the presence of Francois. I am not sure if he was there but there was a feeling like this, I could feel many, many beings coming. For me it was very astonishing. I found the mantra extremely soothing, very nice with a great opening as well.

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Durch das Mantra war die Zuflucht sehr, sehr präsent so wie Du es gesagt hast, und beim Tonglen hatte ich das Gefühl, dass ich mich ausbreite mit dem Atem in die ganze Welt. Ich hatte das Gefühl, dass Buddha Shakyamuni da war – ganz groß, ganz leuchtend, sehr präsent. Er hat den Raum ganz ausgefüllt. Für mich war sehr schön, diese Sanftheit des Mantras zu spüren, aber da ich selber so viel Tschenresi praktiziere, ging das für mich nicht so in die Tiefe wie mit OM MANI PEME HUNG, an das ich so gut gewöhnt bin. Für mich war es sehr einfach, ganz leicht, in Kontakt mit Buddha Shakyamuni zu treten. Ich habe ihn sehr präsent gefühlt, was mir häufig so geht. Es war leicht, mit dieser Praxis sofort geistige Ruhe zu erleben in ihrer Ausgeglichenheit. Die Haltung mit Mitgefühl beim Tonglen kam ganz spontan – nicht mit dem Kopf sondern wirklich vom Herzen. Ich habe etwas ganz Weiches und ganz Weites gespürt, etwas mit ganz weiten, sanften Wellen, etwas, das mir geholfen hat, dass der Geist selber ganz weit wurde und sich ausdehnen konnte. Könnt ihr den Unterschied machen zwischen einen Gott anbeten und Vertrauen in Buddha Shakya-muni zu haben? Könnt ihr Shakyamuni als einen Spiegel für euren eigenen Geist erleben? Wenn wir Buddhas Shakyamuni als Stütze für eine Praxis benutzen, dann ist es nicht, um ihn in einen Superman zu verwandeln, in einen Gott, den man anbeten kann, der alles kann. Er war ein Mensch, er hat als Mensch gelebt und wollte auch Beispiel sein dafür, dass – wenn man in der Zukunft an ihn denkt – es jedem von uns möglich ist, den Weg zu gehen. Das ist für ihn das Wichtigste – dass man nicht meint, er wäre vom Geist her anders gewesen und ihm wäre etwas möglich gewesen, was uns nicht möglich ist.

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Die Vier Unermesslichen

Liebe Lasst uns einige tiefe, sanfte Atemzüge nehmen, die Art von Atem, die uns gut tut, ein Atem, mit dem wir uns gut um uns selbst kümmern. – Lasst uns so einatmen und ausatmen, dass es uns das größte Wohl bringt, so heilsam, wie es auch nur geht. – Lasst uns jetzt den ersten grenzenlosen Gedanken in unser Herz nehmen: Mögen alle Wesen glücklich sein und die Ursachen des Glücks besitzen. Das ist der Gedanke der Liebe. – Jetzt werden wir es genauso machen, wie der Buddha es beschrieben hat: Mit jedem Ein- und Ausat-men schicken wir liebevolle Gedanken in die Richtung vor uns, zu all den Lebewesen, die in diese Richtung des Universums leben. Möget ihr alle glücklich sein und die Ursachen des Glücks besitzen. Voller Liebe denken wir das. – Und jetzt schicken wir dieselben Gedanken der Liebe, des Glücks, in die Richtung hinter uns. Ganz bewusst, mit jedem Ein- und Ausatmen schicken wir unsere Gedanken als Lichtstrahlen zu all den Le-bewesen, die im Universum in der Richtung hinter uns leben. – Jetzt schicken wir Gedanken der Liebe in die Richtung nach rechts hinaus, zu all den Lebewesen, die zu unserer rechten Seite leben. – Mit jedem Ein- und Ausatmen schicken wir unsere liebevollen Gedanken aus. Möget ihr alle glücklich sein. – Und jetzt zu unserer Linken, zu all den Lebewesen, die links von uns im Universum leben. –

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Nachdem wir Gedanken der Liebe in die vier Hauptrichtungen geschickt haben, richten wir uns jetzt auf den Bereich über uns aus, zu all den Lebewesen, die über uns sind. – Und jetzt zu allen Lebewesen, die unter uns weilen, in den Bereichen des Universums in der Richtung unter uns. – Einatmend und ausatmend sind wir wie eine Sonne ohne Mittelpunkt, die in alle Richtungen aus-strahlt. In alle Richtungen zugleich strahlt die Liebe aus. – Mögen alle Lebewesen in allen Universen zutiefst glücklich sein. – Lasst uns einfach weiteratmen in der Liebe. – This is what the Buddha called the first immeasurable, the absorption in limitless love. Are you ready for more; are you ready for the second one? So, if you are ready for the second one, then please don’t force yourself, never force yourself. Any of these practices of compassion and loving kindness, let it come from within and it will come naturally, it will be such a joy to do it. Whenever you feel you have reached some limits just come back to normal breathing, just simply being there enjoying the others who are doing their practice and just continue breathing normally.

Mitgefühl Lasst uns mit uns selbst beginnen … einatmen – ausatmen. – Und wir sagen zu uns selbst: Mögest du frei sein von Leid und von den Ursachen des Leides. – Und tief lassen wir dieses Mitgefühl in uns hinein fließen und all die Orte des Leidens in uns beruhi-gen. – Sodass unser ganzer Körper von liebevollem Mitgefühl erfüllt ist. – Dann füllen wir in die Richtung des Universums vor uns mit diesen mitfühlenden Gedanken: Möget all ihr Lebewesen frei von Leid und den Ursachen des Leides sein. Und wir öffnen uns ganz tief und spüren zugleich, wovon sie alles frei zu sein versuchen. – Wir spüren die Leiden und machen Wünsche zu ihrer Auflösung zur selben Zeit. – Und dann gehen wir in die Universen hinter uns und füllen sie mit leuchtenden Gedanken des Mit-gefühls. – Dann öffnen wir uns für all die Wesen auf unserer rechten Seite und schicken ihnen unsere mitfüh-lende Unterstützung. – Dann öffnen wir uns für die Lebewesen zu unserer Linken und schicken ihnen das Licht des Mitge-fühls. – Und dann die Lebewesen über uns, die nach Lösungen für ihr Leid suchen, nach einem Ausweg. Mö-get ihr alle frei von Leid und dessen Ursachen sein. – Und dann die Lebewesen unter uns, die ebenfalls enormes Leid erfahren. Möget ihr alle frei von Leid und dessen Ursachen sein. – Die Gedanken des Mitgefühls strahlen in alle Richtungen aus, in alle Richtungen des Universums zu-gleich, ohne dass da jemand wäre, der sie erzeugen würde. – Erfüllt von Mitgefühl atmen wir weiter. Einatem – Ausatem. – Das hat der Buddha als zweites Brahmavihara unterrichtet, als das Aufgehen in den Zuständen der Reinheit. Das ist leicht, eine leichte Meditation. Seht ihr, wo die Wurzeln des Tonglen sind? Ich weiß nicht, ob ich euch zumuten kann, die anderen beiden auch noch zu machen? Ich hatte Mühe, das ganze Universum, alle Lebewesen einzubeziehen. Ich habe mir dann gesagt: ‚Ich fang einfach einmal mit denen an, die um mich herum sitzen und verspreche, dass ich alle einschließen werde, sobald ich dazu fähig bin.’ Ja, das stimmt. Ich glaube, es geht vielen so. Jedenfalls hat das dazu geführt, dass man in unserer Linie bei den Praxisanleitungen mit einzelnen Lebewesen anfängt und das dann allmählich ausweitet. Aber der Buddha hat es einfach so unterrichtet, alle Lebewesen auf einmal. Ich war so traurig und habe dann versprochen – ich habe mich verpflichtet gefühlt – das zu machen, auch wenn ich es dann doch nicht schaffe heute Abend. Ich musste das versprechen …

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Weil die alle warteten, ne? [lacht] Was mich gekitzelt hat, das kam nur so im Nebensatz, in dem du gesagt hast, ‚ohne dass es entsteht und so’. Super, ja. Oder ‚es strahlt aus, und es ist nicht entstanden.’ Es ist natürlich so ein Kapitel, das nicht nur in dieser Meditation vorkommt, sondern überhaupt. Und das hab ich natürlich noch nicht im Griff. Ja! Ja, dann wird es nämlich grenzenlos, wenn es keinen Mittelpunkt mehr hat, wenn es kein Ich mehr hat, das meint, es müsste lieben und mitfühlend sein, sondern dass das einfach da ist und alles füllt, ohne dass es jemanden gibt, der diese Gedanken besitzt oder erzeugt. Ich hab dann, als du gesagt hast ‚ohne Mittelpunkt’, Karmapa ins Herz gesetzt. Ist das jetzt ein Aufschieben oder ein Sich-Drücken-Wollen? Es war dann sofort ganz leicht. Ja, das ist eine gute Zwischenlösung. Ich wollte innerlich ein wirkliches Gefühl von Liebe spüren. Um es dann in alle Richtungen strömen zu lassen, war für mich notwendig es zuerst zu fühlen, wie wir es auch an den Nachmittagen tun, wenn wir uns die Güte Buddha Shakyamunis z.B. vorstellen. Das Ausstrahlen war dann wirklich, es war nicht einfach nur ein Gedanke. Und ich habe zuerst auch das Bild meiner Kinder und wirklicher Leute genommen, um das Licht zuerst dort hin zu schicken. Die anderen Richtungen gingen dann leichter. Ja, sehr gut! Ich muss schon zugeben, dass ich das nicht sehr pädagogisch gemacht habe. Ich habe nach ein paar sanften Atemzügen mit sich selbst direkt mit der Meditation angefangen, ohne viel Vor-bereitung. Das war halt einfach so, und ich hoffe, dass ihr eure Lösungen gefunden habt, damit umzu-gehen und euch damit zurecht zu finden. Frage: Kannst du noch etwas zum Verhältnis zwischen Weisheit und Mitgefühl sagen? Also mir ist es jetzt recht schwer gefallen, Mitgefühl zu entwickeln, das ist einfach nicht so passiert. Das war aber dann auch kein Problem für mich. Aber ich habe mir dann die Frage gestellt, ob es vielleicht daran lag, dass ich mich die letzten Tage sehr stark auf den Weisheitsaspekt konzentriert habe. Ich habe ge-merkt, dass ich sehr stabil sitze, dass der Geist auch ruhig wurde, aber mit Mitgefühl ist es noch nicht so einfach. Kann schon sein, dass das damit zusammenhängt, dass der Geist so auf das Entwickeln von Weisheit ausgerichtet war. Das ist auch ein bisschen der Grund, warum ich dann heute Abend sowie auch Frei-tag Abend schon einfach ein bisschen Liebe, Mitgefühl mit euch praktiziert habe, um einen Ausgleich zu schaffen. Die tibetischen Meister nennen das ‚damit das Herz befeuchtet wird’, die Weisheit alleine kann ein bisschen trocken sein. Und man nennt das ‚das Herz befeuchten’, so dass es wirklich frucht-bar wird, dass Weisheit und Mitgefühl zusammenkommen. Denn nur mitfühlende Weisheit ist interes-sant in dieser Welt. Eine Weisheit ohne Mitgefühl ist nicht besonders hilfreich. Deswegen machen wir Übungen, die beides fördern. Frage: Mir ist die Übung jetzt nicht schwer gefallen. Ich glaub, ich war gerade in der richtigen Stim-mung. Aber was sagen die Meister darüber, was bei den Wesen von dem ankommt, was wir da aus-strahlen? Gibt es Wesen, die da empfänglich sind? Es gibt Meister, die offenbar die Höllenbereiche aufsuchen können. Sie sagen, dass solche liebevollen Gedanken wie Lichtstrahlen sind, die in die dunklen Bereiche des Leidens eintreten. Hier und da gibt es Höllenwesen, die gerade in einem empfangsbereiten Moment sind und sich für einen Moment für diese Liebe oder das Mitgefühl öffnen können. Für die kann das den entscheidenden Unterschied aus-machen. Aber es ist sehr schwer, in diese Bereiche zum Beispiel mit Liebe und Mitgefühl hinein zu kommen, weil die Wesen so in sich gefangen sind. Aber hier und da gibt es welche, die dafür offen sind. Das gilt auch für die anderen Bereiche, auch für die Hungergeister. Es gilt aber in besonderem Maße für die Geistwesen, die im Bardo sind, für die Geruchsesser, dann die menschennahen Wesen wie Shidaks, Sadaks, Nagas. Für all diese Wesen gilt es in ganz besonderem Maße, sie bekommen das

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sofort mit, wenn Menschen Liebe und Mitgefühl praktizieren und werden davon erreicht. Je verwand-ter also ihre Erlebnisbereiche dem Erlebnisbereich der Menschen sind, desto mehr bekommen sie da-von mit. Und je weiter entfernt sie sind, desto schwieriger ist es sie zu erreichen. Aber es wird berich-tet, dass die Auswirkungen selbst bis in die Höllenbereiche gehen können. Reicht das dir so als Ant-wort? Frage: Diese Meditation zu machen, war sehr leicht für mich. Aber was ich bemerkt habe: Am Anfang war ich wirklich sehr, sehr müde, beinahe erschöpft, und am Ende war ich voller Energie und sehr offen und glücklich.

Freude Verbinden wir uns mit der Freude in unserem Herzen – ganz einfach; die Freude da zu sein, die Freude den Dharma zu kennen; die Freude an all dem Guten, was es auch gibt in dieser Welt. – Die Freude Musik zu hören, egal, wie betrunken der Spieler ist. – Eins ist klar, es gibt eine Person, der es auf jeden Fall Freude macht, das ist der Spieler dieser Musik. Wir freuen uns mit. Wir freuen uns mit an all den einfachen Freuden in der Welt. Wir freuen uns an allem in der Welt, an allem was Menschen und andere Wesen in die Offenheit führt. Mögen sie alle von Freude erfüllt sein, mögen alle Lebewesen von Freude erfüllt sein. Mögen sie alle diese Freude erfahren, die frei ist von Leid, die nicht mit Leid verbunden ist. – [Lachen im Raum] Und wir schicken unsere Freude nach vorne, nach hinten, nach rechts und nach links und nach oben und nach unten. Wir atmen in der Freude und freuen uns an der Freude und freuen uns an aller wahren Freude, die es überall irgendwo im Universum gibt. – [allgemeines Gelächter im Raum in Intervallen] Soviel ist sicher, die Freude ist nicht ernst. Atmet und schickt es raus in alle Richtungen, alle Richtun-gen des Universums. – [allgemeines Gelächter im Raum] Es ist so einfach die anderen zu erfreuen. – Wir haben hier ein kleines Jagdhaus da oben in Les Rochette. Die Jäger treffen sich dort nachmittags und jetzt hat es offenbar einen begnadeten Musiker unter ihnen. Es hat sogar zwei und der eine lernt vom anderen, und immer, wenn sie ein bisschen außer Puste sind, dann trinken sie noch einen. Dann kommen sie wieder raus und üben weiter, dann trinken sie noch zwei, und dann kommen sie wieder raus und üben weiter, und zum Schluss des Abends sind sie richtig in Form.

* * * Lasst uns sanft atmen, aber bei vollem Gewahrsein. – Einatem, Ausatem. – Mit Liebe im Herzen – Annehmen, Sanftheit im Herzen. – Lasst uns die Liebe finden, die unser Erbe ist, unsere wahre Natur. Die Liebe ist unsere wahre Natur. Sie zeigt sich, wenn unser Herz sich entspannt, wenn es sich öffnet. – Liebe kann einfach da sein und braucht nicht einmal ein Gegenüber. Sie braucht auch keinen Mittel-punkt, sie kann einfach so da sein. – Erlauben wir dieser Liebe, uns ganz und gar zu füllen. Alle Zellen bis in die Poren der Haut werden von dieser Liebe durchtränkt. – Die Liebe geht über die Poren hinaus, außerhalb des Körpers, in alle Richtungen des Universums. – Wir stellen uns als Erstes vor, dass die Gedanken der Liebe vor uns den Raum füllen. Mögen alle We-sen glücklich sein, wirklich glücklich sein! – Jetzt stellen wir uns vor, dass die Liebe alle Wesen erreicht, die im Universum hinter uns sind – ein-fach so, ohne irgendetwas zu wollen, einfach nur Liebe, die alles erfüllt. – Und die Liebe strahlt zu unserer Rechten aus, sie geht zu all den Lebewesen, die zur rechten Seite in all den Universen weilen. – Und dann geht sie zu all den Lebewesen zu unserer Linken. –

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Wir stellen uns vor, dass die Liebe zunächst diesen Saal füllt und dann den Saal verlässt. Dann füllt sie das kleine Dorf Croizet, die Combraille, die Auvergne und geht immer weiter. Sie erfüllt auch den Himmelsraum über uns und dann auch alles unter uns. – Ohne irgendwelche Absichten füllt die Liebe alle Richtungen, so wie eine Sonne, die ausstrahlt. – Verbindet den Geist noch tiefer mit dieser Liebe, mit jedem Einatem und Ausatem, sodass die Liebe unser ganzes Bewusstsein ausfüllt und somit auch das gesamte Universum. – Jeder Atemzug ein Atem der Liebe ohne Grenzen. – Djampa thaye – grenzenlose Liebe. –

Gleichmut Gleichmut durchdringt Liebe, Mitgefühl und Freude, das ist kein trockener Gleichmut, das ist ein war-mer Gleichmut. Und aus Gleichmut heraus lässt sich handeln, wunderbar sogar. Versuchen wir einmal, diese Qualität des Gleichmutes in unserem Herzen zu spüren. – Gleichmut bedeutet zu allererst die Situation, die jetzt gerade ist, so anzunehmen wie sie ist, ohne vor ihr davon zu laufen und ohne sie gleich ändern zu wollen. … Wir können sie ändern und würden das dann gleichmütig tun. … Es ist eine tiefe Gelassenheit im Herzen, ein tiefes Gelöstsein. – Es gibt keine Hoffnung und keine Furcht. – Liebe, frei von Hoffnung und Furcht, Mitgefühl frei von Hoffnung und Furcht, Freude frei von Hoff-nung und Furcht – frei von Anhaften und Ablehnen. – Lasst uns dieses Gefühl des Gleichmutes den gesamten Körper erfüllen, ein tiefes Akzeptieren, dass die Dinge jetzt gerade so sind. – Der Gleichmut vertieft sich, wenn wir sehen, dass alle Phänomene ephemerer Natur sind, unbeständig, ohne jegliche Substanz. Wenn wir das Verständnis der Leerheit aller Erscheinungen in alle Richtungen ausdehnen, so dass es unser gesamtes Bewusstsein erfüllt, dann ist das grenzenloser Gleichmut. –

* * * Um Gleichmut zu verstehen, ist wichtig, dass wir nicht in den Irrtum fallen, es hätte was mit dem zu tun, was wir heute stoischen Gleichmut nennen. Das wäre ein Missverständnis der griechischen Stoi-ker, die nie sagen wollten, dass man etwa unbeweglich sitzen, alles ertragen, nichts verändern sollte. Dabei wird man quasi in die Unbeweglichkeit hinein reduziert. Das hat nichts mit Gleichmut zu tun. Gleichmut bedeutet frei zu sein von emotionalen Reaktionen, frei zu sein von Haften und von Abnei-gung. Und das ist die beste Handlungsgrundlage, die wir uns überhaupt nur denken können. Nur die gleichmütige Liebe ist echte Liebe. Nur das gleichmütige Mitgefühl ist echtes Mitgefühl, ist authen-tisch im Sinne von Liebe und Mitgefühl der Erwachten. Alles andere ist sehr menschlich, aber immer noch vermischt mit Anhaftung und Ablehnung und des-wegen ist es noch nicht das, was wir das Erwachen nennen. Falls ihr Bemerkungen oder Fragen habt, seid ihr herzlich willkommen. Du hast gesagt, dass wir hineinfühlen sollen, wie sich der Gleichmut anfühlt, und ich habe keinen Un-terschied in der Qualität bemerkt zur Kontemplation und bei Entwicklung von Liebe. Hm, interessant. Und was hast du für einen Schluss daraus gezogen? Das alles sind Qualitäten, die im Geist sind. Vielleicht gibt es deswegen keinen Unterschied? Was haltet ihr davon? Ich habe deutlich gespürt, dass ich keine Liebe ohne Freude haben kann und dass Gleichmut eigent-lich die natürliche Verlängerung von Liebe ist, die natürliche Fortsetzung. Aber um wirklich Gleich-mut zu spüren, hätte ich dann noch etwas loslassen müssen, aber ich war noch nicht bereit, das loszu-lassen.

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Ich habe beim Verströmen von Liebe recht viel gespürt, dagegen beim Verströmen von Gleichmut ei-gentlich relativ wenig und habe dann aber schon gemerkt, dass ich darüber ein bisschen traurig wur-de. Das ist eben auch kein Gleichmut, das weiß ich. Aber es war halt so. Hm, ja. Hast du eine Erklärung dazu? Also ich vermute mal, dass ich lieben schon besser kann als gleichmütig sein. In meiner Erfahrung ist Liebe so was wie stabile Offenheit und Gleichmut offene Stabilität. Ja! Danke vielmals! Ich bin mit riesiger emotionaler Unruhe gesessen und dachte schon daran, aufzustehen und hinaus zu gehen. Aber dann habe ich doch versucht, zu praktizieren und irgendwie ist diese Spannung explodiert und verschwunden, ich weiß gar nicht wann. Es war eine sehr starke Erfahrung. Und dann war es leichter zurück zum Gleichmut zu kommen, den ich während der Sitzungen vorher ein wenig gespürt habe. Das Auflösen des emotionalen Zustandes geschah während der Kontemplation von Liebe? Ja. Und als Schlussfolgerung: Ich denke, es wäre einfacher die Vier Unermesslichen vor der Atem-Meditation zu praktizieren, und es wäre mit diesem Gleichmut dann leichter den Atem zu beobachten. Ich denke Offenheit ist ein Synonym für Gleichmut. Ich fühlte mich so sehr weit und danke dir für die Praxis. Ich danke dir für den Austausch! An manchen Stellen hat der Buddha empfohlen, die Vier Unermess-lichen zu praktizieren, bevor man sich in Samadhi übt. Er rät da genau das, was du gesagt hast. Für mich ist bei dieser Meditation über Gleichmut wieder eine Erinnerung wach geworden von einem Geisteszustand, den ich einmal erfahren durfte, wo sich das Gefühl eines eigenen Bewusstseins aufge-löst hat in eine Erfahrung von goldenem Licht, von großer Offenheit. Und das habe ich seither nie mehr erfahren. Aber das ist für mich das, was ich am ehesten mit Gleichmut verbinde. Was du erlebt hast, ist tatsächlich Gleichmut. Wirklichen Gleichmut zeichnet aus, dass dieses Gefühl, ein Bewusstsein zu haben, aufhört – mein Bewusstsein. Das löst sich auf, weil sich diese Ichbezogen-heit auflöst und so stark verfeinert, dass man nicht mehr das Gefühl von einer eigenen Bewusstheit hat. Für mich waren die Meditationen gestern und heute Abend gleichzeitig sehr einfach und sehr tief. Wir rezitieren diese Vier Unermesslichen so oft, aber es ist so wohltuend, einfach diese Erfahrung in der Meditation zu finden, wirklich auf sie zu meditieren und nicht einfach nur die Silben auszusprechen sondern ihren wirklichen Sinn zu finden und sich in sie hinein zu vertiefen. Ich rezitiere diese Sätze manchmal gemeinsam mit meinem Sohn und ich denke, dass es auch möglich sein wird, eine Art Meditation zu machen, weil es irgendwie von Herz zu Herz geht, sehr direkt und tief. Danke für die Meditation! Ja! Danke Buddha! Ich konnte gestern gar nicht so in die Meditation der Liebe eintauchen. Heute ging das ganz gut, manchmal habe ich mich wirklich wie so eine Sonne gefühlt. Aber dann kam überraschend eine enor-me Langeweile mit dem Wunsch, dass das endlich aufhört. Dann war ich wieder Sonne, und dann war wieder Langeweile. So ging das ein bisschen hin und her. Und als ich versucht habe, über den Gleich-mut zu meditieren, kam es vor allen Dingen zu Erinnerungen des mangelnden Gleichmuts in der Ver-gangenheit, wo ich aus Angst und aus anderen Emotionen heraus gehandelt habe. Da war ich also mehr im Intellektuellen, im Begrifflichen.

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Ich glaube, dieser Mechanismus ist uns allen vertraut. Es ist uns zwar möglich uns auf so eine Medita-tion einzulassen, aber dann kommt leicht die Revolte, wo wir etwas anderes wollen, weil wir diese Güte im Herzen nicht mehr aushalten. Das wird uns zuviel Honig, wir müssen da aussteigen. Es wird uns zu süß und wir möchten dann entweder ganz neutral sein oder einfach mal „grr!“ machen, damit wir uns wieder normal fühlen. Gestern war das auch ganz stark, als wir diese Praxis miteinander gemacht haben. Ich habe mich immer wieder einmal gefragt, „Na, wie weit kann ich noch gehen, wie viel halten sie noch aus? Was kann ich ihnen noch zumuten?“ Es braucht wirklich eine Menge Übung, um in dieser Güte des Herzens längere Zeit verweilen zu können, ohne dass starke Querschläge rein-kommen. Aber ich nehme an, dass es für euch viel leichter ist als für andere Menschen, weil die meis-ten von euch auch viel auf Tschenresig und dergleichen praktiziert haben. Dass Gedanken an vergangene Erfahrungen auftauchen, wo eine bestimmte Qualität abwesend war, ist ganz normal. Wenn man ein neues Feld betritt, eine Qualität auskundschaftet, dann kommt immer auch das Gegenstück, es kommt stärker ins Bewusstsein, wo du abwesend warst oder abwesend bist. Ich hatte bei der Meditation auf den Gleichmut das Gefühl, dass ich Bedarf habe, mich wieder in die-ses Verständnis des Wandels rein zu fühlen, dass ich mich eben nicht irgendwo verhafte und damit ir-gendwo auch aufsitze. Ja, das hängt zusammen. Immer wenn ich mit der Übung anfange – hier mit der Geistesruhe – muss ich mich auch davor zuerst an Wandel, Vergänglichkeit erinnern, wahrscheinlich um eine Motivation zu haben. Sind die Vier Brahmaviharas denn auch wirklich die Vier Unermesslichen? Ja, das sind sie. In welcher Relation stehen Bodhicitta und die Vier Brahmaviharas? Es ist wie das Versprechen, in allen zukünftigen Leben die Vier Brahmaviharas zu praktizieren. „Ich werde niemals damit aufhören! Aufgrund der Vier Brahmaviharas werde ich eine Geburt nach der anderen auf mich nehmen bis alle Lebewesen befreit sind!“ Deshalb sind sie grenzenlos. Als ich hier angekommen bin, war mein Geist ziemlich zu. Ich war grantig, enttäuscht, usw. Bevor ich in den Tempel ging, habe ich mich draußen hingelegt, den Himmel beobachtet und mir dabei ge-wünscht, dass mein Geist so weit und offen wie der Himmel werden möge. Aber nichts ist passiert, der Himmel war immer noch sehr weit, aber mein Geist hat sich überhaupt nicht verändert. Aber schließlich hat mich diese Übung, einfach nur die Augen zu schließen und deinen Anleitungen zu folgen, in einen anderen Zustand versetzt. Es war keine Anstrengung damit verbunden etwas tun zu müssen, sondern was vorher zu war ging plötzlich auf. Das war ein sehr angenehmes Gefühl, aber dann sind Kommentare aufgestiegen über die Tatsache, dass wir Glück haben wollen aber die meisten Wesen nur Leiden erfahren. An diesem Punkt wurde mein Herz mehr oder weniger geknickt. Der Kommentator sagte: „Mögen sich die Dinge so entwickeln, dass die Wesen glücklich sind!“ Es war also Hoffnung da aber auch die Furcht, dass die Wesen weiterhin leiden und gleichzeitig war das ge-mischt mit der Unterweisung zu ‚keine Hoffnung und Furcht’ – wir praktizieren Wünsche und hoffen darauf, dass sie eines Tages in Erfüllung gehen. Und bei der Meditation auf Gleichmut war es so, als ob ein Schalter gedrückt worden wäre, es war ein Gefühl von Vibrieren, nichts sonst. Ja, es wird wichtig sein für uns, herauszufinden, wie wir lieben können ohne Hoffnung und Furcht. Wie können wir liebevolle Wünsche haben, ohne uns z.B. in der Hoffnung zu verfangen, dass alle Lebewesen möglichst schnell erleuchtet sein mögen und in der Angst, dass sie es nicht sein werden? Wie können wir uns auf ein Ziel ausrichten, ohne in Hoffnung und Furcht zu verfallen, und wie kön-nen wir lieben, ohne in Hoffnung und Furcht zu verfallen? Die erste Übung könnte sein zu lernen, ohne Hoffnung und Furcht von hier nach dort zu gehen – beim Gehen nicht schon beim Ziel zu sein, sondern sich nur die Richtung zu geben, aber beim Gehen trotz-dem im Moment zu bleiben. Es ist das Gleiche mit der Liebe, die alles Gute wünscht – man ist im

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Lieben nicht im Ziel verhaftet, sondern bleibt auch da im Moment, in der Erfahrung des Jetzt, in der mittelpunktslosen Erfahrung des Jetzt. Na ja, aber … ja, das ist [lacht] Dharma! Es wäre schön, wenn wir das gerade so umsetzen könnten, aber das ist die Kunst der großen Bodhisattvas, die haben das gelernt.

* * * Mögen alle, die diese Unterweisungen lesen, mit ihrem Atem verbunden sein und den Weg zum Erwachen leicht gehen können. SARWA MANGALAM