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1 Lois Shawver über Sprachspiel, Paralogie und Transvaluation Protokoll eines wegweisenden Seminars Karin Roth Zusammenfassung Was hat postmoderne Therapie und Beratung mit abgerichteten Hunden zu tun und mit Verhexung? Mit dem Aushalten von Paradoxa. Mit Widerstreit. Wie spielt sich ein Spiel ohne AutorIn? Was meint Legitimierung des Wissens durch Paralogie? Was ist der Unterschied zwischen postmodernem miteinander Sprechen und »Zuhören, um zu sprechen«? Und was hat das alles mit (Miß)verstehen zu tun? In diesem Seminarbericht werden zuerst die theoretischen Grundlagen der Transvaluation nach Lois Shawer vorgestellt. Danach wird anhand von Beispielen das Modell selbst präsentiert. Unter anderem Derrida’s différance aufgreifend ist Transvaluation ein Modell, das es Menschen ermöglichen kann, paralysierende Sprachspiele zu verlassen und Halt zu finden in der Haltlosigkeit. Die Lois Shawver’s Denken immanente Wertschätzung der Vielstimmigkeit und die ihrem Modell implizite Entfesselung derselben, ist ein Beitrag zu versöhnender Verständigung im Umgang mit Widerstreit. I. Einleitung Unter dem Titel »Important Concepts and Practices of Postmodern Therapy and Consultation« gestaltete Lois Shawver 1 vom 3.–5. April 2003 ein dreitägiges Seminar in Marburg. Es war das erste sogenannte Forum im Rahmen der Weiterbildung in »Reflexiv systemischer Therapie und Beratung« am Marburger Institut für C-Studien/viisa 2 . Der folgende Artikel ist ein Bericht über dieses Seminar, das in englischer Sprache stattfand und abwechselnd von Klaus G. Deissler, Roswitha Schug, Thomas Keller und Thomas Friedrich übersetzt wurde. Mein herzlicher Dank gilt Lois Shawver für ihre Bereitschaft, diesen Bericht zur Veröffentlichung freizugeben und für ihr Entgegenkommen: sie hat sich diese Zusammenfassung übersetzen lassen, Korrektur gelesen und mir wertvolle Impulse gegeben. Und im Namen der TeilnehmerInnen der Weiterbildung an dieser Stelle ein Danke an das Team des Marburger Instituts, nicht nur für die Organisation der Seminare, sondern vor allem für die Sensibilität in den Weiterbildungen eine Atmosphäre zu schaffen, einen Raum, in dem Paralogie gelebt wird. Die Protokoll-ähnlich belassene Form dieses Berichts ist von mir beabsichtigt. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass möglicherweise wenigstens in Ansätzen etwas von Lois Shawvers Stil deutlich wird, ihre Art, für viele Menschen doch oft abschreckend kompliziert erscheinende Inhalte in verständlicher, anschaulicher Form und Sprache zu präsentieren. 1 Lois Shawver, Ph. D. (USA), ist Gast-Lehrtherapeutin am Marburger Institut für C-Studien. 2 Verband internationaler Institute für systemische Arbeitsformen; siehe http://www.mics.de

Lois Shawver über Sprachspiel, Paralogie und Transvaluation · Der folgende Artikel ist ein Bericht über dieses Seminar, das in englischer Sprache stattfand und abwechselnd von

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Lois Shawver über Sprachspiel, Paralogie und Transvaluation Protokoll eines wegweisenden Seminars Karin Roth Zusammenfassung Was hat postmoderne Therapie und Beratung mit abgerichteten Hunden zu tun und mit Verhexung? Mit dem Aushalten von Paradoxa. Mit Widerstreit. Wie spielt sich ein Spiel ohne AutorIn? Was meint Legitimierung des Wissens durch Paralogie? Was ist der Unterschied zwischen postmodernem miteinander Sprechen und »Zuhören, um zu sprechen«? Und was hat das alles mit (Miß)verstehen zu tun? In diesem Seminarbericht werden zuerst die theoretischen Grundlagen der Transvaluation nach Lois Shawer vorgestellt. Danach wird anhand von Beispielen das Modell selbst präsentiert. Unter anderem Derrida’s différance aufgreifend ist Transvaluation ein Modell, das es Menschen ermöglichen kann, paralysierende Sprachspiele zu verlassen und Halt zu finden in der Haltlosigkeit. Die Lois Shawver’s Denken immanente Wertschätzung der Vielstimmigkeit und die ihrem Modell implizite Entfesselung derselben, ist ein Beitrag zu versöhnender Verständigung im Umgang mit Widerstreit.

I. Einleitung Unter dem Titel »Important Concepts and Practices of Postmodern Therapy and Consultation« gestaltete Lois Shawver1 vom 3.–5. April 2003 ein dreitägiges Seminar in Marburg. Es war das erste sogenannte Forum im Rahmen der Weiterbildung in »Reflexiv systemischer Therapie und Beratung« am Marburger Institut für C-Studien/viisa2. Der folgende Artikel ist ein Bericht über dieses Seminar, das in englischer Sprache stattfand und abwechselnd von Klaus G. Deissler, Roswitha Schug, Thomas Keller und Thomas Friedrich übersetzt wurde. Mein herzlicher Dank gilt Lois Shawver für ihre Bereitschaft, diesen Bericht zur Veröffentlichung freizugeben und für ihr Entgegenkommen: sie hat sich diese Zusammenfassung übersetzen lassen, Korrektur gelesen und mir wertvolle Impulse gegeben. Und im Namen der TeilnehmerInnen der Weiterbildung an dieser Stelle ein Danke an das Team des Marburger Instituts, nicht nur für die Organisation der Seminare, sondern vor allem für die Sensibilität in den Weiterbildungen eine Atmosphäre zu schaffen, einen Raum, in dem Paralogie gelebt wird. Die Protokoll-ähnlich belassene Form dieses Berichts ist von mir beabsichtigt. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass möglicherweise wenigstens in Ansätzen etwas von Lois Shawvers Stil deutlich wird, ihre Art, für viele Menschen doch oft abschreckend kompliziert erscheinende Inhalte in verständlicher, anschaulicher Form und Sprache zu präsentieren.

1 Lois Shawver, Ph. D. (USA), ist Gast-Lehrtherapeutin am Marburger Institut für C-Studien. 2 Verband internationaler Institute für systemische Arbeitsformen; siehe http://www.mics.de

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II. Ludwig Josef Johann Wittgenstein (österreichisch-britischer Philosoph, * Wien 26.4.1889, †Cambridge 29.4.1951) Die meisten »postmodernen Therapien« gründen ihre Arbeit auf Ideen aus dem Spätwerk Wittgensteins. Wittgensteins späte Philosophie sei eine Zurückweisung der früheren/älteren, betont Lois: AnhängerInnen des frühen Wittgenstein denken eher in Zahlen und Einheiten, während Freundinnen und Freunde des späten Wittgenstein sich eher zu postmodernen Denken hingezogen fühlen. Das zentrale Konzept Wittgensteins ist das Sprachspiel, ein oft missverstandenes Konzept, das Lois im Folgenden vorstellt:

"[Nannten die Erwachsenen irgendeinen Gegenstand und wandten sie sich dabei ihm zu, so nahm ich das wahr und ich begriff, dass der Gegenstand durch die Laute, die sie aussprachen, bezeichnet wurde, da sie auf ihn hinweisen wollten. Dies aber entnahm ich aus ihren Gebärden, der natürlichen Sprache aller Völker, der Sprache, die durch Mienen- und Augenspiel, durch die Bewegungen der Glieder und den Klang der Stimme die Empfindungen der Seele anzeigt, wenn diese irgend etwas begehrt, oder festhält, oder zurückweist, oder flieht. So lernte ich nach und nach verstehen, welche Dinge die Wörter bezeichneten, die ich wieder und wieder, an ihren bestimmten Stellen in verschiedenen Sätzen, aussprechen hörte. Und ich brachte, als nun mein Mund sich an diese Zeichen gewöhnt hatte, durch sie meine Wünsche zum Ausdruck.] In diesen Worten erhalten wir, so scheint es mir, ein bestimmtes Bild von dem Wesen der menschlichen Sprache. Nämlich dieses: Die Wörter der Sprache benennen Gegenstände – Sätze sind Verbindungen von solchen Benennungen. – In diesem Bild von der Sprache finden wir die Wurzeln der Idee: Jedes Wort hat eine Bedeutung. Diese Bedeutung ist dem Wort zugeordnet. Sie ist der Gegenstand, für welchen das Wort steht.“ (Wittgenstein)3

Der Text in den eckigen Klammern ist ein Auszug von Augustinus. Es handelt sich bei diesem Zitat um das Eingangszitat aus den Philosophischen Untersuchungen Wittgensteins. Was in dieser Sentenz deutlich wird, ist das sog. westliche Durcheinander4, so Lois, die sog. westliche Art, Sprache zu lernen: Man benennt Dinge und zeigt auf sie. Lois geht durch den Raum und bittet jemanden von uns, ihr durch Benennen und Zeigen Worte beizubringen. Ein Teilnehmer zeigt auf eine Maske an der Wand und sagt »Maske«. Dieses Zeigen, so Lois, ist nicht präzise. Vielleicht hat der Teilnehmer die Farbe der Maske gemeint, oder das Holz? Wir wissen es nicht. Wie lernen also Kinder? Wittgenstein schreibt dazu:

"2. (...) Denken wir uns eine Sprache: Die Sprache soll der Verständigung eines Bauenden A mit einem Gehilfen B dienen. A führt einen Bau auf aus Bausteinen; es sind Würfel, Säulen, Platten und Balken vorhanden. B hat ihm die Bausteine zuzureichen, und zwar nach der Reihe, wie A sie braucht. Zu dem Zweck bedienen sie sich einer Sprache, bestehend aus den Wörtern: »Würfel«, »Säule«, »Platte«,

3 Wittgenstein, Ludwig (1999). Werkausgabe Band 1: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen. 12. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 237. (Alle aus Band 1 der Werkausgabe zitierten Texte in diesem Bericht sind den Philosophischen Untersuchungen Wittgensteins entnommen, S. 225 - 580). 4 Wittgenstein verwendet den Begriff »Wirrwarr« dafür.

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»Balken«. A ruft sie aus; - B bringt den Stein, den er gelernt hat, auf diesen Ruf zu bringen. - Fasse dies als vollständige primitive Sprache auf."5

Wittgenstein verdeutlicht in diesem Zitat, was er »primitives Sprachspiel«6 nennt. Sprache ist kompliziert und zuerst lernen wir »primitive Sprachspiele«: A ruft »Hammer« und B bringt den Hammer, wenn A das Wort ausspricht - das Sprachspiel funktioniert. Aber wie? Wie bringt man einem Hund bei, den Stock zu holen, fragt Lois? Erklären wir dem Hund, was er zu tun hat? Nein. Wir gehen mit dem Hund zu dem Stock, legen ihm den Stock zwischen die Zähne...etc. Wie funktioniert das Sprachspiel? Eine Oma sitzt mit ihrem Enkelkind vor einem Bild, auf dem ein Bär zu sehen ist. Die Oma zeigt auf den Bären und sagt »Bär«. Dies wiederholt sie immer wieder. Das Kind sagt meistens schließlich irgendwann »Bär«, wenn die Oma auf das Bären-Bild zeigt. Und dann ist die Oma überglücklich! Sie hat die Illusion, so Lois, das Kind habe nun gelernt, was ein Bär sei. Dabei habe das Kind der Sprachspiel-Idee zufolge lediglich gelernt, wie dieses Sprachspiel funktioniere. Mehr nicht. Mit anderen Worten: Wenn wir anfangen Sprache zu lernen, kann uns niemand erklären, wie Sprache funktioniert, denn wir haben ja noch keine Sprache. Und diese bräuchten wir, um Erklärungen verstehen zu können. Aus diesem Grund bezeichnet Wittgenstein diesen anfänglichen Prozess des Sprechen-Lernens als »Abrichtung«. Er verwendet in diesem Zusammenhang nicht Begriffe wie »Lehren« oder »Beibringen«, denn diese erscheinen ihm nicht als geeignet, um diesen anfänglichen Prozess des Sprechen-Lernens zu beschreiben. Wenn man ein 2-jähriges Kind lehrt, wie alt es ist, wie macht man das, fragt Lois? Eine Möglichkeit wäre, zwei ausgestreckte Finger zu zeigen. Das Kind lernt dann, zwei ausgestreckte Finger zu zeigen, wenn es nach seinem Alter gefragt wird. Hat das Kind einen mathematischen Begriff von 2 entwickelt? Wittgenstein dazu:

"6. Wir könnten uns vorstellen, dass die Sprache im §2 die ganze Sprache des A und B ist; ja, die ganze Sprache eines Volksstammes. Die Kinder werden dazu erzogen, diese Tätigkeiten zu verrichten, diese Wörter zu gebrauchen, und so auf die Worte des anderen zu reagieren. (...)"7

"7. In der Praxis des Gebrauchs der Sprache (2) ruft der eine Teil die Wörter, der andere handelt nach ihnen; im Unterricht der Sprache aber wird sich dieser Vorgang finden: Der Lernende benennt die Gegenstände. D.h. er spricht das Wort, wenn der Lehrer auf den Stein zeigt. - Ja, es wird sich hier die noch einfachere Übung finden: der Schüler spricht die Worte nach, die der Lehrer ihm vorsagt - beides sprachähnliche Vorgänge. (...)"8

Folgende Zwischenfrage wird gestellt:

5 Wittgenstein, Ludwig (1999). Werkausgabe Band 1: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen. 12. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 238. 6 siehe hierzu auch: Shotter, John (2000). Wittgenstein und die Wurzeln der sozialen Poesie in spontanen Körperreaktionen: Der dritte Bereich. In Klaus G. Deissler & Sheila McNamee (Hrsg.), Phil und Sophie auf der Couch (120 – 129). Carl Auer Systeme Verlag : Heidelberg. 7 Wittgenstein, Ludwig (1999). Werkausgabe Band 1: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen. 12. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 240. 8 ebd., S. 241.

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Heißt dies, dass laut Wittgenstein vor dem Erlernen der verbalen Sprache etwas anderes ist, z.B. die nonverbale Interaktion zwischen Mutter und Kind, das, was sie ohne Wörter miteinander tun? Lois Antwort: Ja, aber Wittgenstein geht nicht näher darauf ein. Wenn wir älter werden, so Lois, wird die Sprache komplizierter, aber sie funktioniert dennoch manchmal noch genauso wie damals, als wir noch Kinder waren und Phrasen wiederholten, ohne viel zu verstehen. Ein Beispiel von Wittgenstein dazu:

"31. Wenn man jemandem die Königsfigur in einem Schachspiel zeigt und sagt »Das ist der Schachkönig«, so erklärt man ihm dadurch nicht den Gebrauch der Figur, - es sei denn, dass er die Regeln des Spiels schon kennt, bis auf diese letzte Bestimmung: die Form einer Königsfigur. (...) Wir können sagen: Nach der Benennung fragt nur der sinnvoll, der schon etwas mit ihr anzufangen weiß. (...)9"

Nur wenn wir z.B. wissen, dass Menschen Namen haben (»primitives Sprachspiel«), können wir die Frage »Wie heißt Du?« stellen bzw. beantworten. Und Schach können wir nur lernen, wenn wir vorher bereits auf bestimmte Weisen abgerichtet wurden. Dieses AbgerichtetWordenSein ist die Grundlage unseres Verstehens. Lois Shawver drückte dies so aus:

„And we can only learn chess once we have had certain pre-chess training. This training prepares us to learn chess much as childhood language training prepares us to think in more complex adult forms.”

"7. (...) Wir können uns auch denken, dass der ganze Vorgang des Gebrauchs der Worte in (2) eines jener Spiele ist, mittels welcher Kinder ihre Muttersprache erlernen. Ich will diese Spiele »Sprachspiele« nennen, und von einer primitiven Sprache manchmal als einem Sprachspiel reden. Und man könnte die Vorgänge des Benennens der Steine und des Nachsprechens des vorgesagten Wortes auch Sprachspiele nennen. Denke an manchen Gebrauch, der von Worten in Reigenspielen gemacht wird. Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das »Sprachspiel« nennen."10

Dieses ist das Zitat, in dem Wittgenstein zum ersten Mal den Begriff »Sprachspiel« benutzt. Vorher spricht er zwar darüber, verwendet aber diesen Begriff nicht. „23. (...) Führe dir die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele an diesen Beispielen, und anderen, vor Augen: Befehlen, und nach Befehlen handeln – Beschreiben eines Gegenstandes nach dem Ansehen, oder nach Messungen – Herstellen eines Gegenstands nach einer Beschreibung (Zeichnung) – Berichten eines Hergangs – Über den Hergang Vermutungen anstellen –

Eine Hypothese aufstellen und prüfen – Darstellen der Ergebnisse eines Experiments durch Tabellen und Diagramme – Eine Geschichte erfinden; und lesen –

9 ebd., S. 254f. 10 ebd., S. 241.

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Theater spielen – Reigen singen – Rätsel raten – Einen Witz machen; erzählen – Ein angewandtes Rechenexempel lösen – Aus einer Sprache in die andere übersetzen – Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen, Beten. (...)“11

Ein Kind muss lernen zu verstehen, was ein Witz ist. Zu Beginn mag es vielleicht denken, ein Witz sei lediglich eine Fiktion oder eine Geschichte. Der Satz »Dieses ist ein Witz« wird für ein Kind erst dann aussagekräftig, wenn es versteht, was ein Witz ist. Mit dem Konzept der »primitiven Sprachspiele« können wir einfache Sprachspiele unterscheiden. Aber wenn wir von »erwachsenen Sprachspielen« sprechen, wird es etwas komplexer, sie sind verwoben und das heißt auch, dass wir immer auf Übung angewiesen sind, so Lois. Dies sei vergleichbar mit Ballett: Die Voraussetzung für das Erlernen komplizierter Tanzschritte ist das vorherige Einüben und erfolgreiche Vollbringen einfacherer Schrittfolgen. Folgende Zwischenfrage wird gestellt: Mir fällt dazu der Begriff »supplement« ein: d.h. Voraussetzungen, Verhandlungen, Ergänzungen – würdest du sagen: ohne supplement kein Verstehen? Lois Antwort: Ja. Stell dir zum Beispiel folgendes vor: In einer Familientherapiesitzung fordert eine Tochter mehr »Freiheit«. Aber wir werden nur vage wissen, was sie damit meint, wenn wir sie nicht folgendes fragen: »Wie viel zusätzliche Freiheit brauchst du und was sind deine Hoffnungen bezüglich der Möglichkeiten, die für dich mit dieser neuen Freiheit verbunden sind? Was wird dir diese neue Freiheit erlauben, zu tun?« Diese Erörterungen, Verhandlungen, Supplemente verschiedenster Art verleihen unseren Verstehensweisen Bedeutung. Wittgensteins Begriff der »Lebensform« Lernt jemand ein Sprachspiel, lernt sie oder er gleichzeitig eine Lebensform. Ein Beispiel für eine Lebensform:

"2. (...) Denken wir uns eine Sprache: Die Sprache soll der Verständigung eines Bauenden A mit einem Gehilfen B dienen. A führt einen Bau auf aus Bausteinen; es sind Würfel, Säulen, Platten und Balken vorhanden. B hat ihm die Bausteine zuzureichen, und zwar nach der Reihe, wie A sie braucht. Zu dem Zweck bedienen sie sich einer Sprache, bestehend aus den Wörtern: »Würfel«, »Säule«, »Platte«, »Balken«. A ruft sie aus; - B bringt den Stein, den er gelernt hat, auf diesen Ruf zu bringen. - Fasse dies als vollständige primitive Sprache auf."12

Unsere Sprache zu verstehen, heißt zu verstehen, wie wir unsere Lebensform gestaltet haben.

"130. Unsere klaren und einfachen Sprachspiele sind nicht Vorstudien zu einer künftigen Reglementierung der Sprache, - gleichsam erste Annäherungen, ohne Berücksichtigung der Reibung und des Luftwiderstands. Vielmehr stehen die Sprachspiele da als Vergleichsobjekte, die durch Ähnlichkeit und Unähnlichkeit ein Licht in die Verhältnisse unserer Sprache werfen sollen."13

11 ebd., S. 250. 12 ebd., S. 238. 13 ebd., S. 304.

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Wittgenstein wollte in seinem Frühwerk eine perfekte Sprache entwickeln, so Lois, weil:

"115. Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen."14

Weil wir durch Sprache verhext sind, ist es Teil unserer Lebensform, dass wir verhext sind. Wie werden wir verwirrt, verhext? Durch Sprachspiele: Jemand sagt z.B. etwas über deinen Schal und du weißt nicht: Grüßt er dich, ist es ein Kompliment, eine Beleidigung, ein Scherz? Du bist verwirrt, weißt nicht, welches Sprachspiel diese Person gerade spielt. Viele unserer Lebensformen bestehen darin, unterschiedliche Sprachspiele zu verknüpfen. Ein Beispiel wäre Batesons double-bind. Lois nennt Arten, wie man Verwirrung schaffen kann:

• Ich erzähle eine Geschichte und ihr denkt, ich würde die Wahrheit erzählen. • Ich bitte euch um etwas und ihr denkt, ich würde euch herumkommandieren. • Ein Mann sagt einer Frau, dass er sie liebt und sie denkt, das sei ein Heiratsantrag.

Vieles in unserer Lebensform besteht darin, die Verhexung aufzulösen, sie »zu entzaubern«. Grundlage dafür sind die »primitiven Sprachspiele«. Metaphern sind eine fortgeschrittene Form von Sprachspielen. Viele Kinder bringen die erlernte und die sog. metaphorische Sprache durcheinander, betont Lois. Ein Teilnehmer merkte hierzu an: Ein Psychiater habe ihm einmal gesagt, man könne „schizophrene Menschen“ daran erkennen, dass sie konkrete und metaphorische Sprache nicht unterscheiden können. Aber unser Verstehen sei doch voll von Metaphern! Kinder tun dies, so Lois, ihre Ausführungen fortführend, und wir alle tun dies. Unsere Sprache ist voll von Metaphern. Dies ist eine Metapher. Ich werfe sie dir zu. Hast du sie gefangen? Wie? Sie zieht an dir vorbei? Ich möchte ein Licht auf die Erfahrung des Metaphorischen werfen. Ich will euch beeindrucken...

"464. Was ich lehren will, ist: von einem nicht offenkundigen Unsinn zu einem offenkundigen übergehen."15

Wir hängen in einem Netzwerk von Missverständnissen. Für viele postmoderne Therapien gelten diese vorgestellten Ideen von Wittgenstein als Quelle. Es sei aber wichtig, sie für die therapeutische Praxis zu adaptieren, so Lois. Wir werden von unserer Sprache verhext und zwar in dem Sinne, dass sie bestimmte willkürliche Bilder von Dingen kreiert und wir uns die Dinge nicht anders vorstellen können, als in der Art und Weise, wie wir sie beschreiben. Vieles in unserer Art zu leben ist durch diese Sprachbilder oder Verhexungen erschaffen. Das, was wir in unseren primitiven Sprachspielen gelernt haben ist sozusagen das Gerüst für die Art und Weise, wie wir Dinge verstehen. Lois nennt Beispiele für Worte, die verschiedene Bedeutung haben: Die Bedeutung des Satzes »Ich liebe dich« oder »Es ist einfach« ändert sich in Abhängigkeit davon, ob der Adressat ein Kind ist oder eine Erwachsene. In Wörterbüchern wird die Bedeutung eines Wortes mit weiteren Worten erklärt.

14 ebd., S. 300. 15 ebd., S. 424.

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Typisch für sog. westliches Denken sei die Idee, jedes Wort solle möglichst nur eine Bedeutung haben. Ein Teil der Illusion der Bedeutungsgleichheit habe damit zu tun, dass manche Wörter doch sehr ähnlich erscheinen. Wittgenstein hat einen Begriff dafür: »Familienähnlichkeit«.

"67. Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren, als durch das Wort »Familienähnlichkeiten«; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc… - Und ich werde sagen: die »Spiele« bilden eine Familie. Und ebenso bilden z.B. die Zahlenarten eine Familie. Warum nennen wir etwas »Zahl«? Nun etwa, weil es eine - direkte - Verwandtschaft mit manchem hat, was man bisher Zahl genannt hat; und dadurch, kann man sagen, erhält es eine indirekte Verwandtschaft zu anderem, was wir auch so nennen. Und wir dehnen unseren Begriff der Zahl aus, wie wir beim Spinnen eines Fadens Faser an Faser drehen. Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, dass irgendeine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, dass viele Fasern einander übergreifen. Wenn aber Einer sagen wollte: »Also ist allen diesen Gebilden etwas gemeinsam, - nämlich die Disjunktion16 aller dieser Gemeinsamkeiten« - so würde ich antworten: hier spielst du nur mit einem Wort. Ebenso könnte man sagen: es läuft ein Etwas durch den ganzen Faden, - nämlich das lückenlose Übergreifen dieser Fasern."17

Wir betrachten eine Abbildung auf der vier Gesichter zu sehen sind. Die vier Gesichter sind sich ähnlich, aber es gibt kein einziges Merkmal, das sie alle miteinander teilen. So verhielte es sich auch mit den Worten, die mehrere Bedeutungen haben, betont Lois. Wir lernen Bedeutungen. Ein Weg, Bedeutung zu lernen, ist, sie durch Metaphern zu lernen. Wir taufen Dinge, geben ihnen einen Namen. Dies führe zu einer äußerst komplexen und ineinander verwobenen Sprache:

"18. (...) Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gässchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus

16 Disjunktion: [lateinisch] die, Logik: in der mathematischen Logik die Verknüpfung zweier Aussagen durch die logische Verbindung »oder« (nichtausschließende Disjunktion, Alternative) beziehungsweise durch »entweder-oder« (ausschließende Disjunktion, Antivalenz) 17 Wittgenstein, Ludwig (1999). Werkausgabe Band 1: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen. 12. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 278.

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verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern."18

Einerseits besteht bezüglich Sprache dieses Problem der Misslichkeiten, aber andererseits scheint sie auch manchmal zu passen. Genau zu passen, wie ein Handschuh. Lois kehrt zurück zum Augustinschen Sprachverständnis, es gäbe nur einen Namen für jedes Wort. Wenn das alles wäre, dann wären poetische Momente unmöglich. Der Zauber, ein Stück Sprache zu nehmen und es woanders einzupassen ist ein Wunder des Geistes. Derrida sagt: Sprache ist immer metaphorisch19. Hast du das ergriffen (im Sinne von begriffen / to catch)? Kinder verstehen dies, es ist ihnen nahe noch. Metaphern gründen auf dem Abrichten, auf diesen Übungen. Wir verbergen den magischen Teil von Sprache, indem wir »Metaphern« mit »Abstraktionen« ersetzen. Das führt nach Wittgenstein zu zwei Arten von Sehen 1. Wir sehen keine Aspekte. 2. Wir erkennen Aspekte.

"Die folgende Figur, welche ich aus Jastrow*20 entnommen habe, wird in meinen Bemerkungen der H-E-Kopf heißen. Man kann ihn als Hasenkopf, oder als Entenkopf sehen.

Das Bild mochte mir gezeigt worden sein, und ich darin nie etwas anderes als einen Hasen gesehen haben.

18 ebd., S. 245. 19 vgl. Derrida, Jacques (1998). Der Entzug der Metapher. In Anselm Haverkamp (Hg.), Die paradoxe Metapher (197-234). Frankfurt am Main; Derrida, Jacques (1988). Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text. In ders., Randgaenge der Philosophie (205-258 und 344-355). Wien. 20 *Fact and Fable in Psychology.

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Und ich muss zwischen dem »stetigen Sehen« eines Aspekts und dem »Aufleuchten« eines Aspekts unterscheiden."21

Sobald wir einmal einen Begriff gelernt haben, verwirren uns die unterschiedlichen Bedeutungen. Die unterschiedlichen Bedeutungen schaffen aber auch Klarheit: Man kann nicht gleichzeitig den Hasen und die Ente sehen. So ist es auch mit Metaphern. Sie werfen Licht auf Aspekte, auf bestimmte Aspekte. Neue Metaphern, neue Aspekte. Es kann sein, dass wir von einem Begriff bisher immer nur einen Aspekt gesehen haben. Ein weiterer Aspekt: Dieser H-E-Kopf hätte keine Ähnlichkeit mit einer Ente oder einem Hasen, wenn die Konturen lediglich mit einer Bleistiftlinie angedeutet würden. Es ist dann unsere Leistung, einen Hasen oder eine Ente darin zu sehen und zu vergessen, dass die Zeichnung eigentlich gar nicht so sehr einem Hasen oder einer Ente ähnelt: Es ist der Bekanntheitsgrad, der uns etwas als etwas sehen lässt. Mit anderen Worten: Wir sind in Sprachspielen trainiert worden (z.B. durch Kinderbücher), sonst hätten wir diesen Enten-Aspekt nicht erkennen können. Wie würde jemand auf eine schematisierte Strichzeichnung des H-E-Kopfes reagieren, der oder die noch nie einen Zeichentrickfilm gesehen hat? Mit anderen Worten: Was wir sehen, können wir nur sehen, weil wir es gelernt haben (und auch bestimmte Aspekte immer wieder vergessen).

„Die Figur a) ist die Umkehrung der Figur b)

a) b)

Wie die Figur c) eduerF die Umkehrung von d) Freude Aber zwischen meinem Eindruck von c und d besteht ein anderer Unterschied – möchte ich sagen – als zwischen dem von a und von b. d sieht z.B. ordentlicher aus als c. (Vergleiche eine Bemerkung von Lewis Carroll.) d ist leicht zu kopieren, c schwer.“22

Unser Training lässt uns die Figur d) klarer erscheinen als c).

„Die unsägliche Verschiedenheit aller der tagtäglichen Sprachspiele kommt uns nicht zum Bewusstsein, weil die Kleider unserer Sprache alles gleichmachen. Das Neue (Spontane, »Spezifische«) ist immer ein Sprachspiel.“23

21 Wittgenstein, Ludwig (1999). Werkausgabe Band 1: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen. 12. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 519f. 22 ebd., S. 527.

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Eine Kultur, die sich nur in mündlicher Sprache bewegte, würde nicht so leicht dazu führen, dass uns Worte, die gleich aussehen, gleichbedeutend erscheinen. Aber wir sehen eben oft das Schriftbild und dieses verleitet uns zu denken, dieselben Worte hätten dieselbe Bedeutung, weil sie vom Schriftbild her identisch sind.

„Die Sprache hat für Alle die gleichen Fallen bereit: das ungeheure Netz gut gangbarer Irrwege. Und so sehen wir also Einen nach dem Andern die gleichen Wege gehen, und wissen schon, wo er jetzt abbiegen wird, wo er geradeaus fortgehen wird, ohne die Abzweigung zu bemerken, etc. etc. Ich sollte also an allen Stellen, wo falsche Wege abzweigen, Tafeln aufstellen, die über die gefährlichen Punkte hinweghelfen. 1931“24

„Ein neues Wort ist wie ein Same, der in den Boden der Diskussion geworfen wird. 1929“25

„65. Wenn sich die Sprachspiele ändern, ändern sich die Begriffe, und mit den Begriffen die Bedeutungen der Wörter.“26

„64. Die Bedeutung eines Wortes vergleiche mit der »Funktion« eines Beamten. Und »verschiedene Bedeutungen« mit »verschiedenen Funktionen«.“27

Wir brauchen eine Art Ohr, so Lois, das uns für subtile Unterscheidungen sensibel macht: Welche Bedeutungen kann der Begriff »Funktion« haben? Oder das Wort »unmöglich«. Was heißt: »Es ist mir unmöglich zu kommen«? Heißt das, dass ich nicht kommen kann, weil ich nicht gehen kann? Oder heißt es, dass ich nicht kommen kann, weil die Person, zu der ich gehen soll, meiner Ansicht nach unmöglich ist? Lyotard bringe Wittgenstein auf eine ganz neue Ebene, eine Ebene, von der Lois nichts geahnt habe, bevor sie Lyotard gelesen habe, eine Ebene, von der - so Lois' Vermutung - selbst Wittgenstein nichts geahnt habe...huch! Zusammenfassung Das zentrale Konzept des späten Wittgenstein ist das Sprachspiel. Das »primitive Sprachspiel« ist die Übung zur Einführung in Sprache und dem Abrichten eines Hundes ziemlich ähnlich. Wir trainieren Kinder, bringen ihnen bei Dinge zu benennen, bevor sie wissen, worauf wir zeigen. Wir lehren sie zu sagen »Das ist ein Keks«, indem sie etwas fragen und indem wir darauf antworten. Dies lernen Kinder, bevor sie kompliziertere Sprachspiele lernen. Ein anderer wichtiger Begriff bei Wittgenstein ist die Verhexung: dies sei eine Metapher für eine kulturelle Illusion, eine Illusion darüber, wie Sprache funktioniere. Kinder lernen den Begriff »Keks«, aber sie kennen den Unterschied nicht zwischen »Keks« und »Plätzchen« etc., sie haben kein größeres Konzept darüber. Die Eltern aber verhalten sich so, als kenne das Kind den Unterschied.

23 ebd., S. 570. 24 Wittgenstein, Ludwig (1997). Werkausgabe Band 8. Bemerkungen über die Farben. Über Gewissheit. Zettel. Vermischte Bemerkungen. 7. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 474f. (Vermischte Bemerkungen). 25 ebd., S. 452. 26 ebd., S. 132. 27 ebd., S. 132.

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Die Frage sei: Was heißt »Komm her« für das Kind? Ist es ein mechanischer Trick, kommt das Kind, weil es die Erfahrung gemacht hat, dass es gestreichelt wird, wenn es kommt? Oder hat dieser Satz die Bedeutung, die er für Erwachsene hat? Wenn wir solche Sprachspiele gelernt haben, nehmen wir an, wir hätten etwas verstanden. Wir denken: Jetzt weiß ich! Hier sei allerdings viel Potenzial für Zwei- und Mehrdeutigkeiten! Eine Anmerkung dazu aus dem Kreis der TeilnehmerInnen: »Ich habe l(L)iebe G(g)enossen in München«. III. Jean-François Lyotard (französischer Philosoph, * Versailles 10.8.1924, † Paris 21.4.1998; 1954-66 Mitarbeit bei der Zeitschrift »Socialisme ou Barbarie«; Beeinflusst von E. Husserls Phänomenologie und L. Wittgenstein, konzipierte Lyotard seinen Begriff der »Postmoderne« (»Das postmoderne Wissen«, 1979). Nach Lyotard hat das Systemdenken der »Moderne« seine Glaubwürdigkeit verloren (»Der Widerstreit«, 1983)). Lyotards Definition von Postmoderne:

„Bei extremer Vereinfachung hält man die Skepsis gegenüber Metaerzählungen für postmodern. Dies ist ohne Zweifel ein Resultat des Fortschritts der Wissenschaften; aber dieser Fortschritt setzt seinerseits diese Skepsis voraus. Dem Veralten des metanarrativen Dispositivs der Legitimation entspricht namentlich die Krise der metaphysischen Philosophie und der von ihr abhängigen universitären Institution. (...)“28

Lyotards Definition ist nicht die einzige und nicht die einzig legitime, aber sie ist sehr bekannt geworden. Es gibt – wie Wittgenstein sagte – Familienähnlichkeiten für jeden Begriff, also auch für den Begriff »postmodern«. Auf die Frage, ob es möglich sei, Metaerzählungen zu entkommen, antwortet Lois mit Ja: Beispielsweise wäre eine andere Art Freud zu lesen, ihn zu lesen, um Anregungen für Ideen zu bekommen. Postmodern sein heiße, Anregungen für Ideen zu bekommen, eine eigene Stimme zu haben und sie zu nutzen. Lyotard nennt die Quantenmechanik postmodern und die mechanische Physik modern. Eine postmoderne Haltung hilft zu vermeiden, Rezepten zu folgen, einschließlich der Aufforderung, Rezepte zu verwenden. Lyotard sagt, WittgensteinianerIn zu sein beinhalte nicht unbedingt postmodern zu sein. Man könne Wittgenstein durchaus wie eine Bibel behandeln, so Lois. Sie wolle aus postmodernem Denken keine Metaerzählung machen. Postmoderne lebe in vielen Sprachspielen. Dies impliziere Paradoxa. Wir müssen akzeptieren, dass es Paradoxa gibt, so Lois weiter. Die Forderung dies zu akzeptieren, kann auch wiederum eine Metaerzählung sein. Was dann? Dann bleibt nur noch Schweigen. Aber darauf reduzieren wir uns nicht, sondern wir setzen unsere Gespräche fort. Vor allem wenn wir postmodern sind, setzen wir sie fort. Und wir machen weiter. Postmoderne Theorie sei keine Theorie ohne Brüche und Lücken. Eine gute postmoderne Theorie inspiriere uns, eigene neue Theorien zu bilden. 28 Lyotard, Jean-François (1999). Das postmoderne Wissen: ein Bericht. 4., unveränderte Neuauflage. Wien: Passagen-Verlag, S. 14.

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Postmodernes Sprechen – Paralogie Postmodernes Sprechen unterscheidet sich von modernem Sprechen, es ist ein Sprechen-um-zuzuhören / talking-in-order-to-listen29 (modern wäre Zuhören-um-zu-sprechen / listening-in-order-to-talk). Postmoderne Gespräche nennt Lyotard Paralogie: Man fragt nicht nach richtig oder falsch, sondern man befindet sich im Gespräch30. Lyotard zufolge verfeinert postmodernes Wissen unsere Sensibilität für Unterschiede und vergrößert unsere Toleranz, die Inkommensurabilität (das Unvereinbare) der verschiedenen Sprachspiele zu ertragen oder die Paradoxa, die durch unterschiedliche Weisen zu Sprechen und zu Denken kreiert werden. Paralogie erzeugt eine Kultur des Erfindens. Neue Ideen werden in Konversation erzeugt. Und dies unterscheidet sich von der Idee, dass man von jemandem etwas beigebracht bekommt oder von jemandem gebildet wird. Es unterscheidet sich von der Idee, dass die TherapeutIn die KlientIn etwas lehrt. Wie kann man so miteinander sprechen, dass man Erfindungsreichtum freisetzen kann? Wir alle haben dies schon mal erlebt: Man sitzt zusammen und plötzlich entstehen neue Ideen. Das ist wichtig, setzt Energien frei, gibt Hoffnung etc. Das ist Paralogie, so Lois. Kann man paralogisch miteinander sprechen, wenn man z.B. in Eile ist? Wenn man Stress hat? Können wir Paralogie erzeugen, wenn wir unterschiedlicher Meinung sind und daran fest halten? Nein, nur wenn wir Unterschiede erlauben, annehmen und wertschätzen, können wir Paralogie herstellen. Paralogie sei der Begriff, durch den die postmoderne Kultur charakterisiert werde. Im "Postmodernen Wissen" beschreibt Lyotard, was für Bedingungen wir brauchen, um paralogisch miteinander sprechen zu können. Wir arbeiten in postmodernen Gesprächen ohne Netz und doppelten Boden, wir hören auch Menschen zu, die als „psychotisch“ etikettiert sind:

29 vgl. Shawver, Lois (2001). If Wittgenstein and Lyotard could talk with Jack and Jill: towards postmodern family therapy. Journal of Family Therapy, 23, 232-252. 30 “The word »paralogy« comes from Jean-Francois Lyotard. In his book, The Postmodern Condition, Lyotard argues against Jürgen Habermas. Habermas has argued that our conversational quest should be for consensus, but Lyotard opposes that saying that the quest should be for »paralogy«. Paralogy is the ongoing creation of meaning. You say something and it inspires me to say something in return. Consensus, Lyotard tells us, is merely a stage in our conversation. What conversation can give us can be much more valuable than that. It can bond us to the process of a dialogue that requires both our parts, and when it works successfully it can awaken our minds to an unending expansion of new ideas. That's paralogy. And what about »enchantment« and »charisma«? I am using »enchantment« to point to the way in which we all sink into a point of view, even though we can, when we think about it, identify with the opposing point of view, at least a little. Enchantment is the suspension of our awareness of alternative points of view. Without enchantment we would swim in inconsistency and confusion. Perhaps, »charisma«, as you note it, is to have the power to draw others into your own enchantment. If so, I would say that »charisma« is a modernist term, not a postmodern one. It is a way to reach consensus. In this modernist picture, if I have »charisma«I can brainwash you into thinking my way. But I hope that if I do sometimes say something that resonates for you, then you will, please, take it and call it your own. And while you have it as your own, perhaps you would be willing to take it in your hands and mold it a little so that the ideas sing to you even more clearly, so that the ideas become distinctively yours and no longer show the hidden trace of my voice. And finally, when you have it like you like it, please send it back to me with your signature. I guarantee I will not know your thought was seeded by my own. After all, my thoughts are seeded in this way, too. Do any of us ever say anything that is not just such a creative reweaving of the words we've heard before?” Lois Shawver, 25. September 1996 (http://www.massey.ac.nz/~alock/theory/114.htm)

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„We listen with a kind of suspended disbelief“(Lois Shawver). »Just gaming«31, sagt Lyotard. Hier haben wir eine Doppeldeutigkeit, so Lois: »gerechtes Spiel« oder/und »nur Spielen« ?

"Für uns bedeutet Sprache zuallererst, dass jemand spricht. Aber es gibt Sprachspiele, in denen es wichtig ist, zuzuhören. In diesen Sprachspielen beziehen sich die Regeln auf das Zuhören. Ein solches Spiel ist das Spiel der Gerechten. Und in diesem Spiel spricht man nur in dem Maße, in dem man zuhört, das heißt, man spricht als Zuhörer und nicht als Autor. Es ist ein Spiel ohne Autor. Auf dieselbe Weise, ist das Spiel des Westens ein Spiel ohne Zuhörer, weil der spekulative Philosoph nur seinen Schüler als Zuhörer erlaubt.“32

Wenn die Treue zu einer Metaerzählung nicht so stark ist, dann verändert sich Sprache. Unterschiede zwischen Lyotard und Wittgenstein:

• Wittgenstein gibt uns mit dem »Sprachspiel« eine Metapher, die uns verwirren und bereichern kann.

• Lyotard ist das Sinnbild dafür, wie Sprachspiele zusammenstoßen können. Lyotard sagt, Sprachspiele können so zusammenstoßen, dass es zum Krieg kommt, dann nämlich, wenn Menschen auf ihren Metaerzählungen bestehen.

• Wittgenstein selbst hat sich mit der interindividuellen Kollision von Sprachspielen nicht beschäftigt.

Es folgte ein Meinungsaustausch, ein paar Diskussionspunkte waren folgende:

Es macht auch Sinn, modern zu sein, zeitweise, z.B. wenn es um sexuelle Gewalt geht oder um Zwangsbehandlung. Von Lyotard stammt der Satz: »Ein Werk ist nur modern, wenn es zuvor postmodern war. So gesehen bedeutet der Postmodernismus nicht das Ende des Modernismus, sondern dessen Geburt, dessen permanente Geburt« (Lyotard, 1987)33. Die Grenze postmodernen Denkens: Wenn ich Hunger habe und nichts zu essen. Postmoderne Beliebigkeit? Just gaming? Wenn wir Metaerzählungen kritisieren, z.B. den Rationalismus, dann nehmen wir in dem Moment selbst eine Metaebene ein. Oder? Postmodernes Erleben ist für mich eher ein Gefühl, das Gefühl mich ohne Netz und doppelten Boden in einer Situation zu befinden, in der etwas in diesem Moment passiert. Postmodern ist ein relationaler Begriff. Mindestens alles das ist postmodern, was sich postmodern nennt.

31 Lyotard, Jean-François & Thébaud, J.-L. (1996). Just gaming. University of Minessota Press. 32 ebd., S. 71. 33 Lyotard, Jean-François (1987). Postmoderne für Kinder. Wien: Passagen.

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Verstehe nicht zu früh, falls überhaupt, sagt Harry Goolishian. Das Ergebnis dieser Diskussion, die auch kontrovers war, sei eher ein Gefühl für den jeweiligen Moment, bei jedem von uns, so Lois: die Erfahrung z.B., dass modere Standpunkte wertgeschätzt werden, aber auch all die anderen. Ohne endgültiges Ergebnis der Diskussion. Das sei Paralogie. Wenn wir z.B. verwirrt sind, verhext über das, was wir machen, wenn wir das Gefühl haben, unsere Antworten seien vorläufig oder aber wenn wir das Gefühl haben, noch nicht die gute Antwort gefunden zu haben, dann sollten wir diese vielen gegensätzlichen Stimmen in uns wertschätzen. Die Möglichkeit, uns für etwas einzusetzen und zeitweise modern sein haben wir immer. Ein postmodern denkender Mensch müsse sich ja auch entscheiden. Aber er würde nicht sagen, es sei die einzig richtige Entscheidung gewesen. Humorvolle Bemerkung eines Teilnehmers: In einem Restaurant am Bodensee konnte man, nachdem man sich für ein Menu entschieden hatte, eine Umbestellung vornehmen. Diese Möglichkeit war auf der Speisekarte mit folgendem Hinweis vermerkt: »Umbestellung 10,00 DM«. Ein zentraler Begriff bei Wittgenstein ist also das Sprachspiel, wiederholt Lois. Wittgenstein sagte, wir haben keine private Sprache. Sprachspiele entspringen keinem Vakuum. Man kann kein Sprachspiel erlernen, ohne es in Beziehungen, in einem Kontext, gelernt zu haben. Und ein zentraler Begriff bei Lyotard ist Paralogie. - Durch Paralogie können neue Sprachspiele, neue Metaphern erfunden werden; - Harlene Andersons »Nicht-Wissen« passt zu dem Paralogie-Gedanken; - Ohne Gemeinschaft sind paralogische Gespräche nicht möglich. Der erste Schritt, zu lernen, in postmoderner Weise zuzuhören (talking-in-order-to-listen), sei folgender: Wir müssen hören lernen, dass Worte, die gleich aussehen, sehr unterschiedliche Bedeutungen haben können. Das heißt paralogisch sprechen. »Para«34 weist auf: talking outside the logic of the language. Wenn man innerhalb der Logik einer Sprache argumentiere, komme man zu einem logischen Schluss auf der Basis von Prämissen. Im anderen Fall würde man eine Idee neben anderen stehen lassen (dieses Daneben tolerieren) und die vielen verschiedenen Ideen als eine Bereicherung erleben. Binäres Denken / Dichotomien Dies bedeute, in entweder-oder-Kategorien zu denken, zwei Möglichkeiten zu »haben« und nichts dazwischen. Lois nennt Beispiele: Josef ist ein guter Mann. (Binarität gut-schlecht und nichts dazwischen) Er ist postmodern. Er ist weiß. Er ist schwarz. Sie ist eine Frau. Das Rasse-Konzept ist ein binäres. In den USA gilt man als schwarz, wenn man 1/24 % »schwarzes Blut« hat. In Cuba beispielsweise gibt es ein ganz anderes Rasse-Konzept als in den USA, ein viel gemischteres.

34 para... [griechisch], Präfix mit den Bedeutungen 1)neben..., bei...; 2)nebeneinander, miteinander; nahe stehend, ähnlich; 3)über, hinaus; 4)(von der Norm) abweichend, fehlerhaft.

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Binäres Denken ist sehr wichtig, um etwas als „normal“ herzustellen. Jemand kann nicht mehr oder weniger „normal“ sein. Das Konzept "normal" erfordert, eine Person entweder als „normal“ oder als „abnormal“ zu denken. Aristoteles hat ein "normales" Kind, eine "normale" Frau, einen "normalen" Mann, einen "normalen" Sklaven beschrieben. In Aristoteles’ Definition unterwerfen sich Frauen den Männern, wenn sie "normal" sind und Sklaven mögen es, Sklaven zu sein35. Wir konstruieren Binaritäten, indem wir »das Dazwischen« nicht denken. Die traditionelle zweiwertige Logik unseres Denkens, unserer Argumentationsweise, fordert Dichotomien. Sie hat folgende Form: Wir haben Voraussetzungen und Schlussfolgerungen. Um zu einer wahren Schlussfolgerung zu kommen, brauchen wir wahre Voraussetzungen. Und es gibt kein Dazwischen. Ein Beispiel für eine nicht zweiwertige Logik ist die »Fuzzy-Logik« (Unscharfe Logik), als Spezialfall der Mehrwertigen Logik. Wie können wir aus starren Dichotomien heraustreten? Ludo Gielen merkt an, dass Deleuze36 in diesem Zusammenhang von Rhizom-Denken37 spricht. So wie Gras in alle Richtungen wächst, ohne dass die Richtung voraussehbar wäre, nimmt unser Denken manchmal eine solche Form an. Und Derrida38 spricht vom (Miss)Verstehen, so Lois. Er schreibt es besonders, er verwendet Klammern, um auf einen Zwischenbereich hinzuweisen: In jedem Verstehen ist Missverstehen möglich, in jedem Missverstehen ist Verstehen möglich. Man könnte beispielsweise in diesem Sinne auch von (Un)Wahrheit sprechen.

35 „Die aristotelische Theorie beruht auf dem Begriff des sogenannten »Wesens« eines Dinges. Die Definition, sagt er, ist die Feststellung der Wesensnatur eines Dinges. (…) In Wirklichkeit handelt es sich bei der Frage des Wesens um den Gebrauch von Wörtern. Wir wenden den gleichen Namen bei verschiedenen Gelegenheiten auf recht verschiedene Vorgänge an, die wir für Manifestationen einer einzigen „Sache“ oder „Person“ halten. (…)“ (aus: Bertrand Russel: Logik des Aristoteles; vgl. www.mauthner-gesellschaft.de/mauthner/tex/russ.html) 36 Deleuze, Gilles, französischer Philosoph, *Paris 18.1.1925, †(Selbstmord) ebenda 4.11.1995; beeinflusst von F. Nietzsche (»Nietzsche und die Philosophie«, 1962), H. Bergson und B.de Spinoza, entwarf Deleuze, die politischen Ereignisse vom Mai 1968 aufnehmend, eine Philosophie des Begehrens und produktiven Wünschens (so u.a. in »Anti-Ödipus«, 1972; mit F. Guattari); er propagierte ein »nomadisches Denken der Zerstreuung« und betonte statt allgemeiner Kategorien, universeller Regeln und ihrer zeitlosen Geltung das Lokale und singulär Ereignishafte (»Differenz und Wiederholung«, 1968; »Die Logik des Sinns«, 1969). Guattari, Pierre-Félix, französischer Philosoph und Psychoanalytiker, *Villeneuve-les-Sablons (Département Oise) 30.4.1930, †Paris 29.8.1992; Schüler J. Lacans; arbeitete ab 1953 als Psychoanalytiker an der alternativen Klinik »La Borde« (Cour-Cheverny), bemüht um eine »revolutionäre psychiatrische Praxis« (Selbstverwaltung, dynamische Gruppenstrukturen u.a.). Guattari und G. Deleuze bestimmten (entgegen S. Freud und Lacan) in »Anti-Ödipus« (1972) und »Tausend Plateaus« (1980), bewusst antiwissenschaftlich, das Unbewusste als lediglich sozial bedingt. 37 vgl. Gilles Deleuze / Félix Guattari (1980). Tausend Plateaus. Zweitausendeins. (Rhizom: Wurzelstock, Erdspross mit Speicherfunktion (Botanik); „Wir sind des Baumes überdrüssig geworden. Wir dürfen nicht mehr an Bäume, an große und kleine Wurzeln glauben, wir haben zu sehr darunter gelitten. Die ganze baumförmige Kultur beruht auf ihnen, von der Biologie bis hin zur Linguistik. Schön, politisch und liebevoll sind nur unterirdische Stränge und Luftwurzeln, der Wildwuchs und das Rhizom.“(S. 27)). 38 Derrida, Jacques, französischer Sprach- und Kulturphilosoph, *El-Biar (bei Algier) 15.7.1930

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Die meistgebrauchte Lösung für TherapeutInnen sei die sogenannte Totalisierung, so Lois. Totalisierung sei die wichtigste Methode, um die Welt starr binär zu gestalten. Es folgt ein Beispiel für ein totalisierendes Gespräch, für starr-binäres Denken: Janine: Alle Menschen sind gut. Jean: Nein, alle Menschen sind schlecht. Janine: Aber du denkst doch auch, dass die Priesterin gut ist! Jean: Es sieht nur so aus, es wirkt nur so, aber eigentlich sind alle von Grund auf schlecht. Erinnere dich: der Mann damals hat das Kind aus dem Fluss gerettet und der Mutter des Kindes erst 30 Minuten später davon erzählt! Und ich erinnere mich, er hat damals einen Strafzettel bekommen. Und diesen Strafzettel hat er nicht bezahlt. Also ist die einzig richtige Schlussfolgerung: Alle Menschen sind schlecht. Janine: Aber der hat doch nur darum im Parkverbot gehalten, um das Kind zu retten! Darum hat er den Strafzettel nicht bezahlt! etc. etc. etc. Janine und Jean versuchen, dem jeweils anderen zu beweisen, dass sie jeweils Recht haben, und sie tun dies, indem sie Beispiele zur Untermauerung ihrer Ansicht anführen. Traditionelle Logik zu praktizieren, ohne binäres Denken, ist nicht möglich. Die nicht traditionellen Logiken sind bisher noch nicht sehr entwickelt und sie werden auch nicht besonders geschätzt, so Lois. Sobald man sich auf das Gebiet der vernunftmäßigen Argumentation begebe, verwende man binäre Logik. Entkommen könne man der starren binären Logik auf verschiedene Weise: Die Idee von Derrida dazu sei das bereits erwähnte (Miss)Verstehen. Ein anderer Weg sei die Dekonstruktion39 von Binaritäten - ein unendliches Unterfangen. Und wir müssen immer in binären Kategorien denken, auch wenn wir über den Dazwischen-Bereich sprechen, betont Lois. Denn: Sobald wir eine Unterscheidung machen, denken wir in Binaritäten. Und man wird in diesem Bereich immer auf Paradoxien stoßen. Eine Anmerkung von Ludo Gielen: Sobald ich »ich« sage, begebe ich mich ins binäre Denken. Wichtig ist es, sich darüber bewusst zu sein, dass man das selbst macht, also dass dies nichts Gegebenes ist. Wie kann man also aus starr-binärem Denken heraustreten?

39 „Der Akt des Dekonstruierens ist ein zugleich strukturalistischer uns anti-strukturalistischer Gestus: Man nimmt einen Aufbau, einen Artefakt auseinander, um seine Struktur, seine Maserung, oder, wie sie sagten, sein Skelett sichtbar zu machen, um aber auch, gleichzeitig, die ruinöse Unsicherheit einer formalen Struktur aufzudecken, die nichts zu erklären vermag, weil sie weder ein Mittelpunkt, noch ein Prinzip, noch eine Kraft, ja nicht einmal der Lauf der Dinge im weitesten Sinn dieses Wortes ist. Die Dekonstruktion als solche beschränkt sich weder auf eine Methode (Reduktion auf das Einfache) noch auf eine Analyse; sie geht über die kritische Bestimmtheit und sogar über die Idee des Kritischen hinaus. Deshalb ist die Dekonstruktion nicht negativ, auch wenn man sie, allen Vorsichtsmaßregeln zum Trotz, so gedeutet hat. Für mich begleitet sie immer eine Forderung zur Bejahung, ich würde sogar sagen, dass sie nie ohne Liebe vor sich gehen kann.“ (Jacques Derrida interviewt von Christian Descamps am 31. Januar 1982 (1985). Jacques Derrida. In Peter Engelmann (Hrsg.), Philosophien. Gespräche mit Foucault, Derrida, Lyotard, Ricœur, Lévinas, Descombes, Axelos, Glucksmann, Rancière, Serres (51 – 69). Dt. Erstausg. in Ausz. Graz/Wien: Böhlau, S. 60.)

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Eine Teilnehmerin merkt an, man könne dies vielleicht durch vermehrte Verwendung von »und« & »sowohl-als-auch« versuchen. Ein anderer Weg sei der Kompromiss, so Lois, im Sinne des Versuchs, Totalisierungen zu dekonstruieren: Als Therapeutin von Janine und Jean könne man beispielsweise deren binäres Denken dekonstruieren, indem man sage: Der Mann ist manchmal gut und manchmal schlecht. Die beiden könnten entgegnen: Das ist »Wischi-Waschi-Kram«. Dann könne man z.B. sagen: Der Mann war inspiriert, etwas Gutes zu tun, als er das Kind gerettet hat. Vielleicht könnten beide dann zustimmen. Etwas solle uns aber klar sein, betont Lois: Binärverhältnisse können nie ausgerottet werden. Wir können sie immer nur für den jeweiligen Moment dekonstruieren. Das kompliziert Vertrackte daran sei, dass wir durch Dekonstruktion gleichzeitig immer neue Binaritäten konstruieren. Eine Teilnehmerin merkt an, es mache vielleicht auch Sinn, mehr über Unterschiede zu sprechen, um der Reichhaltigkeit Raum zu geben, als immer nur über das zu sprechen, was verbindet, über Gemeinsamkeiten. Man könne z.B. ein Gespräch über Differenzen im Buddhismus, Judaismus, Christentum führen... Lois stimmt zu, ja, das wäre eine Kultur der Paralogie. Diese sei sehr selten, denn binäres Denken werde sehr geschätzt. Vor der griechischen Antike, also vor dem sog. modernen Denken, wurde ein sog. prämodernes Denken, ein Denken in Mythen und Geschichten gepflegt. Zusammenfassung Wie können wir der Falle starrer Binaritäten entkommen? Derrida bietet die Idee des (Miss)Verständnisses dazu. Diese Idee kann für die therapeutische Praxis genutzt werden, so Lois, Dekonstruktion könne »übertragen« werden. Ein anderer Weg ist das »Plexifying«, das Erzeugen eines Perplexes, einer Überraschung. Eine Möglichkeit bietet auch Harlene Anderson: Sie spricht vom »wechselseitigen Verstören«, »mutual puzzling«. Sheila McNamee erzeugt Perplexe durch das »Sprechen mit zwei inneren Stimmen«. Voraussetzung starre Binaritäten aufzulösen ist, sie zu hören, damit man sie greifen kann. Das sog. »großzügige Zuhören« (generous listening), ein Konzept von Donald Davidson40, bietet sich in diesem Zusammenhang an. Davidson verwendet den Begriff »principle of charity« (»wohlwollendes Verstehen«). Damit ist gemeint, grundsätzlich von der Sinnhaftigkeit der Sprachspiele der Anderen auszugehen, auch dann, wenn man völlig anders über die jeweilige Thematik denkt. Lois verwendet andere Begriffe, nicht »Wohlwollen« und »Wohltätigkeit«. Letztere haben für sie den Beigeschmack eines: »Ich lasse mich dazu herab, ich bin gnädig...«. Sie bevorzugt darum die Ausdrücke »generous listening« und »talking-in-order-to-listen«. Die Abkürzung von »talking-in-order-to-listen« ist TIOTOL. Lois Shawver spricht darum auch von »tiotoling«. Und wie hört sich das auf Deutsch an? Sprechen-um-zuzuhören: SUZZH. Flämisch fanden wir netter: SOTELEN! Sprechen-um-zuzuhören beinhalte z.B., als TherapeutIn Fragen zu stellen, um Antworten zu hören. Oder auf Dinge zu verweisen, um zu hören, was die anderen darüber denken.

40 Davidson, Donald Herbert, amerikanischer Philosoph, *Springfield (Massachusetts) 6.3. 1917; war 1960-67 Professor in Stanford (Kalifornien), 1967-70 in Princeton (New Jersey), 1970-76 in New York (Rockefeller University), 1976-81 in Chicago (Illinois), ab 1981 in Berkeley (Kalifornien); Schüler von W. Van O. Quine, führender Vertreter der analytischen Philosophie; Forschungen zur Entscheidungstheorie, zu systematischen Bedeutungstheorien für natürliche Sprachen und zur Handlungstheorie.

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Psychoanalytiker hingegen würden zuhören, um unbewusste Motive in der Sprache der KlientInnen zu entdecken. Binäre Erstarrungen auflösen heißt nicht, keine Meinung mehr zu haben oder »Wischiwaschi« zu sein: Rom Harre spricht von »positional fluidity« – von fließenden Positionen. Gemeint ist also die Fähigkeit zwischen den Positionen zu wechseln. Tom Andersen spricht in diesem Zusammenhang von »shifting reflecting positions«. Und Sheila McNamee, drückt dies mit dem Satz aus: »Ich habe zwei Seelen in meiner Brust«. Ein anderer Weg, starre binäre Oppositionen aufzulösen ist das, was Lois »Über den Zaun rufen« nennt. Ich stehe einmal auf der einen Seite des Zauns, dann auf der anderen und rufe mir die verschiedenen Positionen über den Zaun zu. Und schätze sie. Wenn man über diese Ideen zum binären Denken nachdenkt, so Lois, dann will man vielleicht gar nicht mehr starr binär denken, sondern sich offen halten für Dekonstruktion. Das Interesse in einer einzigen Position zu verharren nimmt vielleicht ab, bzw. wenn man eine Position bezieht, hat man immer die Möglichkeit präsent, diese Position wieder zu dekonstruieren. Und wenn man mit anderen zusammen »tiotolt«, kann man das erreichen, was Lyotard »Paralogie« nennt. Paralogie ist die konversationale Kultur, in der neue Ideen entstehen können. So wie Konversationen, tendieren auch Theorien dazu, zu totalisieren und zu entzaubern. Lyotard schreibt:

„Wenn die »traditionelle« Theorie immer in Gefahr ist, der Programmierung des sozialen Ganzen als ein einfaches Werkzeug der Leistungsoptimierung einverleibt zu werden, dann darum, weil ihr Verlangen nach einer einheitlichen und totalisierenden Wahrheit der einheitlichen und totalisierenden Praxis der Systemverwalter entspricht.“41

In Amerika benutzt man den Begriff »totalisieren«, wenn ein Auto zu Schrott gefahren wird, so Lois. Wenn Menschen totalisieren, dann neigen sie meistens auch dazu, zu polarisieren. Im Folgenden stellt Lois Shawver uns ihr Konzept der Transvaluation vor. Es handele sich dabei um ein Konzept, das u.a. auch hilfreich sei, Derrida leichter zu verstehen.

IV. Transvaluation (nach Lois Shawver) Der Begriff »Transvaluation« ist von Nietzsche übernommen und bedeutet »Umwertung«. Er wird auch von John Stuart Mill diskutiert. Lois Shawver hat daraus ein postmodernes Konzept entwickelt. Transvaluation ist eine Art, über etwas unterschiedlich zu sprechen. Beispiele:

• unreif-jugendlich • leichtgläubig-aufgeschlossen

41 Lyotard, Jean-François (1999). Das postmoderne Wissen: ein Bericht. 4., unveränderte Neuauflage. Wien: Passagen-Verlag, S. 47.

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• dogmatisch-entschlossen • wirklichkeitsfremd-idealistisch • eingebildet-selbstsicher • achtungsvoll-unterwürfig • impulsiv-spontan • selbständig-unkollegial • aufrichtig-taktlos • inkonsequent-flexibel • töricht-gutgelaunt • unbekümmert-faul

Transvaluation ist im Spiel, wenn wir z.B. Menschen Komplimente machen. Und Transvaluation hat mit Derridas »différance«42 zu tun. Lois Shawver verwendet ihr Konzept der Transvaluation um Derridas Dekonstruktion zu erläutern. Die folgende Abbildung zeigt ein Beispiel für die transvaluative Struktur unserer sozialen Interaktionen: Abb. 1: Transvaluationsmatrix

42 Anmerkung zu Derridas différance: Wir stellen Sinn her, indem wir unterscheiden. Aber der hergestellte Sinn verweist nie nur auf sich selbst, sondern auf andere Unterscheidungen. Und wir machen ihn durch unsere Unterscheidungen erst präsent. Ein Wort erfährt seine Bedeutung durch andere Worte, durch ein Netz von Zeichen/Unterscheidungen, die an der Stelle des Satzes, an der das Wort steht, nicht präsent sind. Man könnte sagen: Sie sind nicht präsent sondern aufgeschoben. Bedeutung ist wie eine Spur, die von Zeichen/Unterscheidungen hinterlassen und durch Zeichen/Unterscheidungen hergestellt wird. Sie verweist auf andere Spuren und hinterlässt selbst Spuren. Und Bedeutung verändert sich, je nachdem welche anderen Zeichen/Unterscheidungen aufgeschoben werden. Der hergestellte Sinn verweist also immer auf andere Unterscheidungen, auf ehemals anwesend gewesene, aber gerade nicht sichtbare - aufgeschobene - Unterscheidungen. In diesem Sinne ist Präsenz dann immer auch gleichzeitig aufgeschoben und Sinn konstituiert sich aufgrund der in ihm vorhandenen Spur von Unterscheidungen. Auf diese abwesende Anwesenheit in jedem Zeichen macht Derrida aufmerksam, wenn er das Wort „différance“ (die substantivierte Form der beiden Verben »différencier«: Unterschiede setzen und »différer«: aufschieben) mit a statt mit e schreibt - eine veränderte Schreibweise, die beim Sprechen nicht zu hören ist. Durch die Erzeugung von Präsenz wird aus dieser Sicht also gleichzeitig die Verzögerung und der Aufschub der Präsenz bewirkt. Unendliche Bewegung. Subversion konservierender, fixierender Begriffe, Einheit von Möglichkeit und Zerbrechlichkeit. Die abwesende Anwesenheit soll die Polysemie (Vieldeutigkeit) zum Ausdruck bringen, ein Jenseits festschreibender, idealer Bedeutung, kr.

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dogmatisch entschlossen

flexibel inkonsistent

B i n ä r e B e g r i f f e

B i n ä r e B e g r i f f e

T r a n s v a l u a t i o n

T r a n s v a l u a t i o n

Wenn ein Mensch in der Binarität »dogmatisch-flexibel« gefangen scheint, kann man sagen, dass die andere Seite - nämlich »entschlossen-inkonsistent« - für diesen Menschen zunächst nicht sichtbar, denkbar, hörbar ist43. Als DekonstruktionistInnen sind wir uns aber immer im Klaren darüber, dass wir »der différance« nicht entkommen, dass sie immer da ist, auch wenn sie nicht hörbar ist und uns nicht präsent erscheint in diesem Augenblick. So wie ja auch das a »der différance« nicht hörbar ist, aber dennoch da (sichtbar im Schriftbild). Eine abwesende Anwesenheit eben. Wir müssen lernen »die différance« zu hören (z.B. durch »generous listening«) und wir müssen als TherapeutInnen Wege finden, die es unseren KlinentInnen ermöglichen, »die différance« ebenfalls zu hören, so Lois Shawver. Man könnte sagen, eine Person, die in einem Sprachspiel fest hängt, ist von diesem Sprachspiel verhext. Von einem Sprachspiel verhext zu sein meint, nicht in der Lage zu sein, die Möglichkeiten der Transvaluations-Alternative zu sehen. Oder nicht in der Lage zu sein einen anderen Aspekt der Situation wahrzunehmen. Einen Aspekt, der die Art und Weise, die Situation zu verstehen, vollkommen neu konfigurieren würde. Lacan44 z.B. dekonstruierte festgefahrene Positionen, indem er selbst die Position des von ihm vermuteten Adressaten der freien Assoziationen des Klienten einnahm. Der Adressat war oft nicht explizit und musste vom Analytiker erschlossen werden. Diese Stimme, die der Analytiker dem Klienten gegenüber ausdrückte, nannte Lacan die Stimme des Unbewussten. Lacan zufolge ist das »Unbewusste« wie eine Sprache strukturiert. Er hat den Versuch unternommen, der Psychoanalyse eine postmoderne Note zu geben. Lacans Vorgehen war folgendes: Er versuchte, die verborgene, »unbewusste« Position »der différance« zu hören.

43 Binaritäten: immer innerhalb eines Sprachspiels (dogmatisch-flexibel); Polarisationen: immer zwischen zwei Sprachspielen (dogmatisch-entschlossen) 44 Lacan, Jacques, französischer Psychoanalytiker und Philosoph, *Paris 13.4.1901, †Neuilly-sur-Seine 9.9.1981; war als Neurologe und Psychiater tätig, dann als Psychoanalytiker. Beeinflusst von Hegels Begriff des »Begehrens«, der Linguistik F.de Saussures und der Ethnologie entwirft Lacan das Unbewusste als sprachlich strukturiertes, von der Sprache erst hervorgebrachtes System. Lacan prägte mit C. Lévi-Strauss maßgeblich den französischen Strukturalismus und beeinflusste wesentlich die moderne Literaturwissenschaft, Soziologie und Ethnologie.

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Er verwendete nicht den Begriff »Transvaluation«, sondern andere Begriffe: Er würde vielleicht sagen, dass eine Person dann krank wird, wenn die eine Seite einer Transvaluation dominiert (z.B. »flexibel«) und dadurch die andere Seite (z.B. »inkonsistent«) unhörbar macht. Und er sah in der Praxis, der jeweils unterdrückten Seite eine Stimme zu geben, therapeutische Wirkungen. Eine Teilnehmerin betont, sie sehe hierin eine Parallele zu Harlene Andersons Idee der »inneren Stimmen«. Abb. 1 zeigt also die transvaluative Struktur unserer sozialen Welt, so Lois. Eine Welt, in der wir einerseits in Binaritäten gefangen und andererseits gleichzeitig verwunschen sind. Verwunschen durch Binaritäten. Es sei wichtig, diese Binaritäten zu hören, in denen Menschen gefangen sind (in denen wir uns und andere fangen und manchmal sogar einsperren…). Die Frage wird gestellt, wie man vermeiden könne, aus dieser Sprachverhexung, aus diesem Modell des Verwunschenseins, einen Dogmatismus, eine große Erzählung zu machen? Humorvolle Bemerkung einer Teilnehmerin: Man muss nur 100 Jahre warten…..so war das doch mit Dornröschen auch, oder? ….nach 100 Jahren war sie nicht mehr verwunschen…..ja, das wird’s sein. Lyotards »différend« (Widerstreit) Einige Dispute sind nach Lyotard kein Widerstreit45. Er schreibt: „Im Unterschied zu einem Rechtsstreit (litige) wäre ein Widerstreit (différend) ein Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt“46. Lois nennt Beispiele für Widerstreit: A: Ich hätte auch den Dr. machen können, wenn ich ermutigt worden wäre! B: Vielleicht! A: Doch! Ich hätte! B: Du wirst ärgerlich! A: Nein! (Der Vorwurf, »Du wirst ärgerlich!« macht A wirklich ärgerlich. Der Ärger ist im Gespräch, aus dem Gespräch heraus entstanden)

45 "Im Unterschied zu einem Rechtsstreit (litige) wäre ein Widerstreit (différend) ein Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt. Die Legitimität der einen Argumentation schlösse nicht auch ein, dass die andere nicht legitim ist. Wendet man dennoch dieselbe Urteilsregel auf beide zugleich an, um ihren Widerstreit gleichsam als Rechtsstreit zu schlichten, so fügt man einer von ihnen Unrecht zu (einer von ihnen zumindest, und allen beiden, wenn keine diese Regeln gelten lässt). Aus der Regelverletzung einer Diskursart resultiert ein Schaden, der unter Beachtung eben dieser Regeln behebbar ist. Ein Unrecht resultiert daraus, dass die Regeln der Diskursart, nach denen man urteilt, von denen der beurteilten Diskursart(en) abweichen. Die Urheberrechte eines literarischen oder künstlerischen Werks können beeinträchtigt werden (man verletzt die moralischen Rechte des Autors); aber das Prinzip selbst, aufgrund dessen man das Werk als einen Gegenstand von Urheberrechten zu behandeln hat, kann ein Unrecht darstellen (man verkennt, dass der „Autor“ seine Geisel ist). Der Titel des Buches legt (mit dem gattungsspezifischen Charakter des bestimmten Artikels) nahe, dass eine universale Urteilsregel in bezug auf ungleichartige Diskursarten im Allgemeinen fehlt.“ (Lyotard, J.-F. (1989). Der Widerstreit. 2., korrigierte Auflage. München: Wilhelm Fink Verlag, S.9.) 46 Lyotard, Jean-François (1999). Das postmoderne Wissen: ein Bericht. 4., unveränderte Neuauflage. Wien: Passagen-Verlag, S. 47.

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A: Wenn du deine Hausaufgeben machst, darfst du ins Kino. B: Das ist Bestechung! A: Nein, du drehst mir das Wort im Mund herum! B: Nein! A: Ich denke, du machst besser deine Hausaufgaben! (A wusste nicht, was sie auf den Vorwurf der Bestechung sagen sollte, sie war durch diesen Vorwurf zum Schweigen verdammt. Sie hätte z.B. transvaluieren können, indem sie gesagt hätte: »Ich möchte dich belohnen!«) A: Ich mache mir Sorgen, dass meine Tochter mit mir leben möchte. Das kann schwierig sein, so eine 10-Jährige, vor allem wenn man keine richtige Beziehung zu ihr hat. Sie ist einfach ein komisches Kind. Therapeutin: Haben Sie Angst, dass Ihre Tochter über Ihr Leben bestimmen würde? A: Nein! Therapeutin: Aber dass sie es könnte? A: Nein! Ich weiß nicht, was Sie denken! Was denken Sie von mir? Denken Sie, dass selbst ein 10-jähriges Kind über mich bestimmen könnte? (Die Analytikerin hat transvaluiert: »Haben Sie Angst, dass Ihre Tochter über Ihr Leben bestimmen würde?« Diese Frage kann heißen: »Haben Sie Angst, dass Ihre Tochter Ihr Leben zu sehr beansprucht?« Der Mann hingegen hat gedacht, die Analytikerin sei der Meinung, er habe nicht die Kraft, sich gegen seine Tochter zu behaupten.) Was passiert im Widerstreit? Eine Person drückt ihre Position aus, definiert eine Position. Die Gesprächspartnerin fühlt sich nicht in der Lage, dagegen zu argumentieren, sondern eher zum Schweigen verurteilt, falsch eingeschätzt und zwar überraschend. Es folgt ein anderes Beispiel für Widerstreit – erzählt von einem Teilnehmer: 1. Szene Zwei Kollegen im Restaurant. Kollege I zum anderen: Was schätzt Du, wie alt ich bin? Kollege II will höflich sein, überlegt strategisch und sagt dann: 50 Kollege I: Nein, ich bin 40! 2. Szene Nach dem Essen, beim Verlassen des Restaurants nähern sich die beiden dem Kleiderständer: Kollege I nimmt zuvorkommend den Mantel von Kollege II und will ihm hineinhelfen. Darauf sagt Kollege II zu Kollege I: Denkst Du ich bin ein »Krüppel«? Was für den einen Kollegen eine Höflichkeitsgeste war, empfand der andere als Beleidigung seines Gesundheitszustandes. Menschen definieren ihre Begriffe und Gesten lokal. Und relational. Also im Augenblick des MiteinanderSprechens und gemeinsamen Handelns. Paralogie basiert auf kleinen Geschichten, nicht auf großen Erzählungen. Diese Idee der »kleinen Geschichten« (»little narratives«) ist hilfreich und sinnvoll im Umgang mit Widerstreit.

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„Wie gesagt, der auffallende Zug des postmodernen wissenschaftlichen Wissens besteht in der – jedoch expliziten – Immanenz des Diskurses über die Regeln, die seine Gültigkeit ausmachen. Was Ende des 19. Jahrhunderts für den Verlust der Legitimität und den Niedergang in den philosophischen »Pragmatismus« oder den logischen Positivismus gehalten werden konnte, war nur eine Episode, von der sich das Wissen durch den Einschluss des Diskurses über die Gültigkeit der als Gesetze geltenden Aussagen in den wissenschaftlichen Diskurs erholt hat. Dieser Einschluss ist kein einfacher Vorgang; man hat es gesehen, er gibt Anlass zu »Paradoxa«, die als äußerst schwerwiegend angenommen werden, und zu »Begrenzungen« in der Tragweite des Wissens, die in Wahrheit Modifikationen seiner Natur gleichkommen.“47

„Der Konsens ist ein veralteter und suspekter Wert geworden, nicht aber die Gerechtigkeit. Man muss also zu einer Idee und einer Praxis der Gerechtigkeit gelangen, die nicht an jene des Konsenses gebunden ist. Das Erkennen der Heteromorphie der Sprachspiele ist ein erster Schritt in diese Richtung. Es impliziert offenkundig den Verzicht auf den Terror, der ihre Isomorphie annimmt und zu realisieren trachtet. Der zweite ist das Prinzip, dass, wenn es einen Konsens über die Regeln gibt, die jedes Spiel und die darin gemachten »Spielzüge« definieren, so muss dieser Konsens lokal sein, dass heißt von gegenwärtigen Mitspielern erreicht und Gegenstand eventueller Auslösung. Man orientiert sich also an Vielfältigkeiten endlicher Metaargumentationen, wir wollen sagen: Argumentationen, die Metapräskriptionen zum Gegenstand haben und raum-zeitlich begrenzt sind.“48

Es geht also um den lokalspezifischen und zeitbegrenzten Konsens über Regeln innerhalb des Gesprächs. Die Regeln für das Gespräch werden im Gespräch miteinander erzeugt. Man kann nicht paralogisch miteinander sprechen, wenn man auf der eigenen Sicht besteht. Auf der eigenen Sicht zu bestehen nennt Lyotard Terror. Ein Beispiel für Paralogie: A: Du bist sauer auch mich! B: Ich würde das nicht »Sauer-Sein« nennen, oder »Ärger«. A: Sondern? B: Nur irritiert. A: Was ist der Unterschied? B: Das ist ein vorübergehendes Gefühl. Wenn ich sauer wäre oder ärgerlich, würde das länger anhalten. A: Warum bist du irritiert? B: Na ja, Du hast ein paar Punkte vergessen.... Dieses ist ein Beispiel für eine gemeinsame Herstellung einer Definition von Ärger im Sprachspiel, ein Beispiel für »generous listening«. Lois zufolge möchte Lyotard uns eine Handlungsmöglichkeit zeigen, einen Weg für den Umgang mit Situationen, in denen wir meinen, nichts mehr sagen zu können (siehe die Beispiele oben): Lyotard zeigt uns mit seinem Konzept der Paralogie, wie man Menschen wieder ins Gespräch hereinholen kann.

47 Lyotard, Jean-François (1999). Das postmoderne Wissen: ein Bericht. 4., unveränderte Neuauflage. Wien: Passagen-Verlag, S. 159f. 48 ebd., S. 190f.

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Diese Ideen haben Ähnlichkeiten mit Harry Stack Sullivans »interindividueller Psychoanalyse«49 (Bateson bezog sich auf ihn). Während die meisten PsychoanalytikerInnen freie Assoziationen untersuchen, um unbewusste Motive zu enthüllen, untersuchte Sullivan Interaktionen zwischen Menschen, mit dem Ziel, interindividuelle Trends zu entdecken. Live-Gespräch 1 Moderatorin: Lois Shawver / Übersetzung: Klaus G. Deissler Abb. 2: Transvaluationsmatrix zum Gespräch

impulsiv spontan, mutig

vorsichtig zwanghaft

B i n ä r e B e g r i f f e

B i n ä r e B e g r i f f e

T r a n s v a l u a t i o n

T r a n s v a l u a t i o n

Ein signifikanter Anderer sagte dem Klienten früher, er sei impulsiv. Man kann die Binarität auf der linken Seite auch anders verstehen, wie rechts beispielsweise:

• impulsiv kann spontan und mutig heißen; • vorsichtig kann zwanghaft heißen.

49 »interpersonal psychoanalysis«

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Der Klient könnte z.B. akzeptieren, dass manche Menschen ihn als »impulsiv« einstufen (es kann immer wieder vorkommen, dass andere ihm ein solches Etikett verpassen), statt dagegen anzukämpfen. Der signifikante Andere, der ihn als »impulsiv« etikettiert, sieht sich selbst vielleicht als »vorsichtig«. Diese «Vorsichtigkeit« könnte aber auch als »Zwanghaftigkeit« gedeutet werden. Es aufzugeben, auf der einen Binarität starr zu beharren und stattdessen Transvaluationen hören, sehen und akzeptieren zu können, das wäre im Sinne der Paralogie. Postmodernismus ist nicht barbarisch (Lyotard) Das postmoderne Gespräch, Paralogie, das sind Gespräche, in denen die Teilnehmenden kein Ziel verfolgen, das sie durchsetzen möchten. Sie haben vielleicht ein Ziel, etwas, was sie bevorzugen, aber sie sind offen für Modifikationen, so Lois. Versuche, ein System zum Funktionieren zu bringen, nennt Lyotard »Performativität«. Wenn man z.B. versucht, eine Familie dahin zu bringen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, dann ist man auf Performativität ausgerichtet. Wenn das Gespräch dann einen neuen Aspekt zeigt, müssen wir vielleicht das Ziel im Gespräch umändern, modifizieren, oder auch die Problemdefinition. Wenn man übereifrig damit beschäftigt ist, Performativität zu erreichen, oder Ergebnisse, oder »Problem«lösungen, dann ist man möglicherweise nicht offen dafür, ein Auftauchen einer Redefinition »des Problems« zu erlauben. Im modernen Denken sind wir geneigt zu glauben, dass jedes Ding einen Namen hat. Dies impliziert Schubladendenken. Positivismus.

„Es war die Stärke Wittgensteins, dass er dem nicht auf die Seite des Positivismus entwich, den der Wiener Kreis entwickelte, und dass er in seiner Untersuchung der Sprachspiele die Perspektive einer anderen Art von Legitimierung als die der Performativität entwarf. Mit ihr hat die postmoderne Welt zu tun. Die Sehnsucht nach der großen Erzählung ist für die meisten Menschen selbst verloren. Daraus folgt keineswegs, dass sie der Barbarei ausgeliefert wären. Was sie daran hindert, ist ihr Wissen, dass die Legitimierung von nirgendwo anders herkommen kann als von ihrer sprachlichen Praxis und ihrer kommunikativen Interaktion. Vor allem anderen Glauben hat sie die Wissenschaft, die »in ihren Bart lächelt«, die raue Nüchternheit des Realismus gelehrt.“50

Es geht also um eine andere Möglichkeit, unser Wissen zu legitimieren, eine Möglichkeit außerhalb der Performativität. Legitimierung des Wissens Lyotard spricht oft über Legitimierung. Wenn eine Feststellung legitimiert wird, ist es so, als sagte jemand: »So ist es genau richtig«. Postmodernes Denken impliziert Wertschätzung für bestimmte Feststellungen, aber wir bleiben skeptisch, sie als starre Rezepte für unser eigenes Denken zu nehmen. Wir »hören großzügig zu«. Mit anderen Worten: Wir bleiben beweglich in der Bewegung der »différance«.

„Die postmoderne Lage ist dennoch der Entzauberung fremd, wie auch der blinden Positivität der Delegitimation. Wovon kann die Legitimation nach den Metaerzählungen ausgehen? Das Kriterium der Operabilität ist ein technologisches,

50 Lyotard, Jean-François (1999). Das postmoderne Wissen: ein Bericht. 4., unveränderte Neuauflage. Wien: Passagen-Verlag, S. 122.

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es taugt nicht, um über die Wahrheit und das Rechte zu urteilen. Der durch Diskussion erreichte Konsens, wie Habermas denkt? Er tut der Heterogenität der Sprachspiele Gewalt an. Und die Erfindung entsteht immer in der Meinungsverschiedenheit. Das postmoderne Wissen ist nicht allein das Instrument der Mächte. Es verfeinert unsere Sensibilität für die Unterschiede und verstärkt unsere Fähigkeit, das Inkommensurable zu ertragen. Es selbst findet seinen Grund nicht in der Übereinstimmung der Experten, sondern in der Paralogie der Erfinder.“51

Ein Schlüsselbegriff in diesem Zitat ist »Erfinder«: Wenn ich erfinde, geht es nicht mehr um Richtig oder Falsch. Um erfinderisch zu sein, braucht man eine Gruppe von Menschen, die offen dafür sind, einen Raum, in dem man eine gewisse Unabhängigkeit haben kann. Eine Zwischenfrage wird gestellt: Braucht man noch Legitimation in der Postmoderne? Lyotard sagt, das Gespräch selbst ist die Legitimation. Wir haben also in der Postmoderne eine Legitimation durch Paralogie. In der Moderne erfolgt die Legitimierung durch Autoritäten (per Amt und Status z.B.). Wenn man sich in einem Gespräch barbarisch verhält, dann laufen die Leute weg. Das Gespräch bricht ab. Man kann dies »die Schule der harten Schläge« nennen. Postmoderne ist nicht barbarisch. Es gibt einige Stellen, an denen Lyotard selbst die Kriegsmetapher benutzt. Vieles, was Lyotard sagt, bezieht sich indirekt auf das, was Lois Shawver »großzügiges Zuhören« nennt. Diese Seite ist ihr persönlich sehr wichtig und sie betont sie stärker als die Stellen, in denen Lyotard die Kriegsmetapher benutzt. Anmerkung eines Teilnehmers: Man könne sich fragen, warum Lyotard es für nötig halte, den Hinweis zu geben, das, was er schreibe, sei keine Barbarei. Dazu müsse man wissen, dass er, bevor er „Das postmoderne Wissen“ schrieb, extremer Marxist war. Und er glaubte an Marx’ Satz, die Zukunft sei entweder Barbarei oder Sozialismus. Lyotard propagiert im „Postmodernen Wissen“ keinen Sozialismus. Und vielleicht betont er ja genau aus diesem Grund, seine Ideen seien keine Barbarei. Marx kann wie eine Metaerzählung verstanden werden. Oder auch nicht. Lyotard und auch Foucault haben den Marxismus als Metaerzählung abgelehnt. Lyotard dachte z.B., dass die Metapher des Kapitalismus einem eher die Möglichkeit gibt, heute soziale Prozesse zu verstehen. Aber für ihn war Kapitalismus eben auch eine Metapher und keine Metaerzählung. Metaerzählungen benutzt man, so Lois, um zu überprüfen, ob eine neue Metapher legitim ist oder nicht. Alle Erzählungen müssen zu der Metaerzählung passen und die eigene Interpretation der Metaerzählung darf nicht in Frage gestellt werden. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei der Paralogie um viele kleine Geschichten, kleine Theorien. Und Unvereinbare Geschichten werden wertgeschätzt, denn das System ist ein offenes und es muss darum auch nicht abgeschlossen sein oder wasserdicht. Paralogie passt nicht zur modernen zweiwertigen Argumentationsweise. Unterschiedliche Argumentationsweisen und –logiken dürfen durchaus nebeneinander sein. Und es ist dennoch möglich, sich zeitweise zweiwertig-logische Argumentationen zu erlauben, das kann sehr nützlich sein.

51 ebd., S. 16.

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Wie praktiziert man Paralogie? Indem man die Begriffe, die man benutzt, möglichst genau definiert (so wie in dem Paralogie-Beispiel, s.o.). Und indem man die lokalspezifische, relationale, Person-Raum-Zeit-abhängige Bedeutung von Begriffen (und die Regeln für ihren Gebrauch) nicht aus den Augen verliert.

Das „zweite ist das Prinzip, dass, wenn es einen Konsens über die Regeln gibt, die jedes Spiel und die darin gemachten »Spielzüge« definieren, so muss dieser Konsens lokal sein, dass heißt von gegenwärtigen Mitspielern erreicht und Gegenstand eventueller Auslösung. Man orientiert sich also an Vielfältigkeiten endlicher Metaargumentationen, wir wollen sagen: Argumentationen, die Metapräskriptionen zum Gegenstand haben und raum-zeitlich begrenzt sind.“52

Lois betont die Wichtigkeit zu überprüfen: Passt das, was ich sage, zu meinen inneren Stimmen und Gefühlen – ist es das, was ich sagen wollte? Ich überprüfe mich in diesem Prozess also immer auch selbst. Lyotard würde sagen, dass diese Überprüfung im Paralogieprozess selbst stattfindet. Denn wir haben ja keine private Sprache (Wittgenstein). Auch »unsere« Gefühle konstruieren wir relational, in und durch miteinander Sprechen und gemeinsames Handeln. Wenn unsere Gefühle Konstruktionen sind, heißt das allerdings nicht, sie seien nicht da, präsent, fühlbar – dies sei ein wichtiger Punkt! Lois erinnert uns in diesem Zusammenhang an ihre Art und Weise, das Live-Gespräch zu moderieren. Dort hatte sie sehr konkret und dezidiert den Fokus auf die Gefühle gelegt (Visualisierung) und auf mögliche Veränderungen dieser Gefühle, auf Transvaluation und damit auf die Schaffung eines Raumes, der Möglichkeiten eröffnet. Live-Gespräch 2 Moderation durch einen Weiterbildungsteilnehmer Abb. 3 Transvaluationsmatrix des Gesprächs

X kann nicht Nein sagen

X ist flexibel

X kann Nein sagen oder O-Ton Dr. kgd: x kann nicht Ja sagen

X ist egoistisch

B i n ä r e B e g r i f f e

B i n ä r e B e g r i f f e

T r a n s v a l u a t i o n

T r a n s v a l u a t i o n

52 Lyotard, Jean-François (1999). Das postmoderne Wissen: ein Bericht. 4., unveränderte Neuauflage. Wien: Passagen-Verlag, S. 191.

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Y beschreibt X mit folgendem Satz: »X kann nicht Nein sagen – er sollte das lernen!« Für X hingegen bedeutet »Nein sagen Können«, egoistisch zu sein. Wir haben im Seminar zusammen überlegt, ob uns noch Sätze aus dem Live-Gespräch präsent sind, in denen Y ihre Aussage »X kann nicht Nein sagen« mit anderen Worten umschrieben hatte. Folgende Beispiele fielen uns ein: »X vergisst, wenn er mit einer Sache beschäftigt ist, alles um sich herum.« »Ich sehe X auf einer einzigen Spur.« »X macht immer das, was die Leute, die ihm gerade in dem Moment nahe sind, von ihm erwarten.« Wenn X aus seinem Sprachspiel »Nein-Sagen ist egoistisch« aussteigen könnte und Y aus ihrem Sprachspiel »X kann nicht nein sagen«, wenn beide z.B. die Transvaluation annehmen könnten, dann könnte X vielleicht auch manchmal leichter »Nein« sagen. Denn er würde dann beide Seiten der Transvaluation sehen, nebeneinander, ohne nur in dem einen Sprachspiel zu verharren. Und die beiden würden vielleicht aufhören zu versuchen, den jeweiligen anderen von der eigenen Sicht überzeugen zu wollen. Y könnte zu X auch sagen: »Du könntest vielleicht manchmal weniger flexibel sein«, statt den Begriff »egoistisch« zu verwenden. Damit könnte die Binarität »flexibel-egoistisch« aufgeweicht werden. Eine Frage wird gestellt: Wie kann man dazu beitragen, dass ein neues Sprachspiel entsteht, ohne auszudrücken, dass man das vorhandene Sprachspiel, das die KlientInnen benutzen, entwertet? Lois Shawver nennt das reflektierende Team als Möglichkeit und betont, dass die Beiträge im reflektierenden Team eine Erweiterung dessen sein sollten, was bisher gesagt wurde und keineswegs eine Abwertung. Man könne aber auch eine Geschichte erzählen, ein Märchen, eine Metapher, die einen mit den Geschichten der KlientInnen verbindet und die z.B. eine Transvaluation, ein neues Sprachspiel enthält. Es folgt eine weitere Transvaluationsmatrix, entstanden in und durch Reflexionen über das live-Gespräch: X sagte in dem Gespräch über sich: »Ich habe das Grönemeyer-Symdrom« (aus dem song »Männer«… »Männer steh’n ständig unter Strom«). Abb. 4: Transvaluationsmatrix

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Ich bin ein Super-Macho (oder anders: ich stehe ständig unter Strom)

Ich bin ein Mann

Ich bin kein Macho, ich bin ein Softy (oder anders: ich bin entspannt)

Ich bin kein Mann

B i n ä r e B e g r i f f e

B i n ä r e B e g r i f f e

T r a n s v a l u a t i o n

T r a n s v a l u a t i o n

Durch Transvaluation kann man von einem Sprachspiel in ein anderes wechseln und dadurch neue Sprachspiele eröffnen. Unsere Aufgabe als TherapeutInnen ist es, so Lois abschließend, im Gespräch mit den Klientinnen und Klienten dafür zu sorgen, dass sie diejenigen Sprachspiele verlassen können, die sie paralysieren. Es gibt viele Wege, dies zu tun. Die in diesem Seminar vorgestellte, auf postmodernen Ideen basierende Transvaluation nach Lois Shawver ist eine Möglichkeit. „Wenn sich die Sprachspiele ändern“, schreibt Wittgenstein, „ändern sich die Begriffe, und mit den Begriffen die Bedeutungen der Wörter.“53 Die Unentscheidbarkeit der Frage nach dem Absoluten, die fehlende Gewissheit, die Vieldeutigkeit und Polyphonie kann neue Sinnwelten produzieren: „Wir werden beeindruckt von den Wortkombinationen, die wir hören; der übliche, gewohnheitsmäßige Fluss unseres Denkens und Verstehens wird zum Stillstand gebracht; unsere alltäglichen, als selbstverständlich erachteten Handlungsweisen werden für einen Moment außer Kraft gesetzt; für einen Augenblick scheint der Tätigkeitsfluss, in den wir involviert sind, zum Stillstand zu kommen. Wir beginnen, die Bedeutung des momentanen Standbildes zu überprüfen, die auf diese Weise erschaffen wurde. Dies dient dazu, die gegenwärtigen Umstände im Licht der sich wandelnden und oszillierenden Beziehungen zwischen den nebeneinander gestellten Verwendungen der Worte zu betrachten, die uns beeindruckt haben. Die Kombinationen legen Verbindungen und Beziehungen zwischen den Zusammenhängen nahe, auf die sie angewendet werden, die vorher nicht ersichtlich waren. Und in den interaktiven oder bewegenden Momenten, die so erzeugt werden, bewegen wir uns zwischen Endpunkten und Anfängen; zwischen Sonnen in unseren jeweiligen Umlaufbahnen; man sieht mit seinen Ohren oder hört mit seinen Augen; nah und fern, tiefgründig und oberflächlich, Veränderlichkeit und Beständigkeit und so weiter und so weiter. Wir beginnen sozusagen damit, alle Ereignisse, mit denen wir zufällig konfrontiert werden, in einen neuen Fluss des Denkens hereinzuholen, aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. 53 Wittgenstein, Ludwig (1997). Werkausgabe Band 8. Bemerkungen über die Farben. Über Gewißheit. Zettel. Vermischte Bemerkungen. 7. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 132 (Über Gewißheit).

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Und während wir auf diese Weise unsere Umwelt prüfen und über sie nachdenken, sehen wir nicht über sie hinaus in eine ursprünglich verborgene Wirklichkeit, in eine vermeintlich realere Wirklichkeit, die nur durch Annahmen in der Begrifflichkeit einer Theorie zu verstehen ist. Wir sehen vielmehr die Vielgestaltigkeit der Wirklichkeit, die vor uns liegt. Von nun an prüfen wir mit größerer Sensibilität ihre alltägliche Komplexität, ihren verschlungenen Reichtum, ihre besonderen Einzelheiten. Wir beginnen, in alldem die vorher nicht ersichtlichen Andeutungen von außergewöhnlichen, aber möglicherweise neuen Wegen zu entdecken, auf denen wir weitergehen können. – Gegenüber diesen Andeutungen hat uns das Machtwissen dominierender Gespräche dieser oder jener ausgewählten Gruppe blind gemacht.“54

54 Shotter, John (2000). Wittgenstein und die Wurzeln der sozialen Poesie in spontanen Körperreaktionen: Der dritte Bereich. In Klaus G. Deissler & Sheila McNamee (Hrsg.), Phil und Sophie auf der Couch (120 – 129). Carl Auer Systeme Verlag: Heidelberg, S. 121f.

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Summary What has postmodern therapy and consultation to do with trained dogs and bewitchment. What with the ability to deal with paradox and with differend. What is a play without an author? What does legitimation of knowledge through paralogy mean? What is the diffenence between postmodern talking with one another and »listening in order to talk«? And what have all these things to do with (mis)understanding? This seminar-report begins with the presentation of the theoretical basics of Lois Shawver’s transvaluation. The description of the model itself follows and is accompanied by many examples. Transvaluation is a model that grabs - among others – the Derridanian différance. And it is a model, which can enable people to leave paralysing language-games and to find stability in unstable processes. Lois Shawver’s ubiquitous appreciation of polyphony and the transvaluation’s immanent unleashing of multivocality is a contribution to reconciliatory understanding of our dealing with differend.

Kurzbiographie Karin Roth, geb. 1969, Diplom Rehabilitationswissenschaftlerin; Systemische Therapeutin/SG; zur Zeit lebt sie in Bochum und ist seit 1998 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der Universität Dortmund; Gründungsmitglied der Weglaufhaus Initiative Ruhrgebiet; Interessens- und Arbeitsgebiete: Behinderung & Sprachphilosophie / Poststrukturalismus / Postmoderne, Sozialer Konstruktionismus, postmoderne Therapieformen, Entwicklung und Etablierung von Zwang-freien und Psychopharmaka-kritischen Alternativen zu herkömmlichen psychiatrischen Angeboten. Lois Shawver, PhD, ist klinische Psychologin und Psychoanalytikerin. Sie veröffentlicht über ein breites Themenspektrum und gehört zu den Mitarbeiterinnen des »American Journal of Psychoanalysis«. Sie hat lange Jahre als Gerichtsgutachterin in den USA und Kanada gearbeitet und ihr Spezialgebiet war menschliche Sexualität. Zur Zeit betreibt sie eine Privatpraxis in Nordkalifornien und ihr aktueller Interessen- und Arbeitsschwerpunkt ist »postmoderne Philosophie«. Sie leitet ein Internetforum, das »postmoderne Therapie und Beratungsformen« zum Inhalt hat: http://www.california.com/~rathbone/pmth.htm Anschrift der Verfasserin Karin Roth Universität Dortmund Fakultät Rehabilitationswissenschaften Theorie der Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung Emil-Figge-Str. 50 44221 Dortmund eMail: [email protected] Dr. Lois Shawver 385 Bellvue Avenue Oakland, CA 946 10 USA eMail: [email protected]