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108 | Pharmazie in unserer Zeit | 30. Jahrgang 2001 | Nr. 2 D ie charakteristischen Spätschäden von Typ I und II sind in Tab. 3 dargestellt. Die Art der Spätschäden und das damit möglicherweise verbundene letale Ende sind je nach vorliegendem Diabetes-Typ unterschiedlich und in der Tabelle nach Häufigkeit fallend geordnet. Dabei fällt auf, dass beim Typ-I-Diabetes bevorzugt Mikroangiopathien, beim Typ II (der häufiger vorkommt) dagegen Makroan- giopathien auftreten. Angiopathien sind strikt an die nicht ausreichend ver- miedene Hyperglykämie gekoppelt, wobei allerdings un- terstützend andere metabolische, Umwelt- und genetische Faktoren eine Rolle spielen.Zur Vermeidung von langfristi- gen Schäden sollte der Blutglukose-Wert in engen Grenzen gehalten werden. Der Harnzucker ist als Kontrollkriterium nicht geeignet, da die Nierenschwelle Alters- und Tages- zeitabhängig ist und mit ihrem Wert von ca.160 – 180 mg/dl Blutglukose sehr hoch liegt; sie ist hauptsächlich zum Scre- ening auf noch unentdeckte Diabetiker geeignet. Die Grenzwerte für Blutglukose sind enger gefasst: nüchtern 6,1 mM (= 110 mg/dl), 2 Std. postprandial 10,0 mM (= 180 mg/dl). Schadensrelevant ist für eine Retinopa- thie (s.u.) ein Grenzwert von 100 mg/dl. Mikroangiopathien Bei den Mikroangiopathien unterscheiden wir Retinopa- thien, Neuropathien und Nephropathien. Der möglicher- Risikofaktor Hyperglykämie Langzeitkomplikationen schlecht eingestellter Diabetiker E. J. V ERSPOHL Mit der Einführung von Insulin sind zwar akute Stoffwechsel- entgleisungen, z.B. Ketoacidose, als Todesursache drastisch zurückgegangen, dafür haben Spätschäden zugenommen (Abb. 1). Die Lebenserwartung des Diabetikers ist um ca. 1/3 reduziert, unabhängig vom Zeitpunkt der Diagnose. Die Odds ratio — der Faktor, der die erhöhte Wahrscheinlichkeit für eine Erkrankung angibt — ist in Tab. 1 angegeben. In Tab. 2 ist die Mortalität des Diabetikers bei zusätzlichen Erkrankungen dar- gestellt. In der St. Vincent-Deklaration verpflichteten sich 1989 die Unterzeichner, auch Deutschland, die Zahl der Spät- schäden drastisch zu reduzieren. Danach sollten Nierentrans- plantationen und Retinopathien um 30 % und Makroangiopa- thien um 50 % innerhalb von fünf Jahren reduziert werden. Dieses Ziel konnte nicht eingehalten werden. Myokardinfarkt Männ.: 3,7; Fr.: 5,9 Apoplex 2 – 4 Erblindung 5,2 Niereninsuffizienz 12,7 Amputation der unteren Extremitäten 22,2 – 45 Fußulcera vielfach TAB. 1 ODDS RATIOS FÜR KOMPLIKATIONEN glatte Gefäß- muskelzellen Verdickung der Basalmembran (limitierte Vasodilatation) erhöhte Thrombozyten- aktivierung verbrauchtes freiliegendes Endothel gesteigerte Diffusion Hyperfiltration Austritt von Albumin transkapillar Ladungsbarriere und Endothel zerstört verstärkte Aggregation von Erythrozyten ABB. 2 PATHOMECHANISMUS DER ENTSTEHUNG EINER MIKROANGIOPATHIE Verschiedene Effekte wie eine verdickte Basalmembran oder verstärkt synthetisiertes Kollagen Typ IV führen zu einer Be- einträchtigung der Vasodilatation. Ein erhöhter Blutfluss an einer präkapillaren Vasodilatation führt schließlich zu einer verstärkten Aggregation von Erythrozyten

Langzeitkomplikationen schlecht eingestellter Diabetiker: Risikofaktor Hyperglykämie

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Page 1: Langzeitkomplikationen schlecht eingestellter Diabetiker: Risikofaktor Hyperglykämie

108 | Pharmazie in unserer Zeit | 30. Jahrgang 2001 | Nr. 2

Die charakteristischen Spätschäden von Typ I und IIsind in Tab.3 dargestellt.Die Art der Spätschäden und

das damit möglicherweise verbundene letale Ende sind jenach vorliegendem Diabetes-Typ unterschiedlich und in derTabelle nach Häufigkeit fallend geordnet. Dabei fällt auf,dass beim Typ-I-Diabetes bevorzugt Mikroangiopathien,beim Typ II (der häufiger vorkommt) dagegen Makroan-giopathien auftreten.

Angiopathien sind strikt an die nicht ausreichend ver-miedene Hyperglykämie gekoppelt, wobei allerdings un-terstützend andere metabolische, Umwelt- und genetischeFaktoren eine Rolle spielen. Zur Vermeidung von langfristi-gen Schäden sollte der Blutglukose-Wert in engen Grenzen

gehalten werden. Der Harnzucker ist als Kontrollkriteriumnicht geeignet, da die Nierenschwelle Alters- und Tages-zeitabhängig ist und mit ihrem Wert von ca.160 – 180 mg/dlBlutglukose sehr hoch liegt; sie ist hauptsächlich zum Scre-ening auf noch unentdeckte Diabetiker geeignet.

Die Grenzwerte für Blutglukose sind enger gefasst:nüchtern 6,1 mM (= 110 mg/dl), 2 Std. postprandial 10,0mM (= 180 mg/dl). Schadensrelevant ist für eine Retinopa-thie (s.u.) ein Grenzwert von 100 mg/dl.

MikroangiopathienBei den Mikroangiopathien unterscheiden wir Retinopa-thien, Neuropathien und Nephropathien. Der möglicher-

Risikofaktor Hyperglykämie

Langzeitkomplikationenschlecht eingestellter DiabetikerE. J. VERSPOHL

Mit der Einführung von Insulin sind zwar akute Stoffwechsel-entgleisungen, z.B. Ketoacidose, als Todesursache drastischzurückgegangen, dafür haben Spätschäden zugenommen(Abb. 1). Die Lebenserwartung des Diabetikers ist um ca. 1/3reduziert, unabhängig vom Zeitpunkt der Diagnose. Die Oddsratio — der Faktor, der die erhöhte Wahrscheinlichkeit für eineErkrankung angibt — ist in Tab. 1 angegeben. In Tab. 2 ist dieMortalität des Diabetikers bei zusätzlichen Erkrankungen dar-gestellt. In der St. Vincent-Deklaration verpflichteten sich1989 die Unterzeichner, auch Deutschland, die Zahl der Spät-schäden drastisch zu reduzieren. Danach sollten Nierentrans-plantationen und Retinopathien um 30 % und Makroangiopa-thien um 50 % innerhalb von fünf Jahren reduziert werden.Dieses Ziel konnte nicht eingehalten werden.

Myokardinfarkt Männ.: 3,7; Fr.: 5,9Apoplex 2 – 4Erblindung 5,2Niereninsuffizienz 12,7Amputation der unteren Extremitäten 22,2 – 45Fußulcera vielfach

TA B . 1 O D DS R AT I OS F Ü R KO M PL I K AT I O N E N

glatte Gefäß-muskelzellen

Verdickung derBasalmembran

(limitierteVasodilatation)

erhöhteThrombozyten-

aktivierung

verbrauchtesfreiliegendes

Endothel

gesteigerteDiffusion

Hyperfiltration

Austritt vonAlbumin

transkapillar

Ladungsbarriereund Endothel

zerstört

verstärkteAggregation von

Erythrozyten

A B B . 2 PAT H O M EC H A N I S M U S D E R E N T S T E H U N G

E I N E R M I K ROA N G I O PAT H I E

Verschiedene Effekte wie eine verdickte Basalmembran oderverstärkt synthetisiertes Kollagen Typ IV führen zu einer Be-einträchtigung der Vasodilatation. Ein erhöhter Blutfluss aneiner präkapillaren Vasodilatation führt schließlich zu einerverstärkten Aggregation von Erythrozyten

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D I A B E T E S - L A N G Z E I T K O M P L I K A T I O N E N | K L I N I S C H E PH A R M A Z I E

weise zugrundeliegende Pathomechanismus bei der Ent-stehung der Mikroangiopathie (Abb. 2) liegt in einer Ver-dickung der Basalmembran, verbunden mit einer erhöhtenSynthese von Kollagen Typ IV und von Glykosylierungs-produkten (s.u.). Gleichzeitig kommt es über eine präka-pillare Vasodilatation zu einem erhöhten Blutfluss und ei-ner verstärkten Aggregation von Erythrozyten an ver-brauchtem, freiliegendem Endothel.Die Menge an negativerLadung an der Außenseite der Membran z.B. in Form vonHeparansulfat nimmt in der Basalmembran ab: Dadurchkann der Austritt von Proteinen, zum Beispiel von Albumin,nicht mehr ausreichend verhindert werden (Hyperfiltra-tion). Die Ladungsbarriere und das Endothel sind zerstört;es tritt eine Gewebshypoxie auf.

Als funktionelle Störungen kommt es zu rheologischenund hämodynamischen Störungen, z.B. in Form einer Ag-gregationssteigerung von Erythrozyten, Störung der Plätt-chenfunktion mit dem Auftreten von Mikrothromben, dererhöhten Produktion von Willebrand-Faktor und EDRF(Endothelium derived relaxing factor) aus Endothel-Zellen.Die Erhöhung der Kapillarpermeabilität ist an dem be-schleunigten Verlust von injiziertem Fluoreszein (Auge) undan der Mikroalbuminurie (Niere) zu erkennen.

RetinopathienBei einer Retinopathie handelt es sich um eine nicht ent-zündlich bedingte Netzhauterkrankung.Die Prävalenz siehtfolgendermaßen aus: junger Typ-I-Diabetiker > Insulin-be-handelter Diabetiker > älterer Typ-II-Diabetiker. Eine Reti-nopathie ist praktisch nicht in den ersten fünf Jahren derErkrankung vorhanden und steigt mit der Diabetesdauer.25 % weisen eine Retinopathie nach 15 Jahren mit 3 % Zu-wachs pro Jahr auf. Unterschieden werden die präprolife-rative Retinopathie und die proliferative Retinopathie [Zunahme der Zahl von Blutungen, Kapillar-Neubildung,

(schädliche) Gefäßneubildung, Ablösung der Retina (eineabgelöste Retina überlebt nur 2 Wochen)].Die Konsequenzmuss sein: jährliche Diagnostik, spätestens ab 5 Jahren nach Beginn der Diabetes-Diagnose.

Der Retinopathie liegt der obige Mechanismus (Ver-dickung der Basalmembran von Kapillaren) zugrunde, derBlutfluss in der Retina wird verstärkt, es kommt zu Mikro-aneurysmen und Glaskörper-Blutungen. Die insgesamtschlechte Versorgungslage führt zur Sprossung von Ge-fäßen, für die Wachstumsfaktoren wie z.B.IGF-1, „fibroblastgrowth factor“ und VEGF („vascular endothelial growth fac-tor“) verantwortlich sind.

1900 1920 19400

10

20

30

40

50

60

Häufigkeit[%]

1960

Nephropathie

HerzArteriosklerose

Ketoacidose

Insulin

A B B . 1 I N Z I D E N Z D I A B E T E S - A S S O Z I I E R T E R

E R K R A N KU N G E N

Mit Einführung von Insulin 1923 sank die Inzidenz Ketoacido-se rapide, allerdings stieg die Anzahl der Nephropathien undvor allem der Herz-Arteriosklerosen an.

TA B . 2 M O R TA L I T Ä T B E I Z U S Ä T Z L I C H E N E R K R A N KU N G E N

( E R H Ö H U N G U M FA K TO R X )

Alle Herzerkrankungen 9,1 2,3Zerebrovaskuläre Erkrankungen 4,1 2,0Pneumonie und Grippe 7,6 1,7Chronisch-obstruktive Lungenerkrankungen 2,5 0,8Chron. Lebererkrankungen und Leberzirrhose 4,8 2,3Nephritiden und nephrotische Erkrankungen 41,2 1,9(nach Moss et al., 1991)

Diagnose Diagnose vor nachdem 30. Lebensjahr

6.7– 11.1–0

10

20

30

40

Retinopathien[%]

13.3– 15.8– 18.3–

2-Stunden-Kapillarblutzucker [mmol/l]

(2 Std. nach Belastung)

aktuell 5 Jahre später

A B B . 3 R E T I N O PAT H I E H Ä U F I G K E I T B E I E R H Ö H T E M

B LU T Z U C K E R S PI EG E L Retinopathiengelten als eineder wesentlichenSpätfolgen einesschlecht einge-stellten Diabetesmellitus. Die Inzi-denz steigt mitder Zeit und mitder Blutzucker-konzentration.

TA B . 3 S P Ä T S C H Ä D E N U N D L E TA L E S E N D E

( T Y P I U N D I I )

Urämie (Nephropathie) MyokardinfarktErblindung (Retinopathie) Hirnschlag

Myokardinfarkt nicht-renale diabet. Komplik.

Typ I Typ IIMikroangiopathie Makro- und Mikroangiopathie

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110 | Pharmazie in unserer Zeit | 30. Jahrgang 2001 | Nr. 2

TA B . 4 D I AG N OS T I S C H E K R I T E R I E N V E R S C H I E D E N E R V E R L AU F S -

FO R M E N D E R PE R I PH E R E N D I A B E T I S C H E N N E U RO PAT H I E *

Subklinische Neuropathie • Pathologische quantitative neurophysiologischeTests (Vibratometrie, quantitative Thermästhesie,Elektroneurographie), weder Beschwerden nochklinische Befunde

Chronisch-schmerzhafte • Schmerzhafte Symptomatik in Ruhe (symmetrisch Neuropathie (häufig) und nachts zunehmend): Brennen, einschießende

oder stechende Schmerzen, unangenehmes Kribbeln

• Sensibilitätsverlust unterschiedlicher Qualitätund/oder beidseits reduzierte Muskeleigenreflexe

Akut-schmerzhafte • Symmetrische Schmerzen an den unteren Extre-Neuropathie (eher selten) mitäten und eventuell auch im Stammbereich ste-

hen im Vordergnund. • Eventuell zusätzlich Hyperästhesie • Kann mit Beginn bzw. Intensivierung einer Insu-

lintherapie assoziiert sein (“Insulinneuritis”)Geringe Sensibilitätsstörungen an den unteren Ex-tremitäten oder normaler neurologischer Untersu-chungsbefund

Schmerzlose Neuropathie • Fehlende Symptome bzw. Taubheitsgefühlund/oder Parästhesien

• Reduzierte oder fehlende Sensibilität bei fehlendenMuskeldehnungsreflexen (insbesondere ASR)

Diabetische Amyotrophie • Progredienter, zumeist asymmetrischer Befall derproximalen Oberschenkel- und Beckenmuskulaturmit Schmerzen und Paresen

Langzeitkomplikationen der • Neuropathische Fußläsionen, z. B. Fußulcera mit distal-symmetrischen unterschiedlichem PenetrationsgradPolyneuropathie • Diabetische Osteoarthropathie (Charcot-Fuß)

• Nicht-traumatische Amputation*(nach den “Guidelines for the diagnosis and outpatient management of diabetic peripheral

neuropathy"; Boulton et al., 1998)

Verlaufsformen Diagnosekriteriender Neuropathie

a) In dem Fluoreszein-Farbstoff-Angiogramm markieren die Pfeile ein Areal, indem keine Versorgung mehr stattfindet.

b) Oben sind Abschnitte mit einer Gefäßsprossung deutlicherkennbar.

A B B . 4 | FLUORESZEIN-FARBSTOFF-ANGIOGRAMM EINER RETINOPATHIE

Die Abb. 3 zeigt die klare Abhängigkeit der Retinopa-thiehäufigkeit von der Höhe der Glukosespiegel und derDauer der schlechten Einstellung des Patienten. Man gehtvon ca. 4000 – 7000 Erblindungen im Jahr aus. In Abb. 4asind die erhöhte Kapillarpermeabilität (Fluoreszein-Farb-stoff-Angiogramm) und ein Areal durch Pfeile gekenn-zeichnet, in dem keine Versorgung mehr stattfindet. In dergleichen Abbildung (4b) sind Abschnitte mit einer Gefäß-sprossung deutlich erkennbar. Maßnahmen zur Behandlung(Verhinderung des Fortschreitens) einer Retinopathie be-inhalten eine gute Einstellung des Diabetes, eventuell Al-dose-Reduktase-Hemmstoffe (Sorbinil, Ponalrestat), Laser-Photokoagulation und eine chirurgische Anheftung der Retina.

Unter pathophysiologischen Gesichtspunkten und we-gen einer möglichen therapeutischen Intervention ist dersog.Sorbitolweg interessant, der durch das SchlüsselenzymAldose-Reduktase reguliert wird (Abb. 5). Er tritt nur beinicht ausreichendem Funktionieren der üblicherweise ab-laufenden Glykolyse auf, was schon an dem unphysiolo-gisch hohen Km-Wert der Aldose-Reduktase für Glukose von100 mM zu erkennen ist.Das entstehende Sorbitol ist schäd-lich, weil es zur Quellung z.B. der Linse, zu weiteren Au-genschäden, zur Verdickung der Basalmembran und zumVerlust von Perizyten (Adventitia-Zellen) (in der äußerenBlutgefäßschicht) führt. Ein gesteigerter Blutfluss der Reti-na tritt auf; Gefäße erweitern sich dort, wo Perizyten feh-len, was zur Endothelschädigung und Mikroaneurysmenmit Blutungen führt. Plasmalipide und -proteine treten aus,es bilden sich Lipid-reiche, harte Exsudate und Ödeme,gerade im Makula-Gebiet. Aldose-Reduktase-Hemmstoffewie Sorbinil und Ponalrestat sind im Tierversuch zwar pro-

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Nr. 2 | 30. Jahrgang 2001 | Pharmazie in unserer Zeit | 111

D I A B E T E S - L A N G Z E I T K O M P L I K A T I O N E N | K L I N I S C H E PH A R M A Z I E

1. Umsatz im Polyolstoffwechsel steigt, Akkumulation vonSorbitol und Fructose, Myo-Inositol sinkt, Aktivität derNa+/K+-ATPase sinkt, Veränderung der Expression vonPKC-lsoenzymen

2. Akkumulation von Glykierungsendprodukten (AGEs) anNerven- u/o Gefäßwandproteinen

3. Metabolismusstörungen von n-6 essentiellen Fettsäurenund PGs

4. Vaskuläre Schäden mit Hypoxie, oxidativem Stress (sog. „hyperglykämische Pseudohypoxie”)

5. Störung des Neurotrophismus mit Mangel (verminderterExpression) von Faktoren (NGF, NT-3, IGF)

6. Immunprozesse und inflammatorische Veränderungen

Symptome • Ulcus (an Druckpunkten: Sohle, Defor-mationspunkt)

• Neuropathie (taub, warm, trocken, Puls tastbar)

• Ischaemie (kalt, ohne Puls)• Infektion (zusätzlich dann wegen schlechter

Abheilung)Empfehlungen • tägliches Waschen

• tägliche Inspektion (Spiegel)• weiches Schuhwerk• vermeiden: heißes Wasser, Barfuß, Selbst-

behandlungWorauf achten• Schwellung

• Farbveränderung am Nagel• Schmerzen (besonders pulsierende)• harte, verdickte Haut, Brüche in Haut

TA B . 6 | D I A B E T I S C H E R F U S S

TA B . 5 W E I T E R E D E TA I L S Z U R PAT H O B I O C H E M I E

D E R D I A B E T I S C H E N N E U RO PAT H I E

Diagnosekriterien sind in Tab. 4 zusammengefaßt. Amputa-tionen der Extremitäten sind häufig notwendig.

Der Neuropathie liegen wahrscheinlich ein gestörterSorbitol-Stoffwechsel, ein erniedrigter Inositol-Stoffwech-sel und eine gehemmte Na+/K+-ATPase-Aktivität zugrunde(Abb.6). In diesem Zusammenhang ist interessant, dass dasC-Peptid, ein vermeintliches Abfallprodukt aus der Insulin-biosynthese (abgespalten aus Proinsulin in den speichern-den Granula) eine Aktivierung der Na+/K+-ATPase bewirktund möglicherweise in der Zukunft therapeutisch nutz-bringend eingesetzt werden kann. Weitere Details zur Pa-thophysiologie sind in Tab. 5 zusammengefasst.

Das Thema autonome Neuropathie betrifft nicht nurdie Diabetologie, sondern findet auch zunehmende Beach-tung in der Kardiologie als Risikoerkrankung. Da die kar-diovaskuläre autonome Neuropathie (KAN) mit einfachenHerz-Kreislauf-Tests diagnostisch gut erfasst werden kann,bildet sie die Leiterkrankung für diabetische Langzeitschä-den am autonomen Nervensystem. Die Letalität ist für Dia-betiker mit KAN ungefähr um das Fünffache erhöht.Das kli-nische Zeichen der KAN ist die Ruhetachykardie und eineorthostatische Hypotonie mit einer eingeschränkten oderaufgehobenen zirkadianen Rhythmik des Blutdruckverhal-tens bei einer 24-Stunden-Blutdruckmessung. Ferner sindeine Belastungsintoleranz mit gestörter Blutdruckanpassungund Veränderungen im EKG vorhanden. Für die Angabe ei-ner optimalen Therapie gibt es derzeit keine Langzeitstu-dien. Frühzeitige Störungen können auch sein: Thermo-regulationsstörungen, Impotenz, Blasendysfunktion undStörungen kardiovaskulärer Reflexe. Später auftretendeStörungen umfassen eher lageabhängige Blutdruckernied-rigung und ein vermindertes Empfinden für eine Hypogly-kämie. Als Folge sowohl einer Durchblutungsstörung,schlechter Wundheilung als auch der bei Verletzungen auf-grund der Neuropathie nicht empfundenen Schmerzenkann es sehr leicht zu einem diabetischen Fuß kommen(Tab. 6).

Die Ausfallerscheinungen können trotz einiger Beden-ken nach neueren Untersuchungen (Aladin-Studie, DEKAN-

NeuropathienNeuropathien sind mit sensorischen und motorischen Ein-bußen verbunden. Taubheitsgefühl, Parästhesien („Amei-senlaufen“), chronisch unliebsame Empfindungen, häufigverbunden mit Schmerzen in Beinen und Füßen und Mus-kelschwund können auftreten. Die Verlaufsformen und

NADHNADNADPNADPHADP ATPGLYKOLYSE

Glukose-6-Phosphat

NORMOGLYKÄMIE:

Glykolyse und PPS bevorzugt

HYPERGLYKÄMIE:

Sorbitolweg bevorzugt

PPS

Glukose Sorbitol Fructose

Hexokinase(Km Glukose 10-4 M)

Aldose-Reduktase(Km Glukose 0,1 M)

Sorbitol-dehydrogenase

A B B . 5 | S TO F F W EC H S E LW EG E D E R G LU KOS E

Unter normalen Blutzuckerwerten wird die Glukose bevorzugt von der Hexokinase umgesetzt und in derGlykolyse bzw. im Pentosephosphatweg (PPS) weiter abgebaut. Sobald eine Hyperglykämie vorliegt,kann die Aldose-Reduktase, die im Gegensatz zur Hexokinase einen sehr hohen Km –Wert für Glukose auf-weist, die Glukose über den Sorbitolweg zunächst zum schädlichen Sorbitol verstoffwechseln, was danndurch die Sorbitoldehydrogenase zur Fructose abgebaut wird.

phylaktisch wirksam, können aber ei-ne (meist zu spät) diagnostizierte Re-tinopathie beim Menschen nicht mehrgünstig beeinflussen. Beide Substan-zen sind in wenigen Ländern abernicht in Deutschland zugelassen. Tol-restat ist weltweit wegen hepatotoxi-scher Wirkungen nicht zugelassen.

Eine zu plötzliche Korrektur derHyperglykämie vermindert in schädli-cher Weise den Retina-Blutfluss. MitHilfe einer Laser-Fotokoagulation (Ar-gon-Laser, Xenon-Laser) werden in et-wa der Hälfte der Anwendungen wei-tere Schädigungen aufgehalten oderverhindert.

Page 5: Langzeitkomplikationen schlecht eingestellter Diabetiker: Risikofaktor Hyperglykämie

HYPERGLYKÄMIE

Myoinositol-Aufnahme

Gewebe-Sorbitol

kompetitiveInhibition

Gewebe-Myoinositol

Phosphatidyl-inositol

Gewebe-Na+

Na+-K+-ATPase-Aktivität

Proteinkinase C-Aktivität

Diacyl-glycerol

Inositol-PolyphosphataseCa2+-Mobili-

sierung

A B B . 6 S TO F F W EC H S E L S T Ö R U N G E N B E I

N E U RO PAT H I E

Die Hyperglykä-mie führt zu ei-nem gestörtemSorbitol-Stoff-wechsel, einemerniedrigten Ino-sitol-Stoffwechselund schließlich zueiner HemmungNa+/K+-ATPase-Aktivität. DieseStörungen verur-sachen wahr-scheinlich dieNeuropathie.

112 | Pharmazie in unserer Zeit | 30. Jahrgang 2001 | Nr. 2

Studie) erfolgreich mit α-Liponsäure (Thioctacid , Thio-gamma ) behandelt werden. α-Liponsäure kann aber auf-grund der schlechten Bioverfügbarkeit nur in Form einerInfusion (600 mg täglich) eingesetzt werden. Nach Wochenkann auf eine dreifache perorale Dosis umgestellt werden.

Weitere therapeutische Maßnahmen, für die es nicht in allen Fällen eine Zulassung durch das BfArM gibt, sind inTab. 7 zusammengefasst.

Vorgenommen werden elektrophysiologische Messun-gen der sensorischen motorischen Nerven, eine Thermo-graphie zur Detektion erhöhter Temperaturbereiche auf-grund von Shunts und eine Reflextestung.Becaplermin (Re-granex ) ist ein rekombinanter humaner thrombozytärerWachstumsfaktor (rhPDGF), der kürzlich zur Behandlungvon diabetischen neuropathischen Fußulzera zugelassenwurde. Die Substanz wird 0,01 %ig als Gel auf die Wundeaufgetragen und die Stelle feucht abgedeckt.Die Abheilungerfolgt bei einer gewissen Größe zu 50 % über ca. 20 Wo-chen. Der Wirkstoff verstärkt die chemotaktischen Signaleund fördert die Proliferation von Zellen, die an der Wund-heilung beteiligt sind.Die Wunde muss vor der Behandlunggut von Gewebs- bzw. Zelltrümmern gereinigt sein.

Glukose ist in hohen Konzentrationen ein toxischerStoff, da er sich nicht-enzymatisch (nukleophile Addition)über seine reaktive Aldehydgruppe mit Aminogruppen vonProteinen verbindet (Aldimin-Bildung, früher Schiffsche Ba-se genannt) und die Funktion von Proteinen beeinträchtigt(weitere Details der Reaktion in Abb. 7). Protein-Crosslinksauf Imidazol- und Pyrrolbasis werden aufgebaut. Als inter-pretatorischen Marker wird das glukosilierte Protein der β-Kette des Hämoglobins (HbA1c -Wert) herangezogen, andem man aufgrund der Lebenszeit des Erythrozyten von ca.120 Tagen auch nach einigen Monaten noch „Sünden“ inder Diabeteseinstellung erkennen kann („Langzeitgedächt-nis“).

Der HbA1c-Wert kann auch in der Apotheke bestimmtwerden (DCA 2000 Gerät der Firma Bayer, Kosten ca.6000 DM). Mit diesem Gerät läßt sich auch der Mikroalbu-minurie-Wert bestimmen (siehe unten). In Abb. 8 sind eini-ge Möglichkeiten zur Falschinterpretation der gewonnenenHbA1c-Werte dargestellt.

NephropathieEine Hyperglykämie begünstigt Nierenschäden, wobei inder Frühphase noch eine Hyperperfusion unter Bildung vongefäßdilatierenden Prostaglandinen (PGI2, PGE2) und NO im

Subklinische Neuropathie • Prophylaxe von Fußschäden Chronisch-schmerzhafte Neuropathie • Alpha-Liponsäure

• Antikonvulsiva (Carbamazepin, Gabapentin)

• Antiarrhythmika (Mexiletin)• Capsaicin• Opioide (Tramadol) • Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-

Hemmer• Trizyklische Antidepressiva• Physikalische Therapie

Akut- schmerzhafte Neuropathie • Versuch mit einfachen Analgetika• Weitere Therapie wie bei der chronisch-

schmerzhaften NeuropathieSchmerzlose Neuropathie • Fußpflege (Diabetesschulung),

Krankengymnastik• Prophylaxe von Fußläsionen (orthopädie-

technische Maßnahmen, z.B. Schuhe)Diabetische Amyotrophie • Physikalische Therapie

• Weitere Therapie wie bei der schmerz-haften Neuropathie

TA B . 7 | D I F F E R E N Z I E R T E T H E R A PI E D E R N E U RO PAT H I E

Blutzucker nüchtern 80 - 120 mg/dlBlutzucker nach den Mahlzeiten < 180 - 200 mg/dlHarnzucker negativ (< 15 g/24 h)Aceton im Urin negativSymptomatische Hypoglykämien seltenSchwere Hypoglykämien nieHbA1c < 6,1 - 7,1 %Blutdruck (Mitteldruck) < 100 mg HgCholesterol < 200 mg/dlLDL < 180 mg/dlLDL/HDL < 4Triglyceride < 200 mg/dlKörpergewicht ideal bis 110 %

TA B . 8 | G U T E D I A B E T E S E I N S T E L LU N G

Page 6: Langzeitkomplikationen schlecht eingestellter Diabetiker: Risikofaktor Hyperglykämie

Nr. 2 | 30. Jahrgang 2001 | Pharmazie in unserer Zeit | 113

D I A B E T E S - L A N G Z E I T K O M P L I K A T I O N E N | K L I N I S C H E PH A R M A Z I E

Vordergrund steht, während es in der Spätphase dann zu ei-ner progressiven Abnahme der glomerulären Filtrationsge-schwindigkeit kommt.Die Häufigkeit von Nephropathien istseit Jahrzehnten rückläufig, stellt aber volkswirtschaftlich(Dialyse-Kosten) ein sehr großes Problem dar. Unverstan-den ist, dass 40-50 % der Diabetiker keine Form einerNephropathie entwickeln.Die Häufigkeit liegt bei Typ-I-Dia-betikern, wenn das Diagnosealter < 15 Jahre beträgt, bei 35-40 % nach 15 Jahren, beim Typ-II-Diabetiker bei 3–16 %,aufgrund der häufigeren Typs II aber absolut gesehen höherals bei Typ I. Erinnert werden muss daran, dass Nephropa-thien zu 8 % bei Diabetikern auch nicht-diabetisch bedingtsind. Die Nierenerkrankung ist mit einem 10fach erhöhtenkardialen Risiko verbunden.Bezüglich der Diagnosestellungist die Messung von Blutdruck, glomerulärer Filtrations-rate, Serum-Kreatinin, Harnstoff und Elektrolyten wichtig;der wichtigste Indikator aber ist die Mikroalbuminurie (Ausscheidung von 30 – 300 mg Albumin pro Tag).Die lang-fristigen Maßnahmen umfassen die Verringerung der Insu-lindosis wegen seiner langsameren Elimination bei Nieren-insuffizienz, den nur vorsichtigen Einsatz von Sulfonyl-harnstoffen und Metformin (hier sogar Kontraindikation),eine evtl. Dialysepflicht und die Erwägung einer Nieren-transplantation. Die Blutdruckerhöhung aufgrund des diabetischen Nierenschadens tritt zeitlich später als die Mikroalbuminurie auf und ist daher von nachrangiger diagnostischer Bedeutung.

MakroangiopathienVon den Mikroalbuminurien sind die Makroalbuminuriengetrennt zu sehen. Bei letzterer sind große Gefäße betrof-fen.

Koronar-ErkrankungenHerzerkrankungen stehen bei Diabetikern an erster Stelleder Todesursachen, wenn der Diabetes länger als 30 Jahrebesteht oder der Patient älter als 40 Jahre ist.Das Risiko füreinen Diabetiker, am Herzinfarkt zu versterben, ist in etwaso hoch wie bei einem Nicht-Diabetiker, der schon einen ersten Herzinfarkt überstanden hat. Im Vordergrund stehenHyperlipoproteinämien: Sie beruhen auf einen gestörten Lipidtransport aufgrund einer erhöhten Synthese oder ei-nem verzögerten Abbau von Lipoproteinen, die Choleste-rol und Triglyceride im Plasma transportieren. Die Folgesind Arteriosklerose und Pankreatitis. Ein Insulinmangelführt zu einer verstärkten Lipolyse (Insulin wirkt ja antili-polytisch) mit der Folge einer Erhöhung der Plasma-Lipo-proteinspiegel. Weitere auslösende Grunderkrankungensind Hypothyreose und primäre biliäre Zirrhose. Die chro-nische Blutzuckererhöhung führt zu einer Lipoprotein-Gly-kierung und damit zu einer erhöhten Atherogenität der Li-poproteinfraktion. Glykierte (glykoxidierte) Lipoproteinewirken immunogen.

Der entstehende Schaden ist also letztlich in einem re-lativen Mangel an Insulin, d.h. z.B. auch aufgrund einer Insulinresistenz bei Typ-II-Diabetes, zu sehen. Beim Typ I

steht ein Insulinmangel im Vordergrund, der zu einem ver-stärkten Fettgewebsabbau mit verminderter Triglycerid-Clearance (da die Aktivität der Insulin-sensitiven Lipopro-tein-Lipase vermindert ist) führt, während bei Typ II eineÜberernährung und Adipositas mit gesteigerter Triglyce-ridproduktion dominiert. LDL steigen an, da die Clearancedurch LDL-Rezeptoren aufgrund des Insulinmangels ver-mindert ist (Abb. 9); die HDL-Werte nehmen ab, da eineschnellere Elimination von HDL aufgrund seiner Glykosi-lierung erfolgt. Insulin fördert das Auftauchen von LDL-Re-zeptoren an der Zelloberfläche.

TA B . 9 A L LG E M E I N E H I N W E I S E Z U R V E R M E I D U N G VO N

S P Ä T S C H Ä D E N

Augen Retinopathie, Katarakt, Glaukom, Strikte Blutglukosekontrolle/ periodische Visusstörungen d. Laser-Fotokoagulation, Mikro-Angiopathien, Sorbitol- Vitrektomiemenge nimmt zu

Gefäße Atherosklerose (große Gef.) Strikte BlutglukosekontrolleMikrovask. Krankheiten mit Retinopathie, Nephropathie, abnehmender peripheren Durch-blutung

Nieren Nephropathie d. Sklerose der Strikte Blutglukosekontrolle,Glomeruli evtl. proteinarme Diät/ Dialyse,

Nierentransplant.Nervensystem Neuropathie (motor., sensor.) Strikte Blutglukosekontrolle,

Parästhesien, Impotenz, tägl. Fußkontrolle/Operation,kardiovask. Probleme evtl. Antidepr. oder Neurolept.

Haut Infektionen, Lipodystrophie, Strikte Blutglukosekontrolle,Gewebeschäden: Folge von sorgfältige HygieneSchäden der kleinen Gefäße

Mund Gingivitis, Zahnerkrankung Strikte Blutglukosekontrolle,häufig den Zahnarzt aufsuchen

Wo? Was? Empfehlung/Behandlung

+

Glukose Protein(Aminogruppe)

CH

Schiffsche Base

NH

Amadori Produkt

C O

NH

Amadori Produkt

+

3-Desoxy-D-Glukoson

NCHO +

Elektrophile Pyrrol-Zwischenprodukte

Protein(Aminogruppe)

REVERSIBEL KAUM REVERSIBEL

frühe glykosylierteProdukte

Imidazole

Pyrrole

Glukose-vermittelteProteinver-netzungen

IRREVER-SIBEL

fortge-schrittene

glykosylierteProdukte

O

C

(HCOH)4

H

CH2OH NH2 NH+

(HCOH)4

CH2OH

CH2

(HCOH)3

CH2OH

CH2

C O

(HCOH)3

CH2OH

NH2

R2R1

O

C

(HCOH)2

H

CH2OH

C O

CH2

A B B . 7 | N I C H T E N Z Y M AT I S C H E PROT E I N - G LY KOS Y L I E R U N G E N

Glukose kann sich in hohen Konzentrationen nicht-enzymatisch (nukleophile Addition) über seine reaktive Aldehydgruppe mit Aminogruppen von Proteinen zueiner Schiffschen Base verbinden und dadurch die Funktion der Proteine beein-trächtigen. Letztlich kann es zur Bildung von Protein-Crosslinks auf Imidazol- undPyrrolbasis kommen.

Page 7: Langzeitkomplikationen schlecht eingestellter Diabetiker: Risikofaktor Hyperglykämie

114 | Pharmazie in unserer Zeit | 30. Jahrgang 2001 | Nr. 2

Cerebrovaskuläre ErkrankungenDie oben erwähnten Gefäßschäden können auch in einenSchlaganfall münden.Mit auslösend ist sicher auch ein nichtausreichend behandelter Bluthochdruck.

Die HOPE-Studie (Heart Outcomes Prevention Evaluati-on Study) wurde kürzlich abgebrochen, weil der Vorteilvon Diabetikern durch die Gabe von Ramipril (Delix , Ves-dil ) enorm war: 24 % Risikoreduktion bzgl.vaskulärer Kom-plikationen und 25 % Reduktion der Gesamtmortalität.

Günstig beeinflusst werden auch durch ACE-Hemmstoffedie mikrovaskulären und renalen Komplikationen.

HypertensionEin zu hoher Blutdruck tritt zu 30 % bei Diabetikern auf undist damit doppelt häufiger als bei Nichtdiabetikern.Die Mor-talität ist um das Fünffache gesteigert. Die Grenzwerte sindneu gefasst worden. Die European Diabetes Policy Grouphat 1998 folgende Empfehlungen ausgesprochen: Bei Fehlen einer Mikroalbuminurie sollte der Blutdruck < 135/85 mm Hg betragen, bei Vorliegen einer Mikroalbuminuriesollten Werte von 130/80 mm Hg nicht überschritten wer-den.Die ADA 1996 und die WHO-ISH-Guidelines 1999 emp-fehlen: bei fehlender Nephropathie < 130/85 mm Hg undbeim Vorliegen einer Nephropathie < 125/75 mm Hg. Fürdie Entwicklung des Hochdrucks ist eine Nephropathie ent-scheidend. Deshalb kommt vor der Blutdruckmessung, dieja sehr wichtig ist, die Messung der Mikroalbuminurie (s.o.).Ein Diabetes fördert außerdem die Hypertension über einegesteigerte Na-Retention und einen veränderten Gefäßto-nus. Zu beachten ist der Circulus vitiosus (Abb. 10), durchden sich Hyperinsulinämie und erhöhte Sympathikuswir-kungen immer wieder befördern.

Bei der Behandlung des Blutdrucks eines Diabetikersmüssen solche Arzneistoffe verwendet werden, die Stoff-wechsel-neutral sind (Auflistung nach fallender Wertigkeitin Abb. 11). Auf einen Paradigmenwechsel muß hingewie-sen werden: ß-Blocker haben eine lebensverlängernde Wir-kung und sind daher nicht mehr absolut kontraindiziert beiDiabetikern; aufgrund einer gewissen ß2-Rezeptorblockade

GLYKIERTE HÄMOGLOBINE

1968 erstmals beschriebenseit 1980 zur Routinediagnostik gehörend

"Erinnerungs"-Wert: Ery-Lebensdauer 120 TageVerhinderung einer Nephropathie, wenn < 7,5 - 8%

Falschwerte:

• zu niedrig:

Leberzirrhose

Blutverluste (ak. u. chron.)

hämolyt. Anämie

• zu hoch:

Ery-Überalterung (z.B. Fe-Mangel)

nur angewandt bei ca. 40 %DC 2000 (Bayer; NycoCard, HbA1c (ca. 6 DM/Best.)

A B B . 8 FA L S C H I N T E R PR E TAT I O N E N G E M E S S E N E R

H BA 1 C-W E R T E

Verschiedene Ursachen können dazu führen, dass die gemes-senen HbA1c-Werte falsch interpretiert werden.

Gallensalze

nur Leber

Leber oderandere

Gewebe

Darm

Gallensalze

freiesCholesterol

LDL

Cholesterolester

Acetyl-CoA

-

+

HMG-CoAReduktase

LDL-Rezeptor-Synthese

Insulin

-

A B B . 9 | W I R KU N G VO N I N S U L I N AU F D E N F E T T S TO F F W EC H S E L

Noradrenalin-Sensitivität

Glykogenolyse,Glukoneogenese,

Lipolyse

Glukoseaufnahmein Skelettmuskel

(da Verstoffwechselung von FFS)

dennoch:Hyperinsulinämie

kaschiert Hyperglykämie

Katecholamin-wirkung

Sympathikustonus

Insulinresistenz:β-Rez.: Anteil insulinresistenter

Muskelfasernα-Rez.: Vasokonstriktion mit

schlechter Insulinver-sorgung

+

A B B . 1 0 | C I RC U LU S V I T I OS U S D E R H Y PE R I N S U L I N Ä M I E

Vermittelt durch Insulin wird der LDL-Rezeptor auf der Zelloberfläche exponiert,und LDL kann in die Zelle aufgenommen werden. Das freigesetzte Cholesterolhemmt nicht nur die endogene Cholesterolbiosynthese sondern auch die Expressionvon LDL-Rezeptoren

Hyperinsulinämieund erhöhte Sym-pathikuswirkun-gen befördernsich immer wie-der.

Page 8: Langzeitkomplikationen schlecht eingestellter Diabetiker: Risikofaktor Hyperglykämie

Nr. 2 | 30. Jahrgang 2001 | Pharmazie in unserer Zeit | 115

D I A B E T E S - L A N G Z E I T K O M P L I K A T I O N E N | K L I N I S C H E PH A R M A Z I E

können sie den Glukosestoffwechsel beeinflussen und auchdie Warnsymptome vor einer Hypoglykämie in Form vonTremor und Schwitzen kaschieren.

HyperurikämieEine Hyperurikämie hat teilweise einen genetischen Hin-tergrund (gestörte tubuläre Harnsäuresekretion, Emzymde-fekt mit gesteigerter Purinbiosynthese). In der Hälfte derFälle tritt die Erkrankung mit Diabetes, Adipositas, Fettleber,Hyperlipoproteinämie zusammen auf. Sie stellt auch einMerkmal des metabolischen Syndroms dar; der ursächlicheZusammenhang ist aber ungeklärt. Die Therapie der Hy-perurikämie ist beim Diabetiker nicht von der bei Nicht-diabetikern verschieden.

Sonstige VeränderungenMeistens bleiben andere Schäden im Zusammenhang mit ei-nem Diabetes unerwähnt wie z.B. Hautschäden (verdickteHaut, Granulome, Acanthosis nigricans), Knochenschäden(Abnahme der Knochendichte in den ersten fünf Jahren,möglicherweise hervorgerufen durch einen IGF-Mangel),Hypercalciurie (aufgrund des Knochenabbaus), Abnahmevon Mg und Phosphat (aufgrund der Hyperglykämie und ei-ner Ketoacidose) oder verringerten Sexualfunktionen beiMann und Frau.

Rauchen verstärkt die Häufigkeit von Koronarerkran-kungen und anderen makrovaskulären Erkrankungen er-heblich.

In Tab. 8 sind die Zielwerte für eine gute Diabetes-einstellung zusammengefasst. Was in der Fürsorge für

α1-BIockerwirksam;

kein Beweis fürLetalitätssenkung

Antihypertensive Therapie

140/85, besser (falls toleriert) 130/80

nur durch Kombination zu erreichen(Alter, Begleiterkrankungen berücksichtigen)

UKPDSgut Captopril, Atenolol (ß1-selektiv)

alle Komb. geeignet,außer ß-Blocker u. Verapamil oder Diltiazem

(=> bradykarde Rhythmusstörungen)

ACEvor allem wenn gleichzeitig

Herzinsuff. u/o Mikroalbuminurie;CAPPP-Studie: ACE überlegen den

ß-Bl. (Mortalität)

Thiaziddiuretikabei Älteren und milder Hypertension

Korrektur einer verschlechtertendiabetischen Lage: Diät, K-Substitution,

zusätzliche Antidiabetika

bei progredienter Nierenins.: nur nochSchleifendiuretika

ß-Blockerwenn gleichzeitig KHK vorliegt (bewährt beiDiabetikern zur Prophylaxe vor Herzinfarkt)

NW: Maskierung von Hypoglykämie-Symptomen nur ß1-selektive verwenden, da

über ß2 Glukose-Freisetzung gesteuertNW: HDL , Triglyzeride , Insulin-Resistenz ,

evtl. Gewicht , HbA1c(UKPDS)

Ca-Kanalmodulatorennicht kurzwirksame verwenden

unterlegen den ACE-Hemmstoffenaber sinnvolle Ergänzung zu ACE, ß -Block,

DiuretikaAlter: bevorzugt bei systolischer RR-Störung

( 41% Mortalität; 70 % KHK-Mort.)

A B B . 1 1 | A R Z N E I S TO F F E I N D E R A N T I H Y PE R T E N S I V E N T H E R A PI EBei der Behand-lung des Blut-drucks eines Dia-betikers müssensolche Arzneistof-fe verwendetwerden, die Stoff-wechsel-neutralsind.

den Patienten beachtet werden muss, ist in Tab. 9 darge-stellt.

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Der AutorProf. Dr. E. J. Verspohl, geb. 1947 in Hamm. Von1968–1971 Studium der Pharmazie in Münster. Von 1971–1973 Promotion am PharmakologischenInstitut der Uni Düsseldorf über „Radioimmunologi-sche Bestimmung von herzwirksamen Glykosiden“.1974 Edens-Preis der Universität Düsseldorf. Wech-sel zum Lehrstuhl Pharmakologie für Naturwissen-schaftler in Tübingen. 1982 Habilitation für dasFach „Pharmakologie und Toxikologie“ Thema: „In-sulin-Rezeptoren“. 1984 Ernennung zum C2-Profes-sor. Von 1984–1989 mehrjährige USA-Aufenthalte,Physiologisches Institut Univ. San Francisco. Von1987–1990 Vorsitzender der Untergruppe der DPhG (Südwürttemberg-Hohenzollern). 1991 C3-Professor „Pharmakologie für Naturwissenschaftler“in Münster (am Institut für Pharmazeut. Chemie).Seit 1996 Vorsitzender der Untergruppe der DPhG(Westfalen-Lippe). Anschrift: Prof. Dr. E. J. Verspohl, Institut für Pharmazeutische Chemie, Hittorfstr. 58-62, 48149 Münster

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