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MARJORIE M. LIU Die Chroniken der Jägerin 2

MARJORIE M. LIU Die Chroniken der Jägerin 2...Marjorie M. Liu FIN DEN ARMEN DER INSTERNIS DIE CHRONIKEN DER JÄGERIN 2 Deutsch von Wolfgang Thon LLiu_Die Chroniken der Jaegerin 2_Neu.indd

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  • MARJORIE M. LIUDie Chroniken der Jägerin 2

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  • Marjorie M. Liu

    IN DEN ARMEN DER

    F INSTERNISDIE CHRONIKEN DER JÄGERIN 2

    Deutsch von Wolfgang Thon

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  • Die Originalausgabe erschien unter dem Titel»Hunter Kiss 02. Darkness Calls« bei Ace Books,

    The Berkley Publishing Group, a division of Penguin Putnam, Inc., New York

    Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100Das FSC-zertifizierte Papier Holmen Book Cream für dieses Buch

    liefert Holmen Paper, Hallstavik, Schweden.

    1. AuflageDeutsche Erstveröffentlichung Oktober 2010

    bei Blanvalet, einem Unternehmender Verlagsgruppe Random House GmbH, München

    Copyright © der Originalausgabe 2009 by Marjorie M. LiuCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010

    by Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenDieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

    Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.Redaktion: Joern RauserUH · Herstellung: sam

    Satz: Uhl + Massopust, AalenDruck: GGP Media GmbH, Pößneck

    Printed in GermanyISBN 978-3-442-26647-0

    www.blanvalet.de

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  • Den Nomaden, Entwurzelten und Freien …

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    DANKSAGUNG

    Jedes Buch, das ich schreibe, ist eine Reise, und ich möchte den folgenden Menschen danken, die auf den Pfaden dieses Ro-mans mit mir gereist sind:

    Meiner wundervollen Lektorin Kate Seaver und meiner gleich-falls fantastischen Agentin Lucienne Diver. All den guten Men-schen bei Berkley, die diese Serie überhaupt erst ermöglicht haben, vor allem Leslie Gelbman und Susan Allison. Meinen Korrekturlesern, Bob und Sara Schwager. Meinen Freunden und meiner Familie, die immer noch über meinen Job kichern, und auch meinen entzückenden Lesern, die mich auf zahllose Arten und Weisen unterstützen.

    Außerdem möchte ich Adam Minter danken, der eine reich-haltige Quelle von Informationen über die St.-Ignatius-Kathe-drale in Shanghai, China, gewesen ist und sich immer die Zeit genommen hat, auf meine Fragen zu antworten.

    Um mehr über die Hunter-Kiss-Serie zu erfahren, besuchen Sie bitte meine Website www.marjoriemliu.com.

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    Mag meine Seele auch im Dunkeln liegen,so wird sie sich doch in vollendetem Licht erheben; ich habe die Sterne zu innig geliebt, als dass ich mich vor der Nacht fürchtete.

    SARAH WILLIAMS,»DER ALTE ASTRONOM AN SEINEN SCHÜLER«

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  • 9

    1

    Zombies hatten die schlechte Angewohnheit, mir in den Kopf zu schießen. Die meisten hüteten sich zwar davor, aber unter ihnen gab es immer auch welche, die ihr Glück heraus-fordern wollten.

    Es geschah an einem verregneten Montag. Der Morgen graute schon. Zerbrochene Laternen und Glasscherben lagen auf der Straße, und hoch über mir türmten sich die gewalti-gen Schatten verlassener Lagerhäuser. Eine tote Stadt zu einer toten Stunde. Seattle war ein dunkler Ort, selbst wenn die Sonne schien. An einigen Tagen fühlte es sich so an, als lebte man in den Nachwirkungen eines nuklearen Winters – als hätte sich eine Pilzwolke über der Stadt aufgebläht und wäre niemals abgezogen.

    Und ruhig war es auch. Man hörte nur lautes Atmen und dann noch ein leises Wimmern; das Scharren meiner Cowboy-stiefel auf dem Beton und das Klicken von Krallen; dazu das Rumpeln der Frachtzüge am Verschiebebahnhof jenseits des Hafens, in das sich ein vibrierendes Grollen mischte, das mir leise in den Ohren klang: wie stille Sinfonien von Donner. Das war eine gute Musik, die mir ein Gefühl von Sicherheit ein-flößte.

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  • 10

    Ich strich mir das nasse Haar aus den Augen. »Zee, pack ihn fester!«

    Er, das war Archie Limbaud. Ein dürrer Mann, dazu so seh-nig wie eine Viper. Sein kurzes braunes Haar klebte ihm auf dem nassen Schädel und war von Schuppen übersät. Er war so um die vierzig Jahre alt und roch wie das Badezimmer eines Teenagers: ungewaschen und nach einem Hauch von Fäkalien.

    Außerdem war er ein Zombie. Aber nicht einer von der hirn-fressenden, schlurfenden Sorte. Und er war auch kein Leich-nam. Er war lediglich ein Mann, allerdings einer, der von einem Dämon besessen war und seinen Körper wie eine Marionette benutzte. Meiner Meinung nach war das genauso schlimm, als wäre man tot.

    Ich wollte ihn nicht berühren. Er lag am Rand eines leeren Parkplatzes, am Fuß eines Maschendrahtzauns. Der Inhalt sei-ner Brieftasche lag auf dem Boden vor mir verteilt. Mehr Kon-dome als Bargeld, dazu eine Kreditkarte und ein abgelaufener Führerschein. Noch vor wenigen Minuten hatte auch noch eine Pistole vom Kaliber .40 daneben gelegen, mit der er auf meinen Kopf gezielt hatte. Aber die war jetzt verschwunden.

    Aufgefressen.Ich mochte keine Pistolen. Und ich hasste Zombies. Das kam

    noch zu all dem dazu, was ich über diesen besessenen Mann zu meinen Füßen wusste – und ließ mich schwanken, ob ich wei-nen, schreien oder ihm einfach nur in die Eier treten sollte.

    Ich zog die Handschuhe aus, stopfte sie in meine Gesäß-tasche und streckte die Hand mit der Innenfläche nach oben aus. Eine kleine, mit Krallen besetzte Hand reichte mir ein Klappmesser. Es war eine hübsche Waffe mit einem perlmut-tenen Handgriff und silbernen Verzierungen. Die Klinge war rasiermesserscharf und immer noch mit Blut verschmiert. Seine

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    Initialen waren darauf eingraviert: A. L. Ich wedelte mit dem Messer vor Archies gerötetem Gesicht hin und her – seine dunkle Aura flackerte aufgeregt über seinem Scheitel.

    »Das ist vielleicht eine Nacht«, sagte ich gelassen. »Ich habe die Leiche gefunden.«

    Archie sagte nichts. Das mochte an dem Baseballschläger aus Aluminium liegen, der sich in seinen Schlund gegraben hatte. Vermutlich hatte er ihn von den Seattle Mariners gestohlen. Von der Stelle aus, an der ich kauerte, konnte ich die Mauern des Stadions auf dem Safeco Field sehen. Zee und die anderen Jungs hatten gerade ihre Baseballphase. Babe Ruth war ange-sagt, Bill Russell war out – was mir irgendwie weh tat. Wenigs-tens standen meine Jungs noch auf Bon Jovi. Zu viele Verände-rungen hätte ich jetzt nicht gut ertragen können.

    Zee, Rohw und Aaz hockten am Boden und nagelten Ar-chie auf dem Bürgersteig fest. Die Jungs waren kleine Dämo-nen, winzige Bluthunde. Der Regen perlte über ihre knorrigen Rücken, die rußig aussahen, mit Silber verschmiert. Ihre Haut schimmerte über dem geschmeidigen Spiel ihrer Muskeln und wirkte fast flüssig. Rasiermesserscharfe Haare auf dem Rückgrat erstreckten sich bis zu den Schädeln hinauf, die wie gemeißelt schienen und an denen silberfarbene Adern ruhig pulsierten. Hätte ich mein Ohr darauf gelegt, es hätte wie der gleichblei-bend rhythmische Anschlag von Bassgitarren geklungen.

    Ihre roten Augen funkelten. Ich tippte Aaz mit dem Klapp-messer auf den Hinterkopf – sein Haar schnitt durch den Stahl, als bestünde er aus Butter. Rohw fing die Scherben der Klinge auf, noch bevor sie auf den Beton fielen, stopfte sie sich in den Mund und kaute hörbar.

    »Pass bloß auf seine Luftröhre auf«, sagte ich zu Aaz. »Ich möchte nicht, dass der Wirt zu Schaden kommt.«

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  • 12

    Aaz warf dem Zombie einen obszönen Kuss zu und nahm den Baseballschläger von der weichen, aufgescheuerten Kehle. Archie fing zu husten an und versuchte seine Beine zu bewegen. Doch vergeblich. Rohw saß auf seinen Knöcheln, Zee presste seine Handgelenke auf den Beton. Es fehlte nicht viel, und er hätte ihm die Knochen zermalmt. Meine Jungs waren nämlich ziemlich kräftig.

    »Bitte«, flüsterte Archie heiser. »Ich möchte mich bekehren lassen.«

    »Lügner«, schnarrte Zee, bevor ich dazu kam, dem Zombie zu sagen, das könne er vergessen. Der kleine Dämon beugte sich vor und schmeckte die Luft über Archies Stirn. »Der Schlächter lügt, Maxine. Er giert immer noch.«

    »Er mordet«, erwiderte ich und packte die Reste des Klapp-messers fester mit der Faust, während das Bild eines jungen Ge-sichts durch meine Gedanken blitzte, blutig und zerfetzt, eine Gestalt mit langen braunen Gliedern, nackt auf dem Boden lie-gend. Wie eine zerrissene Puppe. An Körperstellen zerfetzt, an die ich mich nicht erinnern wollte. »Sie war noch ein Kind.«

    »Sie war eine Prostituierte«, erwiderte Archie. »Sie ist schon vorher Beute gewesen.«

    Dek und Mal hatten sich auf meinen Schultern zusammen-gerollt, spähten jetzt unter meinem Haar hervor und zischten den Zombie an. Anders als die drei anderen hatten sie die Ge-stalt von Schlangen, mit zwei rudimentären, winzigen Glied-maßen, die nur dazu dienten, sich an meinen Ohren festzuhal-ten. Ihre Köpfe waren wie die von Hyänen geformt. Ihr Grin-sen wirkte bissig, dabei atmeten sie Feuer. Archie starrte sie an und zitterte.

    Ich streckte meine Hand durch seine heftig wabernde Aura und legte sie auf seine feuchte Stirn. Er wich zwar zurück, doch

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    die Jungs hielten ihn fest. Unmittelbar bevor ich ihn berührte, verdrehte er die Augen und starrte auf die zierliche Rüstung, die den gesamten Ringfinger meiner rechten Hand umhüllte: eine schlanke Hülle, wie aus Quecksilber, die ein winziges Ge-lenk genau an meinem Knöchel aufwies, das mir erlaubte, den Finger zu krümmen. Sie lag so eng an wie eine zweite Haut. Manchmal vergaß ich sogar, dass es sie überhaupt gab.

    »Beute«, murmelte ich. »Und was macht das aus dir?«»Einen von einer Million«, flüsterte er bebend und starrte

    mich hasserfüllt an. »Du kannst uns nicht alle töten. Wenn die Gefängnisschleier fallen …«

    »Bist du nur ein Stück Fleisch für den Rest der Dämonen«, unterbrach ich ihn. Ich dachte immer noch an das Mädchen, das ich in der Gasse nur wenige Blocks von hier gefunden hatte. Zee und die anderen hatten mich aus dem Bett geholt und dort-hin geführt, um ihren Mörder zu jagen. »Deine Art wird abge-schlachtet werden, genauso wie die Menschen. Du bedeutest den anderen gar nichts. Das hat sogar deine Königin gesagt.«

    »Jägerin …«, begann Archie, aber ich ließ ihn seinen Satz nicht zu Ende sprechen. Ich kannte schon alles, was er sagen wollte. Seit dem Mord an meiner Mutter hatte ich es bereits tausendfach gehört, und davor auch schon viele, viele Male.

    Ich würde sterben. Niemals würde ich ein hohes Alter errei-chen. Die Welt würde aufhören zu existieren.

    All das stimmte. Aber dennoch. Seine Stimme tat mir im Kopf weh. Sein säuerlicher Geruch, heiß und stechend, berei-tete mir Übelkeit – fast bis zum Erbrechen. Ich war müde, mir war kalt bis auf die Seele, und da gab es ein Mädchen, das heute Nacht sein Leben verloren hatte – noch dazu vollkommen grundlos. Sie hatte einen üblen Tod erlitten, und dies nur, weil sich der Parasit, der in diesen Mann gefahren war, an ihrem

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    Schmerz hatte nähren wollen. Ich kannte nicht einmal ihren Namen. Sie hatte keinen Ausweis, sie hatte einfach gar nichts dabeigehabt. Nun war sie für immer verloren.

    Und sie war nicht die Einzige. Die Welt war groß. Es gab zu viele Räuber: Menschen, Zombies und andere. Aber nur einen wie mich. Eine Nomadin, als solche geboren und erzo-gen, die sich in dieser Stadt länger aufgehalten hatte als in jeder anderen. Sie hatte alle anderen aufgegeben, damit sie – und ich ebenso – zumindest so etwas Ähnliches wie ein normales Leben führen konnte.

    Na klar, dachte ich. Ganz normal.Ich drückte meine Handfläche noch fester gegen Archies

    Stirn und hauchte ein paar leise Worte: zischend und uralt, eine konzentrierte Sprache, die ein Kribbeln auf meiner Haut ver-ursachte und meine Hand zu verbrennen schien. Archies Atem ging rasselnd oder schrillte hoch, als seine Aura anschwoll und versuchte, mir zu entkommen.

    Aber so viel Glück hatte sie nicht. Der Dämon war jung und leicht auszutreiben. Ich zog ihn heraus und sah zu, wie sich sein gespensterhafter Körper wie vergifteter Rauch aus dem offe-nen Mund des Menschen wand. Archie erschlaffte. Rohw und Aaz ließen seine Beine los, während Dek und Mal von meinen Schultern glitten und sich über meine Arme zu meinen Händen schlängelten. Ihre winzigen Klauen stachen wie Stricknadeln in meine Haut und summten leise mit ihren hohen Stimmen Bon Jovis Social Disease.

    Als die letzte Rauchfahne des sich windenden Parasitenkör-pers den Menschen verlassen hatte, hielt ich ihn in der Hand: Die weiche, kreischende Dunkelheit quoll durch meine Fin-ger, und ich fühlte ihre beißende Kälte wie einen gefrorenen Netzhandschuh auf meiner Haut. Zee trat über Archies reg-

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    losen Körper, und die anderen streckten ihre rasiermesserschar-fen Krallen aus.

    Ich überließ ihnen den Dämon, konnte aber nicht zusehen, wie sie ihn fraßen.

    Stattdessen kniete ich mich neben Archie und fühlte sei-nen Puls. Er war kräftig und regelmäßig. Seine Lider flatter-ten zwar, doch er blieb ohnmächtig. Ich trat rasch zurück und wischte mir die nassen Handflächen an meiner Jeans ab. Ich wusste nicht, wie dieser Mann gewesen sein mochte, bevor ihn der Dämon besessen hatte. Aber ich vermutete, dass er nicht gerade zu der glücklicheren Sorte gehört hatte. Ausgeglichene, mental robuste Menschen wurden normalerweise nicht von Dämonen befallen. Das war viel zu viel Aufwand. Sie wiesen ja kaum Spalten und Risse auf, die man hätte ausnutzen können.

    Dieser Mann jedoch, Archie Limbaud, würde als Mörder aufwachen – und er würde es doch niemals erfahren. Dämonen hinterließen keinerlei Erinnerungen im menschlichen Geist ihrer Wirte. Nur Chaos und zerstörte Leben. Sowie Freunde und Familien, die einen nie mehr auf dieselbe Art und Weise betrachten würden.

    »Maxine«, schnarrte Zee, während er sich mit dem Rücken seiner scharfen Hand über den Mund fuhr. »Da, die Sonne kommt.«

    Ich wusste es ja. Ich konnte sie schon spüren, irgendwo hin-ter dem schwarzen Himmel unter dem Regen, wie sie langsam zum wolkenverhangenen Horizont hinaufkroch. Ich hatte nur noch ein paar Minuten, höchstens.

    »Telefon«, sagte ich zu Zee. Er gab Rohw und Aaz ein Zei-chen und schnippte mit den Krallen. Die beiden strolchten am Rand des dunklen Parkplatzes entlang, verschwanden aber im-mer wieder im Schatten. Jetzt sprangen sie heran, so dankbar

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    wie junge Wölfe, und flüsterten etwas in Zees Ohren. Zee legte den Kopf schief und lauschte – einen Augenblick später streckte er dann seinen Arm aus.

    Ich sagte nichts, sondern ging nur weg, weg von Archie. Ich beeilte mich nicht, und ich sah auch nicht zurück. Ich hatte im-mer noch den Griff des Klappmessers in der Hand und schob ihn jetzt in mein Haar. Ich hörte, wie das Metall knirschte, als Mal kaute und schluckte. Ich hätte ihn auch zurücklassen kön-nen, als Beweisstück.

    Aber ich wollte, dass der Mann eine zweite Chance bekam. Ich wünschte mir, dass er aufwachte, verwirrt und mit einer Ge-dächtnislücke, aber ohne die Bürde eines Mordes, die auf ihm lastete. Das verdiente niemand, obwohl ich irgendwie das Ge-fühl hatte, als hätte er Blut an den Händen. Als wären seine Hände ebenso schmutzig wie meine. Ich rieb sie unaufhörlich an meiner nassen Jeans, und es kam mir so vor, als hinge mir Archie Limbauds Gestank immer noch an.

    Es blieb weiter ruhig, der Nieselregen machte die Straßen und die raue, zerbrochene Umgebung weicher. Ich sog die kalte Luft ein und genoss die Kälte meines nassen Haares, das sich an meine geröteten Wangen schmiegte. Die Jungs glitten durch die Schatten, bis auf das kurze Funkeln ihrer roten Au-gen unsichtbar. Ich wischte mir immer weiter die Hände ab und dachte an das tote Mädchen. Und an meine Mutter. Sie hatte mich davor gewarnt, bevor sie starb. Sie hatte mir gesagt, dass es genau so kommen würde. Es würde immer Opfer geben. Überall gab es Opfer. Und ich würde niemals schnell genug sein. Ich würde immer nur hinterherlaufen.

    Zwei Blocks weiter fand ich eine Telefonzelle. Ein verbeul-tes Relikt, das vollkommen von Graffiti bedeckt war. Ich wählte die 911 und hinterließ eine kurze Nachricht in der Zentrale.

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    Ein toter Teenager, ermordet, einige Blocks südlich vom Safeco Field. Dann legte ich auf. Ich wischte meine Fingerabdrücke ab, als mir einfiel, dass ich meine Handschuhe hätte tragen können. Ich war noch immer durcheinander und konnte nicht mehr logisch denken. Am liebsten wäre ich zu dem toten Mädchen zurückgegangen und hätte an ihrer Leiche gewartet – als wenn das einen Unterschied gemacht hätte. Als wenn das irgendwie den Schmerz und die Einsamkeit des Mordes an ihr hätte lin-dern können.

    Stattdessen ging ich weiter, in westlicher Richtung von dem Verschiebebahnhof fort, nach Chinatown. Ich sah niemanden, bemerkte jedoch das kurze Aufleuchten von Scheinwerfern, die ferne Kreuzungen überquerten. Das Rumpeln der Züge er-schien mir lauter als vorhin. Die Luft schmeckte schärfer und wirkte plötzlich elektrisch aufgeladen, als wären in der ganzen Stadt sämtliche Wecker angesprungen und ich könnte den Puls Tausender Augen spüren, die sich gleichzeitig öffneten. In mei-nen Ohren summten Dek und Mal ein anderes Stück von Bon Jovi: Have a Nice Day.

    »Ihr auch«, antwortete ich heiser, griff hinauf in mein Haar und kraulte ihre Nacken. »Bis heute Nacht.«

    Ich blieb im Schatten stehen, außerhalb der Sichtweite der Straße, und die anderen Jungs tauchten aus der Dunkelheit auf, näherten sich mir, umschlangen meine Beine und drücken ihre Wangen an meine Knie. Die Jungs liebten es, aufgesammelt zu werden. Ich strich ihnen mit den Knöcheln über ihre war-men Kiefer und genoss ihr vibrierendes Schnurren. Ihre Haut dampfte im Regen.

    Zee blickte zu mir hoch und zog an meiner Hand, bis ich mich vor ihn hinkniete. Behutsam nahm er mein Gesicht zwischen seine Klauen und sah mir in die Augen. Sein Blick

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    wirkte so traurig und mitfühlend, dass meine Augen schon brannten.

    »Maxine«, schnarrte er liebevoll, »süße Maxine. Nimm es nicht so schwer.«

    Wir hatten nur noch wenige Sekunden, nicht mehr. Ich küsste meine Finger und drückte sie an seine knochige Stirn. Dann dachte ich erneut an meine Mutter, mir wurde das Herz schwer. So hatte sie den Jungs immer gute Nacht gesagt, in all den Jahren, in denen sie ihr gehört hatten. Heute Nacht konnte ich einfach nicht aufhören, an sie zu denken.

    »Träumt«, flüsterte ich. »Schlaft fest …«Weiter kam ich nicht. Jemand schoss mir in den Kopf.Einfach so. In die rechte Schläfe. Es war gar nicht laut, doch

    der Einschlag erschütterte meinen ganzen Körper, und die-ses Gefühl vergrößerte sich mit quälender Klarheit, während sich die Kugel in meinen Schädel bohrte, mit dem unausweich-lichen Druck eines kleinen, runden Objektes, das mein Leben zu zerstören vermochte. Ich konnte es fühlen. Ich konnte es rich-tig fühlen. Mein Hirn würde wie eine überreife Wassermelone explodieren. Ich hatte nicht einmal Zeit, Angst zu haben.

    Aber in diesem Augenblick, in diesem Sekundenbruchteil zwischen Leben und Tod, da berührte die Sonne irgendwo jen-seits der Wolken den Horizont …

    … und die Jungs verschwanden in meiner Haut.Die Kugel prallte ab. Die Wucht des Aufpralls wirbelte mich

    herum … wie eine Puppe. Ich fiel auf Hände und Knie, blieb dort hocken, betäubt und wie erstarrt. Ich konnte den Schlag des Geschosses immer noch spüren; die Empfindung war so instinktiv, dass ich nicht überrascht gewesen wäre, wenn ich an meine Schläfe gegriffen und die Kugel gefunden hätte, wäh-rend sie einen Pfad in meinen Schädel grub.

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    Ich berührte meinen Kopf, nur um mich zu überzeugen. Ich ertastete das Haar und die unverletzte Haut. Keinerlei Blut. Mein rechter Arm zitterte, und ein dumpfer, gebrochener Schmerz strahlte von meiner Stirnhöhle über die Schläfen bis zur Basis meines Gehirns. Mein Herz hämmerte so heftig, dass ich kaum atmen konnte. Ich sah nur den Asphalt und meine Hände.

    Meine verwandelten Hände. Noch vor wenigen Augenbli-cken war meine Haut blass und glatt gewesen, doch jetzt be-deckten Tätowierungen jeden Zentimeter: schwarze ver-schlungene Schatten, Schuppen und silberne Muskeln, die von glänzenden Adern organischen Metalls durchzogen wurden. Meine Fingernägel schimmerten wie schwarze Perlen und wa-ren hart genug, um ein Loch in festen Fels zu graben. Von den Unterseiten meiner Handgelenke starrten mich rote Augen an. Rohw und Aaz. Ich schloss die Augen, versuchte meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen und fühlte, wie fünf Wesen an meiner Haut zupften. Dämonen, die in meiner Haut lebten. Geister, Herzen und Träume, die bis zu meinem Tod an mein Leben gebunden waren.

    Meine Freunde, meine Familie. Meine gefährlichen Jungs.In der Ferne hörte ich Sirenen. Also reagierten sie auf mei-

    nen Anruf und waren hierhin unterwegs. Ich musste aufstehen. Ich versuchte es und stürzte. Ich biss meine Zähne zusammen und grub meine Nägel in den Beton. Ich versuchte es erneut.

    Diesmal gelang es mir, aufrecht stehen zu bleiben. Ich ging los, stolperte zwar, fiel jedoch nicht mehr hin. In meinem Kopf hämmerte es. Ich krümmte mich einmal, ging dann aber wei-ter, weil ich Angst hatte anzuhalten, und würgte krampfhaft. Ich hatte zwar das Gefühl, mir komme der Magen durch den Hals hoch, aber der Schmerz in meinem Kopf wurde nicht schlim-mer, sondern ließ langsam nach.

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    Zitternd berührte ich meine rechte Schläfe, ertastete die glatte unversehrte Haut. Einen Augenblick lang erfüllte es mich mit Ehrfurcht, dass ich noch lebte.

    Man hatte schon häufiger auf mich geschossen, sehr häufig sogar. Und überall. Ich hätte nie etwas gefühlt. Tagsüber prall-ten Kugeln einfach von mir ab. Am Tag hätte mich sogar eine Atombombe treffen können, ich hätte es trotzdem überlebt – und zwar ohne einen Kratzer davonzutragen. Nachts war das etwas anderes, wenn sich die Jungs von meinem Körper ge-schält hatten. Ich hatte ihre Fähigkeit, mich am Leben zu erhal-ten, noch nie unterschätzt.

    Jedoch niemand, kein Einziger, hatte bisher die Klugheit oder den Mut besessen zu versuchen, mich genau in diesem Au-genblick zwischen Nacht und Tag zu töten: während der Ver-wandlung zwischen sterblich und unsterblich.

    Das Timing war nahezu perfekt. Einen Augenblick früher, und die Jungs hätten den Schützen getötet, noch bevor er die Kugel hätte abfeuern können. Einen Moment später, und ich wäre unverwundbar gewesen. Was auch genau der Fall gewesen war. Der Bruchteil einer Sekunde hatte mich gerettet.

    Das war verdammt knapp gewesen, viel zu knapp. Ich mus-terte die Schatten, sah außer Lagerhäusern und dunklen Fens-tern jedoch gar nichts. Und das Funkeln der Geschäftsstadt von Seattle im Norden. Die Lichter der Stadt wirkten wie erstarrt, wie unbewegliche Glühwürmchen. Nichts schien ungewöhn-lich. Nirgendwo winkte ein Schütze mit einer Fahne. Aber ich fühlte mich beobachtet. Irgendjemand befand sich irgendwo da draußen in der Dunkelheit. Er musste weit entfernt sein, sonst hätten die Jungs seine Anwesenheit lange vor dem Angriff gespürt.

    Ein Zombie, dachte ich. Das musste ein Zombie sein. Kein

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    anderer, der wusste, um was es sich bei mir handelte, würde ver-suchen, mir etwas zu tun.

    »Du bist fast gestorben«, sagte ich laut. Ich musste die Worte hören, meine Stimme hören – als hätte ich irgendeinen Beweis gebraucht, dass ich noch lebte. Maxine Kiss. Fast ausgelöscht, mit einer Kugel in den Kopf – genau wie meine Mutter.

    Ein Zombie hatte sie getötet. Aber das war etwas anderes gewesen.

    Denn damals war ihre Zeit zu sterben gekommen.

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  • 22

    2

    Ich brauchte dreißig Minuten, um zum Coop zurückzukeh-ren. Der Fußmarsch tat mir gut. Als ich die Hintertür der Kü-che des Obdachlosenheims erreichte, hatte ich aufgehört zu zit-tern. Meine Knie und Hände fühlten sich auch nicht mehr so schwach an. Aber ich spürte noch immer, wie die Kugel ver-suchte, sich in meinen Kopf zu bohren. Außerdem konnte ich einfach nicht die Gewissheit ignorieren, dass derjenige, der auf mich geschossen hatte, genau wusste, wo ich lebte. Das bedeu-tete, dass er wahrscheinlich auch die Leute kannte, an denen mir etwas lag.

    Ich konnte die Nacht kaum erwarten.Es war heller geworden, der Himmel war bewölkt. Aber es

    war immer noch düster, und der Regen hatte sich verstärkt. Ich selbst blieb jedoch knochentrocken. Selbst wenn sie schliefen, liebten es die Jungs, Dinge zu verzehren. Das Wasser, das meine Haare und meine Kleidung durchtränkt hatte, bildete da keine Ausnahme. Nach Tagesanbruch war es innerhalb von Minuten aufgesogen worden, und jetzt verschwanden die Regentropfen nur Sekunden nachdem sie mich getroffen hatten. Ich konnte nur hoffen, dass niemand allzu scharf darüber nachdachte, wie ich es schaffte, trocken zu bleiben, obwohl doch alle anderen,

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  • 23

    die hereinkamen, so aussahen, als wären sie in einem Wasserfass untergetaucht worden.

    Das war eben das Problem mit Geheimnissen. Es gab immer etwas, das einen verraten konnte. Vor allem, wenn man zu lange an einem Ort blieb.

    Das Coop erstreckte sich über einen ganzen Häuserblock. Es war eine Anordnung von Lagerhäusern, die renoviert und miteinander verbunden worden waren, um als Zentrum für Obdachlose zu fungieren. Es bot ihnen einen vorübergehen-den Schutz, Mahlzeiten und noch eine ganze Menge ande-rer Dienste an. Firmen und auch private Spender finanzierten einiges davon, aber längst nicht genug, um etwa Räume nach jemandem zu benennen oder goldene Sterne zu verleihen. Fast alle Rechnungen wurden von einem einzigen Mann bezahlt: Grant Cooperon. Und dem war das auch ganz lieb so. Auto-nomie war ja schlichtweg unbezahlbar.

    Möwen kreisten kreischend über dem gesamten Komplex. An der Verladerampe drängten sich Lieferwagen, weiße, nicht gekennzeichnete Lieferwagen. Das Obdachlosenheim schickte mitten in der Nacht Fahrzeuge los, die die örtlichen Bäcke-reien und Lebensmittelläden abklapperten und Lebensmittel aufsammelten, die nicht mehr als einen Tag alt waren und sonst vermutlich einfach weggeworfen werden würden. Donuts und Brot machten den Löwenanteil aus, aber gerade jetzt kam ich an einigen großen Kisten mit Orangen vorbei, die durch den Hintereingang hineingefahren wurden. Einer der neuen Frei-willigen, eine junge Frau mit blonden Dreadlocks, die unter ihrer gestreiften Hanfmütze herauslugten, schwankte vor mir unter dem Gewicht zahlreicher Milchkartons, die sie in den Armen gestapelt hatte.

    Ich schnappte mir zwei, nickte brüsk, als sie erschrak und

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  • UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

    Marjorie M. Liu

    Die Chroniken der Jägerin 2In den Armen der Finsternis

    DEUTSCHE ERSTAUSGABE

    Taschenbuch, Klappenbroschur, 416 Seiten, 12,5 x 18,3 cmISBN: 978-3-442-26647-0

    Blanvalet

    Erscheinungstermin: September 2010

    Eine Dämonenjägerin, wie es noch keine gegeben hat Ihr Leben lang hat sich Maxine Kiss in ihrem Kampf gegen die Kreaturen der Dunkelheit nur aufsich selbst verlassen – und auf ihre Dämonen, die sie tagsüber als Tattoos auf der Haut trägt.Doch dann hat sie Grant kennengelernt, einen Mann, der mit seiner Musik alle lebenden Wesenbeeinflussen kann, selbst die Kinder der Dunkelheit. Und als Grant in tödliche Gefahr gerät,hat Maxine nur eine Chance, ihn zu retten – sie muss die Kontrolle aufgeben und ihre eigenendunklen Kräfte entfesseln … Düster, rasant, sexy – einfach fantastisch!

    http://www.randomhouse.de/book/edition.jsp?edi=289713