7
Hautarzt 2011 · 62:308–314 DOI 10.1007/s00105-011-2128-7 Online publiziert: 23. März 2011 © Springer-Verlag 2011 B. Emmert 1  · E. Hallier 2  · M.P. Schön 3  · S. Emmert 3 1  AfB Betriebsarztzentrum Göttingen, Göttingen 2  Abteilung für Arbeits- und Sozialmedizin, Universitätsmedizin Göttingen 3  Abteilung Dermatologie, Venerologie und Allergologie,  Universitätsmedizin der Georg-August-Universität Göttingen Leitlinien in der Dermatologie Umsetzung, Möglichkeiten und  Grenzen am Beispiel der Leitlinie  Management von Handekzemen In der Diskussion Klinisch heterogene Erkrankungen, die auch häufig einer multimodalen Therapie bedürfen, stellen eine Herausforderung für jeden Arzt und das Gesundheitswesen im Allgemeinen dar. In dieser Situation können Leitlinien strukturierte Orientie- rungshilfen bieten. Sie werden von den einzelnen Fachgesellschaften erstellt. Die S1-Leitlinie Management von Handekze- men ist hierfür aufgrund der konsensus- basierten Strukturierung von Klinik und Therapie ein instruktives Beispiel. Leitlinien allgemein Nach international anerkannter Defini- tion sind Leitlinien „systematisch entwi- ckelte Aussagen, die den gegenwärtigen Erkenntnisstand wiedergeben, um Ärzte und andere Gesundheitsberufe sowie Pa- tienten bei der Entscheidungsfindung für eine angemessene Versorgung in spezifi- schen Krankheitssituationen und bei spe- ziellen Gesundheitsproblemen zu unter- stützen“ [5]. Es handelt sich dabei um Orientierungshilfen im Sinne von „Hand- lungs- und Entscheidungskorridoren“, von denen in begründeten Fällen abgewi- chen werden kann oder sogar muss. Leit- linien sind für Ärzte rechtlich nicht bin- dend und haben somit weder eine haf- tungsbegründende noch eine haftungs- ausfüllende Wirkung. Allerdings kann durchaus ein gewisser Rechtfertigungs- zwang resultieren, falls von ihnen abge- wichen wird. In Deutschland wurden bereits 1994 die Arbeitsgemeinschaft der Wissen- schaftlichen Medizinischen Fachgesell- schaften e.V. (AWMF) und ihre Mitglied- gesellschaften vom damaligen Sachver- ständigenrat für die konzentrierte Aktion im Gesundheitswesen aufgefordert, die „gute ärztliche Versorgung“ in Leitlinien niederzuschreiben [13]. Die AWMF, in der derzeit 154 wissenschaftliche Fachgesell- schaften aus allen Bereichen der Medizin zusammengeschlossen sind, ist zusam- men mit der Bundesärztekammer (BÄK) und der Kassenärztlichen Bundesvereini- gung (KVB) Träger des Programms für Nationale Versorgungsleitlinien (NVL), das sich als evidenzbasierte Entschei- dungshilfe für die strukturierte medizini- sche Versorgung (z. B. „Disease Manage- ment“) versteht (www.verorgungsleitli- nien.de). Die Leitlinien der AWMF wer- den von den Fachgesellschaften selbst in unterschiedlicher Form publiziert. Ergän- zend werden sie entweder im Volltext, in einer Kurzfassung oder als Algorithmus im Internet elektronisch publiziert und sind damit allgemein zugänglich unter „AWMF online“. Im Falle der dermatolo- gischen Leitlinien werden diese alle 2 Jah- re in einem Buch veröffentlicht [9]. Das Urheberrecht für die Leitlinien liegt aus- schließlich bei den Autoren(gruppen) der Fachgesellschaften. Darin eingeschlossen ist das Recht der Änderung, Erweiterung und Löschung der Texte. Voraussetzung für die Implementie- rung und den Erfolg einer Leitlinie ist eine hohe methodische Qualität. Wichtige Kri- terien sind neben der Zusammensetzung des Leitliniengremiums die Evidenzbasie- rung mit systematischer Literaturrecher- che und Bewertung sowie die strukturier- te Konsensusfindung, d. h. die klinische Bewertung der Evidenzlage und die Fest- legung der Empfehlungen in einem for- malen, transparenten Prozess. Darauf ba- siert der 3-Stufen-Prozess der Leitlinien- entwicklung, die Leitlinien-Stufenklas- sifikation der AWMF (S-Klassifikation; . Tab. 1,[12]). Mittelfristige und dauer- hafte Lösungen sollten sich der Techni- ken der Entwicklungsstufen 2 oder 3 be- dienen. Leitlinien in der Dermatologie Leitlinien in der Dermatologie sind inte- graler Bestandteil des Qualitätsmanage- ments. Sie werden unter der Ägide der Qualitätssicherungskommission, einer Institution der Deutschen Dermatologi- schen Gesellschaft (DDG), in Zusammen- arbeit mit dem Berufsverband der Deut- schen Dermatologen e.V. (BVDD) erstellt. Sie sollen einfach, d. h. stichpunkt- oder checklistenartig, aber auch umfassend 308 | Der Hautarzt 4 · 2011

Leitlinien in der Dermatologie

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Page 1: Leitlinien in der Dermatologie

Hautarzt 2011 · 62:308–314DOI 10.1007/s00105-011-2128-7Online publiziert: 23. März 2011© Springer-Verlag 2011

B. Emmert1 · E. Hallier2 · M.P. Schön3 · S. Emmert3

1 AfB Betriebsarztzentrum Göttingen, Göttingen2 Abteilung für Arbeits- und Sozialmedizin, Universitätsmedizin Göttingen3 Abteilung Dermatologie, Venerologie und Allergologie, Universitätsmedizin der Georg-August-Universität Göttingen

Leitlinien in der DermatologieUmsetzung, Möglichkeiten und Grenzen am Beispiel der Leitlinie Management von Handekzemen

In der Diskussion

Klinisch heterogene Erkrankungen, die auch häufig einer multimodalen Therapie bedürfen, stellen eine Herausforderung für jeden Arzt und das Gesundheitswesen im Allgemeinen dar. In dieser Situation können Leitlinien strukturierte Orientie-rungshilfen bieten. Sie werden von den einzelnen Fachgesellschaften erstellt. Die S1-Leitlinie Management von Handekze-men ist hierfür aufgrund der konsensus-basierten Strukturierung von Klinik und Therapie ein instruktives Beispiel.

Leitlinien allgemein

Nach international anerkannter Defini-tion sind Leitlinien „systematisch entwi-ckelte Aussagen, die den gegenwärtigen Erkenntnisstand wiedergeben, um Ärzte und andere Gesundheitsberufe sowie Pa-tienten bei der Entscheidungsfindung für eine angemessene Versorgung in spezifi-schen Krankheitssituationen und bei spe-ziellen Gesundheitsproblemen zu unter-stützen“ [5]. Es handelt sich dabei um Orientierungshilfen im Sinne von „Hand-lungs- und Entscheidungskorridoren“, von denen in begründeten Fällen abgewi-chen werden kann oder sogar muss. Leit-linien sind für Ärzte rechtlich nicht bin-dend und haben somit weder eine haf-tungsbegründende noch eine haftungs-ausfüllende Wirkung. Allerdings kann durchaus ein gewisser Rechtfertigungs-

zwang resultieren, falls von ihnen abge-wichen wird.

In Deutschland wurden bereits 1994 die Arbeitsgemeinschaft der Wissen-schaftlichen Medizinischen Fachgesell-schaften e.V. (AWMF) und ihre Mitglied-gesellschaften vom damaligen Sachver-ständigenrat für die konzentrierte Aktion im Gesundheitswesen aufgefordert, die „gute ärztliche Versorgung“ in Leitlinien niederzuschreiben [13]. Die AWMF, in der derzeit 154 wissenschaftliche Fachgesell-schaften aus allen Bereichen der Medizin zusammengeschlossen sind, ist zusam-men mit der Bundesärztekammer (BÄK) und der Kassenärztlichen Bundesvereini-gung (KVB) Träger des Programms für Nationale Versorgungsleitlinien (NVL), das sich als evidenzbasierte Entschei-dungshilfe für die strukturierte medizini-sche Versorgung (z. B. „Disease Manage-ment“) versteht (www.verorgungsleitli-nien.de). Die Leitlinien der AWMF wer-den von den Fachgesellschaften selbst in unterschiedlicher Form publiziert. Ergän-zend werden sie entweder im Volltext, in einer Kurzfassung oder als Algorithmus im Internet elektronisch publiziert und sind damit allgemein zugänglich unter „AWMF online“. Im Falle der dermatolo-gischen Leitlinien werden diese alle 2 Jah-re in einem Buch veröffentlicht [9]. Das Urheberrecht für die Leitlinien liegt aus-schließlich bei den Autoren(gruppen) der

Fachgesellschaften. Darin eingeschlossen ist das Recht der Änderung, Erweiterung und Löschung der Texte.

Voraussetzung für die Implementie-rung und den Erfolg einer Leitlinie ist eine hohe methodische Qualität. Wichtige Kri-terien sind neben der Zusammensetzung des Leitliniengremiums die Evidenzbasie-rung mit systematischer Literaturrecher-che und Bewertung sowie die strukturier-te Konsensusfindung, d. h. die klinische Bewertung der Evidenzlage und die Fest-legung der Empfehlungen in einem for-malen, transparenten Prozess. Darauf ba-siert der 3-Stufen-Prozess der Leitlinien-entwicklung, die Leitlinien-Stufenklas-sifikation der AWMF (S-Klassifikation; . Tab. 1, [12]). Mittelfristige und dauer-hafte Lösungen sollten sich der Techni-ken der Entwicklungsstufen 2 oder 3 be-dienen.

Leitlinien in der Dermatologie

Leitlinien in der Dermatologie sind inte-graler Bestandteil des Qualitätsmanage-ments. Sie werden unter der Ägide der Qualitätssicherungskommission, einer Institution der Deutschen Dermatologi-schen Gesellschaft (DDG), in Zusammen-arbeit mit dem Berufsverband der Deut-schen Dermatologen e.V. (BVDD) erstellt. Sie sollen einfach, d. h. stichpunkt- oder checklistenartig, aber auch umfassend

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sein. Darüber hinaus sollen sie Diagnos-tik, Indikation, Kontraindikation, Thera-pie (einschließlich adjuvanter Maßnah-men) und die Nachbehandlung enthal-ten. Bei der Therapie kann unter Anfüh-rung der für die Therapie empfehlens-werten oder auch nicht empfehlenswer-ten Bedingungen abgestuft werden.

Aktuell sind in Deutschland insgesamt 756 Leitlinien (davon sind 559 S1-Leitlini-en, 121 S2-Leitlinien und 76 S3-Leitlini-en) der verschiedenen Fachgesellschaften mit derzeit 59 Leitlinien zu dermatologi-schen Indikationen im AWMF-Leitlinien-Gesamtindex aufgeführt. Darunter befin-den sich 50 S1-Leitlinien, 6 S2-Leitlinien und 3 S3-Leitlinien zu dermatologischen Erkrankungen. Die Leitlinien der höchs-ten Klasse (S3-Leitlinien) sollen den Qua-litätskriterien wie Validität (Gültigkeit), Reliabilität (Zuverlässigkeit), Reprodu-zierbarkeit, repräsentative Entwicklung, klinische Anwendbarkeit, klinische Flexi-bilität, Klarheit, genaue Dokumentation, planmäßige Überprüfung, Überprüfung der Anwendung und dem Kosten-Nut-zen-Verhältnis genügen [2]. Sie müssen die vorliegenden wissenschaftlichen Er-kenntnisse („evidence“) in ihre Empfeh-lungen explizit einbeziehen. Dazu gehö-ren gesichertes Wissen aus den Grund-lagenfächern, systematisch gesammel-tes Wissen aus Anwendungserfahrungen und Wissen aus den Ergebnissen fachge-recht durchgeführter klinischer Studien. Im Bereich der Dermatologie, u. a. auch in Zusammenarbeit mit anderen Fachge-sellschaften, liegen derzeit S3-Leitlinien zur Psoriasis vulgaris, zur Prophylaxe der venösen Thromboembolie (VTE), Impf-prävention HIV-assoziierter Neoplasien, Typ-2-Diabetes: Präventions- und Be-handlungsstrategien für Fußkomplikatio-nen, Allergieprävention sowie zur Diag-nostik und Therapie des Ulcus cruris ve-nosum vor.

Chancen und Grenzen der Leitlinienumsetzung

Das breite Interesse an medizinischen Leitlinien beruht auf der Tatsache, dass alle Gesundheitssysteme der industriali-sierten Länder mit vergleichbaren Proble-men konfrontiert werden: steigende Kos-ten infolge erhöhter Nachfrage nach Ge-

Zusammenfassung · Abstract

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B. Emmert · E. Hallier · M.P. Schön · S. Emmert

Leitlinien in der Dermatologie. Umsetzung, Möglichkeiten und Grenzen am Beispiel der Leitlinie Management von Handekzemen

ZusammenfassungDie Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaft-lichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) ist in Deutschland die Dachorganisa-tion zur Ausarbeitung, Bewertung und Veröf-fentlichung von medizinischen Leitlinien, die in den 3 Entwicklungsstufen S1–S3 hinsicht-lich ihres formalen Evidenzniveaus („eviden-ce levels“) und der Methode der Konsensus-findung eingeteilt werden. Die momentan 59 dermatologischen Leitlinien werden unter der Ägide der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft erstellt. Ein Beispiel stellt die Leitlinie „Management von Handekzemen“ mit der AWMF-Leitlinien-Register-Nr. 013/053 dar. Diese Leitlinie zeigt die Vorteile von Leit-linien wie der standardisierten Definition be-

stimmter Erkrankungen (oder Erkrankungs-gruppen), der objektiven Schweregradbe-stimmung sowie standardisierter Therapie-algorithmen eindrucksvoll auf. Dies ist insbe-sondere bei schwer zu behandelnden Krank-heitsbildern wie dem chronischen Handek-zem wichtig. Eine konsequente Leitlinien-umsetzung mit frühzeitiger Aufnahme neu-er Therapieverfahren, wie z. B. Alitretinoin zur Behandlung des Handekzems, kann bei Be-troffenen zu einer deutlichen Steigerung der Lebensqualität beitragen.

SchlüsselwörterLeitlinien · AWMF · Qualitätsmanagement · Handekzem · Alitretinoin

Disease management guidelines in dermatology. Implementation, potentials and limitations exemplified by the guidelines for the management of hand eczema

AbstractIn Germany, the “Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachge-sellschaften” (AWMF; consortium of scientif-ic medical societies) constitutes the umbrel-la organisation to conceive, evaluate, and re-lease guidelines. There are 3 stages of de-velopment (S1-S3) according to the evi-dence level and the process of consensus finding. Currently, 59 dermatologic guide-lines have been published under the auspic-es of the Deutsche Dermatologische Gesell-schaft (German Dermatological Society). The guideline for the management of hand der-matitis (AWMF-Register-No: 013/053) is an in-structive recent example. This guideline clear-

ly demonstrates the benefits of guidelines, i.e. standardized definition of heterogeneous diseases and disease severity as well as stan-dardized therapy algorithms. This is especial-ly important in diseases difficult-to-treat like chronic hand dermatitis. The effective imple-mentation of guidelines with early incorpo-ration of new therapies, for example alitret-inoin in the therapy of hand dermatitis, can considerably improve the quality of life of pa-tients.

KeywordsGuidelines · AWMF · Quality of health care · Hand dermatitis · Alitretinoin

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sundheitsdienstleistungen, immer teuerer werdende Technologien und Medikamen-te und alternde Bevölkerungen. Gleichzei-tig sind einerseits Qualitätsschwankungen mit z. T. inadäquater Gesundheitsversor-gung zu beobachten und andererseits der selbstverständliche Wunsch der Patienten bzw. der Leistungsanbieter im Gesund-heitswesen nach einer bestmöglichen Ver-sorgung. Genau darin liegen die Möglich-keiten und Chancen der Leitlinien, zeigen aber auch deren Grenzen auf. Vorrangi-ges Ziel beim systematischen Einsatz von Leitlinien ist eine konsistente und effizi-ente Gesundheitsversorgung auf Grund-lage der besten aktuell verfügbaren wis-senschaftlichen und praktischen Erkennt-nisse [10].

Die Grenzen liegen hauptsächlich in der flächendeckenden Akzeptanz und Anwendung der Leitlinien in der Klinik und Praxis. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass Leitlinien nicht ohne Weite-res von Ärzten bzw. im Gesundheitswesen tätigen Berufsgruppen akzeptiert und be-folgt werden [6]. Dafür gibt es viele Grün-de, die sich – begründet oder nicht – als Hemmschuh erweisen (. Tab. 2). Die Er-klärungsversuche, dass es z. B. an dem für ärztliche Praktiker zu großen Umfang vie-ler Leitlinien, der mangelnden situativen Präsenz, dem zu geringen Bezug auf den individuellen Patienten und dessen Situa-tion, der oft spontane Behandlungsschrit-te ohne Leitlinienabsicherung erfordert, liegen würde, sind zunächst plausibel und nachvollziehbar. Auch liegt ein wesent-liches Hindernis für die breite Anwen-dung von Leitlinien im ärztlichen Alltag in der Befürchtung einer Einschränkung der Therapiefreiheit („Kochbuchmedi-zin“). Zahlreiche Studien und systemati-

Abb. 1 8 Hyperkeratotisch rhagadiformes Handekzem Abb. 2 8 Dyshidrosiformes Handekzem

Abb. 3 9 Sonderfor-men des Handekzems: Fingerkuppenekzem der ersten 3 Finger

Stufe 3

Stufe 2

Stufe 1

TopischeBasistherapie

SystemischeImmunmodulatoren

(Alitretinoin, systemische Gluko-kortikosteroide, Ciclosporin)

Hochpotente Glukokortikosteroide,Alitretinoin, Lichttherapien

Glukokortikosteroide, Calcineurininhibitoren, Keratolytika,Gerbsto�e, antimikrobielle Substanzen, lontophorese

Vermeidung / Reduktion von ursächlichen Allergenen / IrritanzienRückfettung, Rehydratation, Hautschutzmaßnahmen

Trockenheit derHände

LeichtesHandekzem

Mittelschweres undschweres

Handekzem

Chronischrezidivierendes

Handekzem

Abb. 4 8 Stufentherapie des Handekzems entsprechend dem Schweregrad und dem Krankheitsverlauf

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In der Diskussion

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sche Übersichtsarbeiten haben sich da-her mit der Analyse der Ursachen für die augenscheinliche Diskrepanz zwischen der mangelnden Umsetzung in der tägli-chen Praxis und dem Einfluss der Leitli-nien auf die medizinische Versorgung als Schlüsselinstrument zur Qualitätsförde-rung beschäftigt [7]. Grundsätzliche Vor-behalte der Ärzte gegen Leitlinien entste-hen auch aus der Unsicherheit über mög-liche juristische Implikationen von Leitli-nien. Gerade die Bewertung vorliegender Studienergebnisse hinsichtlich ihrer Re-levanz stellt sich häufig als zentrales Pro-blem für die ärztliche Entscheidungsfin-dung im Einzelfall dar, das sich nicht al-lein durch die schematische Anwendung von Tabellen mit „Evidenzgraden“ lösen lässt. Weiterhin sollte das Urteil des er-fahrenen Klinikers im individuellen Be-handlungsfall oberste Priorität haben, da Leitlinien keine Richtlinien sind und auch nicht unbesehen mit dem gebotenen be-rufsrechtlichen Standard gleichgesetzt werden können. Das Sachverständigen-gutachten ist daher bei der Einzelfallbe-urteilung über die Angemessenheit ärzt-licher Vorgehensweisen unerlässlich [15].

Auch bedeutet die breite Nutzung von Leitlinien nicht zwingend eine soforti-ge „Kostendämpfung“ im Gesundheits-system: Einerseits ist die flächendecken-de Implementierung von Leitlinien teu-er, andererseits werden bei erfolgreicher Implementierung von Leitlinien in me-dizinisch unterversorgten Gebieten z. B. im Hinblick auf Diabetikerschulungen die Betreuungskosten pro Patient kurz-fristig zunächst steigen. Als ein geeigne-tes Instrument zur langfristigen Kosten-senkung bietet es sich an, möglichst vie-le Leitlinien der Entwicklungsstufe 1 auf die höchste S3-Entwicklungsstufe, d. h. als Leitlinie mit allen Elementen syste-matischer Entwicklung, zu erweitern. Die oben angesprochenen „Anwendungsbar-rieren“ sind schließlich nur durch eine systematische Leitlinienimplementierung zu überwinden.

Beispiel Leitlinie Management von Handekzemen

Als ein aktuelles Beispiel zu Umsetzung, Möglichkeiten und Grenzen von Leitli-nien in der Dermatologie kann die im No-

vember 2008 erstellte Leitlinie zum Ma-nagement von Handekzemen dienen [4]. Im aktuellen AWMF-Leitlinien-Register ist das „Management von Handekzemen“ in der Register-Gruppe Nr. 013/053 als S1-Leitlinie aufgeführt.

Einerseits stellt das Handekzem auf-grund der typischen Lokalisation, der Chronizität und des häufigen Auftretens ein großes sozioökonomisches Problem dar und ist aufgrund der diagnostischen Problematik v. a. eine therapeutische Her-ausforderung für den behandelnden Arzt. Andererseits beeinträchtigt das Handek-zem erheblich die berufliche und private Lebensqualität der Patienten [3].

Ein wichtiger Beitrag der S1-Leitlinie „Management von Handekzemen“, die von Dermatologen aus Praxen und Kli-niken sowie Berufsdermatologen erstellt wurde [4], liegt in einer bisher nicht da gewesenen einheitlichen und struktu-rierten Klassifikation von Handekzemen [14]. Daraus ergibt sich ein nicht unerheb-licher Nutzen für die Klinik, da das Hand-ekzem keine einheitliche Erkrankung dar-stellt, sondern durch unterschiedliche kli-nische Erscheinungsformen (Morphe, Lo-kalisation) sowie unterschiedliche Ätiolo-gien (häufig multifaktoriell) gekennzeich-net ist.

Drei morphologische Typen des Handekzems wurden in der Leitlinie defi-niert: Das hyperkeratotisch rhagadiforme Handekzem stellt die häufigste Form des Handekzems dar. Häufig sehr schmerz-hafte Rhagaden sowie ein chronisch re-zidivierender Verlauf mit allenfalls gerin-ger Bläschenbildung und Juckreiz zeich-nen es aus (. Abb. 1). Beim dyshidrosi-formen Handekzem entwickeln Patienten kleine, stecknadelkopfgroße, wasserkla-re, stark juckende Bläschen, bevorzugt an den Fingerzwischenräumen (. Abb. 2). Unter den Sonderformen des Handek-zems wurden je nach Morphe und Lo-

kalisation unter anderem das Fingerkup-penekzem (. Abb. 3) und das nummu-läre Ekzem subsumiert. Darüber hin-aus bietet die Leitlinie einen Konsensus-vorschlag für die ätiologische Klassifika-tion von Handekzemen – irritativ-toxisch, (kontakt)allergisch, atopisch (endogen) – sowie zur objektiveren Beurteilung des Schweregrades – leicht, mittelschwer bis schwer, schwer und chronisch rezidivie-rend [4].

Der neben einer Vereinheitlichung der Klassifikation möglicherweise wich-tigste Nutzen der Leitlinie ist die verein-heitlichte Darstellung der mehrschritti-gen Behandlung des Handekzems ent-sprechend dem Schweregrad und dem Krankheitsverlauf [4]. Als Resultat der Konsensusfindung besteht nun die Emp-fehlung einer mehrschrittigen Stufenthe-rapie (. Abb. 4), bei der eine indifferen-

Tab. 1  Leitlinien-Stufenklassifikation der AWMF (S-Klassifikation)

S1-Leitlinie Handlungsempfehlungen einer nichtrepräsentativen Expertengruppe ohne syste-matische Evidenzbasierung und ohne strukturierte Konsensfindung

S2e-Leitlinie Evidenzbasierte Leitlinien einer nichtrepräsentativen Expertengruppe

S2k-Leitlinie Konsensbasierte Leitlinien einer repräsentativen Expertengruppe mit einer struk-turierten Konsensfindung

S3-Leilinie Evidenz- und konsensbasierte Leitlinien einer repräsentativen Expertengruppe mit einer strukturierten Konsensfindung, die auf der systematischen Evidenzbasierung (Literaturrecherche, Studien) aufbaut

Tab. 2  Ursachen für die mangelnde Akzeptanz von Leitlinien [10]

– Unzureichende methodische Qualität

– Unzureichende Aktualität

– Unklare juristische Implikation

– Unsicherheit über die Legitimation

–  Angst vor Reglementierung („Kochbuch-medizin“)

–  Gefühl der begrenzten ärztlichen Hand-lungsfähigkeit

–  Fehlender Praxisbezug der Leitlinienemp-fehlung

–  Widersprüchlichkeit unterschiedlicher Leit-linien

– Orientierungslosigkeit („Leitlinieninflation“)

–  Unzureichende formale Präsentation der Leitlinien

–  Widersprüchlichkeit der Empfehlungen und Studienergebnisse

–  Mangelnde „Erfolgsgarantie“ trotz Leit-linienanwendung

–  Kein unmittelbarer Effekt auf Kostendämp-fung

–  Mangelnde Transparenz möglicher Interes-senkonflikte von Autorengruppen

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te Basistherapie, topische Behandlungen, Lichttherapien und systemische Thera-pien kombiniert werden.

Eine bemerkenswerte Besonderheit bei der Erstellung der Leitlinie „Management von Handekzemen“ liegt sicherlich in der Aufnahme einer neuen Systemtherapie des Handekzems mit Alitretinoin bereits zu einem Zeitpunkt, bei dem diese The-rapie gerade erst spezifisch für diese In-dikation zugelassen wurde. Bereits früh-zeitig wird bei mittelschweren Handek-zemen der Einsatz dieser Systemthera-pie mit Alitretinoin, falls potente topische Kortikosteroide zu keinem Therapieerfolg führten, empfohlen [11]. Dies dokumen-tiert zum einen den großen Bedarf, dem Patienten eine im Vergleich zu den bisher zur Verfügung stehenden Therapieoptio-nen wirksamere Behandlungsoption an-bieten zu können. Zum anderen doku-mentiert diese frühzeitige Aufnahme von

Alitretinoin in die Leitlinie zur Behand-lung von Handekzemen aber auch, dass nach Studienlage diese systemische The-rapieoption als am Erfolg versprechends-ten angesehen ist [8]. Auch die Kostenef-fektivität erscheint günstig [1].

Im Folgenden soll anhand von 2 Fall-beispielen die Praktikabilität und hilfrei-che Anwendbarkeit der Leitlinie im kli-nischen Alltag demonstriert werden. Ein 43-jähriger Motorradmechaniker litt seit Jahren an chronischen Ekzemen bei-der Handrücken. Die Handflächen wa-ren nicht betroffen (. Abb. 5). In der arbeitsfreien Winterzeit kam es zur Ab-heilung, eine Woche nach Arbeitsbeginn im Frühjahr zum Wiederauftreten. Hier konnte man durch strukturiertes Befol-gen der Leitlinie, d. h. klinische Klassi-fikation, diagnostischer Ausschluss von Mykose, epikutanen Sensibilisierungen, Ausschluss serologischer Atopieparame-

ter etc., rasch zur Diagnose subtoxisch kumulatives Handekzem kommen und mit erfolgreicher Empfehlung sekundä-rer Präventionsmaßnahmen, Vermeidung von Triggerfaktoren, Hautschutzmaßnah-men, Rückfettung in Kombination mit lo-kal antientzündlicher Therapie – Stufe 1 nach dem Stufentherapieschema – Abhil-fe schaffen. Ein 23-jähriger Elektriker litt an einem dyshidrosiformen Hand- und Fußekzem, das durch seine starke palmo-plantare Hyperhidrose v. a. an den Füßen durch tägliches Tragen von Sicherheits-schuhen verschlimmert wurde. Auch hier waren die Eigen- und Familienanamnese bezüglich Atopie negativ gewesen, eben-so die mykologische und epikutane Diag-nostik. Er war bereits divers, aber hetero-gen und klinisch nicht zufriedenstellend vortherapiert, u. a. mit indifferenten, aus-trocknenden Maßnahmen, Iontophorese, lokalen Steroiden inklusive Clobetasol,

Abb. 5 8 Reines subtoxisch kumulatives Handekzem. Klinik (Handrücken-befall), negative Allergie- und mykologische Diagnostik sowie Abheilung unter Arbeitskarenz sind hinweisend

Abb. 6 8 Dyshidrosiformes Ekzem, das nur durch leitliniengerechte Be-handlung nach Stufe 3 des Therapieschemas gebessert werden konnte

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In der Diskussion

Page 6: Leitlinien in der Dermatologie

Calcineurininhibitoren (Protopic 0,1%) und Creme-PUVA. Durch eine gleichzei-tige Anwendung dieser Maßnahmen und nach Stufe 3 des Stufentherapieschemas kombiniert mit Alitretinoin (30 mg pro Tag) konnte eine deutliche Befundver-besserung v. a. des den Patienten sehr be-lastenden Fußekzems herbeigeführt wer-den (. Abb. 6).

Heute, etwa eineinhalb Jahre nach der Implementierung der Leitlinie „Manage-ment des Handekzems“ und der Verfüg-barkeit einer neuen, gut wirksamen The-rapieoption, kann konstatiert werden, dass diese S1-Leitlinie als ein instruktives Beispiel zur Dokumentation des Nutzens von Leitlinien angesehen werden kann. Zukünftige Aufgaben werden auch hier in der Verbesserung der flächendecken-den Akzeptanz und Anwendung der Leit-linie in Praxis und Klinik sowie der Wei-terentwicklung der Leitlinie bis auf ein S3-Niveau liegen.

Fazit für die Praxis

F  Leitlinien werden unter dem Dach-verband der AWMF (Arbeitsgemein-schaft der Wissenschaftlichen Medizi-nischen Fachgesellschaften e.V.) von den einzelnen Fachgesellschaften er-stellt. Sie sind rechtlich nicht binden-de Orientierungshilfen.

F  Die Chancen von Leitlinien liegen in einer bestmöglichen Krankenversor-gung bei akzeptabler Kosteneffizienz. Die Grenzen liegen hauptsächlich in der flächendeckenden Akzeptanz und Anwendung in der Praxis.

F  Die S1-Leitlinie „Management von Handekzemen“ hat zu einer einheit-lich strukturierten Klassifikation und einem Behandlungsalgorithmus von Handekzemen geführt.

KorrespondenzadresseUniv.-Prof. Dr. S. Emmert

Abteilung Dermatologie,  Venerologie und Allergologie, Universitätsmedizin der Georg-August-Universität GöttingenVon-Siebold-Str. 3, 37075  Gö[email protected]

Interessenkonflikt.  Der korrespondierende Autor weist auf folgende Beziehungen hin: SE zeigt eine wis-senschaftliche Zusammenarbeit mit Basilea Pharma-ceutica Deutschland GmbH auf Honorarbasis an. Bei den anderen Autoren besteht kein Interessenkonflikt.

Literatur

  1.  Blank PR, Blank AA, Szucs TD (2010) Cost-effecti-veness of oral alitretinoin in patients with severe chronic hand eczema: a long-term analysis from a Swiss perspective. BMC Dermatol 10:4

  2.  Bulletin (1994) Implementing clinical practice gui-delines. Effective Health Care, University of Leeds, No. 8

  3.  Coenraads PJ (2007) Hand eczema is common and multifactorial. J Invest Dermatol 127:1568–1570

  4.  Diepgen TL, Elsner P, Schliemann S et al (2009) Gui-deline on the management of hand eczema ICD-10 Code: L20. L23. L24. L25. L30. J Dtsch Dermatol Ges 7(Suppl 3):S1–S16

  5.  Field MJ, Lohr KN (1990) Clinical practice guideli-nes – directions for a new program. National Aca-demy Press, Washington D.C

  6.  Hasenbein U, Frank B, Wallesch C-W (2003) Die Ak-zeptierung von Leitlinien und Problemen bei ihrer Implementierung. Akt Neurol 30:451–461

  7.  Hasenbein U, Wallesch C-W, Räbiger J (2003) Ärzt-liche Compliance mit Leitlinien. Ein Überblick vor dem Hintergrund der Einführung von Disease-Ma-nagement-Programmen. Gesundheitsökonomie Qualitätsmangement 8:363–375

  8.  Ingram JR, Batchelor JM, Williams HC (2009) Alitre-tinoin as a potential advance in the management of severe chronic hand eczema. Arch Dermatol 145:314–315

  9.  Korting HC, Callies R, Reusch M et al (2009) Derma-tologische Qualitätssicherung. Leitlinien und Emp-fehlungen, 6. Aufl. Abw-Wissenschaftsverlag, Ber-lin

10.  Ollenschlager G (2003) Leitlinien und Qualitätsma-nagement im Gesundheitswesen – Möglichkeiten und Grenzen. Österreichische Krankenhauszeitung 6:29–31

11.  Ruzicka T, Lynde CW, Jemec GB et al (2008) Effica-cy and safety of oral alitretinoin (9-cis retinoic acid) in patients with severe chronic hand eczema ref-ractory to topical corticosteroids: results of a ran-domized, double-blind, placebo-controlled, multi-centre trial. Br J Dermatol 158:808–817

12.  Selbmann H-K, Encke A (2005) Leitlinien: Ste-ter Prozess der Aktualisierung. Dtsch Ärztebl A 102:404–405

13.  Selbmann H-K, Knopp I (2006) Leitlinien im Ge-sundheitswesen: Kompetenzen und Zuständigkei-ten der AWMF. Forum DKG 5:5–8

14.  Werfel T (2009) Classification, trigger factors and course of chronic hand eczema. MMW Fortschr Med 151:31–34

15.  Wienke A (2008) BGH: Leitlinien ersetzen kein Sachverständigengutachten. GMS Mitt AWMF 5:Doc14

Springer-Preis für Dermatologie

2011 hat der Springer-Medizin-Verlag zum 

fünften Mal einen Preis für eine besonders 

interessante und didaktisch wertvolle Origi-

nalarbeit verliehen, die in der Zeitschrift „Der 

Hautarzt“ veröffentlicht wurde.

Springer-Preis für Dermatologie: 2.500 Euro für die beste Originalarbeit

Der mit 2.500 Euro dotierte Springer-Preis 

für Dermatologie wird jeweils an Wissen-

schaftlerinnen und Wissenschaftler verliehen, 

die einen hervorragenden Beitrag auf dem 

Gebiet der Dermatologie geleistet haben. 

Gleichzeitig gilt der Preis als Dank für die 

Treue unserer Autorinnen und Autoren sowie 

als Anerkennung für den hohen theoreti-

schen und wissenschaftlichen Standard der 

Beiträge.

Als Auswahlgremium fungieren die Schrift-

leiter von „Der Hautarzt“: Prof. Jünger,  

Prof. Kapp, Prof. Kaufmann, Prof. Krutmann, 

Prof. Merk, Prof. Meurer und Prof. Ruzicka. 

Möchten Sie einen Originalbeitrag für „Der 

Hautarzt“ einreichen und damit in Zukunft 

eine Chance auf eine Würdigung mit dem 

Springer-Preis für Dermatologie erhalten?

Senden Sie Ihren Beitrag in 3facher Ausfüh-

rung als Papierversion an:

Prof. Dr. Alexander Kapp

Klinik für Dermatologie , Allergologie und 

Venerologie, 

Medizinische Hochschule Hannover

Ricklinger Straße 5

30449 Hannover

[email protected]

In eigener Sache

313Der Hautarzt 4 · 2011  | 

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