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Manuelle Medizin 2012 · 50:141–146 DOI 10.1007/s00337-012-0904-9 Online publiziert: 22. März 2012 © Springer-Verlag 2012 K. Ammer Institut für Physikalische Medizin und Rehabilitation, Hanusch-Krankenhaus, Wien Manualtherapie bei chronischem  Spannungskopfschmerz Eine wirksame Behandlung? Literatur im Fokus Zusammenfassung der Studie Fragestellung Ist Manualtherapie bei Patienten mit chronischem Spannungskopfschmerz eine wirksame Behandlung? Methode In den Niederlanden wurden in einer multizentrischen pragmatischen rando- misierten Studie mit teilweise verblen- deter Ergebnismessung 82 Teilnehmer mit chronischen Spannungskopfschmer- zen, welche die Diagnosekriterien der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft (ICHD-2) erfüllten, entweder mit Ma- nualtherapie oder mit Standardtherapie beim Allgemeinmediziner behandelt. Die manualtherapeutische Behand- lung bestand aus der Kombination von Mobilisationen an der Hals-und Brust- wirbelsäule, Krankengymnastik und Hal- tungskorrektur. Jede manualtherapeuti- sche Sitzung dauerte 30 min und maxi- mal wurden 9 Sitzungen durchgeführt. In jeder Therapiesitzung erfolgten Wir- belsäulenmobilisationen, Bewegungsthe- rapie und Haltungskorrektur, wobei die Gewichtung der Therapiekomponenten nach Ermessen des Therapeuten an die individuelle Situation des Patienten ange- passt wurde. Die Standardtherapie beim Allge- meinmediziner beinhaltete Information, Unterstützung und Beratung hinsichtlich der Vorteile einer Lebensstiländerung, Außerdem wurden bei Bedarf Analgeti- ka oder nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) verordnet bzw. eine bestehende Schmerzmedikation modifiziert. Hauptergebnisparameter war die An- zahl der Tage, an denen der Proband in den letzten 14 Tagen Kopfschmerzen ver- spürt hatte, und wie viele Dosen von An- algetika bzw. NSAR er in diesem Zeitraum eingenommen hatte. Diese Daten wurden in einem Schmerztagebuch aufgezeichnet. Eine Reduktion der Kopfschmerzhäufig- keit um 50% galt als klinisch relevant. Insgesamt wurden folgende sekundäre Ergebnisparameter erfasst: 1. Kopfschmerzintensität in den voran- gegangenen 24 h mittels einer 11-tei- ligen numerischen Beurteilungsskala (0 = kein Schmerz, 10 = stärkstmögli- cher Schmerz) 2. Der Einfluss der Kopfschmerzen auf den Alltag wurde mit dem Heada- che Disability Inventory (HDI) und dem Headache Impact Test 6 (HIT- 6) erhoben. Der HDI-Score bewegt sich zwischen 0 (keine Behinderung) und 100 (ausgeprägte Behinderung). Eine Reduktion des HDI-Scores um 16 Punkte gilt als klinisch bedeutsam. Der HIT-6-Skore beträgt minimal 36 und maximal 78 Punkte. Eine Ver- minderung um 2,3 Punkte gilt als kli- nisch relevant. 3. Der aktive Bewegungsumfang der Halswirbelsäule wurde in allen 3 Ebe- nen (Flexion/Extension, Rotation nach links und rechts, Seitbeugung links und Seitbeugung rechts) mit dem CROM-Gerät erhoben. 4. An 4 Punkten über dem M. trapez- ius descendens und über 2 Punkten der subokzipitalen Muskulatur wur- de ein Druck von 3,0 kg/cm 2 appli- ziert und die subjektive Schmerzhaf- tigkeit des Drucks an jedem Punkt mittels einer 11-teiligen numerischen Beurteilungsskala (0 = kein Schmerz, 10 = stärkstmöglicher Schmerz) quan- tifiziert. Die Skores aller Punkte wur- de summiert. 5. Die Kraftausdauer der Halsbeuger wurde an der Zeit in Sekunden ge- messen, in der die Patienten in Rü- ckenlage den Kopf hochheben konn- ten. 6. Die Teilnehmer beurteilten die wahr- genommene Veränderung an einer 7-teiligen Skala mit den Endpunkten 0 = sehr viel schlechter und 6 = sehr viel besser, wobei 5 (= viel besser) und 6 (= sehr viel besser) als wiederherge- stellt interpretiert wurde. Die Ergebnisparameter wurden vor so- wie 8 und 26 Wochen nach Randomisie- rung erhoben. Zusätzlich wurden bei der Nachkontrolle Daten über Krankenta- ge und zusätzliche Nutzung von Gesund- heitseinrichtungen registriert. Ergebnisse Am Ende der Therapie (8 Wochen nach Randomisierung) und bei der Nachkon- trolle (26 Wochen nach Randomisierung) fand sich eine signifikant geringere Kopf- schmerzhäufigkeit in der Manualtherapie- gruppe gegenüber der Standardtherapie- gruppe: Der Unterschied nach 8 Wochen betrug −6,4 Tage mit einem 95%-Konfi- denzintervall (KI) von −8,3 bis −4,5 Ta- gen), der Unterschied nach 26 Wochen −4,9 Tage (95%-KI: −6,95 bis −2,98 Tage). Die Teilnehmer gaben vor Therapie durch- schnittlich 12 Kopfschmerztage in den vo- rangegangenen 14 Tagen an. Die Reduk- tion um 9,1 Tage in den Manualtherapie- gruppe entspricht einer 75%igen Reduk- tion der Kopfschmerzhäufigkeit und ist ein klinisch hochrelevanter Therapieeffekt. Originalpublikation Castien RF et al (2011) Effectiveness of manual therapy for chronic tension-type headache: a pragmatic, randomised, clinical trial. Cephalalgia 31(2) 133–143 141 Manuelle Medizin 2 · 2012|

Manualtherapie bei chronischem Spannungskopfschmerz

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Manuelle Medizin 2012 · 50:141–146DOI 10.1007/s00337-012-0904-9Online publiziert: 22. März 2012© Springer-Verlag 2012

K. AmmerInstitut für Physikalische Medizin und Rehabilitation, Hanusch-Krankenhaus, Wien

Manualtherapie bei chronischem SpannungskopfschmerzEine wirksame Behandlung?

Literatur im Fokus

Zusammenfassung der Studie

Fragestellung

Ist Manualtherapie bei Patienten mit chronischem Spannungskopfschmerz eine wirksame Behandlung?

Methode

In den Niederlanden wurden in einer multizentrischen pragmatischen rando-misierten Studie mit teilweise verblen-deter Ergebnismessung 82 Teilnehmer mit chronischen Spannungskopfschmer-zen, welche die Diagnosekriterien der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft (ICHD-2) erfüllten, entweder mit Ma-nualtherapie oder mit Standardtherapie beim Allgemeinmediziner behandelt.

Die manualtherapeutische Behand-lung bestand aus der Kombination von Mobilisationen an der Hals-und Brust-wirbelsäule, Krankengymnastik und Hal-tungskorrektur. Jede manualtherapeuti-sche Sitzung dauerte 30 min und maxi-mal wurden 9 Sitzungen durchgeführt. In jeder Therapiesitzung erfolgten Wir-belsäulenmobilisationen, Bewegungsthe-rapie und Haltungskorrektur, wobei die Gewichtung der Therapiekomponenten nach Ermessen des Therapeuten an die individuelle Situation des Patienten ange-passt wurde.

Die Standardtherapie beim Allge-meinmediziner beinhaltete Information, Unterstützung und Beratung hinsichtlich der Vorteile einer Lebensstiländerung,

Außerdem wurden bei Bedarf Analgeti-ka oder nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) verordnet bzw. eine bestehende Schmerzmedikation modifiziert.

Hauptergebnisparameter war die An-zahl der Tage, an denen der Proband in den letzten 14 Tagen Kopfschmerzen ver-spürt hatte, und wie viele Dosen von An-algetika bzw. NSAR er in diesem Zeitraum eingenommen hatte. Diese Daten wurden in einem Schmerztagebuch aufgezeichnet. Eine Reduktion der Kopfschmerzhäufig-keit um 50% galt als klinisch relevant.

Insgesamt wurden folgende sekundäre Ergebnisparameter erfasst:1. Kopfschmerzintensität in den voran-

gegangenen 24 h mittels einer 11-tei-ligen numerischen Beurteilungsskala (0 = kein Schmerz, 10 = stärkstmögli-cher Schmerz)

2. Der Einfluss der Kopfschmerzen auf den Alltag wurde mit dem Heada-che Disability Inventory (HDI) und dem Headache Impact Test 6 (HIT-6) erhoben. Der HDI-Score bewegt sich zwischen 0 (keine Behinderung) und 100 (ausgeprägte Behinderung). Eine Reduktion des HDI-Scores um 16 Punkte gilt als klinisch bedeutsam. Der HIT-6-Skore beträgt minimal 36 und maximal 78 Punkte. Eine Ver-minderung um 2,3 Punkte gilt als kli-nisch relevant.

3. Der aktive Bewegungsumfang der Halswirbelsäule wurde in allen 3 Ebe-nen (Flexion/Extension, Rotation nach links und rechts, Seitbeugung links und Seitbeugung rechts) mit dem CROM-Gerät erhoben.

4. An 4 Punkten über dem M. trapez-ius descendens und über 2 Punkten der subokzipitalen Muskulatur wur-de ein Druck von 3,0 kg/cm2 appli-ziert und die subjektive Schmerzhaf-tigkeit des Drucks an jedem Punkt

mittels einer 11-teiligen numerischen Beurteilungsskala (0 = kein Schmerz, 10 = stärkstmöglicher Schmerz) quan-tifiziert. Die Skores aller Punkte wur-de summiert.

5. Die Kraftausdauer der Halsbeuger wurde an der Zeit in Sekunden ge-messen, in der die Patienten in Rü-ckenlage den Kopf hochheben konn-ten.

6. Die Teilnehmer beurteilten die wahr-genommene Veränderung an einer 7-teiligen Skala mit den Endpunkten 0 = sehr viel schlechter und 6 = sehr viel besser, wobei 5 (= viel besser) und 6 (= sehr viel besser) als wiederherge-stellt interpretiert wurde.

Die Ergebnisparameter wurden vor so-wie 8 und 26 Wochen nach Randomisie-rung erhoben. Zusätzlich wurden bei der Nachkontrolle Daten über Krankenta-ge und zusätzliche Nutzung von Gesund-heitseinrichtungen registriert.

Ergebnisse

Am Ende der Therapie (8 Wochen nach Randomisierung) und bei der Nachkon-trolle (26 Wochen nach Randomisierung) fand sich eine signifikant geringere Kopf-schmerzhäufigkeit in der Manualtherapie-gruppe gegenüber der Standardtherapie-gruppe: Der Unterschied nach 8 Wochen betrug −6,4 Tage mit einem 95%-Konfi-denzintervall (KI) von −8,3 bis −4,5 Ta-gen), der Unterschied nach 26 Wochen −4,9 Tage (95%-KI: −6,95 bis −2,98 Tage). Die Teilnehmer gaben vor Therapie durch-schnittlich 12 Kopfschmerztage in den vo-rangegangenen 14 Tagen an. Die Reduk-tion um 9,1 Tage in den Manualtherapie-gruppe entspricht einer 75%igen Reduk-tion der Kopfschmerzhäufigkeit und ist ein klinisch hochrelevanter Therapieeffekt.

Originalpublikation

Castien RF et al (2011) Effectiveness of manual therapy for chronic tension-type headache: a pragmatic, randomised, clinical trial. Cephalalgia 31(2) 133–143

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Unmittelbar nach Therapieende fan-den sich signifikant deutlichere Verbesse-rungen aller sekundären Ergebnisparame-ter zugunsten der Manualtherapie, wobei der Unterschied zwischen beiden Grup-pen beim HIT-6 mit 6,5 Punkten deutlich größer war als die kleinste klinisch rele-

vante Veränderung. Bei der Nachkontrol-le 26 Wochen nach Randomisierung war die Verminderung der Schmerzintensi-tät und die Verbesserung des HIT-6 nach Manualtherapie signifikant deutlicher als nach Standardtherapie.

Schlussfolgerung

Die Autoren schließen aus den Daten, dass Manualtherapie wirksamer die Sym-ptome von Patienten mit chronischem Spannungskopfschmerz vermindert als die Standardtherapie beim Allgemeinme-diziner.

Kommentar

Bereits die erste Auflage der Internatio-nalen Klassifikation von Kopfschmerzer-krankungen (ICHD) unterscheidet beim Spannungskopfschmerz Subtypen mit und ohne Druckempfindlichkeit der pe-rikranialen Muskulatur. Allerdings ist das Fehlen einer druckempfindlichen Mus-kulatur kein Ausschlusskriterium für die Diagnose Spannungskopfschmerz (. Tab. 1). Spannungskopfschmerz mit druckdolenten perikranialen Struktu-ren kann als zervikogener Kopfschmerz kodiert werden [2]. Die zweite Ausgabe der ICHD diskutiert im Kapitel „Zervi-kogener Kopfschmerz“ die Unterschei-dung zwischen primären und sekundären Kopfschmerzformen. Das wesentliche Ar-gument für die Diagnose eines sekundä-ren Kopfschmerzes ist der kausale Zusam-menhang zwischen Erkrankungen von Kopf- und Halsorganen und dem Auf-treten von Kopfschmerzen, wobei auch die Verstärkung der Symptome primä-rer Kopfschmerzen als sekundärer Kopf-schmerz codiert werden kann. In . Tab. 2 sind die Diagnosekriterien des zervikoge-nen Kopfschmerzes zusammengefasst.

In der vorliegenden kanadischen Studie wurden Patienten über die diagnostischen Kriterien des Spannungskopfschmerzes, der zu den primären Kopfschmerzformen zählt, rekrutiert. Allerdings wären einige Nebenergebnisparameter, wie die Beweg-lichkeit der HWS oder die Kraft der Hals-beuger, sowie das therapeutische Konzept einer Kombination von Wirbelsäulenmo-bilisation, Krankengymnastik und Hal-tungskontrolle geeignete Outcomes und Behandlungsstrategien für den zervikoge-nen Kopfschmerz.

Posadzki u. Ernst [3] haben kürzlich einen systematischen Review zur Wirk-samkeit von Manualtherapie bei Span-nungskopfschmerz veröffentlicht, in dem neben der hier besprochenen Arbeit von

Tab. 1 Diagnostische Kriterien des Spannungskopfschmerzes. (Adaptiert nach [1])

A Mindestens 10 Schmerzattacken müssen die Kriterien B bis D erfüllen

B Dauer der Kopfschmerzen 30 min bis 7 Tage

C Die Kopfschmerzen weisen zumindest 2 der folgenden Charakteristiken auf:– Schmerzlokalisation: beidseitig– Schmerzqualität: drückend, beengend (nicht pochend oder pulsierend)– Schmerzintensität: gering bis mittelstark– Schmerzverstärkung: keine Schmerzzunahme bei üblicher körperlicher Aktivität wie Gehen

oder Treppensteigen

D Beide folgenden Symptome:– Kein Brechreiz oder Erbrechen (Appetitlosigkeit ist jedoch möglich)– Maximal 1 Episode von Photophobie oder Phonophobie

E Symptome durch keine andere Erkrankung bedingt

Eine Druckempfindlichkeit der Nackenmuskulatur ist häufig bei Patienten mit Spannungskopfschmer-zen zu finden, das Fehlen einer druckempfindlichen Nackenmuskulatur ist jedoch kein Ausschluss für die Diagnose Spannungskopfschmerz, wenn die diagnostischen Kriterien erfüllt sind

Gelegentlicher Spannungskopfschmerz:

– Die typischen Symptome treten seltener als 1-mal/Monat bzw. an maximal 11 Tagen im Jahr auf

Häufiger Spannungskopfschmerz:– Die typischen Symptome treten 1- bis 14-mal im Monat bzw. an 12 bis 179 Tagen im Jahr auf

Chronischer Spannungskopfschmerz:– Die typischen Symptome treten an 15 oder mehr Tagen pro Monat bzw. an 180 oder mehr Tagen

im Jahr auf

Tab. 2 Diagnostische Kriterien des zervikogenen Kopfschmerzes. (Adaptiert nach [2])

A Schmerz, der vom Hals in eine oder mehrere Regionen des Kopfes oder des Gesichts aus-strahlt und die Kriterien C und D erfüllt

B Klinische, Labor- und/oder bildgebende Befunde, die eine Krankheit oder Läsion der Halswir-belsäule oder der Weichteile des Halses nachweisen, die bekannte oder allgemein akzeptierte Ursachen für Kopfschmerzen darstellen

C Der Nachweis, dass der Kopfschmerz durch eine Erkrankung oder Läsion des Halses bedingt ist, muss durch mindestens einen der folgenden Punkte erfolgen:1. Vorliegen klinischer Befunde, die einen Schmerzquelle am Hals implizieren2. Beseitigung des Kopfschmerzes nach diagnostischer Blockade von zervikalen Strukturen

bzw. deren nervaler Versorgung unter Kontrolle mit Placebo oder anderen geeigneten Kontrollprozeduren

D Schmerzbeseitigung innerhalb von 3 Monaten nach erfolgreicher Behandlung der verursa-chenden Erkrankung bzw. Läsion

1. Tumoren, Frakturen, Infektionen oder rheumatoide Arthritis der oberen HWS sind formal noch nicht als Ursa-chen von Kopfschmerzen nachgewiesen, können aber in Einzelfällen beim Nachweis eines Symptomzusam-menhangs als Ursache akzeptiert werden. Der Nachweis von zervikalen Spondylosen oder Osteochondrosen erfüllt das Kriterium B nicht. Wenn myofasziale druckschmerzhafte Punkte als Ursache vorliegen, muss ein (primärer) Span-nungskopfschmerz diagnostiziert werden. 2. Akzeptable klinische Befunde müssen valide und zuverlässig sein. Klinische Befunde wie Nackenschmerzen, umschriebene Druckempfindlichkeit, anamnestischen HWS-Trauma, bewegungsabhängige Schmerzverstär-kung, einseitiger Schmerz, gleichzeitige Schulterschmerzen, eingeschränkte Beweglichkeit der HWS, Schmerz-beginn im Nacken, Brechreiz, Erbrechen, Photophobie usw. kommen nicht ausschließlich bei zerviko-genen Kopfschmerz vor. Obwohl sie mögliche Anzeichen eines zervikogenen Kopfschmerzes darstellen, definieren sie keinen Zusammenhang zwischen der Erkrankung und der Quelle des Kopfschmerzes. 3. Beseitigung des Kopfschmerzes heißt vollständige Heilung und entspricht einem Score von 0 an der visuellen Analogskala (VAS). Allerdings ist eine mehr als 90%ige Schmerzreduktion – das sind weniger als 5/100 Punkten an der VAS – für die Erfüllung des Kriteriums C2 ausreichend.

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Literatur im Fokus

Castien et al. noch 4 weitere randomisier-te Studien aufgenommen wurden [4][5][6][7]. Auch in diesen Studien wurde für die Behandlung von Spannungskopfschmer-zen Manualtherapie der HWS eingesetzt.

Eine spanische Arbeitsgruppe [8] be-schrieb eine vermehrte Hyperextension und Triggerpunkte der subokzipitalen Muskulatur bei Patienten mit Spannungs-kopfschmerzen. In einer Übersichts-arbeit zum zervikogenen Kopfschmerz [9] wurde jedoch ein durch Druck auf die Nackenmuskulatur auslösbarer Kopf-schmerz als jenes Zeichen bezeichnet, der am besten zervikogene von anderen Kopf-schmerzformen unterscheidet.

Fazit

Manualtherapie kann die Symptome bei Patienten mit chronischen Spannungs-kopfschmerzen besser vermindern als die Standardtherapie des Allgemeinme-diziners. Allerdings zeigten die behan-delten Patienten auch typische Symp-tome eines zervikogenen Kopfschmer-zes. Für diese sekundäre Kopfschmerzva-riante erscheint Manualtherapie eine be-gründbare Therapie darzustellen.

Literatur

1. Loder E, Rizzoli P (2008) Tension-type headache. BMJ 336:88–92

2. International Headache Society (2004) The internatio-nal classification of headache disorders, 2nd ed. Ce-phalalgia 24(Suppl 1):9–160

3. Posadzki P, Ernst E (2012) Spinal manipulations for tension-type headaches: a systematic review of ran-domized controlled trials. Complement Ther Med (Epub ahead of print)

4. Vernon H, Jansz G, Goldsmith CH, McDermaid C (2009) A randomized, placebo-controlled clinical tri-al of chiropractic and medical prophylactic treatment of adults with tension-type headache: results from a stopped trial. J Manipulative Physiol Ther 32(5):344–351

5. Boline PD, Kassak K, Bronfort G et al (1995) Spinal ma-nipulation vs amitriptyline for the treatment of chronic tension-type headaches – a randomized clinical trial. J Manipulative Physiol Ther 18(3):148–154

6. Bove G (1998) Spinal manipulation in the treatment of episodic tension-type headache: a randomized controlled trial. JAMA 280:1576–1579

7. Hoyt WHSF (1979) Osteopathic manipulation in the treatment of muscle contraction headache. J Am Os-teopath Assoc 1(78):322–325

7. Fernandez-de-las-Penas C, Alonso-Blanco C, PT; Luz Cuadrado M et al (2006) Trigger points in the subocci-pital muscles and forward head posture in tension-ty-pe headache. Headache 46:454–460

9. Vincent MB (2010) Cervicogenic headache: a review comparison with migraine, tension-type headache, and whiplash. Curr Pain Headache Rep 14:238–243

Originalpublikation

Vanti C et al. (2012) Relationship between in-terpretation and accuracy of the Upper Limb Neurodynamic Test 1 in carpal tunnel syndro-me. J Manipulative Physiol Ther 35: 54–63

Der „Upper Limb Neurodynamic Test 1“ bei Patienten mit KarpaltunnelsyndromZusammenhang zwischen Interpretation und diagnostischer Genauigkeit

Zusammenfassung der Studie

Fragestellung

Welcher Zusammenhang besteht zwi-schen der Interpretation und der diag-nostischen Genauigkeit des „Upper Limb Neurodynamic Test 1“ (ULNT1) bei Pa-tienten mit Karpaltunnelsyndrom.

Methode

Befunde der Leitgeschwindigkeit des N. medianus wurden mit der typischen klinischen Symptompräsentation beim ULNT1 in Beziehung gesetzt und die dia-gnostische Genauigkeit des ULNT1 wur-de über die Berechung von Sensitivität, Spezifität, Voraussagewerte und Wahr-scheinlichkeitsrate („likelyhood ratio“) be-stimmt. Die Diagnose eines Karpaltunnel-syndroms wurde gestellt, wenn beim Pa-tienten Schmerzen und/oder Missempfin-dungen in mindestens einem der Finger 3 bis 1 vorlagen und die sensible antidrome Leitgeschwindigkeit des Mittelhandner-ven langsamer als 43,8 m/s war. Die Pa-tienten vermerkten ihre Symptome in dem von Katz u. Stirat [1] entwickelten Hand-diagramm, anhand dessen sich in Abhän-gigkeit von der Beschwerdeverteilung klas-sische, wahrscheinliche, mögliche und un-wahrscheinliche Karpaltunnelsyndrome klassifizieren lassen [2].

Der ULNT1 wurde in Anlehnung an die Erstbeschreibung von Butler von einem Physiotherapeuten an beiden Ar-men, beginnend am nicht oder weniger

symptomatischen Arm auf folgende Wei-se durchgeführt: In Rückenlage wurde an der untersuchten Person die Scapula kau-dalisiert und eine glenohumerale Abduk-tion vorgenommen. Dann folgte eine Stre-ckung im Handgelenk und eine Supina-tion des Unterarms. Anschließend wurde eine Außenrotation im Glenohumeralge-lenk und eine Streckung des Ellbogenge-lenks durchgeführt. Schließlich beendete eine Seitbeugung der Halswirbelsäule die neurodynamische Untersuchung. Die Be-wegungen wurden bis zum Ende des Bewe-gungsumfangs bzw. bis zum Auftreten von Symptomen geführt. Wenn bei irgendeiner Phase der Untersuchung Symptome ausge-löst wurden, erfolgte eine Unterbrechung des Untersuchungsgangs und die unter-suchte Person führte eine gleich- und dann gegengleiche Seitbeugung der HWS durch. Ein zweiter Physiotherapeut beobachte die Durchführung des ULNT1 und zeichnete die Lokalisation und Art der provozierten Symptome und deren eventuelle Modifika-tion bei Bewegungen der HWS auf.

Der ULNT1 wurde als positiv für das Vorliegen eines Karpaltunnelsyndrom bewertet, wenn durch den Test Sympto-me in den Fingern 1 bis 3 ausgelöst werden konnten. Zusätzlich wurde erfasst, ob die Symptome durch Seitbeugung der HWS verstärkt oder die provozierten Missemp-findungen durch Seitbeugung zur glei-chen Seite vermindert werden.

Ergebnisse

Insgesamt 84 Arme von 47 Personen wurden analysiert. Die Analyse ergab für einen positiven ULNT1 eine diag-nostische Sensitivität von 40% mit einem 95%-Konfidenzintervall (KI) von 25,6–56,4, eine Spezifität von 79,6% (95%-KI: 66,4–88,5%), einen positiven Voraussa-gewert von 58,3% (95%-KI: 38,8–75,5%)

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sowie einen negativen Voraussagewert von 65% (95%-KI: 52,4–75,8%). Die Be-rücksichtigung der Symptomveränderung durch die Seitbeugung der HWS führte zu einer Erhöhung der Spezifität auf Kosten einer Abnahme der Sensitivität.

Schlussfolgerung

Die Autoren schließen aus den Ergebnis-sen, dass der ULNT1 nur ein schwacher diagnostischer Test für das Vorliegen eines Karpaltunnelsyndroms ist.

Kommentar

Das bewegungsabhängige Ausmaß der Verlagerung von Armnerven ist an ana-tomischen Präparaten und an Lebenden mittels Ultraschallbildgebung dokumen-tiert.

Verlagerung der Nerven während der Bewegung

Studien an anatomischen PräparatenDie Verlagerung des N. medianus [3, 4], des N. radialis [5] und des N. ulnaris [6, 7] während der Bewegung des ULNT1 wur-de an anatomischen Präparaten beschrie-ben. Bei Fingerbeugung in unterschiedli-chen Extensionsstellungen des Handge-lenks wurde eine durchschnittliche Verla-gerung des Mittelhandnervs in der Längs-richtung von 1 cm beobachtet, während die Sehnen des oberflächlichen Fingerbeugers im Durchschnitt einen Weg von 3 cm zu-rücklegten [3]. Wenn das Handgelenk aus 60° Extension in 65° Flexion geführt wird, kommt es zu einer durchschnittlichen lon-gitudinale Verlagerung des N. medianus von 19,6 ± 1,4 mm [4]. Fingerbewegungen aus der Hyperextension in die volle Stre-ckung war von einer Bewegung des Mit-telhandnervs im Ausmaß von 9,7 ± 1,2 mm begleitet und führte zu einer Dehnung des Nervs von 19%. Eine Bewegung der Schul-ter und des Ellbogens, im geringeren Aus-maß auch des Handgelenks und der Fin-ger führten zur Verlagerung des N. media-nus am Ellbogen [4].

2010 wurde eine Studie publiziert, in der unterschiedliche Bewegungsabläufe des ULNT1 auf die Verlagerung des N. media-nus untersucht wurden [5]. Die Standard-

folge des ULNT1 begann mit Schulterab-duktion, Handgelenksextension und Ell-bogenstreckung. Eine distal-proximale Va-riante führte anfangs die Handextension, dann die Ellbogenstreckung und zuletzt die Schulterabduktion durch, während die proximal-distale Testausführung mit der Schulterbewegung begann und nach Ellbogenstreckung mit der Handgelenks-extension endete [5]. Weder die Verlage-rung von 2,05–2,93 mm noch die relative Dehnung des Mittelhandnervs von 3,51–4,8% unterschieden sich im signifikanten Ausmaß bei den drei Varianten. Allerdings tritt die Dehnung des N. medianus bei der distal-proximalen Variante bereits bei der ersten Bewegung auf, während sie bei der proximal-distalen Ausführung erst am En-de des Tests erfolgt.

Die kombinierte Bewegung der Finger, des Handgelenks, des Ellbogens und der Schul ter führte zu einer Verlagerung des N. radialis am Handgelenk von 9,4mm und von 14,2mm am Ellbogen [6]. Der Ellennerv legte am Ellbogen einen Weg von 21,9 mm und am Handgelenk von 23,2 mm zurück [7]. Bei einer imitierten Wurfbewegung verlagerte sich der N. ulnaris am Ell bo gen im Durchschnitt um 12,4±2,4mm [8].

Studien mittels UltraschallbildgebungDie Verlagerung des N. medianus wur-de an gesunden Probanden [9, 10, 12, 13, 14] mit und ohne protrahierter Schulter-position [11], bei Patienten mit Karpaltun-nelsyndrom [12, 13], nach Naht des Mit-telhandnerven [14], mit unspezifischen Armschmerzen [15] und nach Schleuder-trauma der HWS [16] mittels Ultraschall-bildgebung untersucht.

Bei Gesunden variierte die Verlage-rung des Mittelhandnervs am distalen Unterarm zwischen 0,3 mm bei Seitbeu-gung der HWS und 10,4 mm bei Ellbo-genstreckung. Dies war von einer Zunah-me der relativen Dehnung zwischen 0,1% bei Seitbeugung der HWS und 1,1% bei Handgelenksextension begleitet [9]. Bei Beugung aller 4 Langfinger oder bei Beu-gung eines einzelnen Langfingers wurde eine Längsverlagerung des N. medianus von 2,07 ± 1,21 mm bzw. 2,09 ± 1,45 mm beobachtet [10]. Eine Studie aus Taiwan [12] berichtete, dass bei Gesunden sich der N. medianus während der Fingerbeugung

von der Volarseite an die Dorsalseite der Sehnen des M. flexor digitorum superfi-cialis bewegt. Bei Patienten mit Karpal-tunnelsyndrom fehlt diese Verlagerung.

Das Vorschieben des Kopfes oder die Rumpfbeugung bedingte bei Gesunden keine signifikante Verlagerung des Mittel-handnervs. Die Protraktion der Schulter führte zu einer Verschiebung des N. me-dianus am Unterarm um 4,3 mm und einer Zunahme der Dehnung um 0,7% [11].

Bei gesunden Kontrollpatienten und Patienten mit Karpaltunnelsyndrom wur-de in folgender Armposition die Verlage-rung des Mittelhandnerven in Ultraschall-bildern bestimmt [13]: Das Schultergelenk der auf dem Rücken liegenden zu unter-suchenden Personen wurde in 45° Abduk-tion gebracht, das Schulterblatt befand sich Neutralposition, der Kopf war in Nullstel-lung unter Vermeidung von Rotation und Seitbeugung auf einem Polster gelagert. Der Unterarm war auf einer Schiene gelagert, die sowohl eine volle Streckung als auch eine Beugung von 90° erlaubte. Die Hand war in 30° Extension fixiert. Die Teilneh-mer führten aus voller Beugung der Lang-finger eine maximale Streckung der Finger sowohl bei gestreckter als gebeugter Ellbo-genposition durch. Bei Gesunden verlager-te sich der Mittelhandnerv im Karpaltunnel bei Ellbogenbeugung um 12,5 ± 2,5 mm, bei Ellbogenstreckung um 11,2 ± 2,8 mm. Bei Patienten mit Karpaltunnelsyndrom be-trug die Verlagerung des N. medianus bei gebeugtem Ellbogen 10,2 ± 3,1, bei gestreck-tem Ellbogen 8,3 ± 2,6 mm.

Bei Patienten, bei denen wegen einer vollständigen Durchtrennung des N. me-dianus eine Nervennaht durchgeführt worden war [14], war die mediane Ver-lagerung des Mittelhandnervs am Unter-arm mit 2,15 mm signifikant geringer als an der nichtoperierten Seite (mediane Verlagerung 2,54 mm).

Bei Patienten mit unspezifischem Arm-schmerz wird angenommen, dass das Glei-ten des N. medianus beeinträchtigt ist [15]. Diese Hypothese konnte bei einer Untersu-chung an 18 Patienten mit unspezifischem Armschmerz und 39 Gesunden nicht be-stätigt werden. Bei Fingerstreckung, Hand-extension und Ellbogenstreckung legte bei Gesunden der Mittelhandnerv einen Weg zwischen 1,43 mm und 5,57 mm zurück,

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Literatur im Fokus

während bei Patienten eine Verlagerung von 1,26 bis 4,73 mm beobachtet wurde.

Die gleiche Autorengruppe hatte 3 Jah-re zuvor die atemabhängige Verschiebung des N. medianus bei 8 Patienten mit un-spezifischem Armschmerz und 9 Patien-ten nach Schleudertrauma jeweils im Ver-gleich mit gesunden Kontrollen unter-sucht [16]. Bei maximaler Inspiration ver-lagerte sich der Mittelhandnerv bei Ge-sunden um 1,32 ± 0,17 mm nach proximal, während bei Patienten nach Schleuder-trauma die Bewegung des N. medianus 0,38 ± 0,08 mm betrug. Bei den Patienten mit unspezifischem Armschmerz fand sich eine Verlagerung des Mittelhand-nervs von 0,49 ± 0,19 mm und bei den ent-sprechenden Kontrollpersonen bewegte sich der N. medianus um 1,55 ± 0,19 mm.

Pathophysiologische Bedeutung der Nervenverlagerung

Eine Einschränkung der Beweglichkeit kann zu einer Dehnung der betroffenen peripheren Nervenstränge führen. Im Tier-experiment resultierte eine Dehnung von 6% in einer Verminderung des Summen-potenzials um 70%, die 1 h andauerte [17]. Eine Dehnung von 12% hatte eine komplet-te Blockade der Nervenleitgeschwindigkeit für 1 h zur Folge und nach 2 h betrug die Summenpotenzialamplitude nur 40% des Ausgangswerts. Beim Kaninchen unter-drückte eine Dehnung des Plexus brachi-alis von 8,1 ± 0,5% die Fortleitung eines motorischen Potenzials [18]. Eine Nerven-dehnung von 5% führte unter streng kon-trollierten Bedingungen zu keiner Blocka-de der Impulsleitung am isolierten Meer-schweinchennerv. Bis zu einer Dehnung

von 20% ist die Kraft proportional zum Ausmaß der Nervenverlängerung [19]. Der Grenzwert für die durch Zug bedingte Blo-ckade der Nervenleitgeschwindigkeit dürf-te bei einer Dehnung zwischen 5% und 10% liegen. Eine Nervendehnung von mehr als 6% wurde nur an anatomischen Präpa-raten [4] und im Tierexperiment [18], je-doch nie an lebenden Personen beobachtet [9]. Eine Verminderung der Nervenleitge-schwindigkeit aufgrund eines verminder-ten Gleitens peripherer Nerven ist damit beim Menschen wenig wahrscheinlich.

Die Schmerzauslösung durch mecha-nische Reize kann durch die Entstehung von Aktionspotenzialen bei Dehnung oder Kompression erklärt werden, vorausgesetzt dass bereits eine (entzündliche) Läsion am Nerven vorhanden ist [20]. Es bleibt frag-lich, ob bei den Zugbelastungen, die eine Verzögerung der Nervenleitgeschwindig-keit provozieren, bereits strukturelle Schä-den auftreten, die eine entzündliche Ner-venläsion auslösen können.

Reproduzierbarkeit des ULNT

Eine Studie aus der Schweiz [21] hat die Va-rianten des ULNT auf ihre Zuverlässigkeit zwischen zwei Untersuchern überprüft. Die Folge von Gelenkbewegungen unter-scheidet sich bei der Prüfung der mecha-nischen Empfindlichkeit des N. medianus, N. ulnaris und N. radialis (. Tab. 3). Die Tests wurden als positiv bewertet, wenn während der Untersuchung im Arm oder Nacken ein Dehnung, Schmerzen oder Missempfindungen wie Kribbeln ange-geben wurden. Diese Symptome wurden durch zusätzliche Testbewegungen der HWS, des Schultergürtels und des Hand-

gelenks auf neurogene oder nichtneuroge-ne Genese differenziert. Für den ULNT1 fand sich ein κ-Wert von 54%. Der κ-Wert für ULNT2a betrug 46%, der für ULNT2b 44%und der für ULNT3 36%.

Vanti et al. [22] untersuchten die Wie-derholbarkeit des ULNT1 durch drei Phy-siotherapeuten bei asymptomatischen Per-sonen. Dabei wurde die Winkelstellung des Ellbogens angegeben, bei dem der untersu-chende Therapeut den ersten geringen und den maximalen Bewegungswiderstand wahrgenommen hatte. Ebenso wurde der Ellbogenwinkel erhoben, bei dem die unter-suchte Person das erste Unbehagen bzw. den ersten deutlichen Schmerz bemerkt hatte. Der erste Widerstand und das erste Unbehagen wurden im Durchschnitt bei 154,8° bzw. 155° Ellbogenbeugung festge-stellt. Maximaler Bewegungswiderstand und deutlicher Schmerz traten bei 164° auf. Die intraindividuelle Interklassenkorrela-tion (ICC) variierte beim ersten Widerstand zwischen 69% und 83%. Für den maxima-len Widerstand wurden ICC-Werte zwi-schen 79% und 89% angegeben. Für das ers-te Unbehagen betrugen die ICC-Werte zwi-schen 76% und 86%, für deutliche Schmer-zen wurden ICC-Werte zwischen 88% und 91% angegeben. Die interindividuelle Inter-klassenkorrelation zwischen allen drei Phy-siotherapeuten waren deutlich geringer und betrugen 51% für den ersten Widerstand, 70% für den maximalen Widerstand, 69% für das erste Unbehagen und 76% für das Auftreten deutlicher Schmerzen.

Eine weitere Untersuchung an asym-ptomatischen Personen fand eine ausge-zeichnete intraindividuelle Interklassen-korrelation bei zwei Untersuchern zwi-schen 96% und 98% sowie eine gute inter-individuelle Zuverlässigkeit mit einem ICC-Wert von 80% für die provozierten Schmerzen [23].

Darüber hinaus wurde der ULNT1 an 10 asymptomatischen Personen und 27 Patienten mit neurogenen Nacken-Arm-Schmerzen hinsichtlich der intra- und interindividuellen Reproduzierbar-keit des Beginns von Unbehagen bzw. des deutlichen Schmerzes von zwei Untersu-chern überprüft [24]. Die Reproduzier-barkeit der Symptome war innerhalb der-selben Sitzung sowohl für symptomfreie Personen als auch Patienten ausgezeich-net (ICC 95% bzw. 98%). Die Zuverlässig-

Tab. 3 Varianten des Upper Limb Neurodynamic Test (ULNT): Abfolgen der Testpositionen. (Adaptiert nach [21])

  1 2 3 4 5 6

ULNT1 (N. media-nus)

Fixierung der Scapula

Glenohu-merale Ab-duktion

Handge-lenksexten-sion

Supination Glenohume-rale Außen-rotation

Ellbogen-streckung

ULNT2a (N. media-nus)

Absenkung der Scapula

Ellbogen-streckung

Glenohume-rale Außen-rotation

Supination Handge-lenksexten-sion

Gleno-humerale Abduktion

ULNT2b (N. radialis)

Absenkung der Scapula

Ellbogen-streckung

Glenohume-rale Innen-rotation

Pronation Handge-lenksbeu-gung

Glenohu-merale Abduktion

ULNT3 (N. ulnaris)

Handge-lenksexten-sion

Glenohu-merale Ab-duktion

Pronation Ellbogen-beugung

Glenohume-rale Außen-rotation

Absenkung der Scapula

145Manuelle Medizin 2 · 2012  | 

keit der Testergebnisse 48 h später war mo-derat mit einem durchschnittlichen ICC-Wert von 69% ± 9,9% Standardfehler.

Diagnostische Validität des ULNT

Die Reproduzierbarkeit von Symptomen von Patienten ist ein plausibles „positives“ Testergebnis. Wie sind jedoch derartige Symptome zu werten, wenn sie durch den ULNT bei asymptomatischen Personen ausgelöst werden? In letzter Zeit wurden einige Studien publiziert, in denen ver-sucht wurde, Normwerte für die Gelenk-position zu definieren, bei der ein maxi-maler Bewegungswiderstand auftritt.

An 40 beschwerdefreien Personen wur-de untersucht, welcher Unterschied bei Durchführung des ULNT1 im Ausmaß der Ellbogenstreckung zwischen beiden Ar-men bei Symptomauslösung besteht [25]. Im Durchschnitt variierte die Ellbogenstre-ckung, bei der Symptome ausgelöst werden konnten, um 7,3 ± 6,7 zwischen dem domi-nanten und nichtdominanten Arm. Durch Zusatzbewegungen konnten 95% der Sym-ptome strukturell differenziert werden.

An 90 Gesunden wurde die Gelenk-stellung bestimmt, bei der ein maxima-ler Bewegungswiderstand bei Durchfüh-rung der beiden für den N. medianus spe-zifischen neurodynamischen Tests ULNT1 und ULNT2a auftritt [26]. Beim ULNT1 wurde der Winkel des Ellbogengelenks, beim ULNT2a der Abduktionswinkel der Schulter erhoben, ferner wurden die Lo-kalisation und Art der provozierten Symp-tome registriert. Die strukturelle Differen-zierung führte zu einer Verminderung des Bewegungsumfangs und zu mehr proxi-mal lokalisierten Missempfindungen. Am dominanten Arm wurden seltener senso-rische Symptome ausgelöst, während an der nichtdominanten Seite eher neurogene Zeichen wahrgenommen wurden. Die Ge-lenkposition in der Endphase der Testbe-wegung war statistisch nicht unterschied-lich zwischen der dominanten und nicht-dominanten oberen Extremität. Zwischen Männern und Frauen fanden sich keine Unterschiede im symptomfreien Bewe-gungsumfang oder in der Häufigkeit pro-vozierter Missempfindungen.

Eine Studie aus Belgien [27] fand eine um 10° geringere Ellbogenstreckung am dominanten Arm bei Durchführung des

ULNT1. Hingegen zeigten Patienten mit einem Langer-Achselbogen im Vergleich zu Kontrollpersonen keine unterschiedli-che Endposition des Ellbogens.

Fazit

Die vorliegende Studie ist der erste Ver-such, den diagnostischen Wert des ULNT1 für das Karpaltunnelsyndrom zu bestim-men. Angesichts des physiologischen Hin-tergrunds der neurodynamischen Tests ist es nicht unerwartet, dass der ULNT1 keine hohe diagnostische Aussagekraft besitzt, auch wenn die intra- und interindividuelle Zuverlässigkeit des Test als ausgezeichnet angesehen wurde. Es besteht dringender Bedarf an Studien, welche die diagnos-tische Validität der neurodynamischen Tests der oberen Extremität beurteilen, bevor der ULNT als diagnostischer Test oder als Ergebnisparameter empfohlen werden kann.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. K. AmmerInstitut für Physikalische Medizin und Rehabilitation, Hanusch-KrankenhausHeinrich-Collin-Str. 30, 1140 WienÖ[email protected]

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Literatur im Fokus