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Mathematik für Bauingenieure Doz.Dr.rer.nat.habil. Norbert Koksch 1. Februar 2005

Mathematik für Bauingenieure - TU Dresdenkoksch/lectures/Bauingenieure/BauIng-Ma1.… · •Bronstein/Semendjajew: Taschenbuch der Mathematik, Verlag Harry Deutsch Frank-furt. •

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Mathematik für Bauingenieure

Doz.Dr.rer.nat.habil. Norbert Koksch

1. Februar 2005

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Kontakt:

• Willersbau C214, Telefon 34257

• Homepage:http://www.math.tu-dresden.de/~koksch

• e-mail: [email protected]

Grundlagen:

• Skripte „Mathematik für Bauingenieure“ für das Bauingenieurfernstudium an der TUDresden, Teil 1 und Teil 2, Professor Schirotzek.

• Vorlesung „Höhere Mathematik A“ von Prof.Dr.rer.nat.habil. Peter Beisel an der Ber-gischen Universität Gesamthochschule Wuppertal, Fachbereich Bauingenieurwesen -Lehrgebiet Mathematik.

• Vorlesungen der Professoren Riedrich, Schirotzek, Weber, Voigt an der TU Dresden.

Literatur:

• Hofmann:Ingenieur-Mathematik für Studienanfänger: Formeln - Aufgaben -Lösungen,Teubner Verlag Stuttgart, Leipzig, Wiesbaden

• Fischer/Schirotzek/Vetters:Lineare Algebra: Eine Einführung für Ingenieure undNaturwissenschaftler, Teubner Verlag Stuttgart, Leipzig, Wiesbaden.

• Meyberg/Vachenauer:Höhere Mathematik 1 - Differential und Integralrechnung,Vektor- und Matrizenrechnung. Springer Verlag Berlin 1990, ISBN 3-540-51798-7(Standard-Begleitliteratur, Aufgabenteil ohne Lösungen).

• Burg/Haf/Wille: Höhere Mathematik für Ingenieure, Bände 1+2.Teubner VerlagStuttgart 1992, ISBN3-519-22955-2 (viele Beweise, weitergehende Informationen,viele Beispiele).

• Riedrich/Vetters:Grundkurs Mathematik für Bauingenieure. Teubner StudienbücherBauwesen 1999, ISBN 3-519-00217-5 (Aus Lehrveranstaltungen an der TU Dresdenentstanden).

• von Finckenstein/Lehn/Schellhaas/Wegmann:Arbeitsbuch Mathematik für Ingenieu-re, Band 1, Teubner Verlag Stuttgart 2000, ISBN 3-519-02966-9

• von Finckenstein/Lehn/Schellhaas/Wegmann:Arbeitsbuch Mathematik für Ingenieu-re, Band 2, Teubner Verlag Stuttgart 2002, ISBN 3-519-02972-3

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• Brauch/Dreyer/Haacke:Mathematik für Ingenieure, Teubner Verlag Stuttgart 1995,ISBN 3-519-46500-0

• . . .

Übungsbücher:

• Wenzel/Heinrich: Übungsaufgaben zur Analysis Ü1, Teubner Verlag StuttgartLeipzig 1997, ISBN 3-8154-2099-7 (MINÖL-Reihe, Grundlage für die Übun-gen!).

• Pforr/Oehlschlaegel/Seltmann:Übungsaufgaben zur linearen Algebra und zur li-nearen Optimierung, Teubner Verlag Stuttgart Leipzig. (MINÖL-Reihe, Grund-lage für die Übungen!).

• Merziger/Wirth: Repetitorium der Höheren Mathematik.Binomi Verlag Springer1999, ISBN 3-923 923-33-3 (reines Übungsbuch, riesige Menge von Beispielen undAufgaben mit Lösungen sowie jeweils schlagwortartig die zugrundeliegende Theorie.Sehr empfehlenswert zum Üben).

• Furlan: Das gelbe Rechenbuch 1+2,Verlag Martina Furlan Dortmund, ISBN 3-931645-00-2 (reines Rechenbuch, kompakte Theorie, Handlungsanweisungen, Re-zepte).

• Gärtner/Bellmann/Lyska/Schmieder:Analysis in Fragen und Übungsaufgaben, Teub-ner Verlag Stuttgart 1995, ISBN 3-8154-2088-1

• . . .

Nachschlagewerke:

• Hackbusch/Schwarz/Zeidler: Teubner-Taschenbuch der Mathematik, Teubner Verlag,Wiesbaden.

• Rade/Westergren:Springers Mathematische Formeln, Springer Verlag Berlin 1996,ISBN 3-540-60476-6 (paßt zum Buch von Vachenauer)

• Bronstein/Semendjajew:Taschenbuch der Mathematik, Verlag Harry Deutsch Frank-furt.

• . . .

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1 Grundlagen

1.1 Logik, Mengen

1.1.1 Gebrauch logischer Symbole

EineAussageA ist ein sinnvolles sprachliches Gebilde, das die Eigenschaft hat, entwederwahr oder falsch zu sein.

Negation:¬A, A, „nicht A“; ist wahr genau dann, wennA falsch ist.

Konjunktion: A∧B, „A undB“; ist wahr genau dann, wennA undB beide wahr sind.

Disjunktion: A∨B, „A oderB“; ist wahr genau dann, wenn mindestens eine der beidenAussagenA, B wahr ist.

Implikation: A⇒ B, „ausA folgt B“, „ A ist hinreichend fürB“, „ B ist notwendig fürA“;ist genau dann falsch, wennA wahr undB falsch ist.

Äquivalenz: A⇔ B, „A ist äquivalent zuB“, „ A ist hinreichend und notwendig fürB“; istgenau dann wahr, wennA undB stets zugleich wahr bzw. falsch sind.

Existenz-Quantor: ∃x: P(x), „es existiert einx mit der EigenschaftP(x)“.

All-Quantor: ∀x: P(x), „für jedesx gilt P(x)“.

1.1.2 Mengen

Menge: Zusammenfassung gewisser, wohlunterscheidbarer Dinge zu einem neuen Ganzen;die dabei zusammengefaßten Dinge heißen dieElementeder betroffenen Menge.

Ist a ein Element der MengeM so schreibt mana ∈ M; ist a nicht Element vonM, soschreibt mana 6∈M.

Mengengleichheit: Zwei MengenM, N sind genau dann gleich, wenn sie die gleichenElemente besitzen:

M = N :⇔ (x∈M ⇔ x∈ N) .

Schreibweise:z.B.{a,b,c} für die Menge mit den Elementena, b, cund{x: P(x)} für die Menge allerx mit der EigenschaftP(x).

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1 Grundlagen

Teilmenge: M ⊆ N gilt, wenn jedes Element vonM auch Element vonN ist:

M ⊆ N :⇔ (x∈M ⇒ x∈ N) .

Leere Menge: /0 = {} ist die Menge, die kein Element hat.

Vereinigung: M∪N ist die Menge aller Elemente, die inM oderN liegen:

M∪N := {x: x∈M∨x∈ N} .

Durchschnitt: M∩N ist die Menge aller Elemente, die inM undN zugleich liegen:

M∩N := {x: x∈M∧x∈ N} .

Differenz: M \N ist die Menge aller Elemente, die inM aber nicht inN liegen:

M \N := {x: x∈M∧x 6∈ N} .

Komplement: Sei eine GrundmengeX gegeben und seiM ⊆ X. {XM = {M = M ist dieMenge aller Elemente vonX, die nicht inM liegen:

{XM = X \M .

Kartesisches Produkt:M×N ist die Menge aller Paare ausM undN:

M×N := {(x,y) : x∈M∧y∈ N} .

Potenzmenge:P(M), 2M ist die Menge aller Teilmengen vonM:

2M := {N : N⊆M} .

Beachte: /0∈ 2M, M ∈ 2M.

1.1.3 Zahlenmengen

* Die Menge dernatürlichen Zahlen N = {0,1,2,3, . . .}.* Die Menge derganzen ZahlenZ = {. . . ,−3,−2,−1,0,1,2,3, . . .}.* Die Menge derrationalen Zahlen Q = { p

q : p,q∈ Z, q 6= 0}. Die rationalen Zahlen sinddurch endliche oder periodisch unendliche Dezimalbrüche darstellbar.

* Die Menge derreellen ZahlenR. Die reellen Zahlen sind durch Dezimalbrüche darstell-bar. Die nicht rationalen reellen ZahlenR\Q heißenirrationale Zahlen .

* Die Menge derkomplexen ZahlenC (werden später behandelt). Die komplexen Zahlensind durch Paare reeller Zahlen darstellbar.

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1.2 Reelle Zahlen

Es giltN⊂ Z⊂Q⊂ R⊂ C .Ist M ⊆ R, dann definieren wir

M>a := {x∈M : x> a} , M≥a := {x∈M : x≥ a} , . . . .

Intervalle:

[a,b] = {x∈ R : a≤ x≤ b} abgeschlossenes Intervall,

]a,b[= (a,b) = {x∈ R : a< x< b} offenes Intervall,

]a,b] = (a,b] = {x∈ R : a< x≤ b} links halboffenes Intervall,

[a,b[= [a,b[= {x∈ R : a≤ x< b} rechts halboffenes Intervall.

1.2 Reelle Zahlen

1.2.1 Eigenschaften

1.2.1.1 Algebraische Eigenschaften

SeiK∈ {Q,R}. DieAddition + und dieMultiplikation · besitzen folgende Eigenschaften(x,y,z∈K):

x+y = y+x , x ·y = y·x (Kommutativgesetze)x+(y+z) = (x+y)+z, x · (y·z) = (x ·y) ·z (Assoziativgesetze)x · (y+z) = x ·y+x ·z (Distributivgesetz)x+0 = x (0 ist neutral bzgl. Addition)x ·1 = x (1 ist neutral bzgl. Multiplikation)∃=1−x∈K (x+(−x) = 0) (additiv inverse Zahl)∀x 6= 0∃=1x−1 ∈K (x ·x−1 = 1) (multiplikativ inverse Zahl)

Subtraktion undDivision sind über Addition bzw. Multiplikation definiert:

x−y := x+(−y) , x : y := x ·y−1 .

1.2.1.2 Ordnungseigenschaften

In K ∈ {Q,R} gibt es eineOrdnungsrelation ≤ und eine Relation< definiert durch

x< y :⇔ x≤ y und x 6= y

mit folgenden Eigenschaften (fürx,y,z∈K):

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1 Grundlagen

x≤ x (Reflexivität)(x≤ y∧y≤ x) ⇒ x = y (Antisymmetrie)(x≤ y∧y≤ z) ⇒ x≤ z (Transitivität )x≤ y∨y≤ x (totale Ordnung)x< y ⇒ ∃u∈K(x< u< y) (Dichtheit)x< y ⇔ x+z< y+z (Verträglichkeit mit Addition )z> 0 ⇒ (x< y⇔ x ·z< y·z) (Verträglichkeit mit Multiplikation )

Damit gilt die Trichotomie-Eigenschaft, daß für je zwei Zahlenx,y ∈ K genau eine derdrei Beziehungen

x< y, x = y, x> y.

Eine Zahlx∈K heißtpositiv, nichtnegativ, nichtpositiv bzw.negativ, wennx> 0, x≥ 0,x≤ 0 bzw.x< 0.

1.2.1.3 Vollständigkeitseigenschaft von R

Bisher haben wir die gemeinsamen Eigenschaften vonQ undR aufgezählt.

Sei wiederK ∈ {Q,R}. SeiM ⊆ R. M heißt

* nach oben beschränkt, wenn einS∈ K existiert mitx≤ S für alle M (S ist eineobereSchrankevonM, Beispiel:]−∞,1[ mit oberen Schranken 1, 2);

* nach unten beschränkt, wenn eins∈ K existiert mitx≥ s für alle x ∈ M (s ist eineuntere SchrankevonM);

* beschränkt, wennM nach unten und oben beschränkt ist.

Wenn es unter den oberen Schranken vonM eine kleinste Zahl inK gibt, so heißt siekleinste obere SchrankeoderSupremumvonM in K und wird mit supM bezeichnet.

Analog ist diegrößte untere Schrankeoder dasInfimum inf M vonM in K definiert.

Im Gegensatz zuQ besitztR folgendeVollständigkeitseigenschaft: Jede nach oben be-schränkte TeilmengeM vonR besitzt ein Supremum inR.

SeiM = {x∈K : x≥ 0, x2< 2} in K ∈ {Q,R}. Diese Menge besitzt kein Supremum inQaber inR, nämlich supM =

√2.

1.2.2 Rechnen mit Gleichungen und Ungleichungen

Ein Grundproblem der Mathematik ist die Ermittelung aller Lösungen von Systemen vonGleichungen und Ungleichungen. Am günstigsten ist immer eine äquivalente Umformungvon Gleichungen und Ungleichungen.

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1.2 Reelle Zahlen

1.2.2.1 Äquivalente Umformungen

Äquivalente Umformungen sind Umformungen, die die Lösungsmenge nicht verändern.Nichtäquivalente Umformungen führen zu einer (potentiellen) Ausweitung der Lösungs-menge der Gleichungen oder Ungleichungen. Ergebnisse, die nach nichtäquivalenten Um-formungen erhalten werden, müssen noch als Lösungen überprüft werden.

FolgendeRegeln zur äquivalenten Umformung(für a,b,x,y, p,q ∈ R beliebig) ergebensich aus den Eigenschaften der reellen Zahlen:

x = y ⇔ x+a = y+a

x≤ y ⇔ x+a≤ y+a

x≤ y ⇔ x+a≤ y+b, falls a≤ b

x = y ⇔ ax= ay, falls a 6= 0

x≤ y ⇔

{ax≤ ay, falls a> 0

ax≥ ay, falls a< 0

0< x≤ y ⇔ 0<1y≤ 1

x.

Folgende Regeln können zur Lösung von Gleichungen genutzt werden:

xy= 0 ⇔ x = 0 oder y = 0

x2 = a2 ⇔ x = a oder x =−a

x2 + px+q = 0 ⇔ x =− p2

+

√p2

4−q oder x =− p

2−√

p2

4−q,

wennp2≥ 4q.

Beispiel 1.2.1.Man bestimme die LösungsmengeL der folgenden Gleichung

(x−2)2 +x = 2.

Es gibt mehrere Lösungswege, einer davon ist der folgende:

(x−2)2 +x = 2

⇔ x2−4x+4+x = 2

⇔ x2−3x+2 = 0

⇒ x = − −32

+

√94−2 = 2

oder x = − −32−√

94−2 = 1,

und damitL = {1,2}. ♦

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1 Grundlagen

1.2.2.2 Rechnen mit Beträgen

Das Rechnen mit Beträgen wird vom Anwender oft als unangenehm empfunden, da derBegriff "Betrag" zweigeteilt definiert ist. Man kann aber alle Schwierigkeiten ausräumen,wenn man sich stur an die Definition und die Rechenregeln hält. Diese seien im folgendenbenannt.

Definition 1.2.2. Für eine reelle Zahla∈R wird derBetrag vona festgesetzt durch|a| :=a, falls a≥ 0 und|a| :=−a, falls a< 0. ♦

Beispiel 1.2.3.Es ist|3|= 3, aber auch|−3|= 3 =−(−3). ♦Rechenregeln(für a,b,x∈ R beliebig):

|−a|= |a|−|a| ≤ a≤ |a||a·b|= |a| · |b|∣∣∣∣1a

∣∣∣∣=1|a|

(a 6= 0)

|a+b| ≤ |a|+ |b| (Dreiecksungleichung)

|a| ≤ |b| ⇔ −b≤ a≤ b oder b≤ a≤−b

|x−a| ≤ b ⇔ a−b≤ x≤ a+b√

a2 = |a||a|2 = a2

Eine Auflösung von Betragsungleichungen geschieht in der Regel durch Fallunterscheidungoder durch Veranschaulichung auf der Zahlengeraden.

Beispiel 1.2.4.Man bestimme die LösungsmengeL von |x+1|+ |x−1| ≤ 2.

Fallunterscheidung:

1. Fall: x<−1. Dann gilt

|x+1|+ |x−1| ≤ 2 ⇔ −(x+1)− (x−1)≤ 2 ⇔ x≥−1,

und daherL1 =]−∞,−1[ ∩ [−1,∞[= /0.

2. Fall:−1≤ x< 1. Dann gilt

|x+1|+ |x−1| ≤ 2 ⇔ (x+1)− (x−1)≤ 2 ⇔ 2≤ 2,

und daherL2 = [−1,1[ ∩R = [−1,1[.

3. Fall: 1≤ x. Dann gilt

|x+1|+ |x−1| ≤ 2 ⇔ (x+1)+(x−1)≤ 2 ⇔ x≤ 1,

und daherL3 = [1,∞[ ∩ ]−∞,1] = {1}.Zusammengefaßt:L = L1∪L2∪L3 = [−1,1]. ♦

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1.2 Reelle Zahlen

1.2.3 Das Induktionsprinzip und einige Anwendungen

1.2.3.1 Beweisprinzip der vollständigen Induktion

Eine AussageA(n), die vonn∈ N abhängt, ist gültig für allen≥ n0, wenn gilt:

1. (Induktionsanfang) A(n0) ist gültig.

2. (Induktionsschritt) Ausn≥ n0 und der AussageA(n) folgt die AussageA(n+1).

Beispiel 1.2.5.Die Ungleichungn2≥ n+5 gilt für alle natürlichen Zahlenn≥ 3.

(Beweis durch vollständige Induktion)

1. Induktionsanfang: Die Ungleichung gilt fürn = n0 = 3, da

32 = 9≥ 8 = 3+5.

2. Induktionsschritt: Die Ungleichung gelte für ein beliebigesn, d.h., es sei

n2≥ n+5. (1.2.1)

Zu zeigen ist, daß sie dann auch fürn+1 gilt. Nun, es gilt unter Verwendung von (1.2.1)

(n+1)2 = n2 +2n+1≥ n+5+2n+1≥ (n+1)+5. ♦

1.2.3.2 Prinzip der rekursiven Definition

Ein Begriff, der für alle natürlichen Zahlenn≥ n0 definiert werden soll, kann folgenderma-ßen festgelegt werden:

1. Definiere ihn fürn = n0.

2. Definiere ihn fürn unter Zuhilfenahme der (hypothetisch) bereits erfolgten Definition fürn−1, n−1≥ n0.

Für n∈ N undx∈ R definieren wir diePotenzen mit natürlichem Exponentenrekursivdurch

x0 := 1, xn := x ·xn−1 (n∈ N≥1) .

Dies findet speziell Anwendung in den folgenden drei Abschnitten.

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1 Grundlagen

1.2.3.3 Summen- und Produktzeichen

Für vorgegebene Zahlena0,a1, ...,an, ... ∈ R setzen wir rekursiv fest

n

∑i=0

ai := 0 für n< 0,n

∑i=0

ai := an +n−1

∑i=0

ai =: a0 + · · ·+an für n≥ 0,

n

∏i=0

ai := 1 für n< 0,n

∏i=0

ai = an ·n−1

∏i=0

ai =: a0 · · · · ·an für n≥ 0.

Aus der Dreiecksungleichung folgt mit vollständiger Induktion:∣∣∣∣∣ n

∑i=0

ai

∣∣∣∣∣≤ n

∑i=0|ai | .

1.2.3.4 Die Fakultäten

Für n∈ N definieren wirn! (sprich: n-Fakultät) rekursiv durch

0! := 1, n! := n· (n−1)! =: n· (n−1) · · ·2·1 für n∈ N≥1 .

Damit gilt zum Beispiel

0! = 1, 1! = 1·0! = 1, 2! = 2·1! = 2, . . . .

Definition 1.2.6. SeiM eine Menge. Eine Anordnung aller Elemente vonM unter Beach-tung der Reihenfolge und ohne Wiederholung von Elementen heißtPermutation. ♦

Beispiel 1.2.7.Es werde die Menge{1,2,3} betrachtet. Deren Elemente kann man in fol-genden Weisen anordnen:

1−2−3, 1−3−2, 2−1−3, 2−3−1, 3−1−2, 3−2−1.

Dies sind 6= 3! Anordungen. ♦

Satz 1.2.8.Sei n∈N\{0}. Dann besitzt eine n-elementige Menge genau n! Permutationen.

1.2.3.5 Binomialkoeffizienten

Für k,n∈ N, n≥ k setzen wir (nk

):=

n!k!(n−k)!

.

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1.2 Reelle Zahlen

Rechenregeln für1≤ k≤ n:(n0

)=(

nn

)= 1,

(n1

)=(

nn−1

)= n,

(nk

)=(

nn−k

),

(n+1

k

)=(

nk−1

)+(

nk

).

Diese Formeln sind Grundlage für dasPascalsche Dreieck:(00

)1(1

k

)1 1(2

k

)1 2 1(3

k

)1 3 3 1(4

k

)1 4 6 4 1(5

k

)1 5 10 10 5 1

......

1.2.3.6 Anwendungen der Binomialkoeffizienten

Definition 1.2.9. Sei M eine Menge. Die Auswahl vonk Elementen vonM ohne Beach-tung der Reihenfolge und ohne Wiederholung von Elementen heißtKombination zur k-tenKlasse. ♦

Satz 1.2.10.Seien n,k∈N, 0< k≤ n. Dann gibt es(n

k

)Kombinationen einer n-elementigen

Menge zur k-ten Klasse.

Folgerung 1.2.11.Seien n,k∈ N, 0< k≤ n. Dann gibt es(n

k

)verschiedene, k-elementige

Teilmengen einer n-elementigen Menge.

Beispiel 1.2.12.Lottozahlen 6 aus 49:(49

6

)= 13983816 Möglichkeiten. ♦

Satz 1.2.13 (Binomischer Lehrsatz).Für a,b∈ R und n∈ N gilt

(a+b)n =n

∑k=0

(nk

)akbn−k .

Folgerungen:

2n = (1+1)n =n

∑k=0

(nk

)1k1n−k =

n

∑k=0

(nk

), (1+x)n =

n

∑k=0

(nk

)xk .

Folgerung 1.2.14.Die Potenzmenge2M einer n-elementigen Menge hat2n Elemente.

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1 Grundlagen

1.2.4 Potenzen und Logarithmen

1.2.4.1 Potenzen

Wir definieren hier die Potenzen mit reellen Exponenten.

Fürx∈R≥0 undn∈N≥1 sei dien-te Wurzel n√

x definiert als dienichtnegativeLösung derGleichungw der Gleichungwn = x:

n√

x := sup{v≥ 0: vn≤ x} .

Fürx∈R>0 undr ∈Q≥0, r = pq mit p,q∈N≥1, definieren wir diePotenzen mit rationalen

Exponentendurch

xr := xpq :=

(q√

x)p

und x−r :=1xr .

Schließlich seien fürx∈R>0, y∈R diePotenzen mit reellen Exponentendefiniert durch

xy :=

sup{xr : r ∈Q∩ [0,y]} , falls y≥ 1,inf{xr : r ∈Q∩ [0,y]} , falls y∈ [0,1[ ,1/x−y , falls y< 0.

Die Definition kann zum Teil auch auf nichtpositive Basen fortgesetzt werden.

Die Potenzen zupositivenBasena, b genügen folgendenPotenzgesetzen:

ar ·as = ar+s , ar/as = ar−s , arbr = (ab)r , ar/br = (a/b)r , (ar)s = ars .

Beachte:Die Potenzgesetze gelten nicht immer für negative Basen: Zum Beispiel gilt

√x2 = |x|

für x∈ R und nicht√

x2 = x (häufiger Fehler!), z.B.√

(−1)2 = 1.

1.2.4.2 Logarithmen

Wir wenden uns nun der Gleichungax = b für a> 0, a 6= 1, b> 0 zu. Man kann zeigen,daß die Menge

M(a,b) := {x∈ R : ax≤ b}

nichtleer und füra> 1 von oben und füra< 1 von unten beschränkt ist. Damit existiert ihrSupremum bzw. Infimum und wir definieren denLogarithmus von b zur Basisa durch

logab := supM(a,b) für a> 1 und logab := inf M(a,b) für a< 1.

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1.3 Abbildungen und Funktionen

Man kann zeigen, daß die so definierte Zahl logab die einzige Lösung vonax = b ist, d.h.,

alogab = b. (1.2.2)

Aus den Potenzgesetzen ergeben sich folgendeLogarithmengesetzefür a,b> 0, 6= 1,x,y>0, r ∈ R:

logab· logba = 1, loga(xy) = logax+ logay,

loga(xr) = r logax , logbx = logba· logax .

Übliche Basen sind 10, 2 (in der Informatik) und die irrationale Zahl e= 2.71828. . ..

1.3 Abbildungen und Funktionen

1.3.1 Allgemeine Eigenschaften von Abbildungen und Funktionen

1.3.1.1 Definition

Definition 1.3.1. SeienX, Y Mengen. Eine Teilmengef ⊂ X×Y heißtAbbildung ausXin Y, wenn aus(x,y1) ∈ f und(x,y2) ∈ f stetsy1 = y2 folgt. ♦

Eine Abbildungf ordnet damit Elementenx ausX genau ein Elementy ausY zu,

y = f (x) :⇔ (x,y) ∈ f .

Die Mengen

D( f ) = {x∈ X : ∃y((x,y) ∈ f )} , W( f ) = {y∈Y : ∃x((x,y) ∈ f )} ,graph( f ) = {(x,y) ∈ f}= f

heißenDefinitions-, Wertebereichbzw.Graph von f .

Schreibweise:

f : D( f )⊆ X→Y ,

f : X→Y , wenn D( f ) = X ,

x 7→ f (x) für x∈ D( f ) .

Gleichheit: Seienf : D( f )⊆ X→Y, g: D(g)⊆U →V. Dann

f = g :⇔ (U = X)∧ (Y = V)∧ (D( f ) = D(g))∧ ( f (x) = g(x) für x∈ D( f )) .

Reelle Funktionenvonn reellen Variablen:X = Rn, Y = R.

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1 Grundlagen

Sei f : A→ B eine Abbildung.

Bild f (A′) vonA′ unter f :

f (A′) := {y∈ B: ∃x∈ A′ mit y = f (x)} .

Urbild f−1(B′) vonB′ unter f :

f−1(B′) := {x∈ A: f (x) ∈ B′} .

Eine Abbildungf : A→ B heißt:

surjektiv (oderAbbildung auf ) :⇔ f (A) = B,

injektiv (odereineindeutig) :⇔ (x1 6= x2⇒ f (x1) 6= f (x2)) ,bijektiv (odereineindeutig auf) :⇔ f ist surjektiv und injektiv.

f : A→ B ist nicht surjektiv, wenn es einy∈ B gibt, das nicht Bild eines Punktes ausA ist.

f : A→ B ist nicht injektiv, wenn es zwei verschiedene Punktex1,x2 ∈ A mit gleichemBildwert f (x1) = f (x2) gibt.

Streng monotone Funktionen sind injektiv.

1.3.1.2 Zusammensetzung von Funktionen

Wir bilden folgende Zusammensetzungen von Funktionen mit dem sich natürlich ergeben-den Definitionsbereich.

Seien dazuf und g reelle Funktionen mit DefinitionsbereichenD( f ) bzw. D(g) und seiλ ∈ R. Man setzt

Summe ( f +g)(x) := f (x)+g(x) auf D( f +g) := D( f )∩D(g)Differenz ( f −g)(x) := f (x)−g(x) auf D( f −g) := D( f )∩D(g)Produkt ( f ·g)(x) := f (x) ·g(x) auf D( f ·g) := D( f )∩D(g)

Quotientfg

(x) :=f (x)g(x)

auf D(fg

) := (D( f )∩D(g))\{x∈ D(g) : g(x) = 0}

und

skalares Vielfaches (λ f )(x) := λ · f (x) auf D(λ f ) := D( f ) .

Schließlich definieren wir fürf : D( f ) ⊆ X → Y, g: D(g) ⊆ Y → Z die Komposition(zusammengesetzte Funktion) g◦ f durch

Komposition (g◦ f )(x) := g( f (x)) auf D(g◦ f ) := f−1(D(g))⊆ D( f ) .

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1.3 Abbildungen und Funktionen

1.3.1.3 Umkehrabbildungen

Definition 1.3.2. g: D(g) ⊆Y→ X heißtUmkehrabbildung oderinverse Abbildung zuf : D( f )⊆ X→Y, wennD(g) = f (X), D( f ) = g(Y) undg( f (x)) = x für x∈ D( f ).Sie wird mit f−1 bezeichnet. ♦

Satz 1.3.3 (Umkehrabbildung). Ist f : A→ B bijektiv, so existiert die zu f inverse Abbil-dung f−1 : B→ A.

Ist f : A→ B bijektiv, so erhält manf−1 : B→ A durch:

1. y = f (x) nachx auflösen: x = f−1(y)2. x undy formal vertauschen: y = f−1(x)

Für eine Funktionf erhält man graphf−1 durch Spiegelung von graphf an der Geradenx = y.

1.3.2 Elementare Funktionen

1.3.2.1 Potenzfunktionen

Wir definieren die Potenzfunktion potr zum Exponentenr ∈ R durch

potr : R>0→ R>0 , x 7→ xr

Die Potenzgesetze ergeben entsprechende Eigenschaften der Potenzfunktion, z.B.

Wegen

potr(pot1/rx) = (x1r )r = x

1r r = x für x> 0,

ist pot1rdie Umkehrfunktion zu potr .

x2

√x

x

y

2 4 6 8 10

2

4

6

8

10

1.3.2.2 Polynome und gebrochen-rationale Funktionen

Seienn∈ N, a0, . . . ,an ∈ R. Dann istp: R→ R mit

p(x) = anxn +an−1xn−1 + . . .+a1x+a0

einPolynom.

Gilt an 6= 0 odern = 0, so heißtn derGrad degp des Polynoms.

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1 Grundlagen

Gilt p(x0) = 0, so heißtx0 eineNullstelle von p.

Eine FunktionR: D(R)⊆R→R heißtgebrochen-rationale Funktion, wenn Polynomepundq existieren, so daß

R(x) =p(x)q(x)

für x∈ D(R) .

(Insbesondere mußq so existieren, daßq(x) 6= 0 für x∈ D(R).)

Rheißtecht-gebrochen, wenn degp< degq.

Eine Zahlx0 ∈ D(R) heißtNullstelle vonR, wennR(x0) = 0, d.h.,p(x0) = 0.

Eine Zahlx0 6∈ D(R) heißtPolstellevon R, wennp undq so existieren, daßp(x0) 6= 0 undq(x0) = 0.

1.3.2.3 Trigonometrische Funktionen (Kreisfunktionen)

Dies sind sin :R→ R, cos:R→ R und die daraus abgeleiteten Funktionen tan, cot, sec,cosec, wobei

sinβ =bc, cosβ =

ac,

tanβ =ba

=sinβ

cosβ, cotβ =

ab

=cosβ

sinβ,

secβ =ca

=1

cosβ, cosecβ =

cb

=1

sinβ.

a

b

Der Winkelα ist dabei imBogenmaßzu nehmen: 2π = 360◦.

Wertetabelle:

x 0 π

20◦ 30◦ 45◦ 60◦ 90◦

cosx 12

√4 1

2

√3 1

2

√2 1

2

√1 1

2

√0

sinx 12

√0 1

2

√1 1

2

√2 1

2

√3 1

2

√4

Wichtigste Eigenschaften:

Symmetrie: sin(−x) =−sinx , cos(−x) = cos(x) ,

Additionstheoreme: sin2x+cos2x = 1,

sin(x+y) = sinxcosy+cosxsiny,

cos(x+y) = cosxcosy−sinxsiny,

Periodizität: sin(π−x) = sinx , sin(x+2kπ) = sin(x) ,cos(π−x) =−cosx , cos(x+2kπ) = cos(x) .

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1.3 Abbildungen und Funktionen

Weitere Eigenschaften siehe in einer Formelsammlung.

Umkehrfunktionen zu den trigonometrischen Funktionen können nur auf Monotonieinter-vallen definiert werden:

• Die Einschränkung sin∣∣[− π

2 ,π

2 ] der Sinusfunktion auf

das Intervall[−π

2 ,π

2 ] ist streng monoton wachsend mitdem Bildbereich[−1,1].

sinx

x

y

-3 -2 -1 1 2 3

-1

1

Daher existiert dazu die Umkehrfunktion

arcsin :[−1,1]→ [−π

2,π

2] ,

Arcussinusgenannt.

arcsinx

x

y

-1 1

-1

1

• Die Einschränkung cos∣∣[0,π] der Cosinusfunktion auf

das Intervall[0,π] ist streng monoton fallend mit demBildbereich[−1,1].

cosx

x

y

-1 1 2 3 4

-1

1

Daher existiert dazu die Umkehrfunktion

arccos:[−1,1]→ [0,π] ,

Arcuscosinusgenannt.

arccosx

x

y

-1 1

1

2

3

• Die Einschränkung tan∣∣]− π

2 ,π

2 [ der Tangensfunktion

auf das Intervall]− π

2 ,π

2 [ ist streng monoton wachsendmit dem Bildbereich]−∞,∞[.

tanx

x

y

-3 -2 -1 1 2 3

-5

5

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1 Grundlagen

Daher existiert dazu die Umkehrfunktion

arctan: ]−∞,∞[→ ]− π

2,π

2[ .

Arcustangensgenannt.

arctanxx

y

-4 -2 2 4

-1

1

1.3.2.4 Logarithmus- und Exponentialfunktion

Die Exponentialfunktion zur Basis b> 0 ist definiert durch

expb : R→ R>0 , x 7→ expb(x) := bx .

x

y

-4 -2 0 2 4

5

10

15

20

Eigenschaften ergeben sich aus den Potenzgesetzen.

Die Logarithmusfunktion zur Basis b> 0,b 6= 1 ist definiertdurch

logb : R>0→ R , x 7→ logbx .

x

y

1 2 3 4 5

-2

-1

1

2

Eigenschaften ergeben sich aus den Logarithmengesetzen.

Insbesondere gilt

expb(logbx) = x für x∈ R>0 und logb(expbx) = x für x∈ R .

Damit sind expb und logb Umkehrfunktionen zueinander.

1.3.2.5 Hyperbelfunktionen

Eine besondere Rolle spielen dienatürlichen Exponential- bzw. Logarithmusfunktion

exp := expe , ln := loge

mit der Basis e= 2.71828. . . (diese Zahl wird später genau definiert).

Mit Hilfe der Exponentialfunktion können weitere Funktionen gebildet werden, die für dieTechnik Bedeutung haben. Die bekanntesten sind die Hyperbelfunktionen.

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1.3 Abbildungen und Funktionen

Sinus hyperbolicussinh: R→R undCosinus hyperbolicuscosh:R→R≥1 sind definiertdurch

sinhx =ex−e−x

2, coshx =

ex +e−x

2.

sinhx x

y

-4 -2 2 4

-60

-40

-20

20

40

60

x

y

-4 -2 2 4

10

20

30

40

Sie haben Eigenschaften, die sehr stark an Sinus und Cosinus erinnern, obwohl sie mitdiesen Funktionen nicht direkt etwas zu tun haben:

Symmetrie : sinh(−x) =−sinhx , cosh(−x) = cosh(x) ,

Additionstheoreme: cosh2x−sinh2x = 1,

sinh(x+y) = sinhxcoshy+ coshxsinhy,

cosh(x+y) = coshxcoshy+ sinhxsinhy.

All diese Eigenschaften leiten sich unmittelbar aus den Definitionen her. Beachte sinh(0) =0 und cosh(0) = 1.

Ein schönes Anwendungsbeispiel für die Hyperbelfunktionen ist

Beispiel 1.3.4.Ein homogenes, an seinen Endpunkten aufgehängtes, nur durch sein Eigen-gewicht belastetes Seil hat die Form einerKettenlinie

y(x) = acosh

(x−b

a

)+c.

Hierin sinda,b,c konstant,a> 0. ♦

1.3.2.6 Areafunktionen

Die Umkehrfunktionen von sinh und cosh∣∣R≥0

heißenArea sinus hyperbolicusbzw.Areacosinus hyperbolicus,

arsinh:R→ R , arcosh:[1,∞[→ R≥0 .

So wie sinh und cosh durch die exp-Funktion ausgedrückt werden, können die Area-Funk-tionen durch die Logarithmusfunktion beschrieben werden. Wir sehen dies durch Auflösen

21

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1 Grundlagen

der Gleichungeny = sinhx bzw. y = coshx

nachx. Es gilt

y = sinhx⇐⇒ y =ex−e−x

2⇐⇒ ex−2y = e−x⇐⇒ (ex)2−2yex = 1

⇐⇒ ex = y+√

y2 +1 oder ex = y−√

y2 +1.

Dabei kann das „−“-Zeichen nicht wirklich auftreten, da√

y2 +1> y und ex> 0. Also giltx = ln(y+

√y2 +1).

Damit hat man

arsinhx = ln(

x+√

x2 +1)

und entsprechend

arcoshx = ln(

x+√

x2−1)

(x≥ 1) .

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2 Polynome und rationale Funktionen

Gleichungen spielen auch in der Ingenieurmathematik eine große Rolle. Sie beschreibenzum Beispiel

• Bedingungen, unter denen Vorgänge ablaufen,

• Gleichgewichtszustände,

• Punktmengen.

Gleichungen für eine unbekannte Variable kann man auf die Form

f (x) = 0

mit einer Funktion f : D( f ) ⊆ R → R bringen. Gesucht sind dann allex0 ∈ D( f ) mitf (x0) = 0. Solche Zahlenx0 heißenNullstellen von f . Gleichungen zu lösen ist also gleich-bedeutend damit, Nullstellen von Funktionen zu berechnen. Eine Lösung einer Gleichungheißt auchWurzel der Gleichung.

Im folgenden beschäftigen wir uns zunächst mit dem einfachsten Typ von Funktionen, denPolynomenund versuchen, zu diesen Nullstellen zu berechnen.

2.1 Polynome

Ein Polynomf ist eine Funktionf : R→ R mit

f (x) = a0 +a1x+a2x2 + . . .+anxn für x∈ R ,

wobein∈ N, unda0, . . . ,an ∈ R. Die Zahlenai heißen Koeffizienten des Polynoms, fallsan 6= 0 odern = 0, heißtn derGrad des Polynoms, n = deg( f ).

Beispiel 2.1.1. f : R→ R mit f (x) = 2 ist ein Polynom nullten Grades,g: R→ R mitg(x) = 3x2 +5 ist ein Polynom zweiten Grades. ♦

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2 Polynome und rationale Funktionen

2.1.1 Koeffizientenvergleich

Polynome sind in ihrer Darstellung eindeutig:

Satz 2.1.2 (Eindeutigkeit der Darstellung).Seien f,g: R→ R Polynome mit

f (x) = a0 +a1x+ · · ·+anxn , g(x) = b0 +b1x+ · · ·+bmxm .

Gilt f (x) = g(x) für alle x aus einem offenem Intervall]a,b[, a< b, dann gilt m= n, ai = bi

für alle i = 0, . . . ,n, und damit auch f(x) = g(x) für alle x∈ R.

Die im Satz beschriebene Feststellung der Gleichheit der Koeffizienten beider Polynomenennt manKoeffizientenvergleich.

2.1.2 Hornerschema

Satz 2.1.3.Seien ein Polynom f(x) = a0 + a1x+ · · ·+ anxn und eine Zahl x0 ∈ R gegeben.Dann gilt

f (x) = (x−x0)(c1 +c2x+ · · ·+cnxn−1)+c0 für x∈ R ,

wobei die Zahlen c0, . . . ,cn sich in folgender Weise bestimmen:

cn := an , ck := ck+1x0 +ak für k = n−1,n−2, . . . ,0 (2.1.1)

Beweis.Durch Ausmultiplizieren findet man

(x−x0)(c1 +c2x+ . . .+cnxn−1)+c0

= c1x+c2x2 + · · ·+cnxn−c1x0−c2xx0−·· ·−cnxn−1x0 +c0

= (c0−c1x0)+(c1−c2x0)x+ · · ·+(cn−1−cnx0)xn−1 +cnxn

= a0 +a1x+ · · ·+an−1xn−1 +anxn .

Bemerkung 2.1.4.Es gilt f (x0) = c0 mit c0 aus (2.1.1). Man kann also den Funktionswertc0 = f (x0) eines Polynomsf an der Stellex0 durch (2.1.1) berechnen. Dazu sind nurnMultiplikationen undn Additionen nötig. Insbesondere muß so keine einzige höhere Potenzberechnet werden. Damit ist dieses Verfahren numerisch sehr günstig. ♦

Für die praktische Berechnung der Zahlenc0, . . . ,cn ist ein spezielles Rechenschema, dasHornerschema, üblich:

an an−1 an−2 . . . a1 a0

+ cnx0 cn−1x0 . . . c2x0 c1x0

= cn cn−1 cn−2 . . . c1 c0

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2.1 Polynome

Beispiel 2.1.5.Mit f (x) = x2−6x+9, x0 = 3 erhalten wir

1 −6 9+ 1·3 −3·3= 1 −3 0

und damitf (x) = (x−3)(x−3)+0 = (x−3)2, also f (3) = c0 = 0.

2.1.3 Faktorisierung von Polynomen

Aus Satz2.1.3folgt: Ist x0 eine Nullstelle vonf , so gilt immerc0 = f (x0) = 0 und f besitztdie Darstellung

f (x) = (x−x0) ·g(x) ,

wobeig ein Polynom(n−1)-ten Grades

g(x) = c1 +c2x+ · · ·+cnxn−1

ist. Iterierte Anwendung dieser Aussage führt zu folgendem Satz.

Satz 2.1.6 (Faktorisierungssatz).Jedes Polynom n-ten Grades, n≥ 1, besitzt eine Dar-stellung

f (x) = (x−x1)`1 · (x−x2)`2 · · · · · (x−xs)`s ·g(x) ,

wobei x1, . . . ,xs genau die Nullstellen von f sind,`1 + . . . . . .+ `s≤ n gilt und g ein null-stellenfreies Polynom vom Grad n− (`1 + `2 + . . .+ `s) ist. Diese Darstellung ist bis aufVertauschung der Faktoren eindeutig.

Bezeichnung:Wir nennen die Faktoren(x− xi), i = 1, . . . ,s, die Linearfaktoren des Po-lynoms. Ferner nennen wir` j dieVielfachheit der Nullstellex j von f .

Folgerung 2.1.7.Jedes Polynom n-ten Grades, n≥ 1, hat höchstens n Nullstellen.

In Erweiterung des Faktorierungssatzes2.1.6kann bewiesen werden:

Satz 2.1.8.Ist g ein nichtkonstantes nullstellenfreies Polynom, so gibt es eine Darstellungvon g als Produkt von lauter Polynomen zweiten Grades (i.a. nicht eindeutig).

Folgerung 2.1.9.Jedes Polynom ungeraden Grades besitzt mindestens eine Nullstelle.

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2 Polynome und rationale Funktionen

2.2 Nullstellenberechnung

2.2.1 Polynome nullten Grades

Ein Polynomf nullten Grades ist eine konstante Funktion,

f (x) = a0 für x∈ R .

Sie hat genau dann eine Nullstelle, wenna0 = 0. In diesem Fall ist jedesx∈ R Nullstellevon f .

2.2.2 Polynome ersten Grades

Ein Polynomf ersten Grades hat die Form

f (x) = a0 +a1x für x∈ R

mit a1 6= 0. Aus der Gleichung

0 = f (x0) = a0 +a1x0

erhalten wira1x0 =−a0 , x0 =−a0

a1

für die einzige Nullstelle vonf .

2.2.3 Polynome zweiten Grades

Ein Polynomf zweiten Grades hat die Form

f (x) = a0 +a1x+a2x2 für x∈ R

mit a2 6= 0. Mit Division durcha2 bringt man die Gleichungf (x) = 0 in folgendeNormal-form :

x2 + px+q = 0 (2.2.1)

mitp :=

a1

a2, q :=

a0

a2.

Genau dann, wennp2

4 −q≥ 0, hat (2.2.1) die Lösungenx1 undx2 mit

x1,2 =− p2±√

p2

4−q,

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2.2 Nullstellenberechnung

wobeix1 = x2, wenn p2

4 = q (in diesem Fall istx1 =− p2 zweifache Nullstelle).

Daßx1 undx2 tatsächlich Lösungen sind, sieht man durch

(x−x1)(x−x2) =

([x+

p2

]−√

p2

4−q

)([x+

p2

]+

√p2

4−q

)

= (x+p2

)2− (p2

4−q) = x2 + px+

p2

4− p2

4+q

= x2 + px+q.

Ist p2

4 −q< 0, so istg(x) = x2 + px+q nullstellenfrei.

2.2.4 Polynome höheren Grades

Für Polynome dritten und vierten Grades gibt es Lösungsformeln, aber wesentlich kompli-zierter als für Polynome zweiten Grades.

Für Polynome höheren als vierten Grades gibt es im allgemeinen keine Formel für die Null-stellen nur unter Verwendung von Radikalen, d.h., Ausdrücken welche neben den Grundre-chenoperation auch Wurzeln enthalten können.

Für Polynome von höherem als zweiten Grades gibt es daher im wesentlichen nur zweiMethoden:

1. Methode: Raten einer Nullstelle und Abspalten eines Linearfaktors (z.B. mit Horner-schema). Das entstehende Restpolynom hat dann einen um 1 verringerten Grad.

Beispiel 2.2.1.Das Polynomf (x) = 4−4x−3x2 + 2x3 + x4 hat augenscheinlich die Null-stelle x1 = 1. Mit dem Hornerschema erhält manf (x) = (x− 1)(x3 + 3x2− 4). DerFaktor h(x) = x3 + 3x2− 4 hat ebenfalls die Nullstellex2 = 1. Mit dem Hornersche-ma ergibt sichh(x) = (x− 1)(x2 + 4x+ 4) und über die(p,q)-Formel erhält man weiterx2 + 4x+ 4 = (x+ 2)(x+ 2). Damit ergeben sich fürf zwei zweifache Nullstellenx1 = 1,x2 =−2 und die Zerlegungf (x) = (x−1)2(x+2)2. ♦

2. Methode: Verwendung numerischer Näherungsverfahren zur näherungsweise Berech-nung der Nullstellen.

2.2.4.1 Raten von Nullstellen

Wir betrachten ein Polynom

f (x) = anxn +an−1xn−1 + · · ·+a1x+a0 , an = 1

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2 Polynome und rationale Funktionen

und nehmen an, daß esn Nullstellen besitzt, d.h.

f (x) =n

∏i=1

(x−xi)

mit xi als den (eventuell mehrfach aufgeführten) Nullstellen vonf . Durch Ausmultiplizie-ren des Produktes erhält man

Satz 2.2.2 (Vietascher Wurzelsatz).Unter obigen Voraussetzungen sind x1, . . . ,xn genaudann Nullstellen von f , wenn

n

∑i=1

xi =−an−1 ,n

∑i, j=1,i< j

xix j = an−2 ,n

∑i, j,k=1,i< j<k

xix jxk =−an−3 ,

. . . , x1x2 · · ·xn = (−1)na0 .

Folgerung 2.2.3.Seien die Koeffizienten a0, . . . , an−1 des Polynoms f ganzzahlig. Wenn fgenau n ganzzahlige Lösungen xi hat, dann sind diese Teiler von a0.

Beachte: Jede ganze Zahl (auch 0) zählt hier als Teiler von 0.

Eine noch bessere Möglickeit zum Ratenrationaler Nullstellen eines Polynoms mitganz-zahligenKoeffizienten liefert der folgende Satz:

Satz 2.2.4.Die rationalen Nullstellen eines Polynoms f(x) = a0 + a1x + · · ·+ anxn mitganzzahligen Koeffizienten a0, . . . ,an findet man unter den Brüchenpq (p,q∈Z, teilerfremd),in denen p ein Teiler von a0 und q ein Teiler von an ist.

Beweis.Seix0 = pq eine Nullstelle vonf mit teilerfremdenp,q∈ Z. Dann gilt

0 = a0 +a1x0 + · · ·+anxn0 = a0 +a1

pq

+ · · ·+an

(pq

)n

und damit0 = a0qn +a1pqn−1 + · · ·+anpn .

Ab dem zweiten Summanden sind alle durchp teilbar. Dap undq teilerfremd sind, mußa0

auch durchp teilbar sein. Bis zum vorletzten Summanden sind alle durchq teilbar, folglichmuß auchan durchq teilbar sein.

Beispiel 2.2.5.Wir betrachten das Polynom

f (x) = 12x4−4x3 +6x2 +x−1.

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2.2 Nullstellenberechnung

Für eine rationale Nullstellex0 = pq mußp Teiler von 1 undq Teiler von 12 sein. Rationale

Nullstellen befinden sich damit in der Menge{1,−1,

12,−1

2,13,−1

3,14,−1

4,16,−1

6,

112,− 1

12

}.

Man überprüft: f (13) = 0 und findet die Zerlegungf (x) = (3x−1)(4x3 + 2x+ 1). Weitere

rationale Nullstellen können also nur noch 1,−1, 12, −1

2, 14 oder -14 sein. Man überprüft,

daß keine dieser Zahlen Nullstellen vonh(x) = 4x3 + 2x+ 1 ist. (h besitzt nur noch eineNullstelle zwischen−1

2 und−14 ). ♦

2.2.4.2 Bisektionsverfahren

Im folgenden beschreiben wir das Bisektionsverfahren als ein Verfahren zur näherungswei-sen Bestimmung einer Nullstelle eines Polynomsf . Grundlage für die Anwendung ist derZwischenwertsatz für stetige Funktionen, den wir erst später behandeln.

Zu lösen ist die Gleichungf (x) = 0. Es sei eine Stellex = a bekannt, für dief (a)< 0, undeine Stellex = b> a, für die f (b)> 0 gelte. Dann muß nach dem Zwischenwertsatz (siehespäter!) zwischena undb eine Nullstelle vonf liegen. Seic das arithmetische Mittel vona undb, d.h.,c = a+b

2 . Wir haben nun drei Fälle zu unterscheiden:

• Gilt f (c) = 0, so ist eine Lösung der Gleichung gefunden.

• Gilt f (c) > 0, so liegt nach dem gleichen Argument eine Nullstelle vonf zwischena undc. Man betrachtet nun[a,c] als Ausgangsintervall und untersucht als Nächstesdas arithmetische Mittel vona undc.

• Gilt f (c)< 0, so liegt eine Nullstelle zwischenc undb. Hier betrachtet man[c,b] alsneues Ausgangsintervall und untersucht als Nächstes das arithmetische Mittel voncundb.

Führt man dies iteriert fort, sohalbiert sich bei jedem Schritt die Breite des Intervalls, indem eine Nullstelle liegen muß. Durch diese Art derIntervallschachtelung kann dahereine Lösung der Gleichung beliebig angenähert werden.

Beispiel 2.2.6.Wir betrachten das Polynomf (x) = x3 + x+ 1. Als Polynom 3. Gradesbesitzt f mindestens eine Nullstelle. Man stellt durch Einsetzen fest:

f (−1) =−1 und f (1) = 3.

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2 Polynome und rationale Funktionen

Also liegt eine Nullstelle vonf im Intervall ]−1,1[. Wir starten das Bisektionsverfahrenund bezeichnen den linken, rechten und mitteleren Punkt jeweils mita, b beziehungsweisec:

a b c f(c)−1 1 0 1−1 0 −0.5 0.375−1 −0.5 −0.75 −0.1719−0.75 −0.5 −0.625 0.1309−0.75 −0.625 −0.6875 −0.0125−0.6875 −0.625 −0.65625 0.0611.

Nach weiteren Schritten ermittelt man (auf 4 gesicherte Dezimalen) als Nullstelle

x0 =−0.6823. ♦

Bemerkung 2.2.7.1. Das Verfahren funktioniert nur schlecht, wenn die Nullstelle einemehrfache Nullstelle ist.

2. Das Verfahren funktioniert nicht nur bei Polynomen. Benötigt wird die Stetigkeit vonfund zwei Stellena undb mit f (a) f (b)< 0. ♦

2.3 Rationale Funktionen

Addiert, subtrahiert oder multipliziert man Polynome, so entstehen wieder Polynome. An-ders ist dies bei der Division. Eine Funktionf : D( f )⊆ R→ R mit

f (x) =p(x)q(x)

=anxn +an−1xn−1 + . . .+a1x+a0

bmxm+bm−1xm−1 + . . .+b1x+b0für x∈ D( f ) := {t ∈ R : q(t) 6= 0}

nennen wirrationale Funktion . Polynome sind spezielle rationale Funktionen, die mitq(x) = 1 entstehen.

Fragen:

• Vereinfachung des Bruches (Zerlegung in ganzen Anteil und echt gebrochenen An-teil, Kürzen)

• Nullstellen, Polstellen

• Zerlegung in Elementarbrüche (Partialbruchzerlegung)

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2.3 Rationale Funktionen

2.3.1 Polynomdivision

Eine Vereinfachung von rationalen Funktionen ergibt sich über diePolynomdivision, beider man entsprechend der schriftlichen Division reeller Zahlen vorgeht. Dabei teilt manden Zählerp einer rationalen Funktion durch den Nennerq, sofern ersterer keinen niede-ren Grad besitzt: deg(p) ≥ deg(q) ≥ 1. Dadurch entsteht eine Darstellung der rationalenFunktion als Summe einesganzen Anteilsh (ein Polynom vom Grad< deg(p)) und eines(gebrochen) rationalen Anteils r

q (bei dem deg(r)< deg(q) gilt):

f (x) =p(x)q(x)

= h(x)+r(x)q(x)

.

Beispiel 2.3.1.Für f (x) = 3x3+2x2−x+1x−3 rechnet man

(3x3 + 2x2 − x + 1) : (x−3) = 3x2 +11x+32+ 97x−3 .

−| 3x3 − 9x2

11x2 − x−| 11x2 − 33x

32x + 1−| 32x − 96

97

Daher istf (x) = 3x2 +11x+32+ 97x−3. ♦

2.3.2 Nullstellen rationaler Funktionen

Eine Nullstelle einer rationalen Funktionf = pq ist wieder eine Zahlx0 ∈D( f ) mit f (x0) =

0. Dafür istp(x0) = 0 notwendig aber nicht hinreichend. Ist nämlich gleichzeitigq(x0) = 0,so istx0 6∈ D( f ).

Zu fragen wäre nun, ob man dann nicht inp undq den Faktor(x−x0) abspalten und damitkürzen könnte. Damit wird aber der Definitionsbereich vonf und damit eigentlich auchfverändert.

Damit dieser Effekt nicht auftritt, nehmen wir nun an, daß wirf = pq mit teilerfremden

Polynomenp undq haben. Dabei nennen wirp undq teilerfremd , wenn kein Polynomdmit deg(d)> 0 existiert, so daß

p(x) = d(x) · p1(x) , q(x) = d(x) ·q1(x)

mit Polynomenp1 undq1 gilt. Unter diesen Voraussetzungen haben wir nun:

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2 Polynome und rationale Funktionen

• Ist x0 eine Nullstelle vonp, so istx0 auch eine Nullstelle vonf . Ist x0 eine`-facheNullstelle vonp, so nennen wirx0 auch eine -fache Nullstelle vonf .

• Ist x0 eine`-fache Nullstelle vonq, so nennen wirx0 eine`-fachePolstellevon f .

2.3.3 Euklidischer Algorithmus

Eine Idee zum Kürzen vonp undq wäre, die Nullstellen vonp undq zu bestimmen undpundq entsprechend Satz2.1.6zu faktorisieren:

p(x) = (x−x1)`1 · (x−x2)`2 · . . . · (x−xs)`s ·g(x) ,q(x) = (x−y1)m1 · (x−y2)m2 · . . . · (x−yr)mr ·h(x) .

Faktoren zu gleichen Nullstellen können entsprechend der Vielfachheit gekürzt werden.

Problem: 1. Auchg undh könnten noch gemeinsame Teiler besitzen.

2. Die Bestimmung der Nullstellen ist meistens kompliziert.

Erfreulicherweise kann man jedoch rationale Funktion mit Hilfe der Polynomdivision ineinen gekürzten Zustand überführen. Seien dazup undq Polynome.

Ohne Beschränkung der Allgemeinheit sei deg(p)≥ deg(q)> 0. Man bildet nun eine Kettevon Divisionen mit Rest (Euklidischer Algorithmus für Polynome ):

Setze: q−1 := p, q0 := q;

Bestimme rekusivqi für i ≥ 1 aus: qi−2(x) = qi−1(x) · ti(x)+qi(x) ;

Abbruchkriterium: qi = 0.

Da deg(q) = deg(q0) > deg(q1) > · · · > deg(qs), muß eins= i < n existieren mitqs = 0,so daß das Verfahren stets abbricht.

Satz 2.3.2.Seien p und q Polynome mitdeg(p) ≥ deg(q) > 0. Seien die Polynome qi ,i =−1, . . . ,s, nach obigen Verfahren bestimmt mit qs = 0. Dann ist qs−1 gradmäßig größtergemeinsamer Teiler von p und q.

Sei zum Beispiels= 3. Wir haben dann

q(x) = q0(x) = q1(x)t1(x)+q2(x)= q2(x)t2(x)t1(x)+q2(x) = q2(x) [t2(x)t1(x)+1]

und

p(x) = q−1(x) = q0(x) · t0(x)+q1(x)= q2(x)(t2(x)t1(x)+1)t0(x)+q2(x) · t2(x) = q2(x) · [t2(x) · t1(x) · t0(x)+ t0(x)+ t2(x)] .

Wir erläutern die Methode über ein Beispiel.

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2.3 Rationale Funktionen

Beispiel 2.3.3.Sei f (x) = x2−3x+2x3−2x+1. Wir müssen alsop(x) = q−1(x) = x3− 2x+ 1 und

q(x) = q0(x) = x2−3x+2 betrachten. Im ersten Schritt (füri = 1) erhalten wir

(x3−2x+1) : (x2−3x+2) = x+3+5x−5

x2−3x+2

und damitt1(x) = x+3, q1(x) = 5x−5. Im zweiten Schritt (i = 2) erhalten wir

(x2−3x+2) : (5x−5) =15

x− 25

und dahert2(x) = 15x− 2

5, q2(x) = 0.

Der gradmäßig größte gemeinsame Teiler vonx2− 3x+ 2 und x3− 2x+ 1 ist demnachq1(x) = 5x−5 bzw.x−1.

Mit (x2−3x+ 2) : (x−1) = x−2 und(x3−2x+ 1) : (x−1) = x2 + x−1 erhalten wir ausf die gekürzte Form

x−2x2 +x−1

. ♦

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2 Polynome und rationale Funktionen

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3 Vektorräume und AnalytischeGeometrie

Vektorräume sind in gewisser Weise Verallgemeinerungen der Zahlenmengen. So gibtes in einem Vektorraum eine Addition mit Eigenschaften analog der für die reellen Zah-len. Außerdem kann man Vektoren durch die Multiplikation mit reellen Zahlen stauchenoder dehnen. Eine Multiplikation mit den von den reellen Zahlen gewohnten Eigenschaf-ten gibt es jedoch im allgemeinen nicht. Daher werden verschiedene Arten von Ersatz-Multiplikationen (Vektoren mit Zahlen oder Vektoren mit Vektoren) betrachtet.

Vektoren erlauben vielfältige innermathematische Anwendungen wie in der Geometrie oderAnalysis, sowie auch außermathematische Anwendungen z.B. in der Mechanik. Je nachAnwendung haben sie unterschiedliche Formen.

3.1 Elementare Theorie der Vektorräume

Hier betrachten wir die gemeinsamen Eigenschaften, d.h., abstrakte Vektorräume. Wir wer-den sehen, daß die uns interessierenden Vektorräume mit Hilfe von Vektorräumen reellern-Tupel beschrieben werden können. Daher beschäftigen wir uns auch vorrangig mit diesenspeziellen Vektorräumen.

3.1.1 Vektorraum Rn von reellen n-Tupeln

Sein∈ N>0. Wir betrachten die Menge

Rn := Xni=1R = R×·· ·×R︸ ︷︷ ︸

n−mal

= {(x1, . . . ,xn) : xi ∈ R}

derreellenn-Tupel.

In Rn definiert man die Addition von Elementenx = (x1, . . . ,xn), y = (y1, . . . ,yn) und dieMultiplikation mit einem Skalar (reeller Zahl)λ ∈ R durch

x+y := (x1 +y1, . . . ,xn +yn) und λ ·x := (λx1, . . . ,λxn) .

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3 Vektorräume und Analytische Geometrie

Insbesondere werden wir die RäumeR2 und R3 der Paare bzw. Tripel reeller Zahlen be-trachten zur Beschreibung von Punkten in der Ebene oder im (drei-dimensionalen) Raum.

Algebraische Eigenschaften:Seien

0 := (0, . . . ,0) (Null) ,−x := (−x1, . . . ,−xn) (entgegengesetztes Element) ,

dann gelten (fürx,y,z∈ Rn,λ ,µ ∈ R):

x+y = y+x , (x+y)+z= x+(y+z) , (3.1.1)

λ · (x+y) = λ ·x+ λ ·y, (λ + µ) ·x = λ ·x+ µ ·x , λ (µ ·x) = (λ µ) ·x , (3.1.2)

x+0 = x , x+(−x) = 0, 0·x = 0, 1·x = x , (−1) ·x =−x . (3.1.3)

Wir setzen:

x−y := x+(−y) = (x1−y1, . . . ,xn−yn) .

Schreibweise:Wir schreiben einn-Tupel(x1, . . . ,xn) auch als sogenanntenSpaltenvektor.Beachte den Unterschied zumZeilenvektor (ohne Kommas!):

(x1, . . . ,xn) =

x1...

xn

für n>16= (x1 · · · xn) .

3.1.2 Definition von Vektorräumen

Definition 3.1.1. Eine MengeV mit einer Addition+ und einer Multiplikation· mit Zah-len heißt(reeller) Vektorraum , wenn genau einNullvektor 0∈V und für jedesx∈V ge-nau einadditives Inverses (entgegengesetzter Vektor)−x∈V existieren, so daß (3.1.1),(3.1.2), (3.1.3) für allex,y,z∈V, λ ,µ ∈R gelten. Die Elemente eines Vektorraumes heißenVektoren. ♦

Beispiele von Vektorräumen:

1. Der RaumRn der reellenn-Tupel ist ein Vektorraum, siehe oben.

2. DerVektorraum der Polynome:

Seienp,q: R→ R Polynome mit

p(x) =n

∑i=0

aixi , q(x) =

m

∑i=0

bixi .

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3.1 Elementare Theorie der Vektorräume

O.b.d.A. seim= n. Seiλ ∈ R. Wir definieren:

(p+q)(x) := p(x)+q(x) =n

∑i=0

(ai +bi)xi , (λ p)(x) := λ p(x) (x∈ R) .

3. Dern-dimensionale RaumVnO der Ortsvektoren, n = 1,2,3.

Wir bezeichnen mitE1, E2, E3 die aus der Geometrie bekannten Räume Gerade, Ebene,und (dreidimensionaler) Raum. Ein geordnetesPunktepaar oderPfeil

−→AB in En ist ein

(geordnetes) Paar−→AB= (A,B) ∈ En×En .

A heißtAnfangspunkt, B heißtEndpunkt von−→AB.

Zwei Pfeile−→AB und

−→CD heißenparallelgleich,

−→AB

‖=−→CD, wenn eine Parallelverschiebung

τ existiert mitτ(−→AB) =

−→CD.

Als Beispiel betrachten wir folgende Situation inE2:

A

B

C

D

SR

PQ

Es gilt−→AB

‖=−→CD ,

−→PQ

‖=−→RS,

−→AB 6 ‖=−→PQ.

SeiO∈ En ein fixierter Punkt. Die Menge

VnO := {−→OX : X ∈ En}

der Pfeile mit AnfangspunktO bildet einenVektorraum der Ortsvektoren :

Wir haben 0=−→OO.

Seiena =−→OA, b =

−→OB. Es gibt dann genau einen zu

−→OB parallelgleichen Pfeil

−→AC. Damit

setzen wira+b :=−→OC.

OA

Bc

b

a

C

Für a∈VnO undλ ∈ R setzen wirλa =

−→OC, wobei

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3 Vektorräume und Analytische Geometrie

•C = O für λ = 0 odera = 0;

• wenna 6= 0 undλ 6= 0, dann seiC der Punkt auf der Geraden durchO undA mit |OC|=|λ | · |OA| und

� A undC auf einer Seite vonO liegen, wennλ > 0;

� A undC auf verschiedenen Seiten vonO liegen, wennλ < 0.

3.1.3 Kanonische Basis im Rn

Spezielle Vektoren sind derNullvektor 0 = (0, . . . ,0) und diei-tenEinheitsvektoren

ei = (0, . . . ,0,1,0, . . . ,0) ,

bei denen genau an deri-ten Stelle eine 1 steht.

Ist dannx = (x1, . . . ,xn) ein Vektor ausRn, so kann man ihn als

x = x1e1 +x2e2 + . . .+xnen =n

∑i=1

xiei ,

d.h., als eineLinearkombination der ei darstellen. Außerdem ist(e1, . . . ,en) minimal infolgendem Sinne: keiner der Vektorenei läßt sich als Linearkombination der übrigen Ein-heitsvektoren darstellen.

(e1, . . . ,en) heißt dannkanonische Basisund x1, . . . ,xn heißen dieKoordinaten von xbezüglich der kanonischen Basis.

3.1.4 Basis und Koordinaten in einem Vektorraum

Seienn-Vektorenb1, . . . ,bn in einem VektorraumV gegeben.

Die Vektorenb1, . . . , bn heißenlinear unabhängig, wenn der Nullvektor 0nur trivial alsLinearkombination derbi darstellbar ist:

λ1b1 + · · ·+ λnbn = 0 ⇒ λ1 = · · ·= λn = 0.

Die Vektorenb1, . . . ,bn heißenvollständig, wenn jeder Vektorv∈V als Linearkombinationderbi darstellbar ist:

∃x1, . . . ,xn ∈ R : v = x1b1 +x2b2 + . . .+xnbn . (3.1.4)

Sindb1, . . . , bn linear unabhängig und vollständig, dann heißt(b1, . . . ,bn) eineBasisvonV.

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3.1 Elementare Theorie der Vektorräume

Ist (b1, . . . ,bn) eine Basis, so heißtV einn-dimensionaler Vektorraum und die Darstellung(3.1.4) ist eindeutig. Die Zahlenx1, . . . ,xn (in dieser Reihenfolge) heißen dieKoordinatenvon v bezüglich der Basis(b1, . . . ,bn); (x1, . . . ,xn) ∈ Rn heißt dannKoordinatenvektorvonv bezüglich dieser Basis.

Existiert also eine Basis(b1, . . . ,bn), so entspricht jedem Vektorv∈V genau ein Koordina-tenvektorx∈ Rn und umgekehrt, wobei

V 3 v = x1b1 +x2b2 + . . .+xnbn ←→ (x1, . . . ,xn) = x∈ Rn .

Außerdem entsprechen sich Addition und Multiplikation mit Skalar inV undRn.

Folgerung 3.1.2.Je zwei n-dimensionale Vektorräume(V,+, ·), (W,⊕,�) überR sindiso-morphzu einander: Es existiert eine Bijektionϕ : V→W mit

ϕ(λ1 ·v1 + λ2 ·v2) = λ1�ϕ(v1)⊕λ2�ϕ(v2) für λi ∈ R, vi ∈V .

Damit erhalten wir

Bemerkung 3.1.3.Anstelle einesn-dimensionalen VektorraumesV kann stets der isomor-phe VektorraumRn dern-Tupel betrachtet werden. ♦

3.1.5 Kartesische Koordinaten im V2O, V3

O

In En, n = 2,3, wählen wir einen PunktO und PunkteEi , i = 1, . . . ,n, so daß

• die StreckenOEi die Länge 1 haben;• die Winkel]EiOEj , i 6= j, gleich 90◦ sind;

• die Pfeile−−→OE1, . . . ,

−−→OEn in dieser Reihenfolge ein Rechtssystem bilden.

Dann sind−→i :=

−−→OE1,

−→j :=

−−→OE2 und, bein = 3, auch

−→k :=

−−→OE3 Basisvekto-

ren desVnO, sie bilden einekartesische Basis.

O

−→k

E1

E2

E3 −→j−→i

Jeder Vektor−→v ∈VnO kann in der Form

−→v = x1−→i +x2

−→j (n = 2) , −→v = x1

−→i +x2

−→j +x3

−→k (n = 3)

dargestellt werden, diexi heißen diekartesischen Koordinatenvon−→v .

Bemerkung 3.1.4.Sein∈ {2,3}. Sei inEn ein PunktO und mit ihm eine kartesische Basisfixiert. Dann entspricht jedem PunktX ∈ En eineindeutig ein Pfeil

−→OX ∈ Vn

O und diesemwiederum eineindeutig ein Koordinatenvektorx∈ Rn, z.B. fürn = 2:

PunktX ∈ E2 ↔ Pfeil−→OX = x1

−→i +x2

−→j ∈V2

O ↔ Vektorx = (x1,x2) ∈ R2 .

Außerdem entsprechen sich die Vektoroperationen:VnO ist isomorph zuRn. ♦

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3 Vektorräume und Analytische Geometrie

Im Folgendem identifizieren wir daher Punkte, Pfeile, Vektoren inEn, VnO, Rn je nach

Bedarf.

Konkret bezeichnen wir Punkte und ihre zugehörigen Ortsvektoren (odern-Tupel) mit Pbzw. p.

Damit können wir geometrische Begriffe wie Winkel, Länge, Fläche, Volumen vomEn,n = 2,3, auf denVn

O undRn und zurück übertragen.

3.1.6 Skalarprodukt und Norm

Für Vektorenx,y∈ Rn definieren wir daseuklidische Skalarprodukt

〈x,y〉 := x1y1 + · · ·+xnyn =n

∑i=1

xiyi .

Es ordnet Vektorenx,y∈Rn eine reelle Zahl zu und hat folgende Eigenschaften (α,β ∈R,x,y,z∈ Rn):

〈x,y〉= 〈y,x〉 (Symmetrie)〈x,αy+ βz〉= α〈x,y〉+ β 〈x,z〉 (Bilinearität)〈x,x〉 ≥ 0, 〈x,x〉= 0⇔ x = 0 (positive Definitheit).

(3.1.5)

Offensichtlich giltxi = 〈x,ei〉 für i = 1, . . . ,n.

Definition 3.1.5. Eine Abbildung〈·, ·〉 : V×V → R, (v,w) 7→ 〈v,w〉 heißtSkalarproduktin V, wenn (3.1.5) entprechend für alleα,β ∈ R und allev,w∈V (anstelle vonx,y) gilt.♦

Andere Bezeichnungen:v·w , (v | w) , (v,w) .

Für die Länge inEn gilt nach dem Satz von Pythagoras,daß die StreckeOX von O = (0,0) nachX = (x1,x2)

die Länge|OX|=√

x21 +x2

2 = ‖x‖ hat.

x2

x1

(x1,x2)

Die Zahl‖x‖ :=

√〈x,x〉=

√x2

1 + · · ·+x2n

heißt(euklidischer) Betrag, Längeodereuklidische Normvonx und hat folgende Eigen-schaften (λ ∈ R, x,y∈ Rn):

‖x‖ ≥ 0, ‖x‖= 0⇔ x = 0 (positive Definitheit).‖λx‖= |λ | · ‖x‖ (Homogenität)‖x+y‖ ≤ ‖x‖+‖y‖ (Dreiecksungleichung).

(3.1.6)

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3.1 Elementare Theorie der Vektorräume

Der Vektorraum(Rn,+, ·) ausgestattet mit der Länge‖ · ‖ heißteuklidischer Raum.

Definition 3.1.6. Eine Abbildung‖ · ‖ : V → R, v 7→ ‖v‖ heißtNorm in V, wenn (3.1.6)entprechend für alleλ ∈ R und allev∈V (anstelle vonx) gilt. ♦

Definition 3.1.7. Ein Vektorv∈V heißtnormiert oderEinheitsvektor, wenn‖v‖= 1. ♦Bemerkung 3.1.8.Wenn〈·, ·〉 ein Skalarprodukt inV ist, dann ist durch‖v‖ :=

√〈v,v〉 für

v∈V eine Norm inV definiert. ♦

Es gilt dann die Cauchy-Schwarz-Bunjakowski-Ungleichung

|〈v,w〉| ≤ ‖v‖ · ‖w‖ .

Sei(b1, . . . ,bn) eine Basis inV und seienv,w∈V mit

v =n

∑i=1

xibi , w =n

∑i=1

yibi .

Dann gilt

〈v,w〉=n

∑i=1

n

∑j=1

gi j xiy j mit gi j := 〈bi ,b j〉 .

Definition 3.1.9. Zwei Vektorena,b ∈ V heißenorthogonal zueinander, wenn〈a,b〉 =0. ♦

Wenn〈bi ,bi〉 = 1, 〈bi ,b j〉 = 0 für i 6= j, dann sind die Vektorenb1, . . . , bn normiert undpaarweise orthogonal (d.h.,orthonormal ) und es giltgii = 1 undgi j = 0 für i 6= j. Dahergilt dann

〈v,w〉=n

∑i=1

xiyi .

Bemerkung 3.1.10.Die Einheitsvektorene1, . . . ,en in Rn sind orthonormal bezüglich deseuklidischen Skalarproduktes. ♦

3.1.7 Projektionen

Definition 3.1.11. Zwei Vektorena,b∈V heißenparallel zueinander, a ‖ b, wennb = 0oder wenn einλ ∈ R existiert mita = λb. ♦

Definition 3.1.12. Seienv,w∈V mit w 6= 0. Ein Vektorvw heißtOrthogonalprojektionvonv aufw, wennvw parallel zuw ist und wenn dieNormalenkomponente

v⊥w := v−vw

vonv bezüglichw orthogonal zuw ist. ♦

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3 Vektorräume und Analytische Geometrie

Seiv∈V, w 6= 0. Parallelität heißt, daß einλ ∈ R existiert mitvw = λ ·w. Mit der Ortho-gonalitätsforderung erhalten wir

0 = 〈v−vw,w〉= 〈v,w〉−λ · 〈w,w〉 , λ =〈v,w〉〈w,w〉

und daher

vw :=〈v,w〉〈w,w〉

w .

Beispiel 3.1.13.Wir betrachtenV = R3, x = (2,4,3), y = (1,0,0) und erhalten

xy =〈x,y〉〈y,y〉

y =2·1+4·0+3·01·1+0·0+0·0

(1,0,0) = (2,0,0) .

3.2 Elementare Analytische Geometrie

Wir sind besonders an der Interpretation der euklidischen Norm und des euklidischen Ska-larproduktes interessiert. Weiter betrachten wir das Vektor- und das Spatprodukt imR3.

3.2.1 Von Vektoren eingeschlossener Winkel

Seienx,y in R2 oderR3 mit x 6= 0, y 6= 0. Es bezeichne](x,y) ∈ [0,π] den vonx undy ein-geschlossenen, nichtorientierten Winkel, d.h., denInnenwinkel bei O = 0 des Dreiecks4OXY mit X = x, Y = y, falls x 6‖ y.

Zuerst interpretieren wir, was die Orthogonalität〈x,y〉= 0 bedeutet, wennx,y 6= 0:

Wir betrachten denR2 (für denR3 geht es analog). Es gilt

OX2 +OY

2 = ‖x‖2 +‖y‖2 = x21 +x2

2 +y21 +y2

2

und

XY2 = ‖x−y‖2 = (x1−y1)2 +(x2−y2)2 = x2

1−2x1y1 +y21 +x2

2−2x2y2 +y22 .

Genau dann, wenn〈x,y〉= x1y1 +x2y2 = 0, haben wir

OX2 +OY

2 = XY2,

d.h., nach Satz von Pythagoras ist4OXYein rechtwinkliges Dreieck mitrechtem Winkel inO genau dann, wenn〈x,y〉= 0.

O

Y

X

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3.2 Elementare Analytische Geometrie

Somit gilt

x,y sind orthogonal ⇔ 〈x,y〉= 0 ⇔ ](x,y) =π

2⇔ x,y sind senkrecht.

Seien nunx,y ∈ R2 mit ](x,y) ∈ ]0, π

2 [. Wir betrachten das durch diePunkteO = (0,0), Z = (xy,1,xy,2), X = (x1,x2) bestimmte rechtwinkligeDreieck. Nach der Definition des Kosinus gilt

cos](x,y) =|OZ||OX|

=‖xy‖‖x‖

=〈x,y〉‖x‖ · 〈y,y〉

‖y‖=〈x,y〉‖x‖ · ‖y‖

. OY

X

Z

Allgemein erhalten wir:

Satz 3.2.1.Sind x6= 0 und y 6= 0 zwei Vektoren imR2 oderR3, dann ist](x,y) eindeutigbestimmt durch

cos](x,y) =〈x,y〉‖x‖ · ‖y‖

.

Umgekehrt, ist](x,y) bekannt, so können wir〈x,y〉 bestimmen durch

〈x,y〉= ‖x‖ · ‖y‖ ·cos](x,y) .

Insbesondere gilt〈x,y〉 > 0 genau dann, wenn](x,y) ∈ ]0, π

2 [, und〈x,y〉 < 0 genau dann,wenn](x,y) ∈ ]π

2 ,π[.

Bemerkung 3.2.2. Im R2 undR3 wird durch das (euklidische) Skalarprodukt〈x,y〉 zweierVektorenx, y der durchx, y aufgespannte Winkel](x,y) bestimmt. ♦

3.2.2 Das Vektorprodukt im R3

3.2.2.1 Definition

Wir führen nun, alternativ zum Skalarprodukt, ein neues Produkt zwischen zwei Vektorenim R3 ein, dasKreuzprodukt oderVektorprodukt . Im Unterschied zum Skalarprodukt istdas Ergebnis diesmal ein Vektor imR3 und kein Skalar (daher der Name).

Definition 3.2.3. Seiena,b∈ R3. Dann heißta1

a2

a3

×b1

b2

b3

:=

a2b3−a3b2

a3b1−a1b3

a1b2−a2b1

Vektorprodukt vona undb. ♦

43

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3 Vektorräume und Analytische Geometrie

Bemerkung 3.2.4.Man beachte die Reihenfolge der jeweils ersten Indizes:

1. Zeile: 2,3

2. Zeile: 3,1

3. Zeile: 1,2 ♦

Beispiel 3.2.5.Für a = (3,1,0), b = (−1,2,0) gilt

a×b =

310

×−1

20

=

1·0−0·20· (−1)−3·03·2−1· (−1)

=

007

.♦

3.2.2.2 Eigenschaften des Vektorproduktes

Allgemein erhält man die folgenden, aus der Definition herzuleitendenRechenregeln.

a×a = 0 ,

a×b =−(b×a) (!),

λ (a×b) = (λa)×b = a× (λb) ,a× (b+c) = a×b+a×c, (a+b)×c = a×c+b×c.

Inbesondere gilte1×e2 = e3 , e2×e3 = e1 , e3×e1 = e2 .

Etwas umständlicher aber immer noch elementar zeigt man denEntwicklungssatz

a× (b×c) = 〈a,c〉 ·b−〈a,b〉 ·c.

Vorsicht: Das Rechnen mit dem Vektorprodukt weicht erheblich vom Rechnen mit reellenZahlen ab. Im allgemeinen gilt (Beispiel?)

a×b 6= b×a, a× (b×c) 6= (a×b)×c.

3.2.2.3 Interpretation des Vektorproduktes

Satz 3.2.6.1. a×b steht senkrecht auf aund b, d.h.,

〈a×b,a〉= 〈a×b,b〉= 0.

2. a, b und a×b bilden (in dieser Reihenfolge) ein Rechtssystem.3. Für die Länge von a×b und den Flächeninhalt A(a,b) des durch aund baufgespanntemParallelogramms gilt

‖a×b‖= ‖a‖ · ‖b‖ · |sin](a,b)|= A(a,b) .

4. Wenn a‖ b oder a= 0 oder b= 0, dann a×b = 0.

44

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3.2 Elementare Analytische Geometrie

Bemerkung 3.2.7.Das Vektorprodukt inR3 liefert also den Flächeninhalt und einen zuden beiden Vektoren orthogonalen Vektor. ♦

3.2.3 Das Spatprodukt

3.2.3.1 Definition

Definition 3.2.8. Die Zahl[a,b,c] := 〈a×b,c〉

heißtSpatprodukt der Vektorena,b,c∈ R3. ♦

Satz 3.2.9.Sei V(a,b,c) das Volumen des von a, b und caufgespannten Parallelepipeds.Dann gilt

V(a,b,c) = |[a,b,c]| .

Beweis.

Sei O ∈ E3 und seienA, B, C ∈ E3 mit a =−→OA, b =

−→OB,

c =−→OC.

Die Grundfläche mit den KantenOA und OB hat den Flä-cheninhaltA(a,b) = ‖a×b‖.

B

AO

C

a

cb

Die Höheh des Körpers ist gegeben über die orthogonaleProjektion des Vektorsc auf den Vektora×b (der senkrechtauf der Grundfläche steht).

a

a×b

ch

Es gilt

h = ‖ca×b‖=∥∥∥∥〈c,a×b〉‖a×b‖2

a×b

∥∥∥∥=|〈c,a×b〉|‖a×b‖

.

Damit gilt für das Volumen

V(a,b,c) = A(a,b) ·h = ‖a×b‖ · |〈c,a×b〉|‖a×b‖

= |〈a×b,c〉|= |[a,b,c]| .

3.2.3.2 Eigenschaften des Spatprodukts

Wir ziehen folgende Schlüsse aus dem Satz.

1. Es ist[a,b,c] 6= 0 genau dann, wenna, b undc nicht in einer gemeinsamen Ebene liegen.

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3 Vektorräume und Analytische Geometrie

2. Der Wert|[a,b,c]| ist unabhängig von der Reihenfolge der Vektoren.

3. a, b undc bilden genau dann ein Rechtssystem, wenn der Winkel zwischena×b undcspitz ist. Es gilt dann (vgl.Skalarprodukt)

[a,b,c] = ‖a×b‖ · ‖c‖ ·cos](a×b,c)> 0.

Es ist alsoa, b, c genau dann ein Rechtssystem, wenn[a,b,c]> 0.

4. Aus 2. und 3. schließen wir:

• [a,b,c] ändert seinen Wert nicht, wenna, b, c in zyklischer Reihenfolge vertauschtwerden,

[a,b,c] = [b,c,a] = [c,a,b] .

• [a,b,c] ändert nur das Vorzeichen, nicht den Betrag, wenn genau zwei der beteiligtenVektoren miteinander vertauscht werden.

3.2.3.3 Koordinatendarstellung des Spatprodukts

Aus den Rechenregeln für Skalar- und Vektorprodukt leitet man ab, wie das Spatproduktfür drei Vektoren in Koordinatendarstellung berechnet wird. Es ist

[a,b,c] = (a2b3−a3b2)c1 +(a3b1−a1b3)c2 +(a1b2−a2b1)c3

= a1b2c3−a3b2c1︸ ︷︷ ︸ +a2b3c1−a1b3c2︸ ︷︷ ︸ +a3b1c2−a2b1c3︸ ︷︷ ︸ .Die Indizes in den drei Gruppen erhält man an der ersten Stelle durch zyklisches Vertau-schen.

Man schreibt diese Summe von Produkten auch verkürzend als

det(a,b,c) =

∣∣∣∣∣∣a1 a2 a3

b1 b2 b3

c1 c2 c3

∣∣∣∣∣∣ := a1b2c3 +a2b3c1 +a3b1c2−a3b2c1−a2b1c3−a1b3c2

und nennt diese Zahl (drei-reihige)Determinanteder beteiligten Vektorena, b, c.

Bemerkung 3.2.10.Das Volumen des von den Vektorena, b, c aufgespanntenTetraedersist 1

6|[a,b,c]|. ♦

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3.2 Elementare Analytische Geometrie

3.2.4 Geraden im Raum

Eine Gerade im Raum ist anschaulich festgelegt durch zwei verschiedene vorgegebenePunkte im Raum. Seien etwaA undB zwei Punkte,a =

−→OA undb =

−→OB deren zugehörige

Ortsvektoren, dann ist die durchA undB festgelegte Geradeg in derZwei-Punkte-Formgegeben durch

g = {a+ λ (b−a) : λ ∈ R} .

x1

x2

x3 ab

b− a

Setzen wir hierinc := b−a, so istc 6= 0 und

g = {a+ λc : λ ∈ R}

ist die allgemeineParameterdarstellungeiner Geradeng durchA undB. c heißt einRich-tungsvektor der Geraden (der nicht eindeutig festgelegt ist).

3.2.4.1 Lot auf die Gerade

Vorgegeben seien nun ein PunktP mit Ortsvektorp=−→OPund die Geradeg= {a+λc: λ ∈

R}mit c 6= 0. Wir suchen dasLot vonP auf die Geradeg. Das ist der Vektor(P,g), so daß

1. `(P,g) senkrecht auf der Geradeng, steht, d.h.,

`(P,g)⊥ c;

2. derLotpunkt q := p+ `(P,g) in der Geraden liegt,

p+ `(P,g) ∈ g.

a

c

p

`

g

Aus dem Bild entnehmen wir, daß(P,g) der Normale vonp−a bzgl.c entgegen steht:

`(P,g) =−(p−a)⊥c =−((p−a)− (p−a)c

)=−

((p−a)−

〈p−a,c〉〈c,c〉

c

)=− 1‖c‖2

(〈c,c〉(p−a)−〈p−a,c〉c

)=− 1‖c‖2

c×((p−a)×c

),

wobei zuletzt der Entwicklungssatz angewandt wurde.

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3 Vektorräume und Analytische Geometrie

3.2.4.2 Abstand von Punkt und Gerade

Nach Definition des Lotes ergibt sich für den Abstandd(P,g) vonP zur Geradeng

d(P,g) = ‖`(P,g)‖=1‖c‖2‖c‖ · ‖(p−a)×c‖=

‖(p−a)×c‖‖c‖

.

3.2.5 Die Cramersche Regel im R3

Gegeben sei eine Gleichungru+sv+ tw = d . (3.2.1)

mit u,v,w,d ∈ R3.

Bemerkung 3.2.11.Gleichung (3.2.1) entspricht dem linearen Gleichungssystem

u1r +v1s+w1t = d1 , u2r +v2s+w2t = d2 , u3r +v3s+w3t = d3 . ♦

Zur Bestimmung der Zahlenr, sundt multiplizieren wir (Skalarprodukt!) mitv×w, u×w,bzw. u×v und erhalten

r[u,v,w] = [v,w,d] , s[u,v,w] = [u,w,d] , t[u,v,w] = [u,v,d] .

Mit det(a,b,c) = [a,b,c] folgt dieCramersche Regelim R3:

1. Wenn det(u,v,w) 6= 0, d.h.,u, v, w liegen nicht in einer Ebene, dann

r =det(v,w,d)det(u,v,w)

, s=det(u,w,d)det(u,v,w)

, t =det(u,v,d)det(u,v,w)

.

2. Wenn det(u,v,w) = 0, dann ist (3.2.1) nur lösbar (aber nicht mehr eindeutig), wenn

det(v,w,d) = det(u,w,d) = det(u,v,d) = 0.

Die eindeutige Lösung der Vektorgleichung kann also durchQuotienten von Determinantenangegeben werden.

3.2.6 Die Cramersche Regel im R2

Gegeben sei nun eine Gleichungru+sv= d . (3.2.2)

mit u,v,d ∈ R2.

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3.2 Elementare Analytische Geometrie

Bemerkung 3.2.12.Gleichung (3.2.2) entspricht dem linearen Gleichungssystem

u1r +v1s= d1 , u2r +v2s= d2 . ♦

Zur Bestimmung der Zahlenr undskann man eine zum drei-dimensionalen analoge Regelanwenden: Sei

det(a,b) =∣∣∣∣ a1 a2

b1 b2

∣∣∣∣ := a1b2−a2b1 .

Es gilt dieCramersche Regelim R2:

1. Wenn det(u,v) 6= 0, dann

r =det(v,d)det(u,v)

, s=det(u,d)det(u,v)

.

2. Wenn det(u,v) = 0, dann ist (3.2.2) nur lösbar (aber nicht mehr eindeutig), wenn

det(v,d) = det(u,d) = 0.

Damit kann auch hier die eindeutige Lösung der Vektorgleichung durchQuotienten vonDeterminantenangegeben werden.

3.2.7 Lineare Unabhängigkeit im R3

Aus der allgemeinen Situation wiederholen wir, daß drei Vektorenu, v, w in R3 linearunabhängig genannt werden, wenn

ru+sv+ tw = 0

nur die triviale Lösung(r,s, t) = (0,0,0) hat. Nach der Cramerschen Regel gilt

u,v,w sind linear unabhängig ⇐⇒ [u,v,w] 6= 0.

Bei der betrachteten Vektorgleichung

tu+sv+ rw = d

stellt sich also die Frage, inwieweit ein gegebener Vektord sich als (eindeutige) Linear-kombination der Vektorenu,v,w darstellen läßt.

Beispiel 3.2.13.Wir betrachten folgende Situation

Eine vorgegebene Kraftk greife an der Spitze eines dreibeinigen Tragbockes an.

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3 Vektorräume und Analytische Geometrie

Die Reaktionskräfte im Tragbock seien mitk1,k2,k3 be-zeichnet.Es gilt dann

k+k1 +k2 +k3 = 0.

Die drei Beine des Tragbockes seien durch die Vektorena,b,c gegeben.

k

k1

a

k2

b

k3

c

Dann giltk1 = λ1a, k2 = λ2b und k3 = λ3c

für unbekannte reelle Zahlenλ1,λ2,λ3 ∈ R, also

k+ λ1a+ λ2b+ λ3c = 0.

Sind nuna,b,c in allgemeiner Lage, also[a,b,c] 6= 0, so gilt gemäß Cramerscher Regel:

λ1 =− [k,b,c][a,b,c]

, λ2 =− [a,k,c][a,b,c]

, λ3 =− [a,b,k][a,b,c]

.

3.2.8 Ebenen im Raum

Betrachten wir nun Ebenen im Raum. Eine EbeneE wird festgelegt durch drei auf ihrliegende Punkte, die nicht in einer Geraden liegen.

Seiena, b, c die Ortsvektoren zu solchen Punkten,dann liegen die Differenzvektorenu = b− a undv = c−a „in“ der Ebene.Es seienu 6= 0, v 6= 0 undu ∦ v vorausgesetzt.Ein RaumpunktX (oder der Vektorx =

−→OX) liegt

genau dann in der EbeneE, wenns, t ∈ R existie-ren mit x1

x2

x3

a bc

u

v

X

x = a+su+ tv.

Die Parameterdarstellung einer EbeneE lautet also

E = {a+su+ tv: s, t ∈ R} ;

u undv heißenRichtungsvektorender Ebene. Man beachte, daß die Parameterdarstellungder Ebene die der Geraden so erweitert, daß ein zusätzlicher Richtungvektor aufgenommenwurde, was der um eins höheren Dimension entspricht.

50

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3.2 Elementare Analytische Geometrie

3.2.8.1 Lot auf die Ebene

Wir wollen nun das Lot (P,E) von einem PunktP auf die EbeneE fällen. Dazu bemerkenwir, daß der Vektorn := u×v auf allen zur Ebene parallelen Vektoren senkrecht steht:

〈u×v,su+ tv〉= s〈u×v,u〉+ t〈u×v,v〉= 0 ,

dennu×v⊥ u undu×v⊥ v.

Um das Lot zu berechnen, haben wir also nur denSchnittpunktSder Geradeng= {p+r ·(u×v) : r ∈R}und der EbeneE zu berechnen, d.h.,r aus der Vektor-gleichung

p+ r · (u×v) = a+su+ tv

d.h. aus

−r · (u×v)+su+ tv = p−a

zu bestimmen.

n

S

P

Mit der Cramerschen Regel folgt (beachteu×v 6= 0!)

r =[u,v, p−a]

[−u×v,u,v]=

[a− p,u,v]‖u×v‖2

und damit `(P,E) =[a− p,u,v]‖u×v‖2

u×v.

3.2.8.2 Abstand von Punkt und Ebene

Der Abstandd(P,E) des PunktesP von der EbeneE ist demnach

d(P,E) = ‖`(P,E)‖=∥∥∥∥ [a− p,u,v]‖u×v‖2

u×v

∥∥∥∥=|[a− p,u,v]|‖u×v‖

.

3.2.8.3 Abstand zweier Geraden

Aus dieser Formel erhalten wir auch eine Aussage über den Abstandd(g1,g2) zweier be-liebiger Geraden im Raum voneinander. Seien

g1 = {a+su: s∈ R} , g2 = {b+ tv: t ∈ R} .

Dann sind zwei Fälle möglich:

1. Istu ‖ v, so istd(g1,g2) gleich dem Abstand des PunktesB von der Geradeng1:

d(g1,g2) = d(B,g1) =‖(b−a)×u‖‖u‖

.

51

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3 Vektorräume und Analytische Geometrie

2. Istu ∦ v und damitu×v 6= 0, so istd(g1,g2) gleich dem Abstand des PunktesB von derEbeneE = {a+su+ tv: t,s∈ R}:

d(g1,g2) = d(B,E) =|[a−b,u,v]|‖u×v‖

.

3.2.8.4 Normalendarstellung der Ebene

Es gibt eine besonders elegante Art, Ebenen zu beschreiben, die wir im folgenden herleitenwollen. Wir wiederholen, daß drei Vektoren genau dann in einer Ebene liegen, wenn ihreDeterminante gleich Null ist.

Betrachten wir die Ebene

E = {a+su+ tv: t,s∈ R}

und die Vektorenu, v, (x−a) für beliebigesx∈ R3.u

v

X

A

Der Ortsvektorx zeigt genau dann auf einen Punkt der Ebene, wenn[x−a,u,v] = 0.

Mit dem Normalenvektor n := u× v erhalten wir〈x−a,n〉 = 0 und damit die (nicht ein-deutige)Normalendarstellungbzw.Koordinatendarstellung

E = {x∈ R3 : 〈n,x〉= r}= {x∈ R3 : n1x1 +n2x2 +n3x3 = r} ,

wobeir := 〈a,n〉.

3.2.8.5 Hessesche Normalform

Die (eindeutige)Hessesche Normalform

E = {x∈ R3 : 〈m,x〉= d}= {x∈ R3 : m1x1 +m2x2 +m3x3 = d}

entsteht aus der Normalendarstellung mitm :=

{n/‖n‖ , d := r/‖n‖ falls r ≥ 0,

−n/‖n‖ , d :=−r/‖n‖ falls r < 0.

Besonderheiten:

• m ist ein normierter Normalenvektor zur Ebene. Beid 6= 0 ist sein Winkel zu einembeliebigen Ortsvektorx der Ebenespitz. Daher weistm immer vom Nullpunkt weg.

• Die Zahld ist der Abstand von 0zu E: ` := dmsteht senkrecht aufE und es gilt ∈ E.Damit ist` das Lot von 0aufE mit der Länged.

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3.2 Elementare Analytische Geometrie

• Ist a∈ E, so ist

d(P,E) =〈a− p,m〉‖m‖

= |d−〈p,m〉|

der Abstand eines beliebigen PunktesP von der Ebene.

∗ Ist d− p·m> 0, so liegtP aufderselbenSeite wie der Nullpunkt.

∗ Ist d− p·m< 0, so liegen beide aufverschiedenenSeiten der Ebene.

3.2.8.6 Achsenabschnittsform

Ist r 6= 0, so kann die rechte Seite in der Normalenform auf 1 normiert werden, indem diegesamte Gleichung durchr geteilt wird. Es entsteht dann dieAchsenabschnittsform

E = {x∈ R3 : α1x1 + α2x2 + α3x3 = 1}

mit α1 = n1r , α2 = n2

r , α3 = n3r .

Die Koeffizientenαi liefern unmittelbar die Schnittpunkte der Ebene mit den Koordinaten-achsen:

• Sindα1, α2, α3 6= 0, dann sind die Schnittpunkte nämlich

(1

α1,0,0) , (0,

1α2,0) , (0,0,

1α3

) .

• Ist einαi = 0, dann verläuft die Ebene parallel zurxi-Achse.

Umformung von Achsenabschnittsform in Parameterdarstellung:

Sind alleαi 6= 0, so hat man drei Punkte der Ebene (Dreipunkte-Form).Sonst hat man∗ einen Richtungsvektor (Koordinatenachse) und zwei Punkte oder∗ zwei Richtungsvektoren (zwei Koordinatenachsen) und einen Punkt.

3.2.8.7 Schnitt von zwei Ebenen

Zwei Ebenen

E = {x∈ R3 : 〈x,m〉= r} , F = {x∈ R3 : 〈x,n〉= s}

schneiden sich in einer Geraden, sofern die Ebenen nicht parallel sind.

Sie sind genau dann parallel, wennm×n = 0.

Seic = m×n. Dann giltc⊥mundc⊥ n. Damit istc ein Richtungsvektor der Schnittgera-den.

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3 Vektorräume und Analytische Geometrie

Einen Punkt auf der Schnittgeraden erhält man durch Lösen des Gleichungssystems〈x,m〉=r, 〈x,n〉= s, d.h.

m1x1 +m2x2 +m3x3 = r , n1x1 +n2x2 +n3x3 = s.

(Lösen kann man das Gleichungssystem, indem man eine der Gleichungen nach einer derVariablen aufgelöst, diese in die zweite Gleichung eingesetzt wird und dann eine der Varia-blen willkürlich gleich Null gesetzt wird.)

3.2.8.8 Schnitt von drei Ebenen

Sei nunG = {x∈ R3 : 〈x, p〉= t}

eine weitere Ebene. Wir wollen die Schnittmenge vonE, F undG bestimmen. Dazu ist dasGleichungssystem

m1x1 +m2x2 +m3x3 = r

n1x1 +n2x2 +n3x3 = s

p1x1 + p2x2 + p3x3 = t

zu lösen. Nach der Cramerschen Regel ist dies genau dann eindeutig möglich, wenn[m,n, p] 6= 0, d.h. wennm, n, p linear unabhängig sind.

Bemerkung 3.2.14.Der Schnitt dreier Ebenen kann leer sein, aus einem Punkt bestehen,aus einer Geraden bestehen, aus einer Ebene bestehen. ♦Bemerkung 3.2.15.Es können auchSchnittwinkel zwischen Ebenen oder Geraden alsWinkel zwischen Normalen- bzw. Richtungsvektoren berechnet werden. ♦

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4 Komplexe Zahlen

In diesem Kapitel wollen wir uns erneut mit demR2 beschäftigen, diesmal aber mit eineranderen algebraischen Struktur. Dies erlaubt uns

• weitere Anwendungen in der Geometrie

• die Lösung von Polynomgleichungen in diesem neuen Zahlenbereich der dann sogenannten komplexen Zahlen

• viele weitere Anwendungen wie zum Beispiel Schwingungsvorgänge.

4.1 Die algebraische Struktur der komplexen Zahlen

Wir wollenR2 so mit Addition und Multiplikation ausstatten, daß ein Zahlenkörper entsteht.Die für denR2 schon eingeführte Addition

(a,b)+(c,d) = (a+c,b+d) (4.1.1)

hat zufrieden stellende Eigenschaften.

4.1.1 Die komplexe Multiplikation

Benötigt wird noch eine „richtige“ Multiplikation, d.h., wir haben

(a,b) · (c,d)

so zu definieren, daß wieder ein Element desR2 entsteht, und so, daß das Produkt vernüftigeEigenschaften hat (Kommutativgesetz, Assoziativgesetz, Distributivgesetz, Existenz vonneutralen Element und von inversen Elementen).

Insbesondere wollen wir ein Paar(x,0) ∈ R2 mit der reellen Zahlx∈ R identifizieren:

(x,0) = x für x∈ R .

Außerdem soll die Multiplikation mit einer reellen Zahl die schon vomR2 bekannten Ei-genschaften haben.

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4 Komplexe Zahlen

Damit sind schon festgelegt:

• 0 = (0,0) als Null und 1= (1,0) als Eins,

• (a,0) · (c,d) = (ac,ad) und somit

(a,b) · (c,d) = (a,0) · (c,d)+(0,b) · (c,d)= (a,0) · (c,0)+(a,0) · (0,d)+(0,b) · (c,0)+(0,b) · (0,d)

= ac(1,0)2 +ad(1,0)(0,1)+bc(1,0)(0,1)+bd(0,1)2

= ac(1,0)+(bc+ad)(0,1)+bd(0,1)2

= (ac,ad+bc)+bd(0,1)2 .

Wir benötigen damit nur noch die geeignete Definition von

(0,1)2 .

Potentielle (einfachste) Elemente wären

(0,0) , (1,0) , (0,1) , (−1,0) , (0,−1) , (1,1) , (−1,−1) ,

wovon aber nur(−1,0) die gewünschten Eigenschaften hat:

Setzen wir(0,1)2 := (−1,0) =−1,

so haben wir(a,b) · (c,d) := (ac−bd,ad+bc) . (4.1.2)

Die so definierte Multiplikation hat die von den reellen Zahlen her bekannten Eigenschaf-ten, insbesondere gilt

(a,b) ·(

aa2 +b2 ,

−ba2 +b2

)= (1,0) = 1, wenn(a,b) 6= 0.

Definition 4.1.1. Die MengeR2 zusammen mit der Addition+ und der Multiplikation·entsprechend (4.1.1) und (4.1.2) heißtMenge der komplexen ZahlenC. ♦

4.1.2 Algebraische Darstellung

Wir haben schon(1,0) = 1. Wir setzen i := (0,1). Damit haben wir

(a,b) = a+bi .

Für eine komplexe Zahlz = x+ yi nennen wirx := ℜ(z) denRealteil und y := ℑ(z) denImaginärteil von z. Die komplexen Zahlenz= x+ iy und z := x− iy, die gleichen Realteilund zueinander negativen Imaginärteil haben, heißenkomplex konjugiert .

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4.1 Die algebraische Struktur der komplexen Zahlen

Bemerkung 4.1.2.C ist ein zweidimensionaler Vektorraum überR mit der Basis

(e1,e2) = ((1,0),(0,1)) .

Der Realteil ist die Koordinate in Richtunge1 = (1,0) = 1, der Imaginärteil ist die Koordi-nate in Richtunge2 = (0,1) = i. ♦

Wir können daherC mit V2O identifizieren. Weiter können wir uns die Elemente vonC auch

als Punkte in der EbeneE2 vorstellen, nachdem wir einen NullpunktO und zwei aufein-ander senkrecht stehende Koordiantenachsen ausgewählt haben: Die waagerechte Achsegehört zum Basisvektor 1= (1,0), d.h., zu den reellen Zahlen, die vertikale Achse gehörtzum Basisvektor i= (0,1), d.h., zu den rein imaginären Zahlen.

x

iy|z|

z = a+ ib

|z|

z = a− ib

z + za

b

−b

Komplexe Zahlen können daher alsZeiger(Ortsvektoren) imV2O, Gaußsche Zahlenebene

genannt, interpretiert werden. Für Elemente desR2 hatten wir den Betrag schon definiert.Für eine komplexe Zahlz= x+ iy ergibt dies

|z| := |x+ iy|=√

x2 +y2 =√

zz.

Für die Multiplikation gilt nun

(a+bi)(c+di) = ac−bd+(ad+bc)i .

Inbesondere haben wiri2 = i · i =−1.

Damit hat die Gleichungx2 =−1 in C eine Lösung!

Mit komplexen Zahlen kann man nun im Sinne von Addition und Subtraktion, Multiplika-tion und Division genau so rechnen wie mit reellen Zahlen. Beachtet man i2 =−1, so wirdeinfach ausmultipliziert.

Bemerkung 4.1.3.Das Produkt zweier zueinander konjugiert komplexer Zahlen ist einereelle Zahl:

z· z= (x+ iy) · (x− iy) = x2 + ixy− ixy− i2y2 = x2 +y2 . ♦

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4 Komplexe Zahlen

Beispiel 4.1.4.(Man beachte die übliche Schreibweise)1. (3+4i)(2− i) = 6−3i+8i−4i2 = 10+5i.

2. Bei der Division komplexer Zahlen benutzt man den „Trick“, den Bruch mit der zumNenner konjugiert komplexen Zahl zu erweitern:

3+4i2− i

=3+4i2− i

· 2+ i2+ i

=6+3i+8i+4i2

4+2i−2i− i2=

2+11i4+1

=25

+115

i . ♦

Im Unterschied zu den reellen Zahlen haben wir aber keine Ordnungsrelation mit den vomReellen bekannten Eigenschaften.

Wir notieren die folgendenRechenregeln:

z1 ·z2 = z1 ·z2 , z1 +z2 = z1 +z2 , z= z, z·z= |z|2 , z−1 := 1z = z

z·z = 1|z|2

z,

|z|= |z| , |z1z2|= |z1| · |z2| , |z1 +z2| ≤ |z1|+ |z2| ,ℜ(z) = 1

2(z+z) , ℑ(z) = 12i(z−z) .

Beachte: Die letzten beiden Formeln lassen sich in der Gausßschen Zahlenebene gut ver-stehen. Zu einer komplexen Zahlz erhält man die komplex Konjugierte nämlich (nachDefinition) einfach durch Spiegelung an der reellen Achse.

4.2 Polar- und Exponentialdarstellung komplexer Zahlen

4.2.1 Polardarstellung

Betrachtet man eine komplexe Zahlz 6= 0 als Zeiger in der komplexen Zahlenebene, so kannz offenbar auch in folgender Form dargestellt werden:

z= |z|cosϕ + i|z|sinϕ = |z|(cosϕ + i sinϕ) ,

wobeiϕ = arg(z) ein Winkel sei, den der Zeiger mit der reellen Achse bildet. Dieser Winkelwird Argument von z genannt. Üblicherweise wird für eine eindeutige Darstellung derHauptwert des Winkels im Intervall]−π,π] gesucht, d.h.,

Arg(z) ∈ ]−π,π] .

Für z= x+ iy haben wir

Argz= ϕ mit ϕ aus cosϕ =x|z|

und

{0≤ ϕ ≤ π, falls y≥ 0−π < ϕ < 0, falls y< 0

},

wennz 6= 0. Verbleibt noch Arg(0). Wir setzen der Vollständigkeit halber Arg(0) := 0.

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4.2 Polar- und Exponentialdarstellung komplexer Zahlen

Zusammengefaßt haben wir die eindeutigetrigonometrische Form oderPolardarstellungeiner komplexen Zahlz mit

z= |z|(cosArg(z)+ i sinArg(z)) ,

wobei sich ein beliebiges Argumentϕ von z von Arg(z) nur durch Vielfache von 2π unter-scheidet.

4.2.2 Komplexe Funktionen

Ein Vorteil der komplexen Zahlen besteht darin, daß man bestimmte reelle Funktionen unterErhaltung ihrer wichtigsten Eigenschaften aufC erweitern kann. Außer den (natürlichen)Potenzfunktionen und damit den Polynomen sind dies die Exponential- und Hyperbelfunk-tionen sowie die trigonometrischen Funktionen:

exp :C→ C , expz := ez := eℜ(z) (cosℑ(z)+ i sinℑ(z)) ,

sin :C→ C , sinz :=12i

(eiz−e−iz

), cos :C→ C , cosz :=

12

(eiz+e−iz

),

sinh :C→ C , sinhz :=12

(ez−e−z) , cosh :C→ C , coshz :=

12

(ez+e−z) .

Diese Funktionen erfüllen die aus dem Reellen bekannten Additionstheoreme, insbesonderegilt

ez1+z2 = ez1ez2 , e−z =1ez , enz = (ez)n .

Für z= iy mit y∈ R erhalten wir dieEuler-Formel bzw.Moivre-Formel

eiy = cosy+ i siny, einy = (cosy+ i siny)n = cosny+ i sinny.

Die Moivre-Formel ermöglicht zum Beispiel die Berechnung von cos3ϕ:

cos3ϕ = ℜ(cosϕ + i sinϕ)3 = ℜ(cos3ϕ +3·cos2ϕ · i sinϕ +3·cosϕ · i2sin2

ϕ + i3sin3ϕ)

= cos3ϕ−3cosϕ sin2ϕ .

4.2.3 Exponential-Darstellung

Aus der Polardarstellung

z= |z|(cosArg(z)+ i sinArg(z))

und der Euler-Formel erhalten wir nun dieExponentialdarstellung

z= |z|eiArg(z) .

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4 Komplexe Zahlen

Während die algebraische Darstellung sehr gut geeignet ist für die Addition und Subtrakti-on, ist die Exponentialdarstellung besser geeignet für Multiplikation, Division und Poten-zierung:

• Die komplexen Zahlenzundw werden multipliziert, indem ihre Beträge multipliziert undihre Argumente addiert werden:

z·w = |z|eiArg(z) · |w|eiArg(w) = |z||w|ei(Arg(z)+Arg(w)) .

• Zwei komplexe Zahlenz und w 6= 0 werden dividiert, indem ihre Beträge dividiert undihre Argumente subtrahiert werden:

zw

=|z|eiArg(z)

|w|eiArg(w) =|z||w|

ei(Arg(z)−Arg(w)) .

• Eine komplexe Zahlz wird potenziert, indem ihr Betrag potenziert und ihr Argumentvervielfacht wird:

zn =(|z|eiArg(z)

)n= |z|neinArg(z) .

Beispiel 4.2.1.Wegen 1+ i =√

2ei π

4 und i−1 =√

2ei 3π

4 gilt

(1+ i)5 · (i−1)7 =(√

2ei π

4

)5·(√

2ei 34π

)7=(√

2)12·ei(5· π4 +7· 34π)

= 26 ·ei 264 π = 64·ei(6π+ 1

2π) = 64ei π

2 = 64i. ♦

4.3 Anwendungen

4.3.1 Komplexe Faktorisierung eines Polynoms

Wir betrachten eine quadratische Gleichung

x2 + px+q = 0 (4.3.1)

im Fall D = p2

4 −q< 0, d.h., in dem Fall, indem keine reelle Lösung existiert.

Seienx1 :=− p

2− i√−D , x2 :=− p

2+ i√−D .

Dann gilt

(x−x1)(x−x2) =(

[x+p2

]− i√−D)(

[x+p2

]+ i√−D)

= (x+p2

)2− i2(−D) = x2 + px+p2

4− p2

4+q

= x2 + px+q.

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4.3 Anwendungen

Damit sind obigex1 undx2 komplexe Lösungen der Gleichung (4.3.1) im Falle p2

4 −q< 0.

Insbesondere hat also jede quadratische Gleichung (4.3.1) mit reellen Koeffizienten genauzwei Lösungen.

Man kann zeigen:

Satz 4.3.1 (Fundamentalsatz der Algebra).Läßt man auch komplexe Nullstellen zu, sobesitzt jedes Polynom eine Faktorisierung nur in Linearfaktoren. Insbesondere hat jedesPolynom n-ten Grades, n≥ 1, genau n komplexe Nullstellen.

Beispiel 4.3.2.x2 +1 = (x+ i)(x− i) . ♦

4.3.2 n-te Wurzeln in C

Wir suchen die (rellen und) komplexen Nullstellen des Polynomsf (x) = xn−1, also dieWurzeln der Gleichungxn = 1. Aus dem Fundamentalsatz der Algebra wissen wir, daßf genaun komplexe Nullstellen besitzt (Vielfachheiten mitgezählt). Über die Exponenti-aldarstellung können wir unmittelbarn Lösungen der Gleichung angeben. Wegen eik·2π = 1für beliebigesk∈ Z sind (die voneinander verschiedenen komplexen Zahlen)

xk := ei kn ·2π , k = 0,1,2, . . . ,n−1

genaun Lösungen der Gleichung, mithin dien komplexen Nullstellen vonf (x) = xn−1.

Wir erweitern die Überlegung auf die Gleichung

zn = a, mit a∈ C vorgegeben.

Sei etwaa = |a| ·eiArg(a). Dann sind die Zahlen

n√|a| ·ei Arg(a)+2kπ

n , k = 0,1,2, . . . ,n−1

genau dien Wurzeln (Lösungen) der Gleichungzn = a.

4.3.3 Geometrische Anwendungen

Da C mit R2 bzw.V2O undE2 (Gaußsche Zahlenebene!) identifiziert werden kann, können

wir die geometrischen Anwendungen der Vektoranalysis wie Projektion, Schnitt von Ge-raden, Lot auf eine Gerade und Winkel zwischen Geraden auch mit Hilfe der komplexenZahlen durchführen.

Wir müssen hierzu nur noch

〈z,w〉= ℜz·ℜw+ ℑz·ℑw = ℜ(zw)

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4 Komplexe Zahlen

für das Skalarprodukt der Vektorenz, w bemerken.

Hinzu kommen aber zusätzliche Anwendungen, die sich aus der Anwendung der Multipli-kation und des komplex Konjugiertem ergeben.

EineKreislinie K mit RadiusRund Mittelpunktz0 ist gegeben durch

K = {z∈ C : |z−z0|= R} .

Mit z= x+ iy, z0 = x0 + iy0 entspricht dies

{(x,y) ∈ R2 : (x−x0)2 +(y−y0)2 = R2} .

Der Schnitt eines Kreises mit einer Geraden führt zu einer quadratischen Gleichung für einereelle Unbekannte.

Multiplizieren wir eine komplexe Zahlz mit eiϕ , ϕ ∈ R, so wirdϕ zum Argument vonzaddiert, der Betrag ändert sich aber nicht:

|zeiϕ |= |zeiArg(z)eiϕ |= |z||ei(Arg(z)+ϕ |= |z||cos(Arg(z)+ ϕ)+ i sin(Arg(z)+ ϕ)|

= |z|√

cos2(Arg(z)+ ϕ)+sin2(Arg(z)+ ϕ)

= |z| .

Die Multiplikation mit eiϕ bewirkt also eineDrehung um 0 mit dem Winkelϕ.

Betrachten wir nun dieSpiegelungan der reellen Achse. Diese ist durch

z= ℜz+ iℑz 7→ℜz− iℑz= z

gegeben.

Als dritte elementare Kongruenztransformation fehlt uns nur noch dieVerschiebungum|a| in Richtung eiArg(a):

z 7→ z+a.

Einebeliebige Kongruenztransformationin der Ebene setzt sich stets aus Drehung um 0,Spiegelung an der reellen Achse und Verschiebung zusammen.

Beispiel 4.3.3.Eine Spiegelung an einer Geraden

g = {a+ teiα : t ∈ R} , α ∈ R

durch den Punkta erhält man in folgender Weise:

Zuerst verschieben wir die Geradeg so, daß ihr Bild durch den Nullpunkt verläuft,

z 7→ z−a,

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4.3 Anwendungen

dann drehen wir um den Winkel−α, so daß das Bild der Gerade nun mit der reellen Achsezusammenfällt,

z 7→ ze−iα ,

dann wird an der reellen Achse gespiegelt,

z 7→ z,

und schließlich wieder zurück gedreht und zurück verschoben:

z 7→ zeiα , z 7→ z+a.

Insgesamt erhalten wir durch Verkettung dieser fünf Abbildungen die Spiegelung ang durch

z 7→ (z−a)e−iαeiα +a = (z−a)e−iαeiα +a = (z−a)e2iα +a. ♦

4.3.4 Harmonische Schwingung

Eine Funktions: R→R der Forms(t) = Acos(ωt +α), t ∈R, heißtharmonische Schwin-gung (A,ω,α ∈ R fest vorgegeben).α heißt dieNullphase, ω die Kreisfrequenz, ωt + α

diePhaseundA dieAmplitude.

Um das Rechnen mit harmonischen Schwingungen zu vereinfachen, betrachtet man häufigeine Komplexifizierung der Schwingungen: Man faßt die Schwingungs(t) als Realteil(ggf. als Imaginärteil) einer komplexen Funktionz: C→ C auf:

z(t) = Acos(ωt + α)+ iAsin(ωt + α)

= Aei(ωt+α) =(

Aeiα)

︸ ︷︷ ︸:=a

eiωt

unds(t) = ℜz(t) .

Zu beachten ist, daßa ·eiωt bei laufendemt ∈ R eine Drehung des komplexen Zeigers umden Koordinatenursprung beschreibt, da eiωt immer den Betrag 1 hat. Beit = 0 beginntdiese Drehung beim Zeigera.

Die Überlagerung zweier Schwingungent 7→ s1(t) und t 7→ s2(t) wird durch die Superpo-sition

t 7→ s1(t)+s2(t)

beschrieben. Im Komplexen entspricht dies ebenfalls der Addition der Funktionswerte.

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5 Matrizen, Determinanten, lineareAbbildungen

5.1 Vorbemerkung

In ingenieurwissenschaftlichen Untersuchungen spielen lineare Gleichungssysteme einewichtige Rolle. Zum einen kommen sie direkt vor (z.B. bei Stabwerkberechnungen), zumanderen ergeben sie sich durch Linearisierung nichtlinearer (und daher schwierig zu lösen-der) Probleme.

Probleme der Praxis führen häufig auf lineare Gleichungssysteme mit einer großen Anzahlvon Gleichungen und Unbekannten. Außerdem können die darin enthaltenen Koeffizien-ten von sehr unterschiedlicher Größenordnung sein. Bei der numerischen Lösung solcherSysteme kann es daher durch Fehlerfortpflanzung zu erheblichen Genauigkeitsverlusten bishin zu falschen Ergebnissen kommen. Auf diese numerischen Aspekte kann im vorliegen-den Text jedoch nicht eingegangen werden.

Im folgenden führen wir zuerst die Begriffe Matrix und Determinante ein. Danach werdenwir sehen, wie sie zum Beispiel für die Lösung von linearen Gleichungssystemen eingesetztwerden können.

5.2 Matrizen

5.2.1 Der Begriff der Matrix

Ein lineares Gleichungssystemist von der Form

a11x1 + a12x2 + · · ·+ a1kxk + · · ·+ a1nxn = b1...

......

......

......

......

ai1x1 + ai2x2 + · · ·+ aikxk + · · ·+ ainxn = bi...

......

......

......

......

am1x1 + am2x2 + · · ·+ amkxk + · · ·+ amnxn = bm .

(5.2.1)

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5 Matrizen, Determinanten, lineare Abbildungen

Hierbei sind dieKoeffizientenaik mit i = 1, . . . ,m, k = 1, . . . ,n und die “rechten Seiten”bi

gegebene reelle Zahlen. Dien Unbekannten xk, k = 1, . . . ,n, sind so zu bestimmen, daßallem Gleichungen von (5.2.1) erfüllt sind.

Die Linearität des Gleichungssystems (5.2.1) besteht darin, daß die Unbekanntenxk nurin der angegebenen Form vorkommen, daß also Terme wie z.B.x3

1 oder 1x2

oder sinx3 nichterscheinen.

Beispiel 5.2.1.Das Gleichungssystem

3x1 −√

5x2 + 2x3 = −72x1 + 3x2 + (sin1)x3 = 4

mit den Unbekanntenx1,x2,x3 ist linear. Das Gleichungssystem

−2x1 + 4√

x2 + x2x3 = 13x1 − 5x2 + x3 = 0

mit den Unbekanntenx1,x2,x3 ist nicht linear (beachte die Terme√

x2 undx2x3). ♦

Man kann das lineare Gleichungssystem (5.2.1) auch schematisch in folgender Form notie-ren:

x1 x2 · · · xk · · · xn 1a11 a12 · · · a1k · · · a1n b1...

......

......

ai1 ai2 · · · aik · · · ain bi...

......

......

am1 am2 · · · amk · · · amn bn

(5.2.2)

Die unterhalb der Kopfzeile stehenden Zahlen enthalten bereits alle Informationen aus Sy-stem (5.2.1). Die Bezeichnung der Unbekannten ist unwesentlich; stattx1, . . . ,xn könnteman z.B. auchs1, . . . ,sn schreiben.

Es liegt daher nahe, rechteckige Schemata von Zahlen als neue mathematische Objekteeinzuführen und zu studieren.

Definition 5.2.2. Ein rechteckiges Schema von reellen Zahlen der Form

A =

a11 a12 · · · a1k · · · a1n...

......

...ai1 ai2 · · · aik · · · ain...

......

...am1 am2 · · · amk · · · amn

(5.2.3)

heißt(reelle) Matrix vom Typ (m,n) kurz (m,n)-Matrix , ausführlich:Matrix mit m Zei-len und n Spalten. Die aik heißenElementeder MatrixA. Der Oberbegriff zu Zeile undSpalte istReihe. ♦

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5.2 Matrizen

Bemerkung 5.2.3.1. Mathematisch korrekt kann eine(m,n)-Matrix auch als AbbildungA: {1, . . . ,m}×{1, . . . ,n} → R definieren. Die Elementeai j sind dann die WerteA(i, j)vonA an der Stelle(i, j).

2. Zahlen sind(1,1)-Matrizen.

3. Statt (5.2.3) schreibt man auch kurzA = (aik)i=1,...,m;k=1,...,n oderA = (aik). ♦

Beispiel 5.2.4.Es seien

A =(

3 −5 21 0 4

)und X =

x11 x12

x21 x22

x31 x32

.Dann istA eine(2,3)-Matrix undX eine(3,2)-Matrix. ♦

Definition 5.2.5. Eine(m,n)-Matrix, deren sämtliche Elemente gleich 0 sind, heißt(m,n)-Nullmatrix und wird mit 0m×n oder kurz 0bezeichnet.

Eine (n,n)-Matrix A = (aik) heißtn-reihige quadratischeMatrix, und die Elementeaii ,i = 1, . . . ,n, heißenDiagonalelemente.

Eine (n,n)-Matrix, deren Diagonalelemente gleich 1 und deren übrige Elemente gleich 0sind, heißtn-reihigeEinheitsmatrix :

En = E = 1n = 1 :=

1 0 · · · 00 1 · · · 0...

...0 0 · · · 1

.♦

Definition 5.2.6. Eine (n,n)-Matrix A = (aik) mit aik = 0 für i > k (also unterhalb derDiagonale) heißtobere Dreiecksmatrix:

A =

a11 a12 · · · a1n

0 a22 · · · a2n...

...0 0 · · · ann

, kurz A =

a11 ∗

a22...

0 ann

.(Rechts haben wir eine schematische Schreibweise fürA angegeben: Hierbei steht∗ fürbeliebige reelle Zahlen und 0 für lauter Nullen.) Analog ist eineuntere Dreiecksmatrixdefiniert. Eine Matrix, die sowohl obere als auch untere Dreiecksmatrix ist, heißtDiago-nalmatrix ; ein Beispiel hierfür istEn. ♦

Definition 5.2.7. Aus einer(m,n)-Matrix A entsteht die zuA transponierte (n,m)-MatrixA>, indem man diei-te Zeile vonA zur i-ten Spalte vonA> macht(i = 1, . . . ,m). ♦

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5 Matrizen, Determinanten, lineare Abbildungen

Beispiel 5.2.8.Es gilt

A =(

3 −5 21 0 4

)=⇒ A> =

3 1−5 0

2 4

und

B =

λ 7 00 3 −10 0 6

=⇒ B> =

λ 0 07 3 00 −1 6

mit λ ∈ R. Es istB eine dreireihige obere undB> eine dreireihige untere Dreiecksmatrix;hierbei kannλ = 0 oderλ 6= 0 sein. ♦

Definition 5.2.9. Man nennt(n,1)-MatrizenSpaltenvektorenund(1,n)-MatrizenZeilen-vektoren. ♦

Beispiel 5.2.10.Somit ist

a =

a1

a2...

an

ein Spaltenvektor und a> = (a1 a2 . . . an) ein Zeilenvektor.

Bemerkung 5.2.11.Wir hatten schon erkannt, daß die MengeRn der reellenn-Tupel einenVektorraum bilden. Wir können einn-Tupel

(a1,a2, . . . ,an)

mit einem Zeilenvektor(a1 a2 . . . an)

oder mit einem Spaltenvektor(a1 a2 . . . an)> identifizieren. Üblich ist dieIdentifizierungder n-Tupel mit den Spaltenvektoren:

(a1,a2, . . . ,an) =

a1

a2...

an

.♦

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5.2 Matrizen

Mit dieser Identifizierung führen wir folgende Bezeichnungen ein:

Rm×n := Menge der reellen(m,n)-Matrizen,

Rn := Rn×1 = {(a1, . . . ,an) = (a1 . . . an)> : ai ∈ R, i = 1, . . . ,n} ,Rn := R1×n = {(a1 . . . an) : ai ∈ R, i = 1, . . . ,n} ,

Es ist alsoRn bzw. Rn die Menge aller Spaltenvektoren bzw. Zeilenvektoren ausn reellenZahlen.

Definition 5.2.12. Zwei MatrizenA = (aik) undB = (bik) heißengleich, in ZeichenA = B,wenn sie vom gleichen Typ sind undaik = bik für alle i,k gilt. ♦

Beispiel 5.2.13.1. Es gilt(3 −1 21 9 6

)6=(

3 −1 2 01 9 6 0

),

da die Matrizen nicht vom gleichen Typ sind.

2. Für

a =(−3

7

)= (−3 7)> = (−3,7) ∈ R2 , b =

(7−3

)= (7 −3)> = (7,−3) ∈ R2 ,

gilt a 6= b. ♦

5.2.2 Das Rechnen mit Matrizen

Definition 5.2.14. A = (aik) undB = (bik) seien Matrizengleichen Typs, λ sei eine reelleZahl. Man setzt

A+B := (aik +bik) , λA := (λaik) . ♦

Beispiel 5.2.15.1. Gegeben seien die Matrizen

A =(

5 1 32 −2 −4

), B =

(2 −1 03 1 0

), C =

(2 −13 1

).

Dann gilt

A+B =(

7 0 35 −1 −4

), −2A =

(−10 −2 −6−4 4 8

).

A+C undB+C sind nicht definiert.

2. Für einen beliebigen Spaltenvektora = (a1 a2 . . . an)> ∈ Rn gilt

a =

a1

0...0

+

0a2...0

+ · · ·+

00...

an

= a1e1 +a2e2 + . . .+anen .

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5 Matrizen, Determinanten, lineare Abbildungen

Das Produkt zweier Matrizen wirdnicht elementweise, sondern wie folgt definiert.

Definition 5.2.16. SeienA = (aik) eine (m, p)-Matrix und B = (bik) eine (p,n)-Matrix.Dann ist dasProdukt

C = AB = A·B

eine(m,n)-Matrix mit den Elementen

cik :=p

∑j=1

ai j b jk = ai1b1k +ai2b2k + . . .+aipbpk (i = 1, . . . ,m; k = 1, . . . ,n) .

(Das Elementcik in der i-ten Zeile undk-ten Spalte vonC ergibt sich daraus, daß diei-teZeile vonA mit derk-ten Spalte vonB multipliziert wird.) ♦

Bemerkung 5.2.17.AB ist genau dann definiert, wenn gilt:

Spaltenzahl vonA = Zeilenzahl vonB. ♦

Beispiel 5.2.18.Gegeben seien die Matrix

A =(

3 0 12 −1 5

), B =

2 1 2 00 3 −1 1−3 2 4 3

.♦

Dann istA∈R2×3 undB∈R3×4. Damit istAB definiert,BA jedoch nicht. Die BerechnungvonAB ergibt:

2 1 2 00 3 −1 1−3 2 4 3

B

A

{3 0 12 −1 5

3 5 10 3−11 9 25 14

}C

Satz 5.2.19.Sofern die jeweiligen Terme definiert sind, gelten die folgendenRechenregeln:

E A = AE = A, 0+A = A+0 = A,

(A+B)C = AC+BC , A(B+C) = AB+AC ,

λ (AB) = (λA)B = A(λB) (λ ∈ R) ,A(BC) = (AB)C ,

(AB)> = B>A> .

70

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5.2 Matrizen

Bei der letzten Formel beachte man die Änderung der Reihenfolge. Diese ist wesentlich,denn im allgemeinen ist

AB 6= BA,

auch wenn beide Produkte definiert sind.

Beispiel 5.2.20.Für

A =(

0 10 0

), B =

(0 01 0

)gilt

AB =(

1 00 0

)und BA =

(0 00 1

).

5.2.3 Lineare Gleichungssysteme

Die Zweckmäßigkeit der obigen Produktdefinition zeigt folgende Anwendung. Gegebensei ein lineares Gleichungssystem

a11x1 + a12x2 + · · ·+ a1nxn = b1...

......

......

......

am1x1 + am2x2 + · · ·+ amnxn = bm .

(5.2.4)

Mit den Matrizen

A :=

a11 a12 · · · a1n...

......

am1 am2 · · · amn

, x :=

x1...

xn

, b =

b1...

bm

ist (5.2.4) äquivalent zu

Ax = b. (5.2.5)

Das lineare Gleichungssystem (5.2.4) kann also elegant alsMatrixgleichung (5.2.5) ge-schrieben werden.

Man nenntA die Koeffizientenmatrix, x denSpaltenvektor der Unbekanntenundb denSpaltenvektor der “rechten Seiten” (oderder Absolutglieder).

Definition 5.2.21. Das LGS (5.2.4) heißt

• homogen,wennb = 0 ist (alsob1 = · · ·= bm = 0),• inhomogen,wennb 6= 0 ist (also mindestens einbi 6= 0).

Ist (5.2.4) inhomogen, so heißtAx = 0 (5.2.6)

zu (5.2.5) gehöriges homogenes LGS. ♦

71

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5 Matrizen, Determinanten, lineare Abbildungen

Definition 5.2.22. Ein Spaltenvektorx = (x1 . . . xn)> = (x1, . . . ,xn) ∈ Rn, der die Matrix-gleichung (5.2.5) erfüllt, heißtLösungvon (5.2.5) (bzw. von (5.2.4)). ♦

Bemerkung 5.2.23.Ein homogenes LGS hat stets die triviale Lösungx = 0. ♦

5.2.4 Die inverse Matrix

Für eine (reelle oder komplexe) Zahla ist a−1 definiert als diejenige Zahlb, mit derab= 1gilt. Ein solchesb existiert genau dann, wenna 6= 0 ist, und dann gilt auchba= 1.

Für einequadratischeMatrix A soll nun durch die analoge Gleichung

AB = E (5.2.7)

die inverse MatrixA−1 definiert werden.

Definition 5.2.24. Die Matrix A∈Rn×n heißtinvertierbar , wenn es eine MatrixB∈Rn×n

gibt, so daß (5.2.7) gilt. ♦

Satz 5.2.25.Ist A∈ Rn×n invertierbar, so gibt es genau eine Matrix B∈ Rn×n mit (5.2.7).

Definition 5.2.26. Ist A∈ Rn×n invertierbar, so heißt die MatrixB∈ Rn×n mit (5.2.7) dieInversevonA (oder zuA inverse Matrix ) und wird mitA−1 bezeichnet. ♦

Bemerkung 5.2.27.1. Neben (5.2.7) gilt dann auchBA = E; insgesamt gilt also

AA−1 = A−1A = E . (5.2.8)

2. Aus der Analogie zu den Zahlen darf mannicht schließen, daß jede quadratische MatrixA 6= 0 invertierbar sei. ♦

Beispiel 5.2.28.Gegeben sei eine 2-reihige Matrix

A =(

a11 a12

a21 a22

).

Gilta11a22−a12a21 6= 0, (5.2.9)

so istA invertierbar, und es ist

A−1 =1

a11a22−a12a21

(a22 −a21

−a12 a11

).

Dies bestätigt man, indem man die Gültigkeit von (5.2.8) verifiziert. ♦

72

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5.2 Matrizen

Bemerkung 5.2.29.Später werden wir sehen, daß die Bedingung (5.2.9) auch notwendig

für die Existenz vonA−1 bei A∈ R2×2 ist. Hiermit ist z.B. die MatrixA =(

1 01 0

)nicht

invertierbar. ♦

Satz 5.2.30.Für invertierbare Matrizen A, B∈ Rn×n gelten die folgendenRechenregeln:

(A−1)−1 = A, (A−1)> = (A>)−1 ,

(AB)−1 = B−1 A−1 .

Bei der letzten Formel beachte man wieder die Änderung der Reihenfolge.

Mittels der Inversen können wir nun gewisse Matrixgleichungen lösen.

Beispiel 5.2.31.Gegeben seien eine invertierbare(n,n)-Matrix A und eine(n, r)-Matrix B.Gesucht ist eine(n, r)-Matrix X mit AX = B.

Lösung.Es gilt (man beachte die jeweilige Rechenregel)

AX = B ⇐⇒ A−1(AX) = A−1B ⇐⇒ (A−1A)X = A−1 B ⇐⇒ E X = A−1B

⇐⇒ X = A−1B. ♦

5.2.5 Spezielle Produkte einspaltiger Matrizen

Seiena,b∈Rn = Rn×1. Dann ist ihr Matrix-Produkt (fürn> 1) nicht definiert. Definiert istaber das Produkt vona> undb. Dieses ist vom Typ(1,1), also eine Zahl, und wir erkennenes als (euklidisches) Skalarprodukt vona undb:

a>b =n

∑i=1

aibi = 〈a,b〉 .

Es giltb>a = (a>b)> = a>b,

daa>b eine Zahl ist.

Seiena∈ Rm = Rm×1, b∈ Rn = Rn×1. Dann ist es auch möglich, das Produkt vona undb> zu bilden. Es ist vom Typ(m,n), also eine(m,n)-Matrix:

ab> = C mit Ci j = aib j .

Dieses Produkt wirddyadisches Produktgenannt. Es gilt

(ab>)> = (b>)>a> = ba> .

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5 Matrizen, Determinanten, lineare Abbildungen

Beispiel 5.2.32.Seia = (2,−1) =(

2−1

), b = (0,4,3) =

043

. Es gilt

ab> =(

0 8 60 −4 −3

), ba> =

0 08 −46 −3

.♦

5.3 Determinanten

5.3.1 Der Begriff der Determinante

Definition 5.3.1. Die Determinante detA einern-reihigen (also quadratischen) MatrixAist rekursiv definiert durch:

• Für n = 1 giltdetA = a11 .

• Für n≥ 2 gilt

detA :=n

∑i=1

(−1)i+1ai1detAi1 .

Hierbei bezeichnetAi1, i = 1, . . . ,n, die (n−1)-reihige Matrix, die ausA durch Streichender ersten Spalte und deri-ten Zeile entsteht. ♦

Bemerkung 5.3.2.1. Fürn = 2 erhalten wir die schon bekannte Formel

detA = a11a22−a21a12 .

2. Fürn = 3 finden wir

detA = a11det

(a22 a23

a32 a33

)−a21det

(a12 a13

a32 a33

)+a31det

(a12 a13

a22 a23

)= a11(a22a33−a23a32)−a21(a12a33−a13a32)+a31(a12a23−a13a22) ,

also ebenfalls die schon bekannte Formel.

3. Fürn≥ 2 wird detA durchEntwicklung nach der ersten Spaltedefiniert.

4. Statt detA schreibt man auch|A|. Man beachte aber die Verwechslungsmöglichkeit mitdem Betrag. ♦

74

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5.3 Determinanten

Beispiel 5.3.3.1. Es gilt

det

3 1 5 00 2 1 −10 4 −2 32 3 0 2

= 3︸︷︷︸a11

·det

2 1 −14 −2 33 0 2

︸ ︷︷ ︸

A11

− 0︸︷︷︸a21

·det

1 5 04 −2 33 0 2

︸ ︷︷ ︸

A21

+ 0︸︷︷︸a31

·det

1 5 02 1 −13 0 2

︸ ︷︷ ︸

A31

− 2︸︷︷︸a41

·det

1 5 02 1 −14 −2 3

︸ ︷︷ ︸

A41

.

Weiter gilt

detA11 = 2·det

(−2 3

0 2

)−4·det

(1 −10 2

)+3·det

(1 −1−2 3

)= 2· [(−2) ·2−3·0]−4· [1·2− (−1) ·0]+3· [1·3− (−1) · (−2)] =−13.

detA21 und detA31 brauchen nicht berechnet zu werden, da sie mit Null multipliziert werdenund somit keinen Beitrag liefern. Ferner gilt detA41 = −49 (nachrechnen!). Hiermit istschließlich

detA = 3· (−13)−2· (−49) = 59.

2. Es seiA eine beliebige obere Dreiecksmatrix:

A =

a11 ∗

a22...

0 ann

(∗ : beliebige Elemente).

Man erhält

detA = a11 ·detA11−0·detA21+−·· ·+(−1)n+1 ·0·detAn1 = a11detA11 .

Hierbei ist z.B.

A11 =

a22 ∗...

0 ann

wieder eine obere Dreiecksmatrix. Daher ergibt sich hier

detA = a11a22· · ·ann .

Die Determinante einer Dreiecksmatrix läßt sich also besonders einfach berechnen.

Dies wird später die Grundlage für ein Verfahren zur numerischen Berechnung von Deter-minanten sein. ♦

75

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5 Matrizen, Determinanten, lineare Abbildungen

5.3.2 Das Rechnen mit Determinanten

SeiA∈ Rn×n, n≥ 2.

Definition 5.3.4. Mit Aik bezeichnen wir die(n−1)-reihige Matrix, die ausA durch Strei-chen deri-ten Zeile und derk-ten Spalte (also gerade der Zeile und Spalte, in deraik steht)entsteht. ♦

Satz 5.3.5 (Entwicklungssatz).Die DeterminantedetA einer Matrix A∈ Rn×n, n≥ 2,kann durch Entwicklung nach einer beliebigen Spalte oder Zeile berechnet werden. Da-bei bedeutet

– Entwicklung nach der k-ten Spalte:

detA =n

∑i=1

(−1)i+kaik detAik ,

– Entwicklung nach der i-ten Zeile:

detA =n

∑k=1

(−1)i+kaik detAik .

Bemerkung 5.3.6.1. Die Vorzeichen(−1)i+k können nach dem “Schachbrettmuster” er-mittelt werden:

+ − + · · ·− + − ·· ·+ − + · · ·...

......

...

.2. Dieser Satz eignet sich zur Berechnung einern-reihigen Determinante, fallsn klein istoder viele Elemente gleich 0 sind. ♦

Beispiel 5.3.7.Die Determinante der Matrix

A =

1 3 43 −2 20 2 0

berechnet man zweckmäßig durch Entwicklung nach der 3. Zeile und erhält:

detA = 0·detA31−2·det

(1 43 2

)︸ ︷︷ ︸

detA32

+0·detA33 = 20.

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5.3 Determinanten

Satz 5.3.8 (Eigenschaften).Sei A∈ Rn×n mit den Spalten s1, . . . ,sn, d.h.,

A = (s1, . . . ,sn) =

> ·· · >s1 · · · sn⊥ ·· · ⊥

=

s1,1 · · · sn,1...

...s1,n · · · sn,n

.

1. Vertauscht man zwei (verschiedene) Spalten si und sk, so wechselt die Determinante dasVorzeichen:

det(s1, . . . , si , . . . , sk , . . . ,sn) =−det(s1, . . . , sk , . . . , si , . . . ,sn) (i 6= k) .

2. Herausziehen eines gemeinsamen Faktors aus einer Spalte:

det(s1, . . . , α si , . . . ,sn) = α det(s1, . . . ,si , . . . ,sn) (α ∈ R) .

3. Addition zweier n-reihiger Determinanten, die sich nur in einer Spalte unterscheiden:

det(s1, . . . , si , . . . ,sn)+det(s1, . . . , s′i , . . . ,sn) = det(s1, . . . , si +s′i , . . . ,sn) .

4. Addition eines Vielfachen der k-Spalte zur i-ten Spalte, k6= i, ändert die Determinantennicht:

det(s1, . . . , si , . . . , sk , . . . ,sn) = det(s1, . . . , si + αsk , . . . , sk , . . . ,sn) (i 6= k,α ∈ R) .

5. Es giltdet(s1, . . . ,sn) = 0 genau dann, wenn die s1, . . . ,sn linear abhängig sind. Insbe-sondere verschwindet die Determinante, wenn eine Spalte aus lauter Nullen besteht, oderwenn zwei Spalten gleich oder proportional zueinander sind.

6. Eine Determinante ändert ihren Wert nicht, wenn man die Matrix transponiert,

detA = detA> .

Alle obigen Eigenschaften gelten daher auch für Zeilen.

7. Für Matrizen A, B∈ Rn×n gilt

det(AB) = (detA)(detB) .

Weiter haben wir:

Satz 5.3.9 (Invertierbarkeitskriterium). Für n-reihige Matrizen Agilt

A ist invertierbar ⇐⇒ detA 6= 0 .

Ist detA 6= 0, so gilt

det(A−1) =1

detA.

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5 Matrizen, Determinanten, lineare Abbildungen

Die zweite Aussage des Satzes folgt aus

1 = detE = det(AA−1) = (detA)(detA−1) ,

wobei das dritte Gleichheitszeichen nach Satz5.3.8mit B := A−1 gilt.

Beispiel 5.3.10.Für die Matrix

A =(

a11 a12

a21 a22

)gilt detA = a11a22−a12a21. Nach Satz5.3.9ist A also genau dann invertierbar, wenn

a11a22−a12a21 6= 0

gilt, vgl. Beispiel5.2.28. ♦

5.3.3 Anwendungen auf LGS im Fall m= n

Wir betrachten nun das LGS (5.2.4) mit m= n, d.h.,

Anzahl der Gleichungen(m) = Anzahl der Unbekannten(n),

also ein LGS der Forma11x1 + · · ·+ a1nxn = b1

......

......

...an1x1 + · · ·+ annxn = bn ,

(5.3.1)

kurzAx = b (5.3.2)

mit einer quadratischen MatrixA.

Satz 5.3.11.Gegeben sei eine Matrix A∈ Rn×n. Dann sind die folgenden Aussagen äqui-valent:

(a) Das homogene LGS Ax = 0 hat nurdie triviale Lösung x= 0.

(b) Für jedes b∈ Rn hat das inhomogene LGS(5.3.2) genau eineLösung x∈ Rn.

(c) Die Matrix Aist invertierbar.

(d) Es giltdetA 6= 0.

Folgerung 5.3.12.Ist A invertierbar, so istdieLösung xvon(5.3.2) gegeben durch

x = A−1b . (5.3.3)

78

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5.3 Determinanten

Die Lösungsdarstellung (5.3.3) für (5.3.2) ist ein Spezialfall der LösungX = A−1B für dieMatrixgleichungAX = B, (s. Beispiel5.2.31), wobei nunB die einspaltige Matrixb∈ Rn

ist.

Satz 5.3.13.Für invertierbare n-reihige Matrizen Agilt

A−1 =1

detA(aik) mit aik := (−1)i+k detAik .

Beispiel 5.3.14.Die Lösung(x1,x2,x3) ∈ R3 des LGS

x1 +2x2−x3 = b1

x2 +2x3 = b2

−x1 +3x2 +x3 = b3

ist für einen beliebigen Vektor(b1,b2,b3) ∈ R3 darzustellen.

Lösung.Für

A =

1 2 −10 1 2−1 3 1

erhalten wir mit Satz5.3.13

A−1 =1

det

1 2 −10 1 2−1 3 1

det

(1 23 1

)−det

(0 2−1 1

)det

(0 1−1 3

)−det

(2 −13 1

)det

(1 −1−1 1

)−det

(1 2−1 3

)det

(2 −11 2

)−det

(1 −10 2

)det

(1 20 1

)

=

12

12 −1

215 0 1

5− 1

1012 − 1

10

.Nach (5.3.3) ist also x1

x2

x3

=

12b1 + 1

2b2 − 12b3

15b1 + 1

5b3

− 110b1 + 1

2b2 − 110b3

.♦

Abschließend geben wir eine Lösungsdarstellung mittels Determinanten an.

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5 Matrizen, Determinanten, lineare Abbildungen

Satz 5.3.15 (Cramer-Regel).Ist A= (aik) ∈ Rn×n invertierbar und b∈ Rn, dann hat dasLGS(5.3.1) die Lösung x= (x1, . . . ,xn) mit

xi =1

detA·det

a11. . .a1i−1 b1 a1i+1 . . .a1n...

......

an1 . . .ani−1 bn ani+1 . . .ann

, (5.3.4)

d.h., zur Berechnung von xi wird die i-te Spalte von Adurch bersetzt, i= 1, . . . ,n.

Wegen des hohen Aufwandes bei der Determinantenberechnung hat diese Regel zur prakti-schen Lösung eines LGS nur fürn≤ 3 und in einigen Spezialfällen Bedeutung.

Beispiel 5.3.16.Das LGS

2x1 + x2 − x3 = −6x1 − 2x3 = −8−x1 + 3x2 + 4x3 = 17

soll nach der Cramer-Regel gelöst werden.

Lösung.Zunächst ist

detA = det

2 1 −11 0 −2−1 3 4

= 7.

Wegen detA 6= 0 istA invertierbar, also die Cramer-Regel anwendbar. Nach (5.3.4) ist

x1 =17

det

−6 1 −1−8 0 −217 3 4

=−2, x2 =17

det

2 −6 −11 −8 −2−1 17 4

= 1,

x3 =17

det

2 1 −61 0 −8−1 3 17

= 3. ♦

Das folgende Beispiel demonstriert, daß die Cramer-Regel aber auch für spezielle höherdi-mensionale Probleme sinnvoll eingesetzt werden kann:

Beispiel 5.3.17.Betrachte das LGS

Ax = b mit A =

1 2 3 02 3 0 03 0 2 10 1 0 2

, b =

2010

.Gesucht ist nur die zweite Komponentex2 der Lösungx.

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5.4 Numerische Algebra

Lösung.Mit Entwicklung nach der vierten Zeile erhalten wir

det(A) = 1det

1 3 02 0 03 2 1

+2det

1 2 32 3 03 0 2

=−6+2· (6−8−27)) =−64.

Weiter folgt mit (5.3.4) und Entwicklung nach der vierten Zeile

det

1 2 3 02 0 0 03 1 2 10 0 0 2

= 2det

1 2 32 0 03 1 2

= 2· (6−8) =−4

und daherx2 = 116. ♦

5.4 Numerische Algebra

In diesem Abschnitt beschäftigen wir uns mit der numerischen Berechnung der Lösungvon linearen Gleichungssystemen, der Inversion von Matrizen und der Berechnung vonDeterminanten.

5.4.1 Elementare Umformungen von Matrizen

Wir kommen zu einer Methode, die sich bei verschiedenartigen Problemen als sinnvollerweisen wird.

Definition 5.4.1. Man unterscheidet folgende Typen vonelementaren Zeilenumformun-gen(EZU) einer(m,n)-Matrix:

Typ 1: Vertauschung zweier Zeilen.

Typ 2: Multiplikation einer Zeile mit einer Zahlλ 6= 0.

Typ 3: Addition desλ -fachen(λ ∈ R) einer Zeile zu einer anderen Zeile. ♦

Analog sindelementare Spaltenumformungen(ESU) definiert.

Beispiel 5.4.2.Die Matrix

A =

−1 1 2 3

2 −2 3 −1−3 −1 2 4

0 2 −1 0

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5 Matrizen, Determinanten, lineare Abbildungen

soll durch EZU der Typen 1 und 3 in eine obere DreiecksmatrixD umgeformt werden.

Lösung.1. Schritt: Geeignete Vielfache der ersten Zeile zur zweiten, dritten usw. Zeile addieren, sodaß die erste Spalte unterhalb des Hauptdiagonalelements nur Nullen enthält. Es wird alsodie mit 2 (bzw. mit−3) multiplizierte erste Zeile zur zweiten (bzw. dritten) Zeile addiert:

A =

−1 1 2 3

2 −2 3 −1−3 −1 2 4

0 2 −1 0

·2 ·(−3)

←←

Typ 3−→

−1 1 2 3

0 0 7 50 −4 −4 −50 2 −1 0

=: A1 .

2. Schritt: Nun sollen in der zweiten Spalte unterhalb des Hauptdiagonalelements Nullenerzeugt werden. Hierzu ist die mit geeigneten Vielfachen multipliziertezweiteZeile zu denfolgenden Zeilen zu addieren. Dies gelingt wegen der eingerahmten Null zunächst nicht.Daher wird zuvor die zweite gegen die vierte Zeile ausgetauscht:

A1Typ 1−→

−1 1 2 3

0 2 −1 00 −4 −4 −50 0 7 5

·2←

Typ 3−→

−1 1 2 3

0 2 −1 00 0 −6 −50 0 7 5

=: A2

3. Schritt: Unterhalb des Hauptdiagonalelements der dritten Spalte Nullen erzeugen:

A2 =

−1 1 2 3

0 2 −1 00 0 −6 −50 0 7 5

·76←

Typ 3−→

−1 1 2 3

0 2 −1 00 0 −6 −50 0 0 −5

6

=: D .

Satz 5.4.3.Jede quadratische Matrix A∈ Rn×n kann durch endlich viele EZU der Typen 1und 3 in eine obere Dreiecksmatrix Dumgeformt werden. Hierbei gilt

A ist invertierbar ⇐⇒ Alle Diagonalelemente von Dsind ungleich0.

Außerdem gilt:

Satz 5.4.4.Gegeben seien Matrizen A∈ Rn×n, B∈ Rn×r und C∈ Rn×r mit AC = B. Ent-stehenA und B gleichzeitig durch endlich viele EZU (der Typen 1, 2, 3) aus Abzw. B, sogilt AC = B, siehe folgendes Schema:

A | BEZU=⇒ A | B

AC = B AC = B.

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5.4 Numerische Algebra

5.4.2 Berechnung der Inversen

Als erste Anwendung von Satz5.4.4behandeln wir die Berechnung der Inversen zu einerMatrix A∈ Rn×n.

Rechts nebenA notiert man die EinheitsmatrixE ∈Rn×n. Alle im folgenden beschriebenenUmformungen werden gleichzeitig aufA und E angewendet. DurchEZU vorwärts(d.h.von oben nach unten, vgl. Beispiel5.4.2) überführt manA in eine obere DreiecksmatrixD.Hierbei ergibt sich einer der beiden folgenden Fälle.

Fall 1: Mindestens ein Diagonalelement vonD ist gleich 0.

Dann existiertA−1 nicht (Satz5.4.3).

Fall 2: Alle Diagonalelemente vonD sind ungleich 0.

Dann kannD durchEZU rückwärts(d.h. von unten nach oben) in die EinheitsmatrixEüberführt werden, und rechts nebenE stehtA−1:

A | EEZU=⇒ E | A−1 .

(Zur Rechtfertigung des Verfahrens im Fall 2 wendet man Satz5.4.4mit B := E, C := A−1

undA := E an: Dann istAC = E und daherAC = B, alsoB = C = A−1.)

Beispiel 5.4.5.Gesucht ist die Inverse der Matrix

A =

1 2 −10 1 2−1 3 1

.♦

Lösung.Gemäß obigen Schema erhält man

A E Bemerkung1 2 −10 1 2−1 3 1

1 0 00 1 00 0 1

·1

←EZU Typ 3 vorwärts

1 2 −10 1 20 5 0

1 0 00 1 01 0 1

·(−5)←

EZU Typ 3 vorwärts

1 2 −10 1 20 0 −10

1 0 00 1 01 −5 1

←·(−2) EZU Typ 3 rückwärts

1 0 −50 1 20 0 −10

1 −2 00 1 01 −5 1

←←·15 ·(−1

2)EZU Typ 3 rückwärts

83

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5 Matrizen, Determinanten, lineare Abbildungen

1 0 00 1 00 0 −10

12

12 −1

215 0 1

51 −5 1 ·(− 1

10)EZU Typ 2

1 0 00 1 00 0 1

12

12 −1

215 0 1

5− 1

1012 − 1

10E A−1

Zur Kontrolle kann man bestätigen, daßAA−1 = E gilt. (Hiermit gilt dann „automatisch”auchA−1A = E; vgl. Bemerkung5.2.27.)

5.4.3 Lösung einer Matrixgleichung

Das folgende allgemeinere Verfahren ergibt sich (mit beliebiger MatrixB stattE) ebenfallsaus Satz5.4.4.

Gegeben seien MatrizenA∈Rn×n undB∈Rn×r . Gesucht ist eine MatrixX ∈Rn×r , so daßAX = B gilt.

Rechts nebenA notiert man die MatrixB. Im übrigen verfährt man wie bei der BerechnungvonA−1 über eine DiagonalmatrixD. Hierbei ergibt sich einer der beiden folgenden Fälle.

Fall 1: Mindestens ein Diagonalelement vonD ist gleich 0.

Dann existiertA−1 nicht und die GleichungAX = B nicht oder nicht eindeutig lösbar.

Fall 2: Alle Diagonalelemente vonD sind ungleich 0.

Dann kannD durchEZU rückwärtsin die EinheitsmatrixE überführt werden, und rechtsnebenE stehtA−1 B:

A | BEZU=⇒ E | A−1 B.

5.4.4 Berechnung der Determinanten

Mit den Sätzen5.4.3und5.3.8ergibt sich folgendes Verfahren zur numerischen Berechnungvon detA:

84

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5.4 Numerische Algebra

Zu berechnen sei die Determinante der MatrixA∈ Rn×n. Durch EZU der Typen 1 und 3verwandle manA in eine obere Dreiecksmatrix:

A =

a11 ∗

a22...

0 ann

(∗ : beliebige Elemente).

Wurden hierzur Zeilenvertauschungen (EZU Typ 1) benötigt, so gilt

detA = (−1)r detA = (−1)r a11a22· · · ann .

Beispiel 5.4.6.Zu berechnen ist die Determinante der Matrix

A =

0 2 −1 31 −2 0 13 2 −1 −12 0 2 1

.Lösung.Zuerst vertauschen wir die 1. und 2. Zeile (EZU Typ 1), um an der Stellea11 einvon Null verschiedenes Element zu erhalten, dann folgen EZU Typ 3:

ATyp 1−→

1 −2 0 10 2 −1 33 2 −1 −12 0 2 1

·(−3) ·(−2)

←←

Typ 3−→

1 −2 0 10 2 −1 30 8 −1 −40 4 2 −1

·(−4) ·(−2)←

Typ 3−→

1 −2 0 10 2 −1 30 0 3 −160 0 4 7

·(−43)

Typ 3−→

1 −2 0 10 2 −1 30 0 3 −160 0 0 43

3

= A.

Da zur Umwandlung vonA in A eine Zeilenvertauschung benötigt wurde, gilt

detA = (−1)1detA = (−1) ·1·2·3· 433

=−86.

85

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5 Matrizen, Determinanten, lineare Abbildungen

5.4.5 Lineare Gleichungssysteme

Wir betrachten nun den Gauß-Algorithmus zur Lösung des Gleichungssystems

Ax = b (5.4.1)

mit

A :=

a11 · · · a1n...

. .....

am1 · · · amn

, x :=

x1...

xn

, b :=

b1...

bm

.Hierbei kannm< n, m= n oderm> n sein.

Wir benötigen dieerweiterte Koeffizientenmatrix

(A|b) :=

a11 · · · a1n...

......

am1 · · · amn

b1...

bm

.Definition 5.4.7. Eine MatrixA∈ Rm×n hat dieZeilenstufenform, wennA die Form

A =

� ∗ · · · ∗0 0 � ∗ · · · ∗0 0 0 � ∗ · · · ∗...

......

.. .0 0 0 · · · 0 � ∗ · · · ∗0 · · · 0...

...0 · · · 0

hat, wobei folgendes gilt:

1. DiePivot-Elemente� sind ungleich 0, und∗ bezeichnet beliebige Zahlen.2. In jeder Zeile stehen links von den Pivot-Elementen� nur Nullen.3. Von einer Zeile zur darunter stehenden nimmt die Zahl der Nullen links von den Pivot-Elementen� um mindestens eins zu. ♦

Beispiel 5.4.8.1. Jede obere Dreiecksmatrix, deren sämtliche Diagonalelemente ungleich0 sind, hat Zeilenstufenform.

2. Von den Matrizen

B =

3 −1 0 5 10 0 -5 4 20 0 0 1 00 0 0 0 0

, C =

3 −1 0 5 10 0 -5 4 20 0 2 1 00 0 0 0 0

86

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5.4 Numerische Algebra

hatB Zeilenstufenform,C jedoch nicht, da die Zahl der Nullen links von� von der zweitenzur dritten Zeile nicht zunimmt. ♦

Überführung einer Matrix A in Zeilenstufenform A

Schritt 1: Sicherstellen, daß an der Stellea11 von A eine Zahl ungleich 0; hierzu evtl.Zeilen vertauschen.

Schritt 2: In der Spalte unterhalb des Pivot-Elements� Nullen erzeugen (EZU); es entstehteine Matrix der Form

� ∗ · · · ∗0 ∗ · · · ∗...

......

0 ∗ · · · ∗

=

� ∗ · · · ∗0... A10

.

Schritt 3: Mit der (m− 1,n− 1)-Matrix A1 (“Restmatrix”) analog Schritt 1 verfahren:Sicherstellen, daß in der am weitesten links stehenden Spalte vonA1, welche Elementeungleich 0 enthält1, ein solches Pivot-Element� in der ersten Zeile vonA1 (also in derzweiten Zeile vonA) steht; hierzu evtl. Zeilen vonA1 vertauschen.

Schritt 4: Mit A1 analog Schritt 2 verfahren, usw..

Die ZeilenstufenformA ist hergestellt, wenn man entweder in der letzten Zeile vonA ange-kommen ist oder eine nur aus Nullen bestehende “Restmatrix” erhalten hat.

Der folgende Satz stellt die Beziehung zu LGS dar.

Satz 5.4.9.Geht die Matrix(A|b) durch endlich viele EZU aus der Matrix(A|b) hervor, sosind die LGS Ax = b undA x = b äquivalent, sie haben also genau dieselben Lösungen x.

Hieraus ergibt sich ein auf C. F. Gauß zurückgehendes Verfahren zur Lösung von LGS.

Gauß-Algorithmus zur Lösung des LGS Ax = b

(das homogene LGS ist als Spezialfall mitb = 0 enthalten!)

1Es ist möglich, daß außer der ersten Spalte vonA1 auch die zweite Spalte usw. nur Nullen enthält (vgl.Schema 1).

87

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5 Matrizen, Determinanten, lineare Abbildungen

I. Elimination: Überführe die erweiterte Koeffizientenmatrix(A|b) durch EZU in eineMatrix (A|b), so daßA Zeilenstufenform hat:

x1 xn 1� ∗ b1

. .....

0... � br

0 · · · 0 br+1...

......

0 · · · 0 bm

II. Feststellung zur Lösbarkeit:

Ax = b ist lösbar ⇐⇒ br+1 = · · ·= bm = 0. (5.4.2)

(Die Lösbarkeit liegt also im homogenen Fallb = 0 stets vor!)

Ist Ax = b nicht lösbar, dann stopp.Ist Ax = b lösbar, dann gehe zu III.

III. Feststellung freier Parameter:

Unbekanntexk, die zu Spaltenk von A ohneein Pivot-Element� gehören, sindfreie Para-meter; sie können beliebige reelle Zahlen annehmen.

IV. Rückwärtsrechnung:

Die Unbekanntenxk, die zu Spaltenk von A mit einem Pivot-Element� gehören, werden“rückwärts” (von unten nach oben) aus der Gleichung

Ax = b

in Abhängigkeit von den freien Parametern berechnet.

Beispiel 5.4.10.1. Gesucht sind die Lösungenx∈R4 des homogenen LGSAx = 0 mit dernachfolgend bezeichneten MatrixA.

Lösung.Wir führen die vier Schritte des Gauß-Algorithmus aus.

I. Mit

A

x1 x2 x3 x4

2 3 0 −2−2 −3 0 6

1 32 −1 2

6 9 0 −62 3 0 −20 0 0 40 0 −1 30 0 0 0

·1 ·(−12) ·(−3)

←←

88

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5.4 Numerische Algebra

erhalten wir

A =

2 3 0 −20 0 -1 30 0 0 40 0 0 0

.II. Als homogenes LGS ist das LGS lösbar.

III. Aus der Form vonA liest man ab, daßx2 = λ ein freier Parameter ist.

IV. Aus Ax = 0 erhält man rückwärts:

4x4 = 0 , also x4 = 0,

−1x3 +3·0 = 0 , also x3 = 0,

2x1 +3λ +0·0 = 0 , also x1 =−32

λ .

Ergebnis: Für jedesλ ∈ R istx1

x2

x3

x4

= (x1,x2,x3,x4) = λ (−32,1,0,0)

eine Lösung des gegebenen LGSAx = 0.

Speziell fürλ = 0 hat man die Lösung(x1,x2,x3,x4) = (0,0,0,0)Für λ = 2 ergibt sich die Lösung(x1,x2,x3,x4) = (−3,2,0,0).

2. Gesucht sind die Lösungen des LGS

x+2y−z = 4−2x−4y+2z = c;

wobeic∈ R ein Parameter ist.

Lösung.I. Mitx y z 11 2 −1 4−2 −4 2 c

1 2 −1 40 0 0 8+c

·2←

erhalten wir

A =(

1 2 −10 0 0

), b =

(4

8+c

).

II. Ist 8+c 6= 0, alsoc 6=−8, dann ist das LGS unlösbar; fürc =−8 ist es lösbar.

89

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5 Matrizen, Determinanten, lineare Abbildungen

III. Es sei nunc =−8. Dann sindy = λ undz= µ freie Parameter.

IV. Aus der ersten Gleichung ergibt sichx+2λ −µ = 4, alsox = 4−2λ + µ.

Ergebnis: Fürc =−8 hat das gegebene LGS die Lösungen xyz

=

400

+ λ

−210

+ µ

101

; λ ,µ ∈ R .♦

Zusammenfassung

Ein homogenesLGS hat stets die Lösungx = 0; es kann darüber hinaus Lösungen haben,die von einem oder mehreren freien Parametern abhängen (Beispiel5.4.10, 1.).

Ein inhomogenesLGS kann• unlösbar sein (Beispiel5.4.10, 2., im Fallc 6=−8),• eindeutig lösbar sein, oder• Lösungen haben, die von einem oder mehreren freien Parametern abhängen (Beispiel5.4.10, 2., im Fallc =−8).

5.4.6 Anwendung: Lineare Unabhängigkeit von Vektoren

Die Vektorenv(1), . . . ,v(n) des VektorraumsV wurden linear unabhängig genannt, wenn dieGleichung

λ1v(1) + · · ·+ λnv(n) = 0 (5.4.3)

nur die triviale Lösungλ1 = · · · = λn = 0 hat. Sei(b1, . . . ,bm) eine Basis vonV. Dannexistieren eindeutig bestimmte Koordinatenvektorenw(1), . . . ,w(n) ∈ Rn mit

v(i) =m

∑k=1

w(i)k bk

und die Vektorenv(1), . . . ,v(n) sind genau dann linear unabhängig, wenn ihre Koordinaten-Vektoren linear unabhängig sind.

O.B.d.A. können wir alsoV = Rm annehmen. Die Gleichung (5.4.3) lautet dann

v(1)1 λ1 + · · ·+ v(n)

1 λn = 0...

......

......

v(1)m λ1 + · · ·+ v(n)

m λn = 0,

(5.4.4)

das heißt, wir haben ein homogenes LGS für den Vektorλ .

90

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5.5 Begriff und Darstellung linearer Abbildungen

Nach dem Gauß-Algorithmus erhalten wir als Bedingung für die eindeutige Auflösbarkeit,daß in jeder Spalte der Zeilenstufenform ein Pivot-Element steht. Dies ist nur möglich,wennn≤m gilt, d.h., wenn es mindestens soviel Gleichungen wie Unbekannte gibt.

Beispiel 5.4.11.Die Vektoren

v(1) =

032

, v(2) =

12−1

, v(3) =

−145

sind auf lineare Unabhängigkeit zu untersuchen.

Lösung.Das LGS (5.4.4) (mit n = m= 3) lautet

λ2 − λ3 = 03λ1 + 2λ2 + 4λ3 = 02λ1 − λ2 + 5λ3 = 0.

Der Gauß-Algorithmus führt zu (wobei wir gleich die erste mit der dritten Zeile getauschthaben)

λ1 λ2 λ3

2 −1 53 2 40 1 −12 −1 50 7

2 −72

0 1 −12 −1 5

0 72 −7

2

0 0 0

·(−32)

·(−27)

♦Da die dritte Spalte kein Pivot-Element enthält, haben wir keine eindeutige Lösungλ undv(1), v(2) undv(3) sind linear abhängig.

5.5 Begriff und Darstellung linearer Abbildungen

5.5.1 Definitionen und Beispiele

Lineare Funktionen oder – wie man meist sagt – lineare Abbildungen zwischen Vektorräu-men sind besonders “handliche” Funktionen. Sie spielen auch für nichtlineare Funktionen(als lokale Approximationen) eine wichtige Rolle (siehe z.B. später die mehrdimensionaleDifferentialrechnung).

91

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5 Matrizen, Determinanten, lineare Abbildungen

Definition 5.5.1. Es seienV undW Vektorräume. Eine AbbildungL : V→W heißtlinear,wenn:

(L1) L(v+w) = L(v)+L(w) für allev,w∈V,

(L2) L(λv) = λL(v) für alle λ ∈ R , v∈V.

Bemerkung 5.5.2.1. Vektoren (Ausnahme:n-Tupel) werden wir hier nicht mehr beson-ders kennzeichnen.

2. IstL : V→W eine lineare Abbildung, so gilt für beliebigev1, . . . ,vp∈V undλ1, . . . ,λp∈R :

L

(p

∑i=1

λivi

)=

p

∑i=1

λiL(vi) . (5.5.1)

Durch lineare Abbildung werden also Linearkombination von Vektorenv1, . . . ,vp ∈V ab-gebildet auf die entsprechende Linearkombination der BildvektorenL(v1), . . . ,L(vp) ∈W.

x

WVv1

v2

L(x)

L(v1)L

L(v2)

Aus (L2) mit λ = 0 folgt insbesondereL(0) = 0, wobei links 0∈V und rechts 0∈W diejeweiligen Nullvektoren sind. ♦

Beispiel 5.5.3.

1. Die AbbildungL : R3→ R3 sei definiert durch

L((α1,α2,α3)) = (α1,α2,0) .

(Hier ist alsoV = W = R3.) Geometrisch beschreibtL die Projektion der Vektorenv = (v1,v2,v3) ∈ R3 aufdie vone1 unde2 aufgespannte Ebene durch den Null-punkt.

α3

α1 L(a)

α2

a

Wir zeigen, daß die AbbildungL linear ist. Es seiena = (a1,a2,a3) ∈R3, b = (b1,b2,b3) ∈R3 undλ ∈ R. Dann gilt

L(a+b) = L

a1 +b1

a2 +b2

a3 +b3

=

a1 +b1

a2 +b2

0

=

a1

a2

0

+

b1

b2

0

= L(a)+L(b) .

92

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5.5 Begriff und Darstellung linearer Abbildungen

Damit ist (L1) nachgewiesen. Weiter gilt

L(λa) = L

λa1

λa2

λa3

=

λa1

λa2

0

= λ

a1

a2

0

= λL(a) ,

womit auch (L2) verifiziert ist.

2. Mit einem festen Vektora∈Rn, a 6= 0, definieren wir die AbbildungT : Rn→Rn durchT(v) = a+v (Translation uma). Es gilt z.B.

T(2v) = a+2v, aber 2T(v) = 2(a+v) = 2a+2v.

Also ist (L2) nicht erfüllt; die Translation ist keine lineare Abbildung. Dies folgt übrigensschon ausT(0) = a 6= 0. ♦

5.5.2 Matrixdarstellung

Lineare Abbildungen lassen sich in einfacher Weise mittels Matrizen darstellen. Es seien

•V ein Vektorraum mit der Basisϕ = (v1, . . . ,vn),•W ein Vektorraum mit der Basisψ = (w1, . . . ,wm),• L : V→W eine lineare Abbildung

Für a∈V seia = (a1, . . . ,an) := [a]ϕ

der eindeutig bestimmte Koordinatenvektor vona bezüglich der Basisϕ = (v1, . . . ,vn),d.h., umgekehrt ist durch den Koordinatenvektora und der Basisϕ der Vektora wiederbestimmt:

a = (a1, . . . ,an)ϕ :=n

∑k=1

akvk . (5.5.2)

DaL linear ist, folgt (siehe (5.5.1))

L(a) =n

∑k=1

akL(vk) . (5.5.3)

Zur Beschreibung vonL werden also nur die BildvektorenL(v1), . . . ,L(vn) benötigt. Dieselassen sich ihrerseits mittels ihrer Koordinatenvektoren

λ(k) := [L(vk)]ψ

bezüglich der Basisψ = (w1, . . . ,wm) darstellen:

L(vk) =m

∑i=1

λ(k)i wi (k = 1, . . . ,n) . (5.5.4)

93

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5 Matrizen, Determinanten, lineare Abbildungen

Aus (5.5.3) und (5.5.4) folgt

L(a) =n

∑k=1

ak

(m

∑i=1

λ(k)i wi

)=

m

∑i=1

(n

∑k=1

λ(k)i ak

)wi . (5.5.5)

Daher gilt:

Satz 5.5.4 (Darstellung linearer Abbildungen).Es seien V ein Vektorraum mit der Basisϕ = (v1, . . . ,vn) und W ein Vektorraum mit der Basisψ = (w1, . . . ,wm).

1. Ist L : V→W linear, dann gilt

∀a∈V : [L(a)]ψ = [L]ψ,ϕ · [a]ϕ (5.5.6)

mit derAbbildungsmatrix

[L]ψ,ϕ =

> ·· · >[L(v1)]ψ · · · [L(vn)]ψ⊥ ·· · ⊥

∈ Rm×n . (5.5.7)

2. Ist L∈ Rm×n und definiert man L: V→W durch

[L(a)]ψ = L · [a]ϕ für a∈V ,

so ist L linear und es gilt L= [L]ψ,ϕ .

Bemerkung 5.5.5.1. Gemäß (5.5.4) gilt: Die k-te Spalte der Matrix[L]ψ,ϕ ist der Koordi-natenvektor vonL(vk) bezüglich der Basisψ = (w1, . . . ,wm). Die Abbildungsmatrix hängtalso von den gewählten Basen ab!

2. Gemäß (5.5.5) und (5.5.6) gilt: Ist L : V→W eine lineare Abbildung, sinda∈V, b∈Wund

L = [L]ψ,ϕ , a = [a]ϕ , b = [b]ψ ,

so giltL(a) = b ⇐⇒ L a = b,

d.h., dieAbbildungsgleichung L(a) = b ist äquivalent zu derMatrixgleichung La = b. ♦

Beispiel 5.5.6.1. Wir betrachten denR3 mit der Standardbasisε = (e1,e2,e3) und dielineare AbbildungL : R3→ R3, die definiert ist durch

L((α1,α2,α3)) = (α1,α2,0)

(vgl. Beispiel5.5.3, 1.)

a) Gesucht ist die Abbildungsmatrix[L]ε,ε vonL bezüglich der Basisε.

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5.5 Begriff und Darstellung linearer Abbildungen

Lösung. Wir habenϕ = ψ = ε. Nach Bemerkung5.5.5sind die Spalten von[L]ε,ε dieVektoren

[L(e1)]ε = (1,0,0) , [L(e2)]ε = (0,1,0) , [L(e3)]ε = (0,0,0) .

Also gilt

[L]ε,ε =

1 0 00 1 00 0 0

.b) Gesucht ist nun die Abbildungsmatrix[L]ϕ,ϕ von L bezüglich der Basisϕ = (v1,v2,v3)mit

v1 = (1,1,0) , v2 = (0,−1,0) , v3 = (1,0,−2) .

Lösung.Wir habenψ = ϕ. Gemäß Bemerkung5.5.5sind die Koordinatenvektoren[L(vk)]ψfür k = 1,2,3 zu ermitteln. Es gilt

L(v1) = (1,1,0) = v1 =⇒ [L(v1)]ψ = (1,0,0) ,L(v2) = (0,−1,0) = v2 =⇒ [L(v2)]ψ = (0,1,0) ,L(v3) = (1,0,0) = v1 +v2 =⇒ [L(v3)]ψ = (1,1,0) ,

wobei die Koordinatenvektoren vonL(v1) und L(v2) bezüglichϕ = ψ sofort abgelesenwerden können.[L(v3)]ψ kann durch Hinsehen oder auch durch Lösung des LGS

λ1v1 + λ2v2 + λ3v3 = (1,0,0)

ermittelt werden. Nach Bemerkung5.5.5ist

[L]ϕ,ϕ =

1 0 10 1 10 0 0

.Ist z.B.a=−2v1+3v2+v3 gegeben, so ist[a](v1,v2,v3) = (−2,3,1). Also ist nach Satz5.5.4

[L(a)]ϕ = [L]ϕ,ϕ · [a]ϕ =

1 0 10 1 10 0 0

−231

=

−140

und daher

L(a) =−v1 +4v2 .

2. In R2 mit der Standardbasisε = (e1,e2) betrachten wir die durch

Dα(x) :=(

cosα −sinα

sinα cosα

)︸ ︷︷ ︸

=[Dα ]ε,ε

(x1

x2

), x = (x1,x2) ∈ R2

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5 Matrizen, Determinanten, lineare Abbildungen

definierte lineare AbbildungDα : R2→ R2. Hierbei istα ∈ R ein fester Parameter.

Die geometrische Bedeutung vonDα ergibt sich aus

Dα(e1) =(

cosα

sinα

),

Dα(e2) =(−sinα

cosα

)=(−cos(π

2 −α)sin(π

2 −α)

).

Dα beschreibt dieDrehung eines Vektorsx in R2 umden Winkelα; die Drehung erfolgt um den Nullpunktund fürα > 0 entgegendem Uhrzeigersinn.

Dα(x)

x

α

3. In R2 mit der Standardbasisε = (e1,e2) sei die lineare AbbildungS: R2→ R2 definiertdurch

S(x1,x2) = (x1,−x2) .

Offensichtlich beschreibtSdie Spiegelungder Vekto-ren inR2 bezüglich der Geraden durch den Nullpunktmit der Richtunge1. Es gilt

S(e1) = e1 und daher[S(e1)]ε = (1,0) ,S(e2) =−e2 und daher[S(e2)]ε = (0,−1) .

S(x)

x

Folglich ist

[S]ε,ε =(

1 00 −1

)die Abbildungsmatrix vonSbezüglichε. ♦

5.5.3 Komposition linearer Abbildungen

Wir kommen zur Matrixdarstellung der Komposition linearer Abbildungen. Gegeben seiendie VektorräumeU ,V,W mit den Basenυ = (u1, . . . ,u`), ϕ = (v1, . . . ,vm), ψ = (w1, . . . ,wn).Wir betrachten die KompositionM ◦N : U →W zweier linearer AbbildungenN : U → VundM : V→W.

Es seienN = [N]ϕ,υ undM = [M]ψ,ϕ die entsprechenden Matrixdarstellung vonN undMbezüglich den Basenυ , ϕ undψ.

96

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5.5 Begriff und Darstellung linearer Abbildungen

Dann gilt

(M ◦N)(x) = M(N(x)) = M(N(`

∑k=1

xkuk)) =`

∑k=1

xkM(N(uk))

=`

∑k=1

xk ·M

(m

∑i=1

nikvi

)=

`

∑k=1

xk ·

(m

∑i=1

nikM(vi)

)

=`

∑k=1

xk

(m

∑i=1

nik

(n

∑j=1

mji w j

))=

n

∑j=1

(`

∑k=1

m

∑i=1

mji nikxk

)w j

für allex∈U , x = [x]υ .

Durch Interpretation des letzten Ausdruckes erhalten wir:

Satz 5.5.7.Die Abbildungsmatrix einer Komposition linearer Abbildungen ist das Produktder Abbildungsmatrizen:

[M ◦N]ψ,υ = [M]ψ,ϕ · [N]ϕ,υ .

Beispiel 5.5.8.

Es seiSα : R2→ R2 die lineare Abbildung, die jedenVektor in R2 an der Geraden durch den Nullpunkt mitdem Richtungsvektorr mit ](r,e1) = α spiegelt. Ge-sucht ist die Abbildungsmatrix vonSα bezüglich derStandardbasisε = (e1,e2). α x

Sα(x)

Lösung.Die gesuchte SpiegelungSα ist eine Zusammensetzung einer DrehungD−α , derSpiegelungSund der RückdrehungDα , also

Sα = Dα ◦S◦D−α .

Mit Satz5.5.7sowie Beispiel5.5.6folgt

[Sα ]ε,ε = [Dα ]ε,ε [S]ε,ε [D−α ]ε,ε

=(

cosα −sinα

sinα cosα

)(1 00 −1

)(cos(−α) −sin(−α)sin(−α) cos(−α)

)=(

cosα −sinα

sinα cosα

)(cosα sinα

sinα −cosα

)=(

cos2α−sin2α 2cosα sinα

2cosα sinα sin2α−cos2α

)=(

cos2α sin2α

sin2α −cos2α

). ♦

97

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5 Matrizen, Determinanten, lineare Abbildungen

5.6 Rang von Matrizen und linearen Abbildungen

5.6.1 Dimensionsformel, Rang einer Matrix

Es seien

•V ein Vektorraum mit der Basisϕ := (v1, . . . ,vn),•W ein Vektorraum mit der Basisψ := (w1, . . . ,wm),• L : V→W eine lineare Abbildung,• L = [L]ψ,ϕ ∈ Rm×n die Abbildungsmatrix vonL bezüglichϕ undψ,• ker(L) := {x∈V : L(x) = 0} derNullraum (oderKern ) vonL,• im(L) := {L(x) : x∈V} derWertevorrat (oder dasBild ) vonL.

Beispiel 5.6.1.SeiL : R2→ R2 mit L(x,y) = (x−y,y−x). Dann gilt

ker(L) = {(x,y) : L(x,y) = (0,0)}= {(x,x) : x∈ R}

und

im(L) = {(u,v) : ∃x,y mit (u,v) = L(x,y)}= {(x−y,y−x) : x,y∈ R}= {(x,−x) : x∈ R} . ♦

Bemerkung 5.6.2.1. ker(L) ist ein Untervektorraum von V, d.h. ker(L) ⊆ V ist einVektorraum mit der vonV induzierten Addition und Multiplikation mit Skalaren.

2. im(L) ist ein Untervektorraum vonW. ♦

Satz 5.6.3.Für jede lineare Abbildung L: V→W gilt dieDimensionsformel

dimker(L)+dimim(L) = dimV . (5.6.1)

Bemerkung 5.6.4.Der Nullraum ker(L) ist der Lösungsraum der homogenen GleichungL(x) = 0; seine Dimension dimker(L) gibt also die Anzahl der linear unabhängigen Lösun-gen vonL(x) = 0 an. ♦

Es giltL ist injektiv ⇐⇒ [L(x′) = L(x′′)⇒ x′ = x′′] .

DaL linear ist, gilt nun weiter

L(x′) = L(x′′) ⇐⇒ L(x′)−L(x′′) = 0 ⇐⇒ L(x′−x′′) = 0.

Mit x := x′−x′′ hat man also

L ist injektiv ⇐⇒ [L(x) = 0⇒ x = 0] ⇐⇒ ker(L) = {0}⇐⇒ dimker(L) = 0. (5.6.2)

Wir kommen zu einer Charakterisierung von dimim(L).

98

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5.6 Rang von Matrizen und linearen Abbildungen

Satz 5.6.5.Für jede lineare Abbildung L: V→W und ihre Abbildungsmatrix[L]ψ,ϕ gilt

dimim(L) = Anzahl der linear unabhängigen Spaltenvektoren von[L]ψ,ϕ= Anzahl der linear unabhängigen Zeilenvektoren von[L]ψ,ϕ . (5.6.3)

Beweis.Nach Bemerkung5.5.5 ist die k-te Spalte von[L]ψ,ϕ der Koordinatenvektor vonL(vk) bez. der Basisψ = (w1, . . . ,wm) vonW. Da der Teilraum im(L) von L(v1), . . . ,L(vn)aufgespannt wird, folgt hiermit das erste Gleichheitszeichen in (5.6.3). Auf die Verifikationdes zweiten Gleichheitszeichens verzichten wir.

Definition 5.6.6. Sei A ∈ Rm×n. Die gemeinsame Anzahl linear unabhängiger Spalten-bzw. Zeilenvektoren vonA heißtRang der Matrix A und wird mit rang(A) bezeichnet.♦

Bemerkung 5.6.7.Der Rang von[L]ψ,ϕ ist unabhängig von der konkreten Wahl der Ba-sen. ♦

Daher können wir definieren:

Definition 5.6.8. Der Rang von[L]ψ,ϕ heißt auchRang der Abbildung L,

rang(L) := rang([L]ψ,ϕ) .

Bemerkung 5.6.9.Nach (5.6.3) gilt also

dimim(L) = rang(L) . (5.6.4)

♦Da elementare Zeilenumformungen einer Matrix die Anzahl der linear unabhängigen Zei-lenvektoren nicht ändern, gilt:

Satz 5.6.10.Die Matrix A sei durch EZU in die MatrixA in Zeilenstufenform überführt.Dann gilt

rang(A) = rang(A) = Anzahl der von0 verschiedenen Zeilen vonA. (5.6.5)

Mit (5.6.5) hat man einVerfahren zur Rangbestimmung.

Beispiel 5.6.11.Für die unten gegebene MatrixA erhält man

A =

−1 0 −33 2 52 1 4

EZU−→

−1 0 −30 2 −40 0 0

= A.

Somit ist rang(A) = rang(A) = 2. Die Matrix A enthält also nur zwei linear unabhängigeSpaltenvektoren und nur zwei linear unabhängige Zeilenvektoren. ♦

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5 Matrizen, Determinanten, lineare Abbildungen

5.6.2 Die Umkehrabbildung

Es seien

•V ein Vektorraum mit der Basisϕ,•W ein Vektorraum mit der Basisψ,• L : V→W eine lineare Abbildung

und es geltedimV = dimW = n. (5.6.6)

Ziel ist es, die Existenz der UmkehrabbildungL−1 : W→V zu sichern. Dazu benötigen wirdie Bijektivität vonL.

Satz 5.6.12.Die Abbildung L ist genau dann injektiv, wenn sie surjektiv ist.

Beweis.Es gilt

L injektiv(5.6.2)⇐⇒ dimker(L) = 0

(5.6.1)⇐⇒ dimim(L) = dimV(5.6.6)⇐⇒ dimim(L) = dimW ⇐⇒ L surjektiv.

Satz 5.6.13.Die Abbildung L ist genau dann injektiv, wenn sie vollen Rangrang(L) = nbesitzt.

Beweis.Wegen dimim(L) = rang(L) und (5.6.6) gilt

L injektiv ⇐⇒ dimim(L) = dimV ⇐⇒ rang(L) = n.

Damit erhalten wir:

Satz 5.6.14 (Umkehrabbildung).Ist dimV = dimW = n, so sind für die lineare AbbildungL : V→W und ihre Abbildungsmatrix[L]ψ,ϕ ∈Rn×n bezüglich den Basenϕ, ψ von V bzw.W die folgenden Aussagen äquivalent:

L ist injektiv. L ist surjektiv. rang(L) = n.[L]ψ,ϕ ist invertierbar. det[L]ψ,ϕ 6= 0. rang([L]ψ,ϕ) = n.

Gilt eine und somit jede dieser Aussagen, dann existiert die Umkehrabbildung L−1 : W→Vvon L, sie ist linear und bijektiv, und es gilt

[L−1]ϕ,ψ =([L]ψ,ϕ

)−1,

d.h., die Abbildungsmatrix der Umkehrabbildung L−1 ist die inverse Matrix der Abbil-dungsmatrix von L.

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5.6 Rang von Matrizen und linearen Abbildungen

Beispiel 5.6.15.Die lineare AbbildungDα beschreibt die Drehung der Vektoren inR2 umden Winkelα (Beispiel5.5.6). Die Abbildungsmatrix

[Dα ]ε,ε =(

cosα −sinα

sinα cosα

)bezüglich der Standardbasisε = (e1,e2) ist ist invertierbar und es gilt (nachrechnen!)

[Dα ]−1ε,ε =

(cosα sinα

−sinα cosα

)=(

cos(−α) −sin(−α)sin(−α) cos(−α)

)= [D−α ]ε,ε .

Nach Satz5.6.14istD−1

α = D−α ,

d.h.,D−1α beschreibt (erwartungsgemäß) die Drehung um den Winkel−α. ♦

5.6.3 Lösbarkeit linearer Gleichungssysteme

Wir betrachten das LGSAx = b (5.6.7)

und das zugehörige homogene LGS

Ax = 0. (5.6.8)

Hierbei seienA∈ Rm×n undb∈ Rm gegeben. Neben der KoeffizientenmatrixA benötigenwir die erweiterte Koeffizientenmatrix(A|b) ∈ Rm×(n+1).

Der folgende Satz präzisiert die Aussagen in Abschnitt5.4.5zur Lösung eines LGS.

Satz 5.6.16.1. (Lösbarkeitskriterium) Das inhomogene LGS(5.6.7) ist genau dann lös-bar, wenn

rang(A|b) = rang(A) . (5.6.9)

2. (Lösungsdarstellung)Es gelte(5.6.9) und es sei xs ∈ Rn eine spezielle Lösung von(5.6.7). Dann gibt es zu jeder Lösung x∈ Rn von (5.6.7) eine Lösung xh ∈ Rn von (5.6.8),so daß gilt

x = xs+xh . (5.6.10)

3. (Lösungsvielfalt)Die Anzahl der linear unabhängigen Lösungen von(5.6.8) ist

p := n− rang(A) .

Die allgemeine Lösung von(5.6.7) enthält also p frei wählbare Parameter.

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5 Matrizen, Determinanten, lineare Abbildungen

Beweis.Wir versehenRn undRm mit den Standardbasenεn = (e1, . . . ,en), εm = (e1, . . . ,em).Dann giltx = x = [x]εn undb = b = [b]εm für alle x ∈ Rn undb∈ Rm. Wir definieren dielineare AbbildungL : Rn→ Rm durchL(x) = Ax für allex∈ Rn. Dann gilt

Ax = b ⇐⇒ L(x) = b. (5.6.11)

1. Wegen (5.6.11) ist (5.6.7) genau dann lösbar, wennb∈ im(L). b∈ im(L) gilt genau dann,wennb Linearkombination aus Spaltenvektoren vonA ist, d.h., wenn rang(A|b) = rang(A).

2. Seix∈ Rn Lösung von (5.6.7) undxh := x−xs. Dann gilt

Axh = Ax−Axs = b−b = 0.

Also istxh Lösung von (5.6.8), und es istx = xs+xh.

3. Bezeichnetq die Anzahl der linear unabhängigen Lösungen von (5.6.8), so gilt:

q = dimker(L) = dimRn−dimim(L) = n− rang(A) = p.

Hierbei gilt das erste Gleichheitszeichen wegen (5.6.11) mit b = 0, das zweite nach derDimensionsformel (5.6.1) und das dritte nach (5.6.4).

Es seienx(1)h , . . . ,x(p)

h linear unabhängige Lösungen von (5.6.8). Dann ist

xh :=p

∑i=1

λix(i)h , wobeiλ1, . . . ,λp ∈ R beliebig,

die allgemeine Lösung von (5.6.8); d.h., jedeLösung von (5.6.8) läßt sich mit geeignetenParameterwertenλ1, . . . ,λp so darstellen. Wegen (5.6.10) ist daher

x = xs+p

∑i=1

λix(i)h , wobeiλ1, . . . ,λp ∈ R beliebig,

die allgemeine Lösung von (5.6.7).

Bemerkung 5.6.17.Die Rangbedingung (5.6.9) ist eine präzisierte Form der Lösbarkeits-bedingung (5.4.2) im Gauß-Algorithmus. ♦

Beispiel 5.6.18.Wir erläutern den Satz an dem LGSAx = b von Beispiel5.4.10, 2. Dorthatten wir folgendes erhalten:

x y z 11 2 −1 4−2 −4 2 c

4 2 −1 40 0 0 8+c

·2←

Es gilt rang(A) = 1 und rang((A|b)) = 1 für c = −8, rang((A|b)) = 2 für c 6= −8. Fürc =−8 gibt es damit 2 linear unabhängige Lösungen. ♦

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6 Grenzwerte von Zahlenfolgen

Ein zentraler Begriff der Analysis ist der des Grenzwertes. Wir beginnen mit der Betrach-tung von Grenzwerten von Zahlenfolgen.

6.1 Zahlenfolgen

6.1.1 Grundbegriffe

Definition 6.1.1. Eine Funktionf : Z≥n0→ R heißtreelle Zahlenfolge. ♦

Bemerkung 6.1.2.1. Durch eine Folgef : Z≥n0 → R wird jeder ganzen Zahln≥ n0 einFolgenglied f (n) ∈ R zugeordnet.

2. Man kann auch komplexe Zahlenfolgen betrachten.

3. In vielen Fällen hat mann0 = 0, d.h., man betrachtet reelle Folgenf : N→ R.

4. Anstelle vonf (n) schreibt man auchfn, d.h.

fn := f (n) .

Das Argumentn wird auch(Folgen)-Indexgenannt.

5. Anstelle vonf : Z≥n0→ R schreibt man auch

( fn)n≥n0 oder ( fn)n∈Z≥n0.

6. Da Folgen Funktionen sind, können Folgen wie Funktionen beschrieben werden, z.B.durch explizite Angabe aller Paare(n, fn), n∈ Z≥n0. Hinzu kommt hier noch die rekursiveDefinition einer Folge. ♦

Beispiel 6.1.3.Beachte die unterschiedlichen Schreibweisen!

(i) f : N→ R oder( fn)n∈N mit fn = n+1, . . . für n≥ 0.

(ii) f : N→ R oder( fn)n∈N mit f0 = 1 und fn = 1n, . . . für n≥ 1.

(iii) f : N≥2→ R oder( fn)n∈N≥2 mit fn = (−1)n(

5−nn2−1

)für n≥ 2.

(iv) f : N→ R oder( fn)n∈N mit f0 = 1, f1 = 1 und fn = fn−1 + fn−2 für n≥ 2.

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6 Grenzwerte von Zahlenfolgen

Spezielle Folgen:

Arithmetische Folgen( fn)n∈N sind Folgen mit der Bildungsvorschrift

fn = a+n·d für n∈ N

mit vorgegebenen Startwerta∈ R und vorgegebenem Zuwachsd ∈ R. Rekursive Definiti-on:

f0 = a, fn+1 = fn +d für n∈ N .Geometrische Folgen( fn)n∈N sind Folgen mit der Bildungsvorschrift

fn = a·qn für n∈ N

mit vorgegebenen Startwerta∈ R und vorgegebenem Faktorq∈ R\{0}. Rekursive Defi-nition:

f0 = a, fn+1 = q fn für n∈ N .

Beispiel 6.1.4.Verzinsung eines Kapitals. Zum Anfangszeitpunkt sei das Kapitalk0 vor-handen. Jährlich werde mit dem Zinsatzp verzinst. Nach einem Jahr hat man damitk1 = k0 +k0p = k0(1+ p), nach zwei Jahrenk2 = k1 +k1p = k1(1+ p) = k0(1+ p)2, allge-mein beträgt das Kapital nachn Jahrenkn = k0(1+ p)n. ♦

Bemerkung 6.1.5.1. Folgen kann man, wie ja auch schon Funktionen, mit beliebigenBuchstaben bezeichnen. Wir können also zum Beispiel auch Folgena = (an)n∈N oderx =(xn)n∈N betrachten.

2. Ohne Beschränkung der Allgemeinheit kann man eine Folge(an)n∈Z≥n0stets auf eine

Folge(bn)n∈N zurückführen:

bn := an0+n für n≥ 0.

Viele Eigenschaften werden daher nur für Folgen(an)n∈N formuliert. ♦

6.1.2 Grenzwerte

Wir betrachten die Folge(an)n∈N≥1 mit an = 1n und den Abstand|an−0| der Folgenglieder

zu 0. Es gilt

|an−0|= |an|=1n

für n≥ 1.

Damit wird dieser Abstand immer kleiner. Er wird auch kleiner als jede beliebige positiveZahl ε. Sei nämlichε > 0 gegeben. Dann gilt

|an|< ε ⇔ 1n< ε ⇔ n>

1ε.

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6.1 Zahlenfolgen

Nun gibt es zu jeder reellen Zahlr stets eine natürliche Zahln> r. Angewandt auf unserProblem gibt es eine ZahlN∈N mit N> 1

εund damit gilt hier auchn> 1

εfür n≥N. Damit

haben wir

|an|=1n≤ 1

N< ε für n≥ N .

Offensichtlich hängtN von der Wahl vonε ab.

Diese Tatsache, daß der Betrag|an| beliebig klein wird, wenn wir nur Indizesn ab einembestimmten Index betrachten formulieren wir nun allgemein:

Definition 6.1.6. Eine Folgea = (an)n∈N strebt gegen0 oderkonvergiert gegen0 oder isteineNullfolge, wenn es zu beliebiger Genauigkeitsgrenzeε > 0 immer einen FolgenindexN(ε) gibt, so daß die Beträge der Folgenglieder kleiner alsε sind für alle Indizes größeroder gleichN(ε),

∀ε > 0 ∃N ∈ N ∀n≥ N : |an|< ε .

Beispiel 6.1.7.Die Folge(an)n∈N≥1 mit an = 1n ist also eine spezielle Nullfolge. ♦♦

Durch den folgenden Satz bekommt man weitere Beispiele für Nullfolgen.

Satz 6.1.8 (Vergleichskriterium). Seien(an)n∈N, (bn)n∈N zwei Folgen. Ist b eine reelleNullfolge und gibt es einen Index N mit

0≤ |an| ≤ bn für n≥ N ,

so ist auch a eine Nullfolge.

Beispiel 6.1.9.

1. Die Folge(an)n∈N≥1 mit an = 1n2 für n≥ 1 ist eine Nullfolge, da 0≤

∣∣∣ 1n2

∣∣∣≤ 1n für n≥ 1.

2. Die Folge(an)n∈N≥1 mit an = (−1)n

n für n≥ 1 ist eine Nullfolge, da 0≤∣∣(−1)n1

n

∣∣= 1n für

n≥ 1.

3. Die Folge(an)n∈N mit an = n2n für n≥ 0 ist eine Nullfolge wegen 0≤

∣∣ n2n

∣∣≤ 1n für n≥ 3

(nachprüfen über vollständige Induktion!)

Es sind nicht nur Nullfolgen von Interesse.

Definition 6.1.10. Seia∞ eine reelle Zahl. Eine Folge(an)n∈N strebt gegena∞ oderkon-vergiert gegena∞, wenn die Folge(bn)n∈N mit bn := an−a∞ eine Nullfolge ist,

∀ε > 0 ∃N ∈ N ∀n≥ N : |an−a∞|< ε .

Die Zahla∞ heißt dannGrenzwertder Folgea. Besitzt eine Folge einen Grenzwert so heißtsiekonvergent, anderfallsdivergent. ♦

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6 Grenzwerte von Zahlenfolgen

Bemerkung 6.1.11.1. Um die Konvergenz einer Folge entsprechend der Definition nach-weisen zu können, braucht man zuerst eine Zahla∞, die Grenzwert sein könnte.

2. Eine Folge(an)n∈N kann nur höchstens einen Grenzwert haben: Seiena∞ 6= a∞ zweiGrenzwerte. Fürε = 1

2|a∞− a∞| gibt es nunN undN mit

|an−a∞|< ε für n≥ N und |an− a∞|< ε für n≥ N .

Damit gilt mit Hilfe der Dreiecksungleichung

|a∞− a∞| ≤ |a∞−an|+ |an− an|< 2ε für n≥max{N, N} .

Wegen 2ε = |a∞− a∞| ist dies aber ein Widerspruch zua∞ 6= a∞.

3. Wenn ein Grenzwerta∞ einer Folgea = (an)n∈N existiert, ist er also eindeutig bestimmt.Wir schreiben daher auch

a∞ = lim a = limn→∞

an oder an→ a∞ für n→ ∞ . ♦

Beispiel 6.1.12.

1. an = n−1n (n≥ 1) strebt gegena∞ = 1:

|an−1| =∣∣∣∣n−1

n−1

∣∣∣∣ =∣∣∣∣n−1−n

n

∣∣∣∣ =∣∣∣∣−1

n

∣∣∣∣ =1n

für n≥ 1.

2. an = 2n2

n2+1 (n≥ 1) strebt gegena∞ = 2:∣∣∣∣ 2n2

n2 +1−2

∣∣∣∣ =∣∣∣∣2n2−2(n2 +1)

n2 +1

∣∣∣∣ =∣∣∣∣ −2n2 +1

∣∣∣∣ ≤ 1n

für n≥ 1.♦

Weitere Konvergenzkriterien von Folgen liefert der folgende Satz. Dafür brauchen wir nocheinige Bezeichnungen.

Definition 6.1.13. Eine Folgea = (an)n∈N heißtbeschränkt, wenn einK ∈ R existiert, sodaß|an| ≤ K für allen∈ N gilt. Eine reelle Folgea = (an)n∈N heißt monoton, wenn

a0≤ a1≤ a2≤ . . .≤ an≤ . . . (monoton wachsend)

odera0≥ a1≥ a2≥ . . .≥ an≥ . . . (monoton fallend) . ♦

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6.1 Zahlenfolgen

Satz 6.1.14.

(i) (Notwendiges Kriterium) Eine konvergente Folge ist beschränkt.

(ii) Eine beschränkte, monotone reelle Folge konvergiert.

(iii) Das Produkt einer beschränkten Folge mit einer Nullfolge ist eine Nullfolge.

(iv) (Cauchy-Kriterium) Eine Folge(an)n∈N konvergiert genau dann, wenn

∀ε > 0 ∃N ∈ N ∀n,m≥ N : |an−am|< ε .

Beispiel 6.1.15.Wir zeigen die Konvergenz der Folge(yn)n∈N≥1 mit

yn =(

1+1n

)n+1

.

Wir zeigen dazu zuerst, daßy monoton fällt:

yn−1

yn=

(1+ 1

n−1

)n(1+ 1

n

)n+1 =

(n−1+1

n−1

)n(n+1

n

)n+1 =n2n+1

(n−1)n(n+1)n+1

=(n−1)n2n+2

n[(n−1)(n+1)]n+1 =n−1

n

(n2

n2−1

)n+1

=n−1

n

(1+

1n2−1

)n+1

>n−1

n

(1+(n+1)

1n2−1

)=

n−1n

(1+

1n−1

)=

n−1n

nn−1

= 1,

das heißtyn < yn−1 für alle n≥ 2. Da yn ≥ 1 für alle n≥ 1, ist y beschränkt und damitkonvergent gegen eine reelle Zahly∞. ♦

6.1.3 Rechnen mit Grenzwerten

Aus der Definition des Grenzwertes können nun folgendeRechengesetzeabgeleitet wer-den, die das Rechnen mit Grenzwerten (bzw. mit konvergenten Folgen) enorm erleichtern.

Satz 6.1.16.Seien(an)n∈N und(bn)n∈N konvergente Folgen und sei c∈ R. Dann gilt:

(i) (an +bn)n∈N konvergiert undlimn→∞

(an±bn) = limn→∞

an± limn→∞

bn.

(ii) (anbn)n∈N konvergiert undlimn→∞

(an ·bn) =(

limn→∞

an

)·(

limn→∞

bn

).

(iii) (can)n∈N konvergiert undlimn→∞

(c·an) = c· limn→∞

an.

(iv) Wennlim a 6= 0 und wenn an 6= 0 für n≥ n0, so konvergiert die Folge c= ( 1an

)n∈N≥n0und

es gilt

limn→∞

cn =1

limn→∞ an.

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6 Grenzwerte von Zahlenfolgen

Bemerkung 6.1.17.Es kann nicht rückwärts auf die Konvergenz vona oderb beschlossenwerden: Zum Beispiel folgt aus der Konvergenz von(an+bn)n∈N nicht die Konvergenz vona oderb. (Betrachte zum Beispiel eine divergente Folgea undb =−a). ♦

Beispiel 6.1.18.1. limn→∞

(1+ 1

n

)= lim

n→∞1+ lim

n→∞

(1n

)= 1+0 = 1.

2. Wir betrachten die Folge(xn)n∈N≥1 mit

xn =(

1+1n

)n

.

Offensichtlich giltxn = yn1

1+ 1n

mit yn =(1+ 1

n

)n+1. Der erste Faktor konvergiert gegen

ein y∞ ∈ R (Beispiel6.1.15), der zweite gegen 1. Damit konvergiert auchx auch gegeny∞ ≈ 2.71828. ♦

Achtung: Es giltnicht:

limn→∞

(1+

1n

)n

=(

limn→∞

(1+

1n

))n

= 1.

Definition 6.1.19. Der Grenzwert der Folge((

1+ 1n

)n)n∈N≥1

wird Eulersche Zahlge-

nannt und mit e bezeichnet:

e := limn→∞

(1+

1n

)n

.♦

Satz 6.1.20.Seien(an)n∈N und(bn)n∈N konvergente reelle Folgen. Dann gilt:

(i) Es sei an≤ bn für alle n≥ n0. Dann folgt limn→∞

an≤ limn→∞

bn.

(ii) (Satz von den zwei Millizionären)Es seien a, b und c reelle Folgen mit an ≤ cn ≤ bn

für alle n≥ n0. Wennlimn→∞ an = limn→∞ bn, dann konvergiert auch c gegenlimn→∞ an.

Bemerkung 6.1.21.Regel (i) gilt im allgemeinennicht für „<“ anstelle „≤“ , zum Beispielan = 0, bn = 1

n. ♦Als Anwendung betrachten wir folgenden Satz.

Satz 6.1.22.Ist a= (an)n∈N eine Nullfolge mit an 6= 0 und an >−1, so gilt

limn→∞

(1+an)1

an = e.

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6.1 Zahlenfolgen

Beweis.Wir betrachten nur den Fall, daßan > 0 für n≥ 0. Daan→ 0 für n→ ∞ gibt eseinN0 mit an≤ 1 für n≥ N0. Für jedesn≥ N0 gibt es genau eine natürliche Zahlkn mit

kn≤1an< kn +1, also

1kn +1

< an≤1kn,

und es giltkn→ ∞ für n→ ∞. Damit folgt die Abschätzung(1+

1kn +1

)kn+1(1+

1kn +1

)−1

=(

1+1

kn +1

)kn

< (1+an)1

an <

(1+

1kn

)kn+1

.

Die rechte und die linke Seite streben gegen e fürn→ ∞. Nach dem Satz von den zweiMillizionären (Satz6.1.20, (ii)) muß auch der mittlere Term gegen e streben.

Satz 6.1.23.Sei(an)n∈N eine konvergente Folge und es seien b> 0, b 6= 1 undρ ∈R. Danngilt:

(i) limn→∞|an|=

∣∣∣ limn→∞

an

∣∣∣.(ii) lim

n→∞

√|an|=

√∣∣∣ limn→∞

an

∣∣∣.(iii) lim

n→∞logban = logb

(limn→∞

an

)und lim

n→∞aρ

n =(

limn→∞

an

, falls an > 0 für n≥ 0.

Beispiel 6.1.24.Es gilt limn→∞

n√

n = 1. Dazu zeigen wir, daßb mit bn := n√

n−1≥ 0 eine

Nullfolge ist! Es gilt

n = (bn +1)n = 1+n·bn +n(n−1)

2b2

n + . . .+bnn≥ 1+

n(n−1)2

b2n .

Damit folgt

0≤ b2n≤

(n−1) ·2n(n−1)

=2n.

Nun ist 2n nach Satz6.1.16, (iii), eine Nullfolge, also auchb2

n (nach dem Vergleichskriteri-um, Satz6.1.8). Nach (ii) ist dann auchbn eine Nullfolge. ♦

Beispiel 6.1.25.Es gilt

limn→∞

(1+

xn

)n= ex .

O.B.d.A. seix 6= 0. Die Folgea mit an = xn ist nach Satz6.1.16, (iii), eine Nullfolge. Nach

Satz6.1.22und mit Satz6.1.23, (iii), folgt(1+

xn

)n=[(

1+xn

)n/x]x

→ ex für n→ ∞ .♦

109

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6 Grenzwerte von Zahlenfolgen

6.1.4 Anwendung: Wachstumsprozesse

Heuristik: Zahlreiche Wachstums- oder Abnahmeprozesse für eine zeitabhängige Größeu(t) können innerhalb einer kurzen Zeitspanne∆ t näherungsweise nach dem Gesetz

u(t + ∆ t)−u(t)≈ α ·u(t) ·∆ t , u(t + ∆ t)≈ (1+ α∆ t) ·u(t)

(„Die Änderung ist in etwa propertial zur Größe und zur Zeitdauer“) beschrieben werden.Der Änderungsprozeß ist dabei um so genauer, je kleiner∆ t ist.

Wir nehmen nun an, der Prozessu beginnt zum Zeitpunkt 0 mit dem Wertu0. Gesucht istder Wert zum ZeitpunktT > 0. Um zu kurzen Zeitintervallen zu kommen, teilen wir dasIntervall [0,T] in n gleich lange Intervalle[ti−1, ti ] der LängeT

n mit

ti = iTn.

Wir erhalten dann näherungsweise

u(t1)≈(

1+αTn

)u0 , u(tk)≈

(1+

αTn

)u(tk−1) =

(1+

αTn

)k

u0

und damit

u(T)≈(

1+αTn

)n

u0 .

Die rechte Seite sollte nun den Wertu(T) um so besser beschreiben, je kleiner die Zeit-schritteT

n sind, das heißt je größern ist. Man kann nun vermuten, daß

u(T) = u0 limn→∞

(1+

αTn

)n

,

falls der Grenzwert auf der rechten Seite existiert.

Analysis: Nach Beispiel6.1.25, 2., gilt

limn→∞

(1+

αTn

)n

= eαT .

Damit erhalten wiru(T) = u0eαT

für unseren Wachstumsprozeß, wobei sich die Basis e in „natürlicher“ Weise ergeben hat.

Anwendung: Wachstums- und Abnahmeprozesse kommen in vielfältiger Art vor. Einigeeinfache Prozesse können in obiger Weise beschrieben werden:

• Alterungs- und Zerfallprozesse (z.B. Alterung von Farben, radioaktiver Zerfall)

•Wachstum von Populationen ohne Ressourcenmangel (z.B. Wachstum von Pilzen)

• Kapitalverzinsung nicht nur nach vollen Jahren: Istp der Jahreszinssatz, so wähleα miteα − 1 = p, d.h., α = ln(1+ p). Dann könnte das Kapital entsprechendk(t) = eαtk(0)kontinuierlich verzinst werden.

110

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6.1 Zahlenfolgen

6.1.5 Uneigentliche Konvergenz

Allgemein nennen wir eine Folgedivergent, wenn sie nicht konvergent ist. Es gibt aberspezielle divergente Folgen, die in gewissem Sinne gegen „+∞“ oder „−∞“ konvergieren.

Definition 6.1.26. Wir nennen die reelle Folgea= (an)n∈N (uneigentlich) konvergent ge-gen+∞,

limn→∞

an = +∞ ,wenn

∀ε > 0∃N ∈ N ∀n≥ N : an≥ ε .

Wir nennen die reelle Folgea = (an)n∈N (uneigentlich) konvergent gegen−∞,

limn→∞

an =−∞ ,

wenn∀ε > 0∃N ∈ N ∀n≥ N : an≤−ε . ♦

Satz 6.1.27.Die reelle Folge(an)n∈N konvergiert genau dann uneigentlich gegen+∞, wennein n0 existiert mit an > 0 für n≥ n0 und( 1

an)n∈N≥n0

eine Nullfolge ist.

Die reelle Folge(an)n∈N konvergiert genau dann uneigentlich gegen−∞, wenn ein n0 exi-stiert mit an < 0 für n≥ n0 und( 1

an)n∈N≥n0

eine Nullfolge ist.

Beispiel 6.1.28.Wir betrachten die Folgea = (an)n∈N mit an = xn für festesx∈ R. DieseFolge hat unterschiedliches Konvergenzverhalten, je nach dem, welchen Wertx hat:

a) Ist|x|< 1, so ist limn→∞ xn = 0.

Aus |x|< 1 folgt nämlichp := 1|x| −1> 0 und damit

1|x|

= 1+ p,

1|x|n

= (1+ p)n = 1+np+ · · ·+ pn≥ 1+np.

Folglich gilt

0≤ |x|n≤ 11+np

≤ 1np

=1n· 1

p→ 0 für n→ ∞ . ♦

b) limn→∞ xn = ∞, falls x> 1 (folgt aus a)).

c) limn→∞ 1n = 1.

d) (xn)n∈N ist sonst divergent (Beispiel:x =−1).

Bemerkung 6.1.29.Die Symbole „−∞“ und „+∞“ sind keine Zahlen. Insbesondere kannman mit ihnen nicht wie mit reellen Zahlen rechnen! ♦

111

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6 Grenzwerte von Zahlenfolgen

6.1.6 Teilfolgen

Definition 6.1.30. Ist k = (kn)n∈N eine monoton wachsende Folge natürlicher Zahlen unda = (an)n∈N eine gegebene Folge, so nennen wir die Folgeb := a◦k, bn = a(kn) = akn, eineTeilfolge der Folgea. ♦

Bemerkung 6.1.31.Konvergiert(an)n∈N gegena∞, so konvergiert auch jede Teilfolge(akn)n∈Ngegena∞. Umgekehrt kann eine divergente Folge durchaus (gegen verschiedene Grenzwer-te) konvergente Teilfolgen haben. ♦

Beispiel 6.1.32.Die Folgean = (−1)n, n ≥ 0, divergiert und hat die beiden konstanten(also konvergenten) Teilfolgen

bn = a2n = 1 (n≥ 0) ,cn = a2n+1 =−1 (n≥ 0) . ♦

6.2 Zahlenreihen

6.2.1 Bezeichnungen

Eine wichtige Spezialform von Folgen sind(unendliche) (Zahlen-)Reihen.

Definition 6.2.1. Sei(an)n∈N eine Zahlenfolge. Dann heißtsn mit

sn =n

∑i=0

ai

n-te Partialsumme der Folgea, und die Folge(sn)n∈N heißt Partialsummenfolge derFolgea. ♦

Bezeichung:Die Partialsummenfolge(∑ni=0ai)n∈N zur Folge(an)n∈N wird auch als unend-

liche Reihe zur Folge(an)n∈N bezeichnet:

∑i=0

ai :=

(n

∑i=0

ai

)n∈N

. (6.2.1)

Bemerkung 6.2.2.∑∞i=0ai ist also eine Bezeichung für die Folge der Partialsummensn. ♦

Bemerkung 6.2.3.Jede Zahlenfolge(sn)n∈N ist auch eine Partialsummenfolge zu einerFolge(an)n∈N: Setzea0 = s0 undan = sn−sn−1 für n≥ 1. ♦

112

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6.2 Zahlenreihen

Wie bei Folgen kann man hier die Frage stellen, ob eine Partialsummenfolge konvergiert.

Bemerkung 6.2.4.Eine unendliche Reihe∑∞i=0an konvergiert also genau dann wenn die

Folge der Partialsummen(∑ni=0ai)n∈N konvergiert (da beides die gleichen Objekte sind!).♦

Bezeichung: Falls die unendliche Reihe∑∞i=0ai konvergiert, so wird ihr Grenzwert auch

Summegenannt und mit∑∞i=0ai bezeichnet:

∑i=0

ai := limn→∞

n

∑i=0

ai . (6.2.2)

Bemerkung 6.2.5.Je nach Zusammenhang bezeichnet∑∞i=0ai also die Folge der Partial-

summen, wie in (6.2.1), oder ihren Grenzwert, wie in (6.2.2). ♦So bezieht sich die Aufgabe „Untersuche die Konvergenz von∑∞

i=0ai !“ auf die Folge derPartialsummen, die Aufgabe „Bestimme∑∞

i=0ai !“ auf den Grenzwert.

6.2.2 Allgemeine Konvergenzkriterien

Da Reihen Folgen sind, kann man die Konvergenzkriterien von Folgen auf Reihen übertra-gen.

Satz 6.2.6 (Cauchy-Konvergenzkriterium für Reihen).Die Reihe∑∞i=0ai konvergiert ge-

nau dann, wenn

∀ε > 0∃N ∈ N∀m≥ n≥ N : |m

∑i=n

ai |< ε . (6.2.3)

Beweis.Für die Partialsummensn gilt

|sn−sm|= |m

∑i=n+1

ai | .

Folgerung 6.2.7 (Notwendige Bedingung).Ist ∑∞i=0ai konvergent, dann an→ 0.

Beweis.Wählem= n in (6.2.3).

Bemerkung 6.2.8.Die Konvergenzan→ 0 ist nicht hinreichend für die Konvergenz! Be-trachte z.B.∑∞

i=0ai mit a0 = 0, an = 1√n für n> 0, d.h.,∑∞

i=11√i. Dann giltan→ 0, aber

auch

sn =1√1

+1√2

+ · · ·+ 1√n> n· 1√

n=√

n→ ∞ .♦

113

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6 Grenzwerte von Zahlenfolgen

Satz 6.2.9.Eine Reihe mit nichtnegativen Summanden konvergiert genau dann, wenn dieFolge der Partialsummen beschränkt ist.

Satz 6.2.10.Seien∑∞i=0ai und ∑∞

i=0bi konvergente Reihen mit den Grenzwerten A und B.Dann gilt:

1. ∑∞i=0(ai +bi) ist eine konvergente Reihe mit dem Grenzwert A+B.

2. Für jedes c∈ R konvergiert∑∞i=0(cai) gegen cA.

Satz 6.2.11.Wenn man in einer Reihe eine beliebige endliche Anzahl von Gliedern wegläßt,ersetzt oder beifügt, dann bleibt ihre Konvergenz (oder Divergenz) erhalten.

6.2.3 Spezielle Reihen

Die folgenden Reihen treten häufig auf und sind von spezieller Bedeutung für Vergleichs-kriterien.

Definition 6.2.12. Seiq∈ R. Dann heißt∑∞n=0qn geometrische Reihe. ♦

Lemma 6.2.13.Die geometrische Reihe∑∞n=0qn konvergiert genau dann, wenn|q| < 1.

Für |q|< 1 gilt∞

∑n=0

qn =1

1−q.

Beweis.a) Sei|q|< 1. Dann gilt fürsn = ∑ni=0qi

(1−q)sn = (1−q)(1+q+q2 + · · ·+qn)

= 1+q+q2 + · · ·+qn−q−q2−·· ·−qn+1 = 1−qn+1 ,

d.h.,

sn =1−qn+1

1−q=

11−q

− qn+1

1−q→ 1

1−qfür n→ ∞ .

b) Sei |q| ≥ 1. Dann ist|qi | = |q|i ≥ 1, d.h.,(qi)∞i=1 ist keine Nullfolge. Nach Folgerung

6.2.7kann die Reihe also nicht konvergieren.

Definition 6.2.14. Seiα > 0. Dann heißt∑∞n=1

1nα harmonische Reihe. ♦

Offenbar ist die notwendige Bedingung wegen1nα → 0 stets erfüllt.

Lemma 6.2.15.Die harmonische Reihe∑∞n=1

1nα konvergiert genau dann, wennα > 1.

Anstelle eines vollständigen Beweises betrachten wir nur die folgenden Beispiele:

114

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6.2 Zahlenreihen

Beispiel 6.2.16.1. Wir betrachten den Spezialfallα = 1, d.h.,

∑n=1

1n.

Dann gilt

s2m =(

1+12

)+(

13

+14

)︸ ︷︷ ︸>2· 14= 1

2

+(

15

+16

+17

+18

)︸ ︷︷ ︸

>4· 18= 12

+ · · ·+(

12m−1 +1

+ · · ·+ 12m

)︸ ︷︷ ︸

>2m−1 12m= 1

2

>m12→ ∞ für m→ ∞ .

Damit ist die Folge der Partialsummen (bestimmt) divergent.

2. Es gilt∞

∑n=1

1n2 = lim

N→∞

N

∑n=1

1n2 =

π2

6. ♦

Definition 6.2.17. Seia: N→ R≥0 eine Folge inR≥0. Dann heißen

∑n=0

(−1)nan und∞

∑n=0

(−1)n+1an

alternierende Reihen. ♦

Satz 6.2.18 (Leibnitz-Kriterium für alternierende Reihen). Wenn a: N→R≥0 eine mo-noton fallende Nullfolge inR≥0 ist, dann konvergieren∑∞

n=0(−1)nan und∑∞n=0(−1)n+1an

und für ihre Summe s gilt

2n+1

∑i=0

(−1)iai = s2n+1−a2n+1≤ s≤ s2n =2n

∑i=0

(−1)iai

beziehungsweise

2n

∑i=0

(−1)i+1ai = s2n≤ s≤ s2n+1 =2n+1

∑i=0

(−1)i+1ai .

Damit ist die Summe einer alterniernden Reihe durch dien-the Partialsumme bis auf einenFehler von höchstens|an| bestimmt.

Beispiel 6.2.19.Wir betrachtena0 = 0 undan = 1n für n∈ N>0 und damit die Reihe

∑n=1

(−1)n+11n.

115

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6 Grenzwerte von Zahlenfolgen

Da an→ 0 konvergiert die Reihe nach dem Leibnitzkriterium. Weiter haben wir die Ab-schätzungen

1− 12

=12≤ 1− 1

2+

13− 1

4=

712≤

∑n=1

(−1)n+11n≤ 1− 1

2+

13

=56≤ 1.

Man kann zeigen:∞

∑n=1

(−1)n+11n

= ln2.♦

Bemerkung 6.2.20.Wichtig für die Konvergenz einer alternierenden Reihe ist, daß dieSummanden einemonotoneNullfolge bilden! ♦

6.2.4 Quotienten- und Wurzelkriterium

Auf den Vergleich mit der geometrischen Reihe basieren die beiden folgenden Kriterien.Als Spezialfall enthalten sie Konvergenzaussagen für positive Reihen.

Satz 6.2.21 (Cauchysches Wurzelkriterium).Sei a: N→ R eine reelle Folge.

1. Wenn ein q< 1 und ein N∈ N existieren mit

n√|an| ≤ q für alle n≥ N ,

dann konvergieren die Reihen∑∞n=1an und∑∞

n=1 |an|.

2. Existiert ein N∈ N mit

n√|an| ≥ 1 für alle n≥ N ,

dann divergiert die Reihe∑∞n=1 |an|.

Beispiel 6.2.22.Betrachte∑∞n=1

(1− 1

n

)(n2). Dann

n

√(1− 1

n

)(n2)

=(

1− 1n

)n

=1(

1+ 1n−1

)n → 1e< 1.

Damit konvergiert die Reihe. ♦

Satz 6.2.23 (D’Alambertsches Quotientenkriterium).Sei a: N→R eine reelle Folge mitan 6= 0 für n∈ N. Dann gilt:

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6.2 Zahlenreihen

1. Wenn ein q< 1 und ein N∈ N existieren mit

|an+1

an| ≤ q für alle n≥ N ,

dann konvergieren die Reihen∑∞n=1an und∑∞

n=1 |an|.

2. Existiert ein N∈ N mit

|an+1

an| ≥ 1 für alle n≥ N ,

dann divergiert die Reihe∑∞n=1 |an| .

Beispiel 6.2.24.Betrachte die Reihe∑∞n=0

xn

n! für fixiertesx∈ R. Mit an = xn

n! und

|an+1

an|=

|x|n+1

(n+1)!|x|n

n!

=|x|

n+1→ 0< 1

folgt die Konvergenz. ♦

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6 Grenzwerte von Zahlenfolgen

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7 Stetigkeit

7.1 Grundlagen

7.1.1 Skalar- und Vektorfunktionen

Eine Funktionf : D( f ) ⊆ R→ R ordnet jeder reellen Zahlx∈ D( f ) eine reelle Zahlf (x)zu. Nun betrachten wir Funktionen, bei denen die unabhängige Variable und eventuell auchdie abhängige Variablen-Tupel sind.

Man nenntf : D( f )⊆ Rn→ R Skalarfunktion ,f : D( f )⊆ Rn→ Rm Vektorfunktion .

Abkürzend sagt man in beiden Fällen auch wieder Funktion. Die Funktionf : D( f )⊆Rn→R ordnet also jedemn-dimensionalen Spaltenvektor odern-Tupelx∈ D( f ) die reelle Zahl

f (x) = f ((x1, . . . ,xn)) =: f (x1, . . . ,xn)

zu. Man sagt daher auch, daß

f : D( f )⊆ Rn→ R , (x1, . . . ,xn) 7→ f (x1, . . . ,xn)

eineFunktion der n unabhängigen Variablenx1, . . . ,xn ist.

Eine Vektorfunktionf : D( f )⊆ Rn→ Rm ist somit darstellbar als

f (x) =

f1(x1, . . . ,xn)...

fm(x1, . . . ,xn)

,wobei fi : D( f )⊆ Rn→ R die Koordinatenfunktionen vonf sind.

Bemerkung 7.1.1.Wir verzichten also auf eine besondere Kennzeichnung von mehrdi-mensionalen Vektoren. Eine Ausnahme bildet nur die Kennzeichnung von Koordinaten-darstellungen. Ob eine Funktion Vektorfunktion oder eine Funktion mehrerer Variabler ist,sieht man an der Definition der Funktion. ♦

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7 Stetigkeit

Beispiel 7.1.2.Die TemperaturT in einem räumlichen BereichB⊆R3 während eines Zeit-intervalls[t1, t2] hängt von der Zeitt und dem Ort(x,y,z) ∈ B ab: Es ist

(t,x,y,z) 7→ T(t,x,y,z) für t ∈ [t1, t2] , (x,y,z) ∈ B,

eine SkalarfunktionT : D(T)⊆ R4→ R, wobei

D(T) = {(t,x,y,z) ∈ R4 : t ∈ [t1, t2] , (x,y,z) ∈ B} . ♦

Beispiel 7.1.3.Die Geschwindigkeit einer stationären (zeitunabhängigen) Flüssigkeitsströ-mung in einem räumlichen BereichB ist eine Vektorfunktionv: B⊆ R3→ R3,

v(x,y,z) =

v1(x,y,z)v2(x,y,z)v3(x,y,z)

, (x,y,z) ∈ B.

Die Skalarfunktionenv1,v2,v3 sind die Geschwindigkeitskoordinaten in Richtung der Koor-dinatenachsen. Zu jedem Punkt(x,y,z) ∈ B gehört ein Geschwindigkeitsvektorv(x,y,z).♦

Wie in den Beispielen angedeutet, verbindet man mit einer Skalarfunktionf : D⊆R3→Rbzw. einer Vektorfunktionv: D⊆ R3→ R3 die Vorstellung, daß

- der Punktx∈ D mit der skalaren Größef (x) “belegt” ist (z.B. Masse, Temperatur) bzw.

- im Punktx∈ D der Vektorv(x) “angeheftet” ist (z.B. Geschwindigkeit, Kraft).

In diesem Zusammenhang sagt man statt Skalar- bzw. Vektorfunktion auchSkalarfeld bzw.Vektorfeld .

Der Graph einer Skalarfunktionf : D( f )⊆ R2→ R,

graph( f ) = {(x,y,z) ∈R3 : (x,y) ∈D( f ), z= f (x,y)},

kann häufig alsFläche F im x,y,z-Raum interpretiertwerden.

graph( f )z

x

y

D( f )

Die MengenNa = {(x,y) ∈ D( f ) : f (x,y) = a}

stellen im regulären FallNiveaulinien oderHöhenlinien zum Niveaua dar.

120

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7.1 Grundlagen

Beispiel 7.1.4.Für die Funktionf : D( f ) = R2→ R mit f (x,y) = x2 + 4y2 ist W( f ) =[0,+∞[. Die Niveaulinie zum Niveaua ist die Menge

Na = {(x,y) ∈ R2 : x2 +4y2 = a} .

Wir habenN0 = {(0,0)}, Na = /0 für a< 0. Füra> 0 istNa eine Ellipse mit den Halbachsen√a und

√a/2. Ferner sind die Schnitte von graph( f ) mit (zurx,z-Ebene parallelen) Ebenen

y = c die Parabelnz= x2 +4c2. Man nennt graph( f ) daher elliptisches Paraboloid. ♦

Spezielle Funktionen sind die linearen Abbildungen: Wir wiederholen dazu, daß eine Funk-tion f : Rn→ Rm linear heißt, wenn gilt:

f (x+y) = f (x)+ f (y) für allex,y∈ Rn,

f (αx) = α f (x) für alle α ∈ R, x∈ Rn.

Die Menge aller linearen AbbildungenvonRn in Rm bezeichnen wir durchL(Rn,Rm),

L(Rn,Rm) := {A: A ist eine lineare Abbildung vonRn in Rm} .

Satz 7.1.5.Die Funktion f: Rn→ Rm ist genau dann linear, wenn es eine m×n-MatrixA = (aik) gibt, so daß

f (x) = A·x =

a11 · · · a1n...

......

am1 · · · amn

x1

...xn

für alle x=

x1...

xn

∈ Rn.

Speziell ergibt sich fürm= 1:

Folgerung 7.1.6.Die Funktion f: Rn→ R ist genau dann linear, wenn es ein a∈ Rn gibt,so daß gilt

f (x) = a>x = 〈a,x〉 für alle x∈ Rn .

121

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7 Stetigkeit

7.1.2 Klassifizierung von Punkten und Mengen

Wir benötigen einige Begriffe für Punkte und Mengen inRn. Erinnert sei an den (euklidi-schen)Abstand

‖x−y‖=√

(x1−y1)2 + · · ·+(xn−yn)2

der Punktex,y∈ Rn.

Definition 7.1.7. Für a∈ Rn undε > 0 heißt dieoffene Kugel

U(a,ε) := {x∈ Rn : ‖x−a‖< ε}

uma mit Radiusε eineε-Umgebungvona. ♦a

ε

U(a,ε)

U(a,ε) ist in R3 das “Innere” einer Kugel uma mit Radiusε und inR2 das “Innere” einesKreises uma mit Radiusε.

Definition 7.1.8. SeiD eine nichtleere Teilmenge vonRn.

(i) x∈ D heißtinnerer Punkt vonD, wenn eineε-Umgebung vonx in D enthalten ist. DieMenge aller inneren Punkte vonD heißtInneresvonD.(ii) D heißtoffen, wenn jeder Punkt vonD ein innerer Punkt vonD ist (wennD also mitseinem Inneren übereinstimmt).(iii) z∈ Rn heißtRandpunkt von D, wenn jedeε-Umgebung vonz einen zuD gehörigensowie einen nicht zuD gehörigen Punkt enthält. Die Menge aller Randpunkte vonD heißtRand vonD.(iv) D heißtabgeschlossen, wenn der Rand vonD zuD gehört.(v) D heißtbeschränkt, wenn es eine Zahlc> 0 gibt, so daß‖x‖ ≤ c für allex∈ D.(vi) D heißt(weg-) zusammenhängend, wenn je zwei Punkte vonD durch eine ganz inDverlaufende Kurve verbunden werden können.(vii) D heißtGebiet, wennD offen und zusammenhängend ist.(viii) D heißtBereich, wennD ein Gebiet ist oder aus einem Gebiet durch Hinzunahme vonRandpunkten hervorgeht. ♦

Beispiel 7.1.9.Wir betrachten die Menge

D = {(x,y) ∈ R2 : 0≤ x≤ 3, 0≤ y< 1} .1 2 3

1

ba

c

Der Punkta = (2, 12) ist innerer Punkt vonD (z.B. ist U(a, 1

3) ⊂ D); b = (3, 12) ist ein

Randpunkt vonD, der zuD gehört;c = (1,1) ist ein Randpunkt vonD, der nicht zuDgehört. D ist weder offen noch abgeschlossen, aber beschränkt (z.B. gilt‖a‖ ≤ 4 für alle

122

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7.1 Grundlagen

a∈ D). Der Rand vonD besteht aus den vier Seiten des Rechtecks. Das Innere vonD istdie Menge

◦D= {(x,y) ∈ R2 : 0< x< 3, 0< y< 1} ;

diese ist offen und zusammenhängend, also ein Gebiet.◦D, D sowie das Rechteck ein-

schließlich aller Randpunkte sind Bereiche. ♦

Bemerkung 7.1.10.Die Menge◦D in Beispiel7.1.9ist zwar offen inR2, aber nicht inR3.♦

Beispiele für nicht beschränkte Mengen inR2 (und inR3) sind jede Gerade und der ersteQuadrant im Koordinatensystem.

7.1.3 Folgen im Rn

Wir wollen uns nun mit Folgen imRn beschäftigen.

Bemerkung 7.1.11.Hier gibt es nun einen Konflikt mit dem Folgenindex und dem Ko-ordinatenindex. Da es wichtiger ist, die allgemeinen Prinzipien der Grenzwerttheorie zuerkennen als die Bezeichnung von Koordinaten zu erhalten, lösen wir den Konflikt,

indem wir im Folgenden den Koordinatenindex oben schreiben

(nicht verwechseln mit einer Potenz!):

x = (x1, . . . ,xn) für x∈ Rn . ♦

Definition 7.1.12. Eine Folgex = (xn)n∈N in Rn ist eine Abbildung

x: N→ Rn , xk := x(k)

mitxk = (x1

k,x2k, . . . ,x

nk) (k∈ N) . ♦

In R2 bzw.R3 schreiben wir statt(x1k,x

2k) bzw.(x1

k,x2k,x

3k) auch(xk,yk) bzw.(xk,yk,zk).

Definition 7.1.13. Der Punkta∈Rn heißtGrenzwert (oderLimes) der Folgex = (xk)k∈Nin Rn, in Zeichen

a = lim x oder a = limk→∞

xk oder xk→ a für k→ ∞ ,

wenn zu jeder Zahlε > 0 ein Indexk0 existiert, so daß gilt:

‖xk−a‖< ε für allek≥ k0 . (7.1.1)

Besitzt die Folge(xk)k∈N einen Grenzwert, so heißt siekonvergent, andernfallsdiver-gent. ♦

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7 Stetigkeit

Zu (7.1.1) äquivalent istxk ∈U(a,ε) für allek≥ k0 .

WegenU(a,ε) = ]a− ε,a+ ε[ für n = 1, stimmt diese Definition mit der Grenzwertdefini-tion in R überein.

In Rn ist die Konvergenz einer Punktfolge äquivalent zur Konvergenz aller Koordinatenfol-gen:

Satz 7.1.14.Für jede Folge(xk)k∈N in Rn gilt

limk→∞

xk = a⇐⇒ limk→∞

xik = ai für alle i ∈ {1, . . . ,n} .

Definition 7.1.15. Ein Punkta∈ Rn heißtHäufungspunkt der MengeD⊆ Rn, wenn eineFolge(xk)k∈N in D existiert mit

xk 6= a für allek und limk→∞

xk = a. ♦

Bemerkung 7.1.16.1. Jeder Punkt des abgeschlossenen Intervalles[a,b] ist Häufungs-punkt von[a,b] und auch von]a,b[.

2. Für einen isolierten Punktx0 in R gibt es also einε > 0, so daß das Intervall]x0−ε,x0+ε[außerx0 keine Punkte ausM enthält.

3. Häufungspunkte vonD sind also Punkte vonRn, die nicht zuD zu gehören brauchen,die aber über nichtkonstante Folgen inD “erreichbar” sind. ♦

Beispiel 7.1.17.Für die MengeD von Beispiel7.1.9ist jeder Punkt(x,y) mit 0≤ x≤ 3,0≤ y≤ 1 ein Häufungspunkt. ♦

7.2 Stetigkeit von Funktionen in einem Punkt

7.2.1 Motivation und Definition

Wir betrachten ein analoges Radio, bei dem man mit einem Drehknopf die Frequenz ein-stellt. Wir nehmen an, daß den Winkeln zwischenϕ undϕ durch die Mechanik und Elek-tronik im Radio jeweils genau eine Frequenz zu geordnet ist.

Wir haben damit eine FunktionF : [ϕ,ϕ] ⊂ R→ R. Ziel ist, eine bestimmte Frequenzf0möglichst genau einzustellen. Diese Frequenz gehöre zum Winkelϕ0 ∈ [ϕ,ϕ] des Dreh-knopfes, d.h., wir habenf0 = F(ϕ0).

Die Frage ist nun, ob wir die tatsächliche Frequenzf = F(ϕ) beliebig nahe anf0 einstellenkönnen, wenn wir nur die Genauigkeit im Winkelϕ verbessern.

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7.2 Stetigkeit von Funktionen in einem Punkt

Wir versuchen also, den absoluten Fehler in der Frequenz| f − f0|= |F(ϕ)−F(ϕ0)| unterein beliebigesε > 0 zu drücken, indem wir den Winkelϕ dafür ausreichend genau einstel-len, d.h.,|ϕ−ϕ0|< δ mit einem vonε abhängigenδ > 0.

In Abstraktion dieser Genauigkeitskontrolle definieren wir nun:

Definition 7.2.1. Die Funktion f : D( f )⊆Rn→Rm heißtstetig in a∈Rn, wenna∈D( f )und wenn für jedesε > 0 ein δ > 0 existiert mit f (x) ∈U( f (a),ε) für alle x∈U(a,δ )∩D( f ), genauer:

∀ε > 0∃δ > 0∀x∈U(a,δ )∩D( f ) : f (x) ∈U( f (a),ε) . (7.2.1)

Wenna∈ D( f ) aber (7.2.1) nicht gilt, nennen wirf in a unstetig. ♦

x

y

a x0 b

f(x0)

Funktion, die inx0 stetig ist

x

y

a x0 b

f(x0)

Funktion, die inx0 unstetig ist

Die Stetigkeit oder Unstetigkeit wird also nur in Punkten des Definitionsbereiches betrach-tet.

Bemerkung 7.2.2. Ist a∈ D( f ) kein Häufungspunkt vonD( f ), so ist f stetig ina. ♦

Definition 7.2.3. Sei f : D( f )⊆R→R und seix0∈D( f ). Wir nennenf linksseitig stetigin x0, wenn die Einschränkungf

∣∣D( f )≤x0

von f auf D( f )≤x0 = D( f )∩ ]−∞,x0] stetig ist.

Wenn f∣∣D( f )≥x0

stetig ist, nennen wirf rechtsseitig stetig inx0. ♦

Satz 7.2.4.Eine Funktion f: D( f ) ⊆ R→ R ist genau dann stetig in x0 ∈ D( f ), wenn flinks- und rechtsseitig stetig in x0 ist.

Beispiel 7.2.5.1. Die Funktionf : R→ R mit f (x) = x, ist in jedem Punktx0 ∈ R stetig:Seix0 ∈ R. Dann gilt

| f (x)− f (x0)|= |x−x0| .

Zu ε > 0 können wir also zum Beispielδ = ε wählen.Beachte:Hier kannδ unabhängigvonx0 gewählt werden.

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7 Stetigkeit

2. Die Funktionf : R→R mit f (x) = x2 ist in jedem Punktx0∈R stetig: Seix0∈R. Danngilt

| f (x)− f (x0)|= |x2−x20|= |x+x0| · |x−x0|= |x−x0 +2x0| · |x−x0|< (2|x0|+ δ )δ ,

wenn|x−x0|< δ . Wir können| f (x)− f (x0)| kleiner alsε machen, indem wirδ mit (2|x0|+δ )δ < ε wählen, z.B.,δ < 1 mit δ < ε

2|x0|+1. Beachte:Hier kannδ nicht unabhängig vonx0 gewählt werden.

3. Jede Funktionf : D( f ) ⊂ R→ R mit D( f ) ⊆ Z ist in jedem Punktx0 ∈ D( f ) stetig:Wähle zu jedemε > 0 einfachδ = 1

2. Dann istx = x0 das einzige Element inD( f ) mit|x−x0|< δ = 1

2.

4. Die Vorzeichen-Funktion sgn:R→ R mit sgnx =−1 für x< 0, sgn0= 0, sgnx = 1 fürx> 0 ist stetig in jedem Punktx0 6= 0. Sie ist in 0 weder links- noch rechtsseitig stetig unddamit in 0 unstetig.

5. Die Heaviside-Funktion h:R→ R mit h(x) = 0 für x≤ 0 und h(x) = 1 für x> 0 iststetig in jedem Punktx0 6= 0. Sie ist in 0 links- aber nicht rechtsseitig stetig und damit in 0unstetig.

−1

1

Die Vorzeichen-Funktion

−1

1

Die Heaviside-Funktion ♦

Bemerkung 7.2.6.Eine Funktion f : D( f ) ⊆ R→ R ist (mindestens) in allen isoliertenPunkten stetig. ♦

Nach der letzten Bemerkung müssen wir also nur noch Punktex0 ∈ D( f ) untersuchen, dieHäufungspunkt vonD( f ) sind.

Satz 7.2.7.Sei f: D( f )⊆Rn→Rm und sei x0 ∈D( f ). Dann ist f in x0 genau dann stetig,wenn für jede Folge(ξi)i∈N , ξi ∈ D( f ) mit x0 = lim i→∞ ξi auch die Folge( f (ξi))i∈N gegenf (x0) konvergiert:

∀ Folgeξ : N→ D( f ) :

(limi→∞

ξi = x0 =⇒ limi→∞

f (ξi) = f (x0)).

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7.2 Stetigkeit von Funktionen in einem Punkt

Bemerkung 7.2.8.Der Satz stellt nur eine Forderung, wennx0 ein Häufungspunkt vonD( f ) ist. Im anderen Fall istx0 ein isolierter Punkt und die einzige gegenx0 konvergenteFolgeξ ist die konstante Folge mitξi = x0. ♦

Beispiel 7.2.9.Die Betragsfunktion| · | : R→ R, die Potenzfunktionen potb : R>0→ R,b∈R, und die Logarithmusfunktionen logb : R>0→R, b> 0, b 6= 1, sind nach Satz6.1.23in jedem Punkt ihres Definitionsbereiches stetig: Nach Satz6.1.23, (iii) gilt zum Beispiel

potb(ξi) = ξbi → xb

0 = potbx0

für jede Folgeξ : N→ R>0 mit ξi → x0 für i→ ∞. ♦

Beispiel 7.2.10.Die Funktion f : R2→ R mit f (x,y) = sin(x2y) ist im Punkta = (12,π)

stetig:

Zuerst stellen wir fest, daßa Häufungspunkt vonD( f ) = R2 ist und inD( f ) liegt. Wir un-tersuchen lim

(x,y)→( 12 ,π)

sin(x2y). Es sei(xk,yk)k∈N eine beliebige Folge inR2 mit limk→∞

(xk,yk) =

(12,π). Nach Satz7.1.14gilt dann lim

k→∞xk = 1

2 und limk→∞

yk = π. Hieraus folgttk := x2kyk→ π

4

für k→ ∞. Da die Sinus-Funktion stetig ist, folgt weiter

limk→∞

sin(x2kyk) = lim

k→∞sintk = sin

π

4=

12

√2.

Somit ist lim(x,y)→( 1

2 ,π)sin(x2y) = 1

2

√2. Da auchf (1

2,π) = sinπ

4 = 12

√2 gilt, folgt die Stetig-

keit in diesem Punkt.

Analog zeigt man, daßf auf ganzR2 stetig ist. ♦

7.2.2 Eigenschaften der Stetigkeit

Der folgende Satz vereinfacht die Untersuchung der Stetigkeit bei zusammengesetzten Funk-tionen.

Satz 7.2.11.(i) Sind f : D( f ) ⊆ R→ R und g: D(g) ⊆ R→ R auf einem Intervall in einem Punktx0 ∈D( f )∩D(g) stetig, so gilt dies auch für f+g, α · f (α ∈R) und f ·g. Ist g(x0) 6= 0, soist auch f

g stetig in x0.

(ii) Sei f : D( f ) ⊆ R→ R stetig in x0 ∈ D( f ) sei und g: D(g) ⊆ R→ R stetig in f(x0) ∈D(g). Dann ist auch g◦ f stetig in x0.

Beispiel 7.2.12.Da x 7→ x auf ganzR stetig ist, sind Polynome in jedem Punktx0 ∈ Rstetig. ♦

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7 Stetigkeit

7.3 Stetige Funktionen

7.3.1 Definitionen

Viele der bisher betrachteten Funktionen sind in jedem Punkt des Definitionsbereiches ste-tig. Da diese Klasse von Funktionen von besonderem Interesse ist, definieren wir:

Definition 7.3.1. f : D( f )⊆Rn→Rm heißtstetig aufM ⊆D( f ), wenn f in jedema∈Mstetig ist. f heißtstetig, wenn f aufD( f ) stetig ist. ♦

Beispiel 7.3.2.(i) Die Betrags-, Potenz- und Logarithmusfunktionen, die Polynome und die rationalenFunktionen sind stetig (siehe Beispiel7.2.9).

(ii) Die Sinus-, Cosinus- und Exponentialfunktionen sind auch stetig. ♦

Für die Zusammensetzung stetiger Funktionen können wir als Folgerung aus Satz7.2.11den folgenden Satz formulieren:

Satz 7.3.3.

(i) Sind f : D( f ) ⊆ Rn→ Rm und g: D(g) ⊆ Rn→ Rm stetig, so gilt dies auch für f+ gundα · f (α ∈ R).

(ii) Sind f : D( f )⊆ Rn→ R und g: D(g)⊆ Rn→ R stetig, so gilt dies auch für f·g. Giltzusätzlich g(x) 6= 0 für alle x∈ D( f )∩D(g) so ist auchf

g stetig.

(iii) Seien f : D( f )⊆ Rn→ Rm und g: D(g)⊆ Rm→ Rp stetig. Dann ist auch g◦ f stetig.

Beispiel 7.3.4.

(i) Rationale Funktionenf = pq sind stetig. (Beachte: Nullstellen vonq gehören nicht zum

Definitionsbereich vonf )

(ii) Die Tangens-, Cotangens-, Secans- und Cosecans-Funktionen sind stetig als Quotientenstetiger Funktionen (Beachte die entsprechenden Definitionsbereiche!).

(iii) Die Hyperbelfunktionen sind stetig als Summe stetiger Funktionen.

(iv) Die Funktionh: R→ R mit h(x) = ex2ist als Komposition stetiger Funktionen stetig,

dah = g◦ f mit g = exp undf = pot2. ♦

Bemerkung 7.3.5.1. Die Zusammensetzung (Kombination) der elementaren Funktionen(Potenzfunktionen, rationale Funktionen, Exponential- und Logarithmusfunktion, trigono-metrische und hyperbolische Funktionen) durch Addition, Subtraktion, Multiplikation, Di-vision und Komposition führt wieder zu stetigen Funktionen (mit dem sich natürlich erge-benden Definitionsbereich).

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7.3 Stetige Funktionen

2. Unstetige Funktionen erhalten wir also nur, wenn wir die Klasse der allein durch Kom-bination von elementaren Funktionen beschreibbaren Funktionen verlassen, in dem wir siezum Beispiel, wie bei der Vorzeichenfunktion getan, nur stückweise (d.h., jeweils auf end-lich vielen Teilintervallen des Definitionsbereiches) durch Kombination elementarer Funk-tionen beschreiben.

3. Es gibt viel mehr unstetige Funktionen als stetige Funktionen. ♦

7.3.2 Wichtigste Eigenschaften stetiger Funktionen

Für stetige Funktionen wollen wir noch folgende grundlegenden Ergebnisse festhalten.

Satz 7.3.6 (Erhalt des Zusammenhangs).Es sei f: D( f )⊆Rn→Rm stetig. Ist Z⊆D( f )zusammenhängend, so ist f[Z] ebenfalls zusammenhängend.

Als Folgerung erhalten wir:

Satz 7.3.7.(Zwischenwertsatz)Es sei f: D( f ) ⊆ Rn → R stetig und es sei Z⊆ D( f )zusammenhängend. Sind x1,x2 ∈ Z, so gibt es für jedes c zwischen f(x1), f (x2) ein x∈ Zmit f(x) = c.

x

y

c

a x b

Folgerung 7.3.8. (Nullstellensatz)Es sei f: D( f ) ⊆ Rn→ R stetig und es sei Z⊆ D( f )zusammenhängend. Weiter seien x1,x2 ∈ Z mit f(x1) < 0, f (x2) > 0. Dann existiert einx∈ Z mit f(x) = 0.

Bemerkung 7.3.9.Das bereits besprochene Verfahren derBisektion(Abschnitt2.2.4.2) zurNullstellenbestimmung bei Polynomen funktioniert aufgrund des Zwischenwertsatzes, daPolynome stetige Funktionen sind. Daher kann das Verfahren in der beschriebenen Formfür alle stetigen Funktionen zur Nullstellenbestimmung verwendet werden. ♦Insbesondere sagt Satz7.3.7, daß stetige Funktionen Intervalle auf Intervalle abbildet. Einegewisse Umkehrung gibt folgender Satz:

Satz 7.3.10.Sei f : I ⊆ R→ R eine monotone Funktion auf einem Intervall I. Wenn f[I ]ein Intervall ist, dann ist f stetig.

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7 Stetigkeit

Wir betrachten nun eine streng monotone, stetige Funktionf : I → R mit einem IntervallI .Dann ist f [I ] ein Intervall. Wegen der strengen Monotonie istf injektiv. Damit existiert dieInverse f−1 : f [I ]→ I von f . Da f−1[ f [I ]] = I und f−1 streng monoton ist, istf−1 nachSatz7.3.10eine stetige Funktion.

Damit gilt

Satz 7.3.11 (Stetigkeit der inversen Funktion).Seien I,J⊆R Intervalle und sei f: I→ Jstreng monoton mit f[I ] = J. Dann existiert die inverse Funktion f−1 : J→ I und

1. f−1 ist streng monoton (im gleichen Sinne wie f );

2. f und f−1 sind stetig.

Folgerung 7.3.12.Die trigonometrischen und hyperbolischen Funktionen sind aufMonotonie-Intervallen stetig invertierbar, d.h., die Arcus- und Area-Funktionen sind ste-tig.

Satz 7.3.13 (Erhalt von Abgeschlossenheit und Beschränktheit).Es sei f: D( f )⊆Rn→Rm stetig. Ist K⊆D( f ) abgeschlossen und beschränkt, so ist auch f[K] abgeschlossen undbeschränkt.

Folgerung 7.3.14.Sei f : [a,b]→ Rm stetig. Dann gilt ist f auf[a,b] beschränkt, d.h. esgibt ein M∈ R mit | f (x)| ≤M für alle x∈ [a,b].

Als Folgerung für Skalar-Funktionen ergibt sich aus Satz7.3.13:

Satz 7.3.15 (Existenz globaler Extremstellen).Es sei f: D( f )⊆ Rn→ R stetig. Ist K⊆D( f ) abgeschlossen und beschränkt, so besitzt f ein globales Minimum und ein globalesMaximum auf K, d.h., es existieren x∗,x∗ ∈ K mit

f (x∗)≤ f (x) für jedes x∈ K ,

f (x∗)≥ f (x) für jedes x∈ K .

7.4 Grenzwerte von Funktionen

Wir betrachten nun einen Begriff, der der Stetigkeit ähnlich ist.

7.4.1 Der Begriff des Grenzwertes

Definition 7.4.1. Sei f : D( f ) ⊆ Rn→ Rm eine Funktion unda ∈ Rn ein HäufungspunktvonD( f ). Der Punktb∈ Rm heißtGrenzwert (oderLimes) von f in a,

b = lima

f = limx→a

f (x) oder f (x)→ b für x→ a,

wenn für jedesε > 0 einδ > 0 existiert mit f (x) ∈U(b,ε) für allex∈U(a,δ )∩D( f ). ♦

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7.4 Grenzwerte von Funktionen

Bemerkung 7.4.2.1. Der Grenzwert ist eindeutig bestimmt.

2. Im Gegensatz zur Stetigkeit brauchtf nicht in x0 definiert sein,x0 muß dafür aber einHäufungspunkt vonD( f ) sein.

3. Wenn f in x0 definiert ist, müssenf (x0) und limx0 f nicht übereinstimmen. ♦

Satz 7.4.3 (Charakterisierung des Grenzwertes durch Folgen).Eine Abbildung f: D( f )⊆Rn→Rm besitzt im Häufungspunkt x0 von D( f ) den Grenzwertc genau dann, wenn für jede beliebige Folge(ξn)n∈N in D( f )\{x0} mit ξn→ x0 die Folge( f (ξn))n∈N gegen c konvergiert,

∀ Folgeξ : N→ D( f )\{x0} :

(limi→∞

ξi = x0 =⇒ limi→∞

f (ξi) = c

).

Definition 7.4.4. Wir sagen, die Funktionf hatfür x gegenx0 den rechtsseitigen Grenz-wert c1 = limx→x0+ f (x) ∈ R, wenn die Einschränkungf

∣∣D( f )∩[x0,∞[ von f auf den rechten

Teil des DefinitionsbereichesD( f )>x0 = D( f )∩ [x0,∞[ den Grenzwertc1 hat,

limx↘x0

f (x) := limx→x0

f∣∣D( f )>x0

(x) .

Entsprechend ist derlinksseitige Grenzwertc2 = limx→x0− f (x) definiert als

limx↗x0

f (x) := limx→x0

f∣∣D( f )<x0

(x) .♦

Satz 7.4.5.Sei f: D( f ) ⊆ R→ R und sei x0 Häufungspunkt von D( f )<x0 und D( f )>x0.Dann existiert der Grenzwert von f in x0 genau dann, wenn linksseitiger und rechtsseitigerGrenzwert existieren und gleich sind. In diesem Fall gilt

limx→x0

f (x) = limx↗x0

f (x) = limx↘x0

f (x) .

Das folgende Beispiel zeigt, daß es im Mehrdimensionalen nicht genügt, nur die Grenzwer-te entlang von Koordinatenlinien zu betrachten:

limx→x0

f (x,y0) = limy→y0

f (x0,y) = c 6=⇒ lim(x,y)→(x0,y0)

f (x,y) = c.

Beispiel 7.4.6.Wir betrachten die Funktionf : D( f )⊂ R2→ R mit

f (x,y) =xy

x2 +y2 , D( f ) = R2\{(0,0)} .

Es ista= (0,0) ein Häufungspunkt vonD( f ). Wir zeigen, daßf in (0,0) keinen Grenzwerthat.

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7 Stetigkeit

a) Für(xk,yk) := (1k ,0) bzw.(xk,yk) := (0, 1

k) gilt

(xk,yk) 6= (0,0) für allek und limk→∞

(xk,yk) = (0,0)

sowie limk→∞

f (xk,yk) = 0.

b) Für(xk, yk) = (1k ,

1k) gilt auch

(xk, yk) 6= (0,0) für allek und limk→∞

(xk, yk) = (0,0)

aber limk→∞

f (xk, yk) = 12.

Einen gemeinsamen Grenzwerta gibt es also nicht. ♦

Das folgende Beispiel zeigt, daß es auch nicht genügt, nur die Grenzwerte entlang vonStrahlen zu betrachten:

∀(x1,y1) ∈ R2 : limτ→0

f (x0 + τx1,y0 + τy1) = c 6=⇒ lim(x,y)→(x0,y0)

f (x,y) = c.

Beispiel 7.4.7.Wir betrachtenf : R2→ R mit f (x,y) = x2

x2+y4 für x 6= 0, f (0,y) = 0. Wir

untersuchen den Grenzwert vonf in (0,0). Sei(x1,y1) ∈ R2\{(0,0)}. Dann gilt

limτ→0

f (τx1,τy1) = limτ→0

τ2x21

τ2x21 + τ4y4

1

= 1 für x1 6= 0,

limτ→0

f (τx1,τy1) = limτ→0

f (0,τy1) = 1 für x1 = 0.

Andererseits gilt

limτ→0

f (τ2,τ) = lim

τ→0

τ4

τ4 + τ4 =12.

Es existiert also kein Grenzwert vonf in (0,0). Insbesondere istf in (0,0) nicht stetig.♦

Im allgemeinen kann die Existenz eines Grenzwert einer Funktionf an einer Stellea nichtdurch Betrachtung von Folgen gezeigt werden, da dazu die Konvergenz aller entsprechen-den Folgen gegen den gleichen Grenzwert gezeigt werden müßte. Mit Hilfe von Folgenkann man aber den Kandidaten für den Grenzwert erhalten. Es ist dann aber noch zu zei-gen, daß dieser tatsächlich der Grenzwert ist.

Beispiel 7.4.8.Wir betrachtenf : R2→ R mit f (x,y) = x4+y4

x2+y2 für (x,y) 6= (0,0), f (0,0) =

1. Betrachten wir die Folge((1n,0))n>0, so erhalten wir 0 als den Kandidaten für den Grenz-

wert. Wir zeigen, daß 0 tatsächlich Grenzwert vonf in (0,0) ist: Für(x,y) 6= (0,0) gilt

| f (x,y)|= |x4 +y4

x2 +y2 | ≤ |x4 +2x2y2 +y4−2x2y2

x2 +y2 | ≤ (x2 +y2)2 +2x2y2

x2 +y2

≤ 2(x2 +y2)2

x2 +y2 ≤ 2(x2 +y2) = 2‖(x,y)‖2

und damitf (x,y)→ 0 für ‖(x,y)‖→ 0. ♦

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7.4 Grenzwerte von Funktionen

7.4.2 Zusammenhang von Grenzwert und Stetigkeit

Als Folgerung aus Satz7.2.7erhalten wir:

Satz 7.4.9.Sei f: D( f )⊆Rn→Rm und sei x0∈D( f ) ein Häufungspunkt von D( f ). Dannist f in x0 genau dann stetig, wenn f in x0 einen Grenzwert hat und dieser mit dem Funkti-onswert von f an der Stelle x0 übereinstimmt,

limx→x0

f (x0) = f (x0) .

Grenzwerte an Stetigkeitsstellen, die Häufungspunkt des Definitionsbereiches sind, könnenalso einfach als Funktionswert bestimmt werden.

Andererseits gibt uns dieser Satz auch eine Möglichkeit, stetige Funktionen auf Häufungs-punkte außerhalb des Definitionsbereiches stetig fortzusetzen:

Satz 7.4.10 (Stetige Fortsetzung).Sei f: D( f ) ⊆ Rn→ R und sei x0 6∈ D( f ) ein Häu-fungspunkt von D( f ). Existiert der (endliche) Grenzwertlimx→x0 f (x), dann ist die Funkti-on g: D(g)→Rn mit D(g) = D( f )∪{x0} und g(x) = f (x) für x∈D( f ), g(x0) = limx→x0 f (x)stetig.

7.4.3 Rechnen mit Grenzwerten

Zur bequemen Berechnung von Grenzwerten notieren wir wieder einige Rechenregeln, dieaus der Definition und den entsprechenden Regeln für Folgen hergeleitet werden.

Satz 7.4.11 (Rechenregeln für Grenzwerte von Funktionen).Seien f: D( f )⊆Rn→Rm

und g: D(g) ⊆ Rn→ Rm. Sei x0 ein Häufungspunkt von D( f )∩D(g). Weiter nehmen wiran, daß lim

x→x0f (x) und lim

x→x0g(x) (als endliche Grenzwerte) existieren. Dann gilt:

(i) limx→x0

( f (x)±g(x)) = limx→x0

f (x)± limx→x0

g(x).

(ii) limx→x0

( f (x) ·g(x)) = limx→x0

f (x) · limx→x0

g(x), falls m= 1.

(iii) limx→x0

(α · f (x)) = α · limx→x0

f (x) für alle α ∈ R.

(iv) limx→x0

(f (x)g(x)

)=

limx→x0

f (x)

limx→x0

g(x) , falls m= 1 und limx→x0

g(x) 6= 0.

Satz 7.4.12.Seien f: D( f )⊆Rn→R, g: D(g)⊆Rn→R, h: D(h)⊆Rn→R mit D(h)⊆D( f )∩D(g), und sei x0 Häufungspunkt von D(h). Existiert einε > 0 mit

f (x)≤ h(x)≤ g(x)

für alle x∈ D(h) mit |x− x0| < ε, und gilt limx→x0 f (x) = limx→xo g(x) = c, so gilt auchlim

x→x0h(x) = c.

133

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7 Stetigkeit

7.4.4 Anwendungsbeispiele

1. Für jedes Polynomp und jede Stellex0 ∈ R gilt:

limx→x0

p(x) = p(x0) .

Beweis.Regeln (i)–(iii) von Satz7.4.11.

2. Es gilt

limx→2

(x3 +3x+5x2−2x+1

)=

limx→2(x3 +3x+5

)limx→2(x2−2x+1)

=191.

Beweis.1. und Regel (iv).

3. Sei f : D( f )⊂ R→ R mit D( f ) = R\{2} und

f (x) =x2 +x−6

x−2.

Dann gilt wegen der Stetigkeit von Zähler und Nenner inx0 = 4

limx→4

f (x) = limx→4

x2 +x−6x−2

=limx→4(x2 +x−6)

limx→4(x−2)=

142

= 7.

Dagegen kann der Grenzwert limx→2 f (x) nicht in ähnlicher Weise berechnet werden, dalimx→2(x−2) = 0. Sei dazu nun(ξn)n∈N eine beliebige Folge inR\{2}mit limn→∞ ξn = 2.Wegenx2 +x−6 = (x−2)(x+3) gilt dann

limn→∞

f (ξn) = limn→∞

(ξn−2)(ξn +3)ξn−2

= limn→∞

(ξn +3) = 5

und daher

limx→2

f (x) = 5.

Nach Satz7.4.10ist die Funktiong: R→ R mit g(x) = f (x) für x 6= 2 undg(x) = 5 fürx = 2 die stetige Fortsetzung vonf aufR. Beachte, daßg(x) = x+3 für x∈ R.

4. Es gilt

limx→0

sinxx

= 1 = limx→0

xsinx

,

(womit g : R→ R mit g(x) = sinxx für x 6= 0 undg(0) = 1 nach Satz7.4.10stetig ist).

134

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7.4 Grenzwerte von Funktionen

Beweis.Gemäß der Skizze

10 cosx

sinx

tanx

gilt bei Betrachtung der Flächeninhalte folgender Zusammenhang:

12

sinxcosx≤ x2π

π ≤ 12

tanx ⇐⇒ cosx≤ xsinx

≤ 1cosx

.

Mit Satz7.4.12schließen wir aus

limx→0

cosx = 1 und limx→0

1cosx

= 1

auf

limx→0

xsinx

= 1 = limx→0

sinxx.

5. Die Funktion f : D( f ) ⊂ R→ R mit D( f ) = R \ {0} und f (x) = sin1x ist stetig. Der

Grenzwert in 0 existiert aber nicht: Seien z.B.(ξn)n∈N und (ηn)n∈N mit ξn = 1(2n+ 1

2)πund

ηn = 1(2n− 1

2)π. Dann gilt f (ξn) = 1 und f (ηn) =−1 für n∈ N und daher

1 = limn→∞

f (ξn) 6= limn→∞

f (ηn) =−1.

Die Funktion f kann daher nicht in 0 stetig fortgesetzt werden.

6. Es gilt

limx→0

cosx−1x

= 0.

Beweis.Es gilt

cosx−1x

=(cosx−1)(cosx+1)

x(cosx+1)=

cos2x−1x(cosx+1)

=− sin2xx(cosx+1)

=−sinxx· 1cosx+1

·sinx .

Mit 4. und den Rechenregeln folgt limx→0

cosx−1x

= 0.

135

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7 Stetigkeit

7. Es gilt

limx→0

√x+1−1

x=

12.

Beweis.Es gilt√

x+1−1x

=

(√x+1

)2−12

x(√

x+1+1) =

1√x+1+1

,

und damit limx→0

√x+1−1

x=

12

.

8. Es gilt

limx→0

(√x+1−1

)sinx

x2(x−5)2 = limx→0

√x+1−1

x· sinx

x· 1

(x−5)2 =150.

7.4.5 Uneigentliche Grenzwerte und Grenzwerte im Unendlichen

Sei f (x) = 1|x| aufD( f ) = R\{0}. Dann istx0 = 0 ein Häufungspunkt vonD( f ). Für diese

Funktion gilt:

∀ε > 0∃δ > 0∀x∈ D( f ) mit |x−x0|< δ : f (x)≥ ε .

Definition 7.4.13. Sei f : D( f ) ⊆ R→ R eine Funktion,x0 ein Häufungspunkt vonD( f ).Man sagt, die Funktionf hat beix0 den(uneigentlichen) Grenzwert+∞, wenn

∀ε > 0∃δ > 0∀x∈ D( f )\{x0} mit |x−x0|< δ : f (x)≥ ε .

Analog definiert man den Grenzwert−∞ sowie die links- und rechtseitigen uneigentlichenGrenzwerte. ♦

Bezeichnung:Man schreibt limx0 f = +∞ oder limx→x0 f (x) = +∞ bzw. limx0 f =−∞ oderlimx→x0 f (x) =−∞.

In Verallgemeinerung von Satz7.4.5gilt:

Satz 7.4.14.Sei f: D( f ) ⊆ R→ R und sei x0 Häufungspunkt von D( f )<x0 und D( f )>x0.Dann hat f den uneigentliche Grenzwert+∞ (bzw.−∞) in x0 genau dann, wenn f dielinksseitigen und rechtsseitigen uneigentlichen Grenzwerte+∞ (bzw.−∞) besitzt.

136

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7.4 Grenzwerte von Funktionen

Beispiel 7.4.15.Es gilt

limx↘0

1x

= ∞ und limx↗0

1x

=−∞ .♦

Sei nun f (x) = 5x−3x auf D( f ) = R \ {0}. Uns interessiert das Verhalten vonf bei immer

größer werdendenx. Für diese Funktion gilt:

∀ε > 0∃δ > 0∀x∈ D( f ) mit x> δ : | f (x)−5|< ε

und∀ε > 0∃δ > 0∀x∈ D( f ) mit x<−δ : | f (x)−5|< ε .

Definition 7.4.16. Sei f : D( f ) ⊆ R→ R eine Funktion,E := {1/x : x ∈ D( f )∩ ]0,∞[}undg : E→ R mit g(t) = f (1/t) für t ∈ E. Wenn 0 Häufungspunkt vonE und wenn der(eigentliche oder uneigentliche) Grenzwert limt→0g(t) existiert, dann nennt man lim0g den(eigentlichen oder uneigentlichen) Grenzwertvon f in +∞:

limx→+∞

f (x) := limt↘0

g(t) = limt↘0

f (1/t) mit g(t) = f (1/t) .

Analog wird limx→−∞ f (x) definiert. ♦

Bemerkung 7.4.17.Mit den eigentlichen Grenzwerten (d.h. endlichen Grenzwerten) vonf in −∞ oder−∞ kann man so rechnen, wie in reellen Stellen (d.h. entsprechend Satz7.4.11). ♦

Beispiel 7.4.18.1. Sei f : R→ R mit f (x) = x−1|x|+1. Da x−1

|x|+1 = 1−1/x1+1/x für x> 0 und da

limx→∞(1−1/x)limx→∞(1+1/x)

=11

= 1,

gilt

limx→∞

x−1|x|+1

=limx→∞(1−1/x)limx→∞(1+1/x)

= 1.

Andererseits giltx−1|x|+1 = 1−1/x

−1+1/x für x< 0 und

limx→−∞(1−1/x)limx→−∞(−1+1/x)

=1−1

=−1,

womit

limx→∞

x−1|x|+1

=limx→∞(1−1/x)

limx→∞(−1+1/x)=−1.

137

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7 Stetigkeit

2. Es gilt

limx→∞

x2−42x

= limx→∞

(12

x− 2x

)= lim

t↘0

(12· 1

t− 2

1/t

)= ∞ .

3. Es gilt

limx→∞

√x = lim

t↘0

1√t

= +∞ .

4. Es seip(x) = ∑ni=0aixi mit an 6= 0. Dann gilt

limx→∞

p(x) =

{+∞ , wennan > 0,

−∞ , wennan < 0

und

limx→−∞

p(x) =

{limx→∞ p(x) , wennn gerade ist,

− limx→∞ p(x) , wennn ungerade ist. ♦

7.4.6 Die erweiterten reellen Zahlen

Wir erweitern nun die Rechenregeln von Satz7.4.11auf die uneigentlichen Grenzwerte+∞und−∞.

Zur Verkürzung der Schreibweise schreiben wir zum Beispiel

F +G = H

und meinen damit:

Wenn f undg so sind, daß limx0 f = F , lim gx0 = G , dann giltF +G = limx0( f +g) = H.

Insgesamt haben wir dann folgende Regeln:

1. (+∞)+(+∞) = (+∞)− (−∞) = (+∞)+c = c+(+∞) = +∞ für c∈ R.

2. (−∞)+(−∞) = (−∞)− (+∞) = (−∞)+c = c+(−∞) =−∞ für c∈ R.

3. (+∞) · (+∞) = (−∞) · (−∞) = (+∞) · c = c · (+∞) = (−∞) · d = d · (−∞) = +∞ fürc∈ R>0 undd ∈ R<0.

4. (+∞) · (−∞) = (−∞) · (+∞) = (−∞) · c = c · (−∞) = (+∞) · d = d · (+∞) = −∞ fürc∈ R>0 undd ∈ R<0.

5. c±∞ = 0 für c∈ R.

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7.4 Grenzwerte von Funktionen

Beispiel 7.4.19.Seienp(x) = ∑mi=0aixi undq(x) = ∑n

i=0bixi mit am 6= 0 undbn 6= 0.

Wennm> n, dann gilt

p(x)q(x)

= ∑mi=0aixi

∑ni=0bixi =

∑mi=naixi−n + ∑n−1

i=0 aixi−n

bn + ∑n−1i=0 bixi−n

.

Damit gilt

limx→∞

p(x)q(x)

=

{+∞ , wenn sgn(am) = sgn(bn) ,−∞ , wenn sgn(am) =−sgn(bn) .

Weiter haben wir

limx→−∞

p(x)q(x)

=

{limx→∞

p(x)q(x) für geradesm−n,

− limx→∞p(x)q(x) für ungeradesm−n.

Wennm= n, dann gilt

p(x)q(x)

= ∑mi=0aixi

∑ni=0bixi =

am+ ∑m−1i=0 aixi−m

bm+ ∑m−1i=0 bixi−m

und damit

limx→∞

p(x)q(x)

= limx→−∞

p(x)q(x)

=am

bm.

Wennm< n, dann gilt

limx→∞

p(x)q(x)

= limx→−∞

p(x)q(x)

= 0.

Offen bleiben(+∞)−(+∞), (−∞)−(−∞), ±∞±∞ , ±∞

∓∞ , 0·(+∞), 0·(−∞) und Grenzwerte derForm 0

0, +∞0 , −∞

0 . Hier müssen entsprechende Grenzwertuntersuchungen für die konkretenFunktionen durchgeführt werden. Dies werden wir später mit Hilfe der Differentialrech-nung durchführen (de l’Hospitalsche Regel).

7.4.7 Die Landau-Symbole

Definition 7.4.20. Seien f : D( f ) ⊆ R→ R, g: D(g) ⊆ R→ R, x0 Häufungspunkt vonD( f )⊆ D(g). Die Funktion f heißtunendlich kleinbezüglichg in x0, wenn

∀ε > 0∃δ > 0∀x∈ D( f ) : (|x−x0|< δ =⇒ | f (x)| ≤ ε|g(x)|) . (7.4.1)♦

139

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7 Stetigkeit

Man schreibt dafür nicht ganz korrekt

f (x) = o(g(x)) für x→ x0 (7.4.2)

und liest „f (x) ist klein o vong(x) für x→ x0“.

Bemerkung 7.4.21.1. Existiert einδ0 > 0 mit g(x) 6= 0 für x ∈ D( f ) mit |x− x0| < δ0,dann bedeutetf (x) = o(g(x)) für x→ x0, daß

limx→x0

| f (x)||g(x)|

= 0,

d.h., daßf schneller alsg gegen0 geht für x→ x0.

2. Die Symbolik f (x) = o(g(x)) für x→ ∞ oder x→ −∞ ist in unserer Definition mitenthalten.

3. Das Gleichheitszeichen inf (x) = o(g(x)) ist keine Gleichheitsrelation: Es giltx3 = o(x)undx3 = o(x2) für x→ 0 abero(x) 6= o(x2).

4. Anstelle (7.4.2) wäre „f ∈ o(g,x0)“ mit o(g,x0) als Menge allerf : D ⊆ R→ R mit(7.4.1) richtig. ♦

Beispiel 7.4.22.1. Seienµ,ν ∈ R mit µ < ν undx0 ∈ R>0. Dann gelten

xν = o(xµ) für x→ 0, (x−x0)ν = o((x−x0)µ) für x→ x0, xµ = o(xν) für x→ ∞ .

Der Nachweis ergibt sich aus den bekannten Grenzwerten

limx→0

xµ= lim

x→0xν−µ = 0, lim

x→x0(x−x0)ν−µ = 0, lim

x→∞

xν= lim

x→∞x−(ν−µ) = 0.

2. Es gilt sinx−x = o(x) für x→ 0 und cosx−1+ 12x2 = o(x2) für x→ 0. Man verwende

dazu

limx→0

sinxx

= 1, limx→0

1−cosxx2 = lim

x→0

2sin2(x/2)x2 =

12

limx→0

sin2(x/2)x2/4

=12.

3. Sei f : D( f ) ⊆ R→ R stetig im Häufungspunktx0 von D( f ) und seiT fx0,0

: R→ R das

Polynom nullten Grades mitT fx0,0

(x) := f (x0) für x ∈ R. Für den Fehler vonT fx0,0

(x) imVergleich zuf (x) beix0 gilt

f (x)−T fx0,0

(x) = o(|x−x0|0) für x→ x0 .

T fx0,0

ist in diesem Sinne eineApproximation nullten Grades von f in x0. ♦

Frage: Wann gibt es eineApproximation k-ten Grades von f in x0,

f (x)−T fx0,k

(x) = o(|x−x0|k) für x→ x0 ,

durch ein PolynomT fx0,k

?

140

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8 Differentialrechnung

8.1 Differenzierbare Funktionen einer Variablen

8.1.1 Tangenten, Ableitungen und lineare Approximation

Wir setzen uns zum Ziel, zu einer gegebenen Funk-tion f : D( f ) ⊆ R → R und einer gegebenen Stellex0∈D( f ) eine Gerade zu berechnen, die folgende For-derungen erfüllt:1. Die Gerade geht durch den Punkt(x0, f (x0)).2. An der Stellex= x0 verlaufen Gerade und der Graphder Funktion „lokal parallel“.Eine solche Gerade nennen wirTangente an den Gra-phen von f im Punkt x0. x

y

x0

f(x0)

f

Eine Gerade ist Graph eines PolynomsT ersten Grades. Mit der ersten Bedingung erhaltenwir

T(x) = f (x0)+a· (x−x0) .

Wir präzisieren die Parallelität von Tangente und Graph in dem Sinne, daß der Fehler vonT(x) im Vergleich zu f (x) schneller als linear gegen 0 gehen sollte fürx→ x0, d.h., wirsuchen eine Zahla mit

f (x)−T(x) = o(|x−x0|1) , d.h., f (x) = f (x0)+a· (x−x0)+o(|x−x0|1) .

Zur Bestimmung des Anstiegesa der Tangente betrachten wir neben der Stellex0 nochStellenx0 +∆x∈D( f ). Durch(x0, f (x0)) und(x0 +∆x0, f (x0 +∆x0)) verläuft wieder eineGerade, die so genannteSekante zum Graphen vonf durch diese beiden Punkte.

Diese Sekante ist Graph der Funktion

S: R→ R , S(x) = f (x0)+A(∆x) · (x−x0) ,

wobei

A(∆x) =f (x0 + ∆x)− f (x0)

∆x

der Anstieg der Sekante ist. x

y

f(x0)=T (x0)

f(x0+∆x)

T (x0+∆x)

x0 x0 + ∆x

f

T

α β

∆x

141

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8 Differentialrechnung

Anschaulich strebt nun der AnstiegA(∆x) der Sekante bei immer kleiner werdender Größe∆x gegen den Anstiega der gesuchten Tangente. Damit wäre

a = lim∆x→0

f (x0 + ∆x)− f (x0)∆x

ein sinnvoller Kandidat für den Anstieg der Tangenten an den Graphen vonf durchx0, fallsder Grenzwert existiert (und endlich ist).

Definition 8.1.1. Sei f : D( f )⊆R→R. Wennx0 ∈D( f ) ein Häufungspunkt vonD( f ) istund wenn der Grenzwert

f ′(x0) := limx→x0

f (x)− f (x0)x−x0

= lim∆x→0

f (x0 + ∆x)− f (x0)∆x

existiert, so heißtf differenzierbar in x0 und wir nennenf ′(x0) die Ableitung von f ander Stellex0. ♦

Bezeichnungen:

f ′(x0) = D f (x0) = d f (x0) =d f (x)

dx

∣∣x=x0

=d fdx

(x0) =d f (x0)

dx.

Bemerkung 8.1.2.Die drei letzten Bezeichnungen sind mißverständlich und sollten daherweitgehend vermieden werden: Es gibt nur eine Ableitung einer Funktionf an einer Stellex0. Wie das Argument der Funktion bezeichnet wird, ist unerheblich:

d f (x)dx

∣∣x=x0

=d f (y)

dy

∣∣y=x0

. ♦

Zusammengefaßt haben wir damit graphT mit

T(x) = f (x0)+ f ′(x0) · (x−x0)

als Kandidaten für die Tangente, fallsf ′(x0) existiert.

Betrachten wir nun den Fehlerr(x) zwischenf (x) undT(x). Es gilt

r(x) = f (x)−T(x) = f (x)− f (x0)− f ′(x0) · (x−x0)

und daher

limx→x0

r(x)x−x0

= limx→x0

f (x)− f (x0)− f ′(x0) · (x−x0)x−x0

= limx→x0

f (x)− f (x0)x−x0

− f ′(x0) = 0,

d.h.,r(x) = o(|x−x0|) für x→ x0. Damit gilt tatsächlich

f (x) = f (x0)+ f ′(x0) · (x−x0)+o(|x−x0|) für x→ x0 . (8.1.1)

142

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8.1 Differenzierbare Funktionen einer Variablen

Folglich istT fx0,1

: R→ R mit

T fx0,1

(x) := f (x0)+ f ′(x0) · (x−x0)

tatsächlich eineApproximation ersten Grades von f in x0 durch ein Polynom ersten Gra-des, d.h., einelineare Approximation von f in x0, und graphT f

x0,1ist eine Tangente an den

Graphen vonf in x0.

Durch{(x, f (x0)+ f ′(x0) · (x−x0)) : x∈ R}

ist somit die Tangente an den Graph vonf in x0 gegeben, fallsf ′(x0) existiert.

Bemerkung 8.1.3.1. Die Ableitung f ′(x0) von f in x0 ist, falls sie existiert, eindeutig.

2. Es gibt höchstens eine lineare ApproximationT(x) = f (x0)+a· (x−x0) von f in x0.

3. Eine lineare ApproximationT(x) = f (x0) +a · (x−x0) von f in x0 existiert genau dann,wenn f in x0 differenzierbar ist. Die Zahlena bzw. f ′(x0) sind eindeutig durch

a = f ′(x0)

bestimmt. Die Ableitungf ′(x0) ist daher dieLinearisierung von f in x0.

4. Falls lim∆x→0f (x+∆x)− f (x0)

∆x = ∞ oder lim∆x→0f (x0+∆x)− f (x0)

∆x =−∞, dann istf zwar inx0

nicht differenzierbar, wir haben aber in diesem Fall eine vertikale Tangente an den Graphenvon f in x0.

5. Wie zuvor bei den Grenzwerten kann man auch links- und rechtsseitige AbleitungenD− und D+ bilden. Diese liefern links- bzw. rechtsseitige Tangenten. Die Existenz vonlinks- und rechtseitiger Ableitung und ihre Gleichheit sind äquivalent zur Existenz der Ab-leitung. ♦

Beispiel 8.1.4.Wir untersuchenf (x) = |x| an der Stellex0 = 0:

D+ f (x0) = lim∆x↘0

|0+ ∆x|− |0|∆x

= lim∆x↘0

∆x∆x

= 1,

D− f (x0) = lim∆x↗0

|0+ ∆x|− |0|∆x

= lim∆↗0

−∆x∆x

=−1.

f hat im Punktex0 linksseitig und rechtsseitig verschiedene „Ableitungen“ (Steigungen):

x

y

-3 -2 -1 1 2 3

1

2

143

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8 Differentialrechnung

8.1.2 Ableitungen spezieller Potenzfunktionen

1. Für f : R→ R mit f (x) = x0 = 1 undx0 ∈ R finden wir

f ′(x0) = lim∆x→0

f (x0 + ∆x)− f (x0)∆x

= lim∆x→0

1−1∆x

= 0.

2. Für f : R→ R mit f (x) = x1 = x undx0 ∈ R finden wir

f ′(x0) = lim∆x→0

f (x0 + ∆x)− f (x0)∆x

= lim∆x→0

x0 + ∆x−x0

∆x= 1.

3. Für f : R→ R mit f (x) = xn mit n≥ 2 undx0 ∈ R finden wir

f ′(x0) = lim∆x→0

(x0 + ∆x)n−xn0

∆x

= lim∆x→0

xn0 +nxn−1

0 ∆x+(n

2

)xn−2

0 ∆x2 + . . .+ ∆xn−xn0

∆x

= lim∆x→0

(nxn−1

0 +(

n2

)xn−2

0 ∆x+ . . .+ ∆xn−1)

= nxn−10 .

4. Für f : R≥0→ R mit f (x) =√

x undx0 > 0 finden wir

f ′(x0) = lim∆x→0

√x0 + ∆x−√x0

x0 + ∆x−x0= lim

∆x→0

1√x0 + ∆x+

√x0

=1

2√

x0.

Wir fassen zusammen:ddx

xn = nxn−1 (n≥ 0) ,

ddx

√x =

12√

x(x> 0) .

Mit der gerade gewonnenen Ableitung für die Wurzelfunktion, zeigen wir nun an einemBeispiel, wie gut die Tangente ( = lineare Approximation) die Funktionf in der Nähe derStellex0 annähert.

Beispiel 8.1.5.Wir betrachtenf (x) =√

x an der Stellex0 = 1.96. Es istf ′(x0) = 12√

x0=

12·1.4 = 1

2.8, daher

T f1.96,1(x) = 1.4+

12.8

(x−1.96) .

Wir vergleichen fürx = 2 die Werte vonf (2) undT f1.96,1(2):

f (2) =√

2 = 1.41421356. . . ,

T f1.96,1(2) = 1.4+

12.8

(2−1.96) = 1.414286. . . . ♦

144

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8.1 Differenzierbare Funktionen einer Variablen

8.1.3 Ableitung der Kreisfunktionen

Wir geben hier die Ableitungen der Kreisfunktionen an:

sin′(x) = cos(x) ,cos′(x) =−sin(x) ,

tan′(x) =1

cos2x(x 6= kπ +

π

2, k∈ Z) ,

cot′(x) =− 1

sin2x(x 6= kπ, k∈ Z) .

Begründung für die Ableitung von sin:

lim∆x→0

sin(x+ ∆x)−sinx∆x

= lim∆x→0

sinxcos∆x+cosxsin∆x−sinx∆x

= sinx lim∆x→0

cos∆x−1∆x

+ cosx lim∆x→0

sin∆x∆x

= 0·sinx+1·cosx .

Ableitungen weiterer Funktionen finden Sie in einer Formelsammlung oder mit Hilfe derspäteren Rechenregeln.

8.1.4 Rechenregeln

Wir wiederholen die aus der Schule bekannten Rechenregeln, welche die Berechnung vonAbleitungen erleichtern.

Satz 8.1.6.Es seien f: D( f ) ⊆ R→ R und g: D(g) ⊆ R→ R zwei Funktionen und x∈D( f )∩D(g) Häufungspunkt von D( f )∩D(g). Wenn f und g in x differenzierbar sind, danngilt:

(α f + βg)′(x) = α f ′(x)+ βg′(x) für alle α,β ∈ R (8.1.2)

( f ·g)′(x) = f ′(x)g(x)+ f (x)g′(x) (Produktregel) (8.1.3)(1g

)′(x) =− g′(x)

(g(x))2 , falls g(x) 6= 0 (8.1.4)

Folgerung 8.1.7.Es seien f: D( f )⊆ R→ R und g: D(g)⊆ R→ R zwei Funktionen undx∈D( f )∩D(g) Häufungspunkt von D( f )∩D(g) mit g(x) 6= 0. Wenn f und g in x differen-zierbar sind, dann gilt(

fg

)′(x) =

f ′(x)g(x)− f (x)g′(x)

(g(x))2 . (Quotientenregel)

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8 Differentialrechnung

Beweis.Folgt direkt aus den Rechenregeln (8.1.3) und (8.1.4).

Mit Hilfe dieser Regeln können wir nun beliebige rationale Funktionen ableiten.

Beispiel 8.1.8.

1. Für f (x) = 3x3−4x2 +2x−1 undx∈ R gilt

f ′(x) = 3·3x2−4·2x+2·1 = 9x2−8x+2.

2. Für f (x) =x3−x1+x2 undx∈ R gilt

f ′(x) =

(3x2−1

)(1+x2

)−(x3−x

)(0+2x)

(1+x2)2 =3x2 +3x4−1−x2−2x4 +2x2

(1+x2)2

=x4 +4x2−1

(1+x2)2 . ♦

8.1.5 Die Kettenregel

Eine weitere Rechenregel gibt uns Auskunft darüber, wie verkettetete Funktionen abzulei-ten sind.

Satz 8.1.9.Es seien f: D( f ) ⊆ R→ R und g: D(g) ⊆ R→ R zwei Funktionen und x∈D(g◦ f ) = f−1(D(g)) Häufungspunkt von D(g◦ f ). Wenn f in x und g in f(x) differenzier-bar sind, dann gilt:

(g◦ f )′(x) = g′( f (x)) f ′(x) . (Kettenregel)

Die Ableitung einer verketteten Funktion ist also „äußere Ableitung mal innere Ableitung“.

Beispiel 8.1.10.Wir können f (x) =(3x2−4

)2auf drei verschiedene Arten ableiten.

1. Ausmultiplizieren:f (x) =(3x2−4

)2 = 9x4−24x2 +16 und damitf ′(x) = 36x3−48x.

2. Produktregel:f (x) =(3x2−4

)(3x2−4

)und damit

f ′(x) = 6x(3x2−4)+(3x2−4)6x

= 12x(3x2−4) = 36x3−48x .

3. Kettenregel:

f ′(x) = 2· (3x2−4) · (6x) = 12x(3x2−4) = 36x3−48x . ♦

146

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8.1 Differenzierbare Funktionen einer Variablen

Die Kettenregel kann auch bei mehrfacher Schachtelung angewendet werden:

Beispiel 8.1.11.Sei f : ]2,∞[→ R mit f (x) =√

(x2−2x)3 für x> 2 gegeben.f ist Ver-kettung dreier Funktionen:

f = f3◦ f2◦ f1

mit

f1 : R→ R , f1(x) = x2−2x ,

f2 : R→ R , f2(x) = x3 ,

f3 : R≥0→ R , f3(x) =√

x .

Entsprechend gilt für die Ableitung

f ′(x) = f ′3( f2( f1(x))) · f ′2( f1(x)) · f ′1(x)

=1

2√

(x2−2x)3·3(x2−2x

)2 · (2x−2)

= 3(x−1)x2−2x√x2−2x

= 3(x−1)√

x2−2x . ♦

8.1.6 Höhere Ableitungen von Funktionen einer Variablen

Sei f : D( f ) ⊆ R→ R. Wir fragen nun wieder nach der Differenzierbarkeit vonf ′, wobeidie Ableitungen höherer Ordnung rekursiv definiert werden:

Definition 8.1.12. Wir setzen f (0) := f , f (1) := f ′ mit D( f (0)) := D( f ) und D( f (1)) =D( f ′). Sei nun f (k−1) : D( f (k−1)) ⊆ R → R definiert mit k ≥ 2. Dann heißef k-maldifferenzierbar in x0, wenn f (k−1) in x0 differenzierbar ist. Die Funktionf (k) : D( f (k)) ⊆R→ R mit

f (k)(x) :=(

f (k−1))′

(x) für x∈ D( f (k))

undD( f (k)) := {x0 ∈ D( f (k−1) : f (k−1) ist in x0 differenzierbar}

heißtk-te Ableitungsfunktion von f . Die Funktion f heißtk-mal stetig differenzierbarin x0, wenn diek-te Ableitung existiert und stetig inx0 ist. Sie heißtk-mal (stetig) diffe-renzierbar, wenn diek-te Ableitung existiert mitD( f (k)) = D( f ) (und f (k) stetig ist).

Die Menge der stetigen Funktionenf : D⊆R→R wird mit C0(D) bezeichnet. Die Mengederk-mal stetig differenzierbaren Funktionenf : D ⊆ R→ R wird mit Ck(D) bezeichnet.Die Menge der beliebig oft stetig differenzierbaren Funktionenf : D ⊆ R→ R wird mitC∞(D) bezeichnet. ♦

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8 Differentialrechnung

Es giltC∞(D) =

⋂k∈N

Ck(D) .

Bemerkung 8.1.13.1. Dafür das eine Funktionf k-mal differenzierbar inx0 ist, ist not-wendig, daßf (k−1) auch in der Nähe vonx0 definiert ist (x0 muß Element und Häufungs-punkt vonD( f (k−1)) sein!) und inx0 stetig ist.

2. Häufig wird die Differenzierbarkeit nur auf offenen Intervallen betrachtet. Nicht immerist aber der DefinitionsbereichD( f ) einer Funktionf oder der DefinitionsbereichD( f ′)ihrer Ableitung ein offenes Intervall.

3. Zur Berechnung höherer Ableitungen braucht man die Werte der niederen Ableitungennicht nur inx0 sondern auch in der Nähe vonx0.

4. Man unterscheide zwischen

( f ′(x0))′ = 0 (Ableitung der Zahlf ′(x0)) ,und ( f ′)′(x0) = f ′′(x0) (Ableitung der Funktionf ′ in x0) .

5. Anstelle f (2), f (3) wird auch f ′′, f ′′′ verwendet. ♦

Beispiel 8.1.14.Polynome sind auf ganzR beliebig oft (stetig) differenzierbar. Zum Bei-spiel gilt

f (x) = 3x4−2x+1,

f ′(x) = 12x3−2,

f ′′(x) = 36x2 ,

f ′′′(x) = 72x ,

f (4)(x) = 72,

f (5)(x) = 0,

f (6)(x) = 0 usw. ♦

Zur Berechnung höherer Ableitungen ist der folgende Satz hilfreich:

Folgerung 8.1.15.Es seien f: ]a,b[ ⊆ R→ R und g: ]a,b[ ⊆ R→ R k-mal in x0 ∈ ]a,b[differenzierbar. Dann gilt

( f g)(k) (x) =k

∑i=0

(ki

)f (i)(x)g(k−i)(x) . (Leibnitzsche Produktregel)

Beweis.Folgt aus der Produktregel (8.1.3) und vollständiger Induktion.

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8.2 Differenzierbare Funktionen mehrerer Variablen

8.2 Differenzierbare Funktionen mehrerer Variablen

8.2.1 Ableitungsbegriff

Wir hatten schon erkannt, daß eine Funktionf : D( f ) ⊆ R→ R im Häufungspunktx0 ∈D( f ) von D( f ) differenzierbar ist, genau dann, wennf in x0 linear approximierbar ist: Esgilt

limx→x0

f (x0 +h)− f (x0)h

= a (8.2.1)

genau dann, wenn

f (x0 +h) = f (x0)+a·h+R(h) für h∈ R mit x0 +h∈ D( f ) (8.2.2)

mit

limh→0

R(h)|h|

= 0. (8.2.3)

Die Zahla hieß dabei die Ableitung vonf in x0, a = f ′(x0).

Wir wollen nun den Ableitungsbegriff auf Funktionenf : D( f )⊆ Rn→ Rm mit n≥ 1 oderm≥ 1 verallgemeinern, so daß möglichst viele der Eigenschaften der Ableitung von skala-ren Funktionen einer Variablen dabei erhalten bleiben.

Was sind die wesentlichen Eigenschaften der Ableitung? Lineare Approximation und ge-wisse Rechenregeln (Linearität, Kettenregel) sind wichtige, erhaltenswerte Eigenschaftender Ableitung.

Die formale Übertragung der Formel (8.2.1) gelingt nicht, da wir nicht durchh teilen kön-nen, wennh∈ Rn mit n> 1. Die lineare Approximierbarkeit (8.2.2), (8.2.3) ist aber über-tragbar:

Definition 8.2.1. Die Abbildung f : D( f )⊆Rn→Rm heißtdifferenzierbar in x0 ∈D( f ),wennx0 innerer Punktvon D( f ) ist und wenn eine lineare AbbildungA: Rn→ Rm undeine AbbildungR: Rn→ Rm existieren mit

f (x0 +h) = f (x0)+A(h)+R(h) für x0 +h∈ D( f )

mit

limh→0

‖R(h)‖‖h‖

= 0.♦

Bemerkung 8.2.2.1. Vielfach wird vorausgesetzt, daßD( f ) offen ist: WennD( f ) offenist, dann ist jeder Punktx0 ∈ D( f ) innerer Punkt vonD( f ).

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8 Differentialrechnung

2. Die lineare AbbildungA hängt von der Stellex0 ab und ist eindeutig festgelegt. Sie heißt(Fréchet-)Ableitung oder(Fréchet-)Differential von f in x0 und wird mit

∂ f (x0) , d f (x0) , D f (x0) oder f ′(x0)

bezeichnet.

3. SeiD( f ′) die Menge allerx0∈D( f ) für die∂ f (x0) existiert. Dann ist durchf ′ : D( f ′)→L(Rn,Rm) mit f ′(x0) = ∂ f (x0) eine Abbildung vonD( f ′) in L(Rn,Rm) gegeben. DieseAbbildung heißtAbleitung(sabbildung) von f .

4. Die Ableitung f ′(x0) wird als lineare Abbildung vonRn nachRm durch eine (von dengewählten Basen abhängige)m×n-Matrix dargestellt. Mitε als den Standardbasen inRn

undRm gilt alsof ′(x0)(h) = [ f ′(x0)]ε,ε ·h.

Fürm= n= 1 ist [ f ′(x0)]ε,ε eine Zahl. Fürn> 1 oderm> 1 werden wir später diese Matrixbestimmen.

5. Um den Unterschied zur später eingeführten partiellen Differenzierbarkeit zu betonen,spricht man auch vontotaler Differenzierbarkeit , totaler Ableitung und totalem Diffe-rential . ♦

Beispiel 8.2.3.1. Wir betrachtenf : Rn→ R mit f (x) = 〈x,x〉. Gesucht ist die Ableitungf ′(x0) an einer Stellex0 ∈ Rn.

Es gilt

f (x0 +h)− f (x0) = 〈x0 +h,x0 +h〉−〈x0,x0〉= 〈x0,x0〉+2〈x0,h〉+ 〈h,h〉−〈x0,x0〉= 2〈x0,h〉+ 〈h,h〉

für h∈ Rn. Die AbbildungA: Rn→ R mit A(h) = 2〈x0,h〉 ist linear. Der RestR: Rn→ Rmit R(h) = 〈h,h〉 erfüllt 0≤ |R(h)|

‖h‖ = ‖h‖2‖h‖ = ‖h‖→ 0 für h→ 0. Damit gilt

f ′(x0)(h) = 2〈x0,h〉 für h∈ Rn .

2. SeiL : Rn→Rm eine lineare Abbildung. Gesucht ist die AbleitungL′(x0) an einer Stellex0 ∈ Rn.

Es giltL(x0 +h)−L(x0) = L(h) für h∈ Rn .

Damit folgtL′(x0) = L ,

d.h., die Ableitung einer linearen AbbildungL an einer Stellex0 ist wieder die lineareAbbildungL. ♦

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8.2 Differenzierbare Funktionen mehrerer Variablen

Definition 8.2.4. Die Abbildung f : D( f ) ⊆ Rn → Rm heißt differenzierbar auf M ⊆D( f ), wenn f in jedem Punktx0 ∈ M differenzierbar ist. f heißtdifferenzierbar , wennf aufD( f ) differenzierbar ist.

Wenn f differenzierbar ist, dann istx0 7→ f ′(x0) eine Abbildung vonD( f ) in L(Rn,Rm),die mit f ′ bezeichnet wird (Ableitungsabbildung). ♦

Zu klärende Fragen:1. Durch welche Matrixf (x0) = [ f (x0)]ε,ε (mit ε als den Standardbasen inRn und Rm)wird f ′(x0) repräsentiert?2. Welche Eigenschaften haben differenzierbare Funktionen?3. Wozu kann die Ableitung angewendet werden?

8.2.2 Differenzierbarkeit und Stetigkeit

Satz 8.2.5.Wenn f: D( f ) ⊆ Rn→ Rm in x0 ∈ D( f ) differenzierbar ist, dann ist f in x0stetig. Ist f differenzierbar, so ist f stetig.

Beweis.Wenn f differenzierbar inx0 ist, gilt

f (x) = f (x0)+ f ′(x0)(x−x0)+ r(x) mitr(x)‖x−x0‖

→ 0 für x→ x0 .

Hieraus liest man die Konvergenzf (x)→ f (x0) für x→ x0 ab.

Bemerkung 8.2.6.1. Eine in einem inneren Punktx0 von D( f ) stetige Funktion muß dortnicht differenzierbar sein. (Betrachte zum Beispiel die Betragsfunktion in 0).

2. Es gibt stetige, auf einem Intervall definierte Funktionen, die nirgends differenzierbarsind. ♦

8.2.3 Algebraische Eigenschaften der Ableitung

Ähnlich zum skalaren Fall gilt:

Satz 8.2.7 (Rechenregeln).Seien f,g: D⊆Rn→Rm im inneren Punkt x0 von D differen-zierbar. Dann gilt:

1. (α f + βg)′(x0) = α f ′(x0)+ βg′(x0) für α,β ∈ R (Linearität);

2. ( f g)′(x0) = g(x0) f ′(x0)+ f (x0)g′(x0), wenn m= 1 (Produktregel);

3.

(fg

)′(x0) =

g(x0) f ′(x0)− f (x0)g′(x0)g(x0)2 , wenn m= 1 und g(x) 6= 0 in einer Umgebung

von x0 (Quotientenregel).

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8 Differentialrechnung

Beweis.Zu 1. Es gilt

f (x0 +h) = f (x0)+ f ′(x0)(h)+R1(h) , g(x0 +h) = g(x0)+g′(x0)(h)+R2(h)

für x0 +h∈ D mit ‖Ri(h)‖‖h‖ → 0 für h→ 0. Damit gilt

(α f + βg)(x0 +h) = (α f + βg)(x0)+ [α f ′(x0)+ βg′(x0)](h)+R(h)

für x0 +h∈ D mit R(h) = R1(h)+R(h) und ‖R(h)‖‖h‖ → 0 für h→ 0.

Zu 2. und 3.: Ähnlicher, aber etwas komplizierterer Beweis.

Es gilt auch eine Verallgemeinerung der Kettenregel, welche wir aber erst später betrachtenwerden.

8.2.4 Differenzierbarkeit von Koordinatenfunktionen

Satz 8.2.8.Sei f: D( f )⊆ Rn→ Rm mit den Koordinatenfunktionen fi : D( f )⊆ Rn→ R,

f (x) =m

∑i=1

f i(x)ei (x∈ D( f )) .

Sei x0 ∈ D( f ) innerer Punkt von D( f ). Dann gilt

f ist differenzierbar in x0 ⇐⇒ alle f i sind differenzierbar in x0 .

Ist f differenzierbar in x0, dann gilt

f ′(x0)(h) =m

∑i=1

(∂ f i(x0)(h)

)ei für h∈ Rn

und daher

[ f ′(x0)(h)]ε =

∂ f 1(x0)(h)...

∂ f m(x0)(h)

für h∈ Rn . (8.2.4)

Beweis.1. Sei f differenzierbar inx0 und seik∈ {1, . . . ,m}. Dann gilt

f (x0 +h)− f (x0) = f ′(x0)(h)+R(h) für x0 +h∈ D( f )

mit R(h)‖h‖ → 0 für h→ 0. Damit folgt

f k(x0 +h)− f k(x0) = 〈 f (x0 +h)− f (x0),ek〉= 〈 f ′(x0)(h),ek〉+ 〈r(h),ek〉 .

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8.2 Differenzierbare Funktionen mehrerer Variablen

für x0 +h∈ D( f ). Die Abbildung

h 7→ 〈 f ′(x0)(h),ek〉 (h∈ Rn)

ist linear. Für den RestRk(h) := 〈R(h),ek〉 gilt Rk(h)‖h‖ → 0 für h→ 0. Folglich ist f k in x0

differenzierbar mit der Ableitung

∂ f k(x0)(h) = 〈 f ′(x0)(h),ek〉 für h∈ Rn .

2. Seien nun alle Koordinatenfunktionenf k, k ∈ {1, . . . ,m}, in x0 differenzierbar. Danngibt es FunktionenRk mit Rk(h)

‖h‖ → 0 für h→ 0 und

f k(x0 +h)− f k(x0) = ∂ f k(x0)(h)+Rk(h) für x0 +h∈ D( f ) .

Damit folgt

f (x0 +h)− f (x0) =m

∑k=1

( f k(x0 +h)− f k(x0))ek =m

∑k=1

∂ f k(x0)(h)ek +m

∑k=1

Rk(h)ek .

für x0+h∈D( f ). Die Abbildungh 7→∑mk=1∂ f k(x0)(h)ek ist linear. FürR(h) := ∑m

k=1Rk(h)ek

gilt R(h)‖h‖ → 0 für h→ 0. Damit ist f in x0 differenzierbar mit

∂ f (x0)(h) =m

∑k=1

∂ f k(x0)(h)ek für h∈ Rn ,

d.h. (8.2.4) gilt.

Bemerkung 8.2.9.Aufgrund dieses Satzes können wir uns bei Differenzierbarkeitsunter-suchungen auf Skalarfunktionen, d.h.m= 1, beschränken. ♦

8.2.5 Richtungsableitung, partielle Ableitungen von Skalarfunktionen

Sei f : D( f ) ⊆ Rn→ R. In vielen Fällen interessiert uns nicht die volle lineare Appro-ximierbarkeit von f bei einer Stellex0 ∈ D( f ) sondern nur beix0 in einer vorgegebenenRichtungr ∈ Rn. Dies führt zu:

Definition 8.2.10. Existiert der Grenzwert

∂ f (x0, r) = limτ→0

[ f (x0 + τr)− f (x0)] ,

so heißt erRichtungsdifferential von f in x0 in Richtung r. Ist ‖r‖= 1, so heißt er auchRichtungsableitung von f in x0 in Richtung r. ♦

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8 Differentialrechnung

Das Richtungsdifferential∂ f (x0, r) beschreibt bei‖r‖ 6= 0 die Änderung vonf entlang derGeraden durchx0 mit der Richtungr.

Spezielle Richtungsableitungen sind die partiellen Ableitungen als Richtungsableitungen inKoordinatenrichtung:

Definition 8.2.11. Seiei der i-te Standardbasisvektor. Existiert der Grenzwert

∂i f (x0) = limτ→0

[ f (x0 + τei)− f (x0)] ,

so heißt erpartielle Ableitung von f in x0 nach der i-ten Variablen. ♦

Bemerkung 8.2.12.1. Sei f : D( f )⊆Rn→R. Die partielle Ableitung∂i f (x0) erhält manalso dadurch, daß man die Variablenxk mit k 6= i fixiert, xk = xk

0, und nurxi variiert:

∂i f (x0) =ddτ

f (x10, . . . ,x

i−10 ,τ,xi+1

0 , . . .xn0)∣∣τ=xi

0

= limϑ→0

f (x10, . . . ,x

i−10 ,xi

0 + ϑ ,xi+10 , . . .xn

0)− f (x10, . . . ,x

i−10 ,xi

0,xi+10 , . . .xn

0)ϑ

.

Sie werden also unter Festhalten der anderen Variablen wie die skalare Ableitung berechnet.

2. Fürn = 2 schreibt man auch

∂xf (x,y) = fx(x,y) = ∂1 f (x,y) =

ddτ

f (τ,y)∣∣τ=x ,

∂yf (x,y) = fy(x,y) = ∂2 f (x,y) =

ddτ

f (x,τ)∣∣τ=y .

Analog wird inR3 verfahren. ♦

Beispiel 8.2.13.1. Für f : R2→ R mit f (x,y) = x3cosy gilt

∂1 f (x,y) = fx(x,y) =∂

∂xf (x,y) = 3x2cosy,

∂2 f (x,y) = fy(x,y) =∂

∂yf (x,y) =−x3siny.

2. Die Van-der-Waalssche Zustandsgleichung eines Gases für den Zusammenhang zwi-schen Druckp, TemperaturT und Molvolumenv lautet

p(T,v) =CT

v−b− a

v2 für T > 0, v> b

und positiven Konstantena, b, C. Die “Änderungsgeschwindigkeit” vonp bezüglichv beikonstanter TemperaturT (also längs einer Isotherme) wird beschrieben durch

∂vp(T,v) =− CT

(v−b)2 +2av3 . ♦

154

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8.2 Differenzierbare Funktionen mehrerer Variablen

Definition 8.2.14. Sei f : D( f )⊆Rn→ R in x0 ∈D( f ) partiell nach allen Variablen diffe-renzierbar. Dann heißt der aus den partiellen Ableitungen gebildete Vektor

gradf (x0) = ∇ f (x0) = (∂1 f (x0), . . . ,∂n f (x0))

Gradient von f in x0. ♦

Satz 8.2.15.Sei die Skalarfunktion f: D( f )⊆Rn→R in x0 ∈D( f ) differenzierbar. Dannexistiert für jedes r∈ Rn das Richtungsdifferential∂ f (x0, r) und es gilt

∂ f (x0, r) = f ′(x0)(r) . (8.2.5)

Insbesondere gilt∂i f (x0) = f ′(x0)(ei) für i = 1, . . . ,n. (8.2.6)

für die partiellen Ableitungen von f in x0. Damit ist

f ′(x0) = (∂1 f (x0) ∂2 f (x0) . . . ∂1 f (x0)) = gradf (x0)> (8.2.7)

ein Zeilenvektor und es gilt

f ′(x0)(h) = gradf (x0)> ·h = 〈gradf (x0),h〉 . (8.2.8)

Beweis.Wenn r = 0, dann gilt∂ f (x0, r) = f ′(x0)(r) = 0. Sei nunr 6= 0. Da f in x0

differenzierbar ist, existiert einRmit R(h)‖h‖ → 0 für h→ 0 und

f (x0 +h)− f (x0) = f ′(x0)(h)+R(h) für x0 +h∈ D( f ) .

Für h = τr folgt wegen der Linearität vonf ′(x0)

f (x0 + τr)− f (x0) = f ′(x0)(τr)+R(τr) = τ f ′(x0)(r)+ ρ(τ)

für kleine τ mit ρ(τ) = R(τr). Zu zeigen istρ(τ)τ→ 0 für τ → 0. Dafür ist zu zeigen,

daß für jedesε > 0 ein δ > 0 existiert mit|ρ(τ)| ≤ ε|τ| für alle τ ∈ R mit |τ| < δ . Nunexistiert zuε > 0 einδ0 mit |R(h)| ≤ ε

‖r‖‖h‖ für alleh∈Rn mit ‖h‖< δ0. Daher haben wir

|ρ(τ)| ≤ ε

‖r‖‖r‖ · |τ|= ε|τ| für ‖rt‖= ‖r‖ · |τ| ≤ δ0, d.h.,|τ| ≤ δ0‖r‖ =: δ .

Damit ist f ′(x0)(r) das Richtungsdifferential vonf in Richtungr, womit sich (8.2.5) und(8.2.6) ergeben. Aus (8.2.6) folgen (8.2.7) und (8.2.8).

Aus (8.2.5) und (8.2.8) erhalten wir:

Folgerung 8.2.16.Sei die Skalarfunktion f: D( f )⊆Rn→R in x0∈D( f ) differenzierbar.Dann gilt

∂ f (x0, r) = 〈gradf (x0), r〉 (8.2.9)

für das Richtungsdifferential in Richtung r∈ Rn.

155

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8 Differentialrechnung

Beispiel 8.2.17.Wir betrachtenf : R2→R mit f (x,y) = 3x2y3+x+y. Gesucht sind zuerstdie partiellen Ableitungen vonf in (5,2):

∂1 f (x,y) = 6xy3 +1 und damit∂1 f (5,2) = 241,

∂2 f (x,y) = 9x2y2 +1 und damit∂2 f (5,2) = 901.

Damit giltgradf (5,2) = (241,901) .

Nun interessiert uns das Richtungsdifferential vonf in Richtungr = (−2,1).

Nach Definition des Richtungsdifferentials haben wir

∂ f (x0, r) = limt→0

f (x0 + tr)− f (x0)t

= limt→0

3(5−2t)2(2+ t)3 +7− t−607t

= limt→0

3(25−20t +4t2)(8+12t +6t2 + t3)− t−600t

= limt→0

600+ t(3·25·12−2·20·8−1)+ t2(. . .)+ t3(. . .)+ t4(. . .)+12t5−600t

= 900−480−1 = 419.

Nutzen wir (8.2.9) so erhalten wir

∂ f (x0, r) = gradf (x0)>r =−2∂1 f (5,2)+ ∂2 f (5,2) = 419.

Offensichtlich ist der zweite Weg einfacher. ♦

In Kombination der Sätze8.2.8und8.2.15erhalten wir:

Satz 8.2.18.Sei die Vektorfunktion f: D( f )⊆Rn→Rm in x0∈D( f ) differenzierbar. Dannexistieren die partiellen Ableitungen∂i f k(x0) der Koordinatenfunktionen fk von f in x0 undfür die Matrixdarstellung f′(x0) = [ f ′(x0)]ε,ε von f′(x0) bezüglich den Standardbasenε gilt

f ′(x0) = Jf (x0) :=

∂1 f 1(x0) · · · ∂n f 1(x0)...

...∂1 f m(x0) · · · ∂n f m(x0)

=

gradf 1(x0)>...

gradf m(x0)>

.Bemerkung 8.2.19.Die aus den partiellen Ableitungen∂i f k(x0) der Koordinatenfunktio-nen f k in x0 gebildete MatrixJf (x0) heißtJacobi-Matrix von f in x0. ♦

Beispiel 8.2.20.1. Sei f : R2→ R3 mit f (x,y) = (sin(xy),2x2 +y,xy2). Dann gilt

Jf (x,y) =

ycos(xy) xcos(xy)4x 1y2 2xy

.

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8.2 Differenzierbare Funktionen mehrerer Variablen

2. Sei f : D( f )⊆R2→R2 mit D( f ) = ]0,∞[× ]0,2π[ und f (r,ϕ) = (r cosϕ, r sinϕ). Danngilt

Jf (r,ϕ) =(

cosϕ −r sinϕ

sinϕ r cosϕ

).

8.2.6 Differenzierbarkeit und partielle Ableitungen

Die Existenz aller partieller Ableitungen∂i f (x0), i = 1, . . . ,n, in einem Punktx0 enthält nurgeringe Information über das Verhalten vonf in der Umgebung vonx0! Insbesondere folgtaus der Existenz aller partieller Ableitungen (im Unterschied zur Differenzierbarkeit) nichtdie Stetigkeit inx0.

Aus der Existenz aller partieller Ableitungen inx0 folgt daher nicht die Differenzierbarkeit!

Wir betrachten dazu:

Beispiel 8.2.21.Sei f : R2→ R mit

f (x,y) ={ xy

x2+y2 , wenn(x,y) 6= (0,0) ,0, wenn(x,y) = (0,0) .

Dann gilt f (ξ ,0) = f (0,ξ ) = f (0,0) = 0 und es existieren die partiellen Ableitungen

∂1 f (0,0) = ∂2 f (0,0) = 0.

Jedoch istf in (0,0) nicht stetig, da

limξ→0

f (ξ ,ξ ) =126= lim

ξ→0f (ξ ,−ξ ) =−1

2.

Bemerkung 8.2.22.1. Aus der Existenz aller partieller Ableitungen inx0 folgt nicht dieExistenz der Richtungsdifferentiale inx0 und damit auch nicht ihre Bestimmung über denGradienten durch (8.2.9).

2. Aus der Existenz aller Richtungsableitungen folgt nicht die Differenzierbarkeit (verglei-che mit Grenzwerten auf Strahlen und dem Grenzwert!). ♦

Wir brauchen also mehr als nur partielle Differenzierbarkeit.

Definition 8.2.23. Wir nennenf : D( f )⊆ Rn→ Rm stetig partiell differenzierbar in x0,wenn alle partiellen Ableitungen∂1 f k(x), . . . ,∂n f k(x) der Koordinatenfunktionen vonf ineiner Umgebung vonx0 existieren und inx0 stetig vonx abhängen.

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8 Differentialrechnung

Wir nennen f stetig partiell differenzierbar , wenn alle partiellen Ableitungen∂1 f k(x),. . . ,∂n f k(x) der Koordinatenfunktionen für allex∈D( f ) existieren und stetig vonx abhän-gen.

Wir nennenf stetig differenzierbar, wenn f differenzierbar ist und wenn die Ableitungs-funktion x 7→ f ′(x) in folgendem Sinne stetig ist: Für jedesx ∈ D( f ) und jedesε > 0existiert einδ > 0 mit ‖ f ′(x)(h)− f ′(y)(h)‖< ε für alley∈D( f ) mit ‖x−y‖< δ und alleh∈ Rn mit ‖h‖ ≤ 1. ♦

Satz 8.2.24.Sei f: D( f )⊆ Rn→ Rm mit offenem D( f ). Ist f in x0 stetig partiell differen-zierbar, so ist f in x0 differenzierbar. f ist stetig partiell differenzierbar genau dann, wennf stetig differenzierbar ist.

Bemerkung 8.2.25.Die äquivalenten Begriffe „stetig partiell differenzierbar“ oder „stetigdifferenzierbar“ sind also die für die mehrdimensionale Differentialrechnung angepaßtenBegriffe. ♦

Bezeichnung:SeiD ⊆ Rn offen. Die Menge aller stetig (partiell) differenzierbaren Funk-tionen f : D⊆ Rn→ Rm wird mit C1(D,Rm) bezeichnet.

Beispiel 8.2.26.Wir betrachten wieder die Van-der-Waalssche Zustandsgleichung (Bei-spiel8.2.13, 2.)

p(T,v) =CT

v−b− a

v2 für T > 0, v> b.

Die partiellen Ableitungen

∂ p∂T

(T,v) =C

v−b,

∂ p∂v

(T,v) =− CT(v−b)2 +

2av3

existieren für alleT > 0, v> b und hängen stetig vonT undv ab. Also istp stetig partielldifferenzierbar und somit stetig differenzierbar. ♦

8.2.7 Kettenregel

Satz 8.2.27 (Kettenregel).Sei f: D ⊆ Rn→ Rm differenzierbar im inneren Punkt x0 vonD. Sei weiter g: E ⊆ Rm→ Rk differenzierbar im inneren Punkt f(x0) von E. Dann istg◦ f in x0 differenzierbar und es gilt

(g◦ f )′(x0) = g′( f (x0))◦ f ′(x0)

sowieJg◦ f (x0) = Jg( f (x0)) ·Jf (x0)

für die Jacobi-Matrizen.

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8.3 Eigenschaften differenzierbarer Abbildungen

Beweis.Mit

f (x0 +h) = f (x0)+ f ′(x0)(h)+R1(h) , g( f (x0)+κ) = g( f (x0))+g′( f (x0))(κ)+R2(κ)

gilt

g( f (x0 +h)) = g(

f (x0)+ f ′(x0)(h)+R1(h))

= g( f (x0))+g′( f (x0))(

f ′(x0)(h)+R1(h))

+R2(

f ′(x0)(h)+R1(h))

= g( f (x0))+g′( f (x0))◦ f ′(x0)(h)+R(h)g′( f (x0))(R1(h)) ,

wobeiR(h) = g′( f (x0))(R1(h))+R2

(f ′(x0)(h)+R1(h)

).

Aus ‖R1(h)‖‖h‖ → 0 und ‖R2(κ)‖

‖κ‖ → 0 für h→ 0 bzw. κ → 0 folgt nun auch‖R(h)‖‖h‖ → 0 für

h→ 0.

Beispiel 8.2.28.Seienf : R2→R undg: D(g)⊆R2→R2 mit D(g) = ]0,∞[× ]0,2π[ und

f (x,y) = exy , g(r,ϕ) = (r cosϕ, r sinϕ) .

Gesucht ist die Jacobi-Matrix zuf ◦g an einer Stelle(r,ϕ). Es gilt (siehe Beispiel8.2.20,2.)

Jf (x,y) = (yexy,xexy) und Jg(r,ϕ) =(

cosϕ −r sinϕ

sinϕ r cosϕ

).

Da f undg stetig differenzierbar sind, folgt damit

Jf◦g(r,ϕ) = Jf (g(r,ϕ)) ·Jg(r,ϕ)

= (r sinϕer2sinϕ cosϕ , r cosϕer2sinϕ cosϕ)(

cosϕ −r sinϕ

sinϕ r cosϕ

)= r2er2sinϕ cosϕ(2sinϕ cosϕ,cos2ϕ−sin2

ϕ) = r2e12r2sin2ϕ(sin2ϕ,cos2ϕ) .

Man kann hier das Ergebnis natürlich auch direkt durchf ◦g(r,ϕ) = er2sinϕ cosϕ erhalten.♦

Satz 8.2.29.Eine Abbildung, die aus differenzierbaren Abbildungen nur durch Addition,Subtraktion, Multiplikation, Division und Verkettung entsteht, ist in allen inneren Punktenihres Definitionsbereich differenzierbar.

8.3 Eigenschaften differenzierbarer Abbildungen

8.3.1 Notwendige Bedingung für Extremalstellen

Wir wissen bereits, daß stetige Funktionenf : D( f ) ⊆ Rn→ R auf abgeschlossenen, be-schränkten Mengen einen maximalen bzw. einen minimalen Wert annehmen, d.h., daß sieein globales Maximum oder Minimum besitzen.

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8 Differentialrechnung

Definition 8.3.1. Die Abbildung f : D( f ) ⊆ Rn→ R hat beix0 ∈ D( f ) ein lokales Mi-nimum (Maximum ), wenn eine UmgebungU von x0 existiert mit f (x) ≥ f (x0) ( f (x) ≤f (x0)) für alle x∈U ∩D( f ). Ein lokales Extremum ist ein lokales Minimum oder Maxi-mum. f hat beix0 einstrenges Minimum (Maximum), wenn f (x)> f (x0) ( f (x)< f (x0))in einer Umgebung vonx0 gilt. ♦

Beispiel 8.3.2.In der Skizze haben wir:

a = x2 x1

)

x4 x5 b = x3

[

x

y

x1 ist eine globale Minimalstelle,x3 ist eine globale Maximalstelle,x1, x2, x5 sind lokale Minimalstellen,x3, x4 sind lokale Maximalstellen.

Der folgende Satz liefert einerseits eine notwendige Bedingung für die Existenz von Extre-ma. Andererseits ist die wesentliche Grundlage für viele weitere wichtige Aussagen.

Satz 8.3.3 (Satz von Fermat).Sei f: D( f )⊆Rn→R, x0∈D( f ) innerer Punkt von D( f ),und sei f in x0 differenzierbar. Dann gilt:

f hat in x0 lokales Extremum⇒ gradf (x0) = 0.

Beweis. f habe ein lokales Minimum inx0. Angenommen, es gilt gradf (x0) 6= 0. Danngibt es einh0 ∈ Rn mit f ′(x0)(h0)< 0. Es gilt

f (x0 + τh0) = f (x0)+ τ f ′(x0)(h0)+R1(τh0) = f (x0)+ τ f ′(x0)(h0)+R2(τ)

für x0 + τh0 ∈ D mit R1(h)‖h‖ → 0 für h→ 0 und R2(τ)

τ→ 0 für τ → 0. Damit gibt es beliebig

kleineτ > 0 mit x0 + τh0 ∈ D und f (x0 + τh0) < f (x0). Analog verfährt man bei lokalemMaximum.

Bemerkung 8.3.4.1. Wennx0 kein innerer Punkt ist, muß die Behauptung nicht gelten!

Betrachte z.B.x 7→ x2 auf [−1,1]. Es liegen lokale Maxima in−1 und 1 vor, aber dieAbleitung verschwindet dort nicht.

2. Die Differenzierbarkeit vonf in x0 kann zur Existenz aller Richtungsableitungen vonfin x0 abgeschwächt werden. ♦

Wir schließen daraus: Bei einer beliebigen Funktionf : D( f ) ⊆ Rn→ R sind folgendePunkteKandidaten für lokale Extremalstellen:

• innere Punktex0 ∈ D( f ), in denenf differenzierbar ist und für dief ′(x0) = 0 gilt,• nicht-innere Punktex0 ∈ D( f ), insbesondere also die Randpunktea, b vonD( f ),• Punktex0 ∈ D( f ), in denenf nicht differenzierbar ist.

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8.3 Eigenschaften differenzierbarer Abbildungen

8.3.2 Mittelwertsätze

Die folgenden Sätze sind von grundlegender Bedeutung für die Untersuchung differenzier-barer Funktionen auf Intervallen.

Satz 8.3.5 (Satz von Rolle).Sei f: [a,b]→ R stetig und sei f∣∣]a,b[ differenzierbar. Dann

giltf (a) = f (b) ⇒ ∃ξ ∈ ]a,b[ : f ′(ξ ) = 0.

Beweis.Da f stetig ist, existieren globales Minimum und Maximum vonf auf [a,b]. Lie-gen beide in den Randpunkten vor, so istf konstant auf[a,b] und damit f ′(x) = 0 für allex∈ ]a,b[. Liegt wenigstens eines der beiden globalen Extrema in Innern von[a,b] vor, dannverschwindet dort nach Satz8.3.3die Ableitung.

Satz 8.3.6 (Satz von Cauchy, verallgemeinerter Mittelwertsatz).Seien f,g: [a,b]→ Rstetig und auf]a,b[ differenzierbar. Dann existiert einξ ∈ ]a,b[ mit

( f (b)− f (a))g′(ξ )(b−a) = (g(b)−g(a)) f ′(ξ )(b−a)

d.h.f (b)− f (a)g(b)−g(a)

=f ′(ξ )g′(ξ )

, falls g′(x) 6= 0 auf ]a,b[ , g(a) 6= g(b) . (8.3.1)

Beweis.Seih: [0,1]→ R mit

h(t) = f ((1− t)a+ tb)(g(b)−g(a))+(g((1− t)a+ tb)−g(a))( f (a)− f (b)) .

Dann gilth(0) = h(1) = f (a)(g(b)−g(a)). Mit Satz8.3.5existiert einτ ∈ ]0,1[ und damitξ = (1− τ)a+ τb∈ ]a,b[ mit

0 = h′(τ) = f ′(ξ )(b−a)(g(b)−g(a))+g′(ξ )(b−a)( f (a)− f (b)) .

Als Verallgemeinerung von Intervallen sei füra,b∈ Rn

Ia,b = {ta+(1− t)b: t ∈ [0,1]}

dieVerbindungsstreckevona undb, und

◦Ia,b= {ta+(1− t)b: t ∈ ]0,1[}

die Verbindungsstrecke vona undb ohne Endpunkte.

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8 Differentialrechnung

Satz 8.3.7 (Satz von Lagrange, Mittelwertsatz).Sei f: D( f ) ⊆ Rn→ R stetig, seien a

und b in D( f ) mit Ia,b ⊂ D( f ) und es sei f differenzierbar auf◦Ia,b. Dann existiert ein

ξ ∈◦Ia,b mit

f (b)− f (a) = f ′(ξ )(b−a)

und, speziell für n= 1,

f ′(ξ ) =f (b)− f (a)

b−a.

x

y

a b

f(a)

f(b)

ξ

Beweis.Wir wählenh,g: [0,1]→ R mit h(t) = f (ta+ (1− t)b), g(t) = 1 für t ∈ [0,1].Dann folgt die Behauptung aus Satz8.3.6angewandt aufh undg.

Bemerkung 8.3.8.1. Ausreichend ist die Existenz der Richtungsdifferentiale∂ ( f (x),b−a) für allex∈

◦Ia,b.

2. Die Aussage der Satzes8.3.7ist im allgemeinen falsch, wennf : D( f )⊆ Rn→ Rm mitm> 1. ♦

Jedoch gilt:

Satz 8.3.9 (Schrankensatz).Sei f: D( f ) ⊆ Rn→ Rm stetig, seien a und b in D( f ) mit

Ia,b ∈ D und es sei f auf◦Ia,b differenzierbar. Dann gilt

‖ f (a)− f (b)‖ ≤ supξ∈◦Ia,b

‖ f ′(ξ )(a−b)‖ .

8.3.3 Monotonie- und Krümmungsverhalten

Definition 8.3.10. Eine Funktionf : D( f )⊆ R→ R heißta) (streng) monoton wachsend, wenn für allex1,x2 ∈ D( f ), x1 < x2, gilt f (x1) ≤ f (x2)( f (x1)< f (x2)).b) (streng) monoton fallend, wenn für allex1,x2 ∈ D( f ), x1 < x2, gilt f (x1) ≥ f (x2)( f (x1)> f (x2)). ♦

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8.3 Eigenschaften differenzierbarer Abbildungen

Für differenzierbare Funktionenf : ]a,b[→R kann die Monotonie mit Hilfe der Ableitungcharakterisiert werden:

Satz 8.3.11.Sei f: ]a,b[→ R differenzierbar. Dann gilt:

a) Wenn f′(x)> 0 für x∈ ]a,b[, dann ist f streng monoton wachsend,

b) Wenn f′(x)< 0 für x∈ ]a,b[, dann ist f streng monoton fallend,

c) Wenn f′(x)≥ 0 für x∈ ]a,b[, dann ist f monoton wachsend,

d) Wenn f′(x)≤ 0 für x∈ ]a,b[, dann ist f monoton fallend,

e) Wenn f′(x) = 0 für x∈ ]a,b[, dann ist f konstant auf]a,b[.

Beweis.Seia< x1 < x2 < b. Nach dem Mittelwertsatz8.3.6gibt es einξ ∈ ]a,b[ mit

f (x2)− f (x1) = f ′(ξ )(x2−x1) .

Ist nun zum Beispielf ′(x) > 0 für allex∈ ]a,b[, dann ist die rechte Seite und damit auchdie linke Seite positiv.

Bemerkung 8.3.12.1. Die Differenzierbarkeit ist wie auch die Stetigkeit nicht notwendigfür die Monotonie.

2. Im allgemeinen zerlegt man den DefinitionsbereichD( f ) einer Funktion in Monotonie-Intervalle. ♦

Der folgende Satz erlaubt eine lokale Monotonie-Aussage:

Satz 8.3.13.Sei f: D( f )⊆ R→ R in x0 ∈ ]a,b[ differenzierbar. Dann gilt:

a) Wenn f′(x0)> 0, dann existiert einε > 0 mit

f (x1)< f (x0)< f (x2) für x0− ε < x1 < x0 < x2 < x0 + ε .

b) Wenn f′(x0)< 0, dann existiert einε > 0 mit

f (x1)> f (x0)> f (x2) für x0− ε < x1 < x0 < x2 < x0 + ε .

Interpretation: Die Ableitung einer Funktion an der Stellex0 gibt Auskunft darüber,wiesich die Funktion (bei steigendem oder auch fallendemx) ändert. Ist f ′(x0)> 0, so steigendie Wertef (x) rechts vonx0 an und fallen links vonx0, entsprechendes gilt beif ′(x0)< 0.Genauso gibt nunf ′′(x0) Auskunft über das Änderungsverhalten vonf ′ nahex0, usw.

Betrachten wir dazu das Krümmungsverhalten unter Verwendung zweiter Ableitungen. Da-zu sei f : D( f )⊆R→R. Wenn f in x0 ∈D( f ) zweimal differenzierbar ist mitf ′′(x0)> 0,so ist f in der Nähe vonx0 differenzierbar und nach Satz8.3.13ist f ′ in der Nähe vonx0

streng monoton wachsend. Damit erhalten wir:

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8 Differentialrechnung

Satz 8.3.14 (Hinreichende Bedingung für Extremum).Sei f: ]a,b[→ R zweimal diffe-renzierbar in x0 ∈ ]a,b[ mit f ′(x0) = 0. Wenn f′′(x0)> 0, so ist x0 lokale Minimalstelle vonf , wenn f′′(x0)< 0, so ist x0 lokale Maximalstelle von f .

Beweis.Sei f ′′(x0) > 0. Dann gilt f ′(x) < 0 bzw. f ′(x) > 0 für x nahex0 mit x< x0 bzw.x> x0. Dies heißt nun wieder, daßf in der Nähe vonx0 links vonx0 streng monoton fallendund rechts vonx0 streng monoton wachsend ist.

Ist f ′′(x0) = 0, so kann man eventuell eine Entscheidung durch die Untersuchung höhererAbleitungen treffen. Siehe dazu später den Satz von Taylor.

Definition 8.3.15. Wir nennenf : ]a,b[→ R

• linksgekrümmt oderkonvex, wenn f ′′(x)> 0 gilt auf ]a,b[,

• rechtsgekrümmt oderkonkav, wenn f ′′(x)< 0 gilt auf ]a,b[.

Ein Punktx0 ∈ [a,b], in dem f das Krümmungsverhalten wechselt, heißtWendepunkt vonf . ♦

Kandidaten für Wendepunkte sind also Punkte aus[a,b],

• an denenf ′′(x) = 0 gilt,

• an denenf ′ nicht differenzierbar ist, oder

• die Randpunktea undb.

Satz 8.3.16.Sei f: ]a,b[→R zweimal differenzierbar, x0 ∈ ]a,b[ und sei Tfx0,1

: R→R mit

T fx0,1

(x) = f (x0)+ f ′(x0) · (x−x0) die lineare Approximation von f an der Stelle x0.

a) Ist f auf]a,b[ linksgekrümmt, so gilt f(x)≥ T fx0,1

(x) für alle x∈ ]a,b[.

b) Ist f auf]a,b[ rechtsgekrümmt, so gilt f(x)≤ T fx0,1

(x) für alle x∈ ]a,b[.

Beweis.Untersuche die Hilfsfunktionh(x) = f (x)−T fx0,1

(x), für die h(x0) = h′(x0) = 0gilt.

8.3.4 Differenzierbarkeit der Umkehrfunktion

Es sei f : D( f ) ⊆ R→ R streng monoton mitD( f ) = [a,b] undW( f ) = f ([a,b]). Dannexistiert die Umkehrfunktionf−1 : W( f )→D( f ) zu f mit f−1( f (x)) = x für x∈D( f ) undf ( f−1(x)) = x für x∈W( f ). Ist f streng monoton und stetig, so istf−1 auch stetig, sieheSatz7.3.11.

Unter Verwendung der Ableitung erhält man folgende Aussage:

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8.4 Anwendungen

Satz 8.3.17.Sei f: D( f )⊆R →R, D( f ) = ]a,b[ differenzierbar und sei entweder f′(x)>0 für alle x∈ ]a,b[ oder f′(x) < 0 für alle x∈ ]a,b[. Dann existiert die Umkehrfunktionf−1 : f (]a,b[)→ ]a,b[ zu f , sie ist differenzierbar, und es gilt

(f−1)′ (x) =

1f ′( f−1(x))

für x∈ f (]a,b[) .

Beispiel 8.3.18.1. Sei f : ]− π

2 ,π

2 [→ R mit f (x) = sinx. Es gilt f ′(x) = cosx> 0 für x∈]− π

2 ,π

2 [. Weiter haben wirf (]− π

2 ,π

2 [) = ]−1,1[. Nach Satz8.3.17ist f somit invertierbar(wir wissen schonf−1(x) = arcsinx für x∈ ]−1,1[) und es gilt

(f−1)′ (x) =

1cos(arcsin(x))

=1√

1− (sin(arcsin(x))2=

1√1−x2

für x∈ ]−1,1[ .

Somit gilt

arcsin′ x =1√

1−x2für x∈ ]−1,1[ .

2. Ähnlich findet man

arccos′(x) =− 1√1−x2

für x∈ ]−1,1[ ,

arctan′(x) =1

1+x2 für x∈ R ,

arccot′(x) =− 11+x2 für x∈ R .

8.4 Anwendungen

8.4.1 Fehlerabschätzung

Gesucht sei eine Größez∈ R in Abhängigkeit von Größenx,y∈ R:

z= f (x,y)

mit (bekannter Funktion)f : D( f ) ⊆ R2→ R. Anstelle der exakten Größenx undy seiennur gemessene oder nur näherungsweise bekannte Größen ¯x und y bekannt. Damit gilt

x = x+ ∆x , y = y+ ∆y

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8 Differentialrechnung

mit (absoluten) Meßfehlern∆x und∆y. Anstelle vonz= f (x,y) hat man dann ¯z= f (x, y).

Häufig hat man eine Schranke für die Meßfehler

|∆x| ≤ δx , |∆y| ≤ δy

und interessiert sich für die Abschätzung des absoluten Fehlers

| f (x,y)− f (x, y)| .

Ist f im interessierenden BereichB ⊆ D( f ) differenzierbar, dann erhalten wir mit demMittelwertsatz (Satz8.3.7)

f (x,y)− f (x, y) = f ′(x, y)(∆x,∆y) = gradf (x, y)>(∆x,∆y)= ∂1 f (x, y)∆x+ ∂2 f (x, y)∆y

mit (x, y) zwischen(x,y) und(x, y). Damit haben wir

| f (x,y)− f (x, y)| ≤ δx sup(x,y)∈I(x,y),(x,y)

|∂1 f (x, y)|+ δy sup(x,y)∈I(x,y),(x,y)

|∂2 f (x, y)|

≈ δx|∂1 f (x, y)|+ δy|∂2 f (x, y)|

wennδx,δy ausreichend klein sind.

Diese Vorgehensweise funktioniert auch bei mehr Variablen.

Beispiel 8.4.1.1. Wir betrachten den Drillwinkelϕ eines zylindrischen Stabes

ϕ =2`N

πr4G

mit der Länge , dem Radiusr, dem DrehmomentN und dem TorsionsmodulG. DurchUntersuchung des relativen Fehlers entscheide man, welche Größe bei der Berechnung vonG besonders sorgfältig gemessen werden muß.

Wir haben

G = G(ϕ, `, r,N) =2`N

πr4ϕ.

Seienϕ, ¯, r, N die gemessenen Größen mit den Fehlern∆ϕ, ∆`, ∆ r, ∆N. Dann gilt fürden relativen Fehler∣∣∣∣G− G

G

∣∣∣∣≈ 1|G||∂1G∆ϕ + ∂2G∆`+ ∂3G∆ r + ∂4G∆N|

=1|G|

∣∣∣∣− 2`Nπr4ϕ2∆ϕ +

2Nπr4ϕ

∆`+−8`Nπr5ϕ

∆ r +2`

πr4ϕ∆N

∣∣∣∣=∣∣∣∣−∆ϕ

ϕ+

∆`

`−4

∆ rr

+∆NN

∣∣∣∣≤∣∣∣∣∆ϕ

ϕ

∣∣∣∣+ ∣∣∣∣∆``∣∣∣∣+4

∣∣∣∣∆ rr

∣∣∣∣+ ∣∣∣∣∆NN

∣∣∣∣ .

166

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8.4 Anwendungen

Folglich hat der relative Fehler vonr den größten Einfluß,r sollte also (relativ) am genaue-sten gemessen werden.

2. Wir betrachten einen vertikal aufgestellten Balken der Längel mit kreisförmigem Quer-schnitt (Radiusr) und ElastizitätsmodulE. Die Kraft F , die bei vertikaler Einwirkung zumKnicken des Balkens führt (Eulersche Knicklast) ist eine Funktion von undr,

F(`, r) =14

π3E · `−2r4 für ` > 0, r > 0.

Bei “kleinen” Änderungen4`,4r der Länge bzw. des Radiusr gilt für die Änderung derEulerschen Knicklast:

4F := F(`+4`, r +4r)−F(`, r)

≈ ∂F∂`

(`, r) ·4l +∂F∂ r

(`, r) ·4r =14

π3E · (−2`−3r4 ·4`+4`−2r3 ·4r) .

8.4.2 Die Regel von de l’Hospital

limx→0tanx−xx−sinx ist ein Grenzwert vom unbestimmten Typ0

0. Der verallgemeinerte Mittel-wertsatz erlaubt in manchen Fällen die Behandlung solcher Ausdrücke:

Satz 8.4.2 (de l’Hospital).Sei

1. f,g: ]a,b[→ R differenzierbar mit g′(x) 6= 0 für x∈ ]a,b[.

2. x0 ∈ ]a,b[ mit f(x0) = 0 und g(x0) = 0.

3. Der (eigentliche oder uneigentliche) Grenzwertlimx→x0f ′(x)g′(x) existiert.

Dann gilt

limx→x0

f (x)g(x)

= limx→x0

f ′(x)g′(x)

.

Beweis.Nach dem Satz8.3.6gilt

f (x)g(x)

=f (x)− f (x0)g(x)−g(x0)

=f ′(ξ (x))g′(ξ (x))

mit ξ (x) ∈ ]x0,x[ bzw.ξ (x) ∈ ]x,x0[.

Bemerkung 8.4.3.1. Der Satz gilt sinngemäß auch fürx↗ x0 undx↘ x0 (auch an Inter-vallgrenzen).

2. Der Satz gilt sinngemäß auch für den Typ00 für x→±∞.

167

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8 Differentialrechnung

3. Sinngemäß gelten die Aussagen auch für den Typ∞∞ .

4. Man kann versuchen, die Regel mehrfach hintereinander anzuwenden, um ein Ergebniszu erzielen.

5. Unbestimmte Ausdrücke der Form 0·∞ versucht man durch

f (x) ·g(x) =f (x)

1g(x)

auf die Form00 zu bringen.

6. Für unbestimmte Ausdrücke der Form+∞− (+∞) kann man

f (x)−g(x) =(

1g(x)− 1

f (x)

)f (x)g(x)

versuchen, um die Form 0·∞ zu erhalten.

7. Unbestimmte Ausdrücke der Form 00, 1±∞, ∞0 werden (meist durch Logarithmieren)auf 0

0 oder ∞∞ zurückgeführt. ♦

Beispiel 8.4.4.1. Gesucht ist

limx→1

x4−x3−x2 +1x3 +x2−x−1

.

Offensichtlich istx0 = 1 eine Nullstelle im Zähler und im Nenner, so daß ein Einsetzen vonx0 = 1 zu einem unbestimmten Ausdruck „0

0“ führt. Wir haben

limx→1

x4−x3−x2 +1x3 +x2−x−1

= limx→1

4x3−3x2−2x3x2 +2x−1

=−14,

da der letzte Grenzwert existiert.

2. Es gilt

limx→∞

x3−1x3 +x

= limx→∞

3x2

3x2 +1= lim

x→∞

6x6x

= 1,

da der letzte Grenzwert existiert.

3. Es gilt

limx→0

tanx−xx−sinx

= limx→0

tan2x1−cosx

= limx→0

2tanx(1+ tan2x)sinx

= limx→0

2(1+ tan2x)cosx

= 2,

da der letzte Grenzwert existiert.

168

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8.4 Anwendungen

4. Wir bestimmen limx→0(1

x−1

sinx

). Es gilt

limx→0

(1x− 1

sinx

)= lim

x→0

(1x

1sinx

)(sinx−x)

= limx→0

sinx−xxsinx

= limx→0

cosx−1sinx+xcosx

= limx→0

−sinxcosx+cosx−xsinx

= 0,

da der letzte Grenzwert existiert. ♦

8.4.3 Das Newton-Verfahren zur Nullstellenbestimmung

Mit dem Bisektionsverfahren haben wir bereits ein brauchbares Verfahren zur Nullstellen-bestimmung in der Hand. Leider erweist sich diese Methode als sehr träge, da nur nachetwa jedem vierten Schritt eine weitere Dezimale der Nullstelle als endgültig berechnet an-gesehen werden kann. Die Anzahl der Schritte, die benötigt wird, um eine Nullstelle aufacht Dezimalstellen auszurechnen, ist also sehr groß.

Durch die folgende Idee kann eine erheblich schnellere Berechnung erreicht werden: Vor-gegeben seien eine differenzierbare Funktion

f : ]a,b[→ R

und eine Stellex0 ∈ ]a,b[. Zunächst betrachten wir anstelle vonf deren lineare Approxi-mation

T fx0,1

(x) = f (x0)+ f ′(x0)(x−x0)

an der Stellex0 und lösen das Nullstellenproblem fürT fx0,1

. Dies ist einfach, daT fx0,1

einelineare Funktion ist:

0 = T fx0,1

(x) = f (x0)+ f ′(x0)(x−x0) ⇐⇒ − f (x0) = f ′(x0)(x−x0) .

Gilt f ′(x0) 6= 0, so istx1 eine Nullstelle vonT fx0,1

, falls

− f (x0)f ′(x0)

= x1−x0 ,

was genau dann gilt, wenn

x1 := x0−f (x0)f ′(x0)

. x

y

f t1

x∗

x1

a

bx0

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8 Differentialrechnung

Anschaulich istx1 eine Näherung für die gesuchte Nullstellex∗ von f , sofernx0 nicht zuweit vonx∗ entfernt liegt, da jaT f

x0,1die Funktionf in der Nähe der Stellex0 „gut“ annähert.

Ist x1 eine bessere Näherung alsx0 dies war, so kann der oben genannte Vorgang mitx1

anstelle vonx0 erneut durchlaufen werden:

x2 := x1−f (x1)f ′(x1)

(sofern f ′(x1) 6= 0). Hierbei wird die Frage, obx1 als bessere Näherung fürx∗ als x0 an-zusehen ist, einfach durch den Funktionswert entschieden:x1 ist eine bessere Näherung alsx0, falls

| f (x1)|< | f (x0)| .

Diese Methode, laufend eine bessere Näherung fürx∗ zu ermitteln, kann fortgesetzt durch-geführt werden. Es entsteht dann dasNewton-Verfahren, das die laufende Iteriertexk überdie Formel

xk := xk−1−f (xk−1)f ′(xk−1)

(k = 1,2, . . .)

berechnet, sofernf ′(xk−1) 6= 0 bleibt.

Satz 8.4.5.Ist f zweimal stetig differenzierbar, liegt der Startpunkt x0 des Iterationsverfah-rens nahe genug bei der gesuchten Nullstelle x∗ von f und gilt gleichzeitig f′(x∗) 6= 0, sokann die Newton-Iteration beliebig oft durchgeführt werden und die Iteriertenfolge(xn)n∈Nkonvergiert gegen x∗.

Beispiel 8.4.6.Wir betrachten das Polynom

f (x) = x3 +x2 +2x+1.

Dieses hat eine Nullstelle in[a,b] = [−1,0], da f (−1) = −1 und f (0) = 1 gilt. Ein ersterSchritt der Bisektion liefert

x0 =−0.5 mit f (x0) = 0.125> 0.

Zu erwarten ist also eine Nullstelle im Intervall[−1,−0.5]. Wir führen einen Schritt desNewton-Verfahrens durch. Es ist

x1 = x0−x3

0 +x20 +2x0 +1

3x20 +2x0 +2

und fürx0 =−0.5:

x1 =−0.5714 mit f (x1) =−0.0029< 0 und | f (x1)|< 0.9| f (x0)| ,

wodurchx1 als bessere Näherung (undx∗ ∈ [x1,x0]) erkannt wird. Weitere Schritte über

xk = xk−1−x3

k−1 +x2k−1 +2xk−1 +1

3x2k−1 +2xk−1 +2

(k = 1,2, . . .)

170

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8.4 Anwendungen

liefernx2 =−0.5698412,x3 = x4 =−0.569840291 auf vier Dezimalen und

f (x3) = 3.5711·10−12 .

Das Newtonverfahren liefert also bereits nach drei Schritten eine sehr gute Näherung derNullstellex∗. ♦

Benutzt man das Horner-Schema, um(x− x∗) aus f herauszufaktorisieren, so bleibt einquadratisches Polynom übrig, das mit der(p,q)-Formel auf Nullstellen untersucht werdenkann. Es zeigt sich, daß keine reellen Nullstellen dieses Polynoms existieren. Das Aus-gangspolynom besitzt also nur eine einzige Nullstelle, die Stellex∗ = x3.

Bemerkung 8.4.7.Unter den Voraussetzungen des obigen Satzes konvergiert das Newton-verfahrenquadratisch, d.h.,

|xk−x∗| ≤M |xk−1−x∗|2

gilt für eine KonstanteM > 0. Anschaulich bedeutet dies, daß sich die Anzahl der bereitsrichtig berechneten Dezimalstellen bei jeder Iteration ungefähr verdoppelt, wenn sich dasVerfahren der Stellex∗ genügend angenähert hat. ♦

8.4.4 Beispiel für eine Kurvendiskussion

Zu diskutieren ist die Funktionf : [−π,π]→ R mit

f (x) =

{sinx

x für |x| ≤ π , x 6= 0,

1 für x = 0.

1. Stetigkeit und Grenzwerte

Wir wissen bereits limx→0sinx

x = 1. Damit ist f stetig. Wegen der Stetigkeit gilt

limx↗π

sinxx

= 0 und limx↘−π

sinxx

= 0.

2. Differenzierbarkeit

f ist mit Sicherheit fürx 6= 0 differenzierbar. Fürx 6= 0 gilt

f ′(x) =xcosx−sinx

x2 .

171

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8 Differentialrechnung

Mit Hilfe der de l’Hospitalschen Regel finden wir

limx→0

sinxx −1

x= lim

x→0

sinx−xx2 = lim

x→0

cosx−12x

= limx→0

−sinx2

= 0

und daherf ′(0) = 0. Somit ist f differenzierbar auf[−π,π]. Mit

limx→0

f ′(x) = 0 = f ′(0)

folgt die Stetigkeit vonf ′ auf [−π,π].

3. Symmetrie

f ist eine gerade Funktion, denn

f (−x) =sin(−x)−x

=−sinx−x

=sinx

x= f (x) ,

also ist diey-Achse Symmetrieachse.

4. Nullstellen

Es ist f (x) = 0, wenn sinx = 0 und dies gilt genau dann wennx = 0, x = −π oderx = π.x = 0 scheidet aus wegenf (0) = 1. Also ist x = π die einzige Nullstelle auf[0,π] undx =−π die einzige auf[−π,0].

5. Vorzeichenverteilung von f

Da f stetig ist und dax = π undx =−π die einzigen Nullstellen vonf sind, sowief (0) = 1gilt, hat f durchgehend positives Vorzeichen.

6. Kandidaten für Extremalstellen von f

Wir haben die Nullstellen vonf ′ zu bestimmen. Wir wissen schonf ′(0) = 0. Da

f ′(x) =xcosx−sinx

x2 für x 6= 0,

haben wirxcosx = sinx , d.h., x = tanx

für x∈ ]0,π] zu lösen, d.h., wir haben eine Nullstellex0 6= 0 vong: [0,π]→ R mit g(x) =tanx−x zu finden. Angenommen,x0 ∈ ]0,π] ist Nullstelle vong. Dann existiert nach demMittelwertsatz einξ ∈ ]0,π[ mit

0 = g(x0)−g(0) = g′(ξ )(x0−0) = (1+ tan2(ξ )−1) ·x0 .

Dies ist aber ein Widerspruch. Somit gibt es keinx∈ ]0,π] mit f ′(x) = 0.

Daher sind−π,0,π die einzigen Kandidaten für Extremalstellen vonf .

172

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8.4 Anwendungen

7. Monotonieverhalten und Extremalstellen vonf

Da f ′(x) 6= 0 für x 6= 0, ist f streng monoton auf[−π,0] und [0,π]. Da f (0) = 1 undf (−π) = f (π) = 0, ist 0 (globale) Maximalstelle und−π und π sind (globale) Minimal-stelle.

8. Krümmungsverhalten und Wendepunkte von f

Es ist

f ′′(x) =(cosx−xsinx−cosx)x2− (xcosx−sinx)2x

x4

=−x2sinx−2xcosx+2sinx

x3

für x 6= 0. Weiter gilt

limx→0

xcosx−sinxx2 −0

x= lim

x→0

xcosx−sinxx3 = lim

x→0

cosx−xsinx−cosx3x2

=− limx→0

xsinx3x2 =− lim

x→0−sinx+xcosx

6x

=− limx→0

cosx+cosx−xsinx6

=−13

und damitf ′′(0) =−13. Die Nullstellen vonf ′′ sind damit Lösungen der Gleichung

−x2sinx−2xcosx+2sinx = 0.

Anders als bei der ersten Ableitung ergeben sich noch Lösungen mit|x| < π. Mit demNewtonverfahren findet man (Startwertx = 1.5)

x1/2 =±2.08158.

Wegenf ′′(0) =−13, limx→π f ′′(x) = 2

π2 = limx→−π f ′′(x) sindx1,x2 Wendepunkte.

9. Skizze

x

y

-3 -2 -1 1 2 3

1

173

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8 Differentialrechnung

8.5 Geometrische Interpretationen

8.5.1 Tangentialhyperebene und Normalenvektor

Sei f : D( f ) ⊆ Rn→ R. Weiter sei f differenzierbar im inneren Punktx0 von D( f ). Wirbetrachten die Mengen

T f (x0) :={(

x0 +h, f (x0)+gradf (x0)>h)

: h∈ Rn}

undgraphf = {(x, f (x)) : x∈ D( f )} .

Fürn = 1 stelltT f (x0) eine Gerade und graphf eine Kurve imR2 dar. Fürn = 2 istT f (x0)eine Ebene und graphf eine Fläche imR3.

Satz 8.5.1.Die MengenT f (x0) undgraphf berühren sich in(x0, f (x0)) mit der Ordnung1, d.h.

f (x0 +h)−(

f (x0)+gradf (x0)>h)

= R(h)

für x∈D mit R(h)‖h‖ → 0 für h→ 0. Für jedes h∈Rn liegt damit der Vektor

(h,gradf (x0)>h

)parallel zuT f (x0).

Beweis.Die erste Aussage folgt unmittelbar aus der Definition der Ableitung als lineareApproximation. Die zweite Aussage ist offensichtlich.

Definition 8.5.2. Die MengeT f (x0) heißtTangentialhyperebenean die Hyperfläche graphfim Punkt(x0, f (x0)). Jeder Vektor

(h,gradf (x0)>h

)mit h∈Rn heißtTangentialvektor an

graphf im Punkt(x0, f (x0)). ♦

Bemerkung 8.5.3.Fürn = 1 bzw. 2 heißt die TangentialhyperflächeT f (x0) auch Tangentebzw. Tangentialebene. ♦

Offensichtlich steht der Vektor

n = (−gradf (x0),1)

senkrecht auf allen Tangentialvek-toren

(h,gradf (x0)>h

)und damit

auf der Tangentialebene:

Lemma 8.5.4. Der Vektor n =(−gradf (x0),1) ist Normalenvektor andie Tangentialhyperebene in(x0, f (x0)). x0

f (x0)

x0 +h

f (x0)+gradf (x0)>h

graphf

T f (x0)

gradf (x0)

(−gradf (x0),1) 1

174

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8.5 Geometrische Interpretationen

Beispiel 8.5.5.Wir betrachtenf (x,y) = 4x2−3y2 +5 aufD = R2 in (−1,3). Es gilt

∂1 f (−1,3) =−8, ∂2 f (−1,3) =−18,

so daßn = (8,18,1) Normalenvektor an die Tangetialhyperebene in(−1,3, f (−1,3)) ist.Wegen

‖n‖=√

64+324+1 =√

389,

ist n0 = 1√389

(8,18,1) Normaleneinheitsvektor. ♦

8.5.2 Begleitendes Dreibein für Kurven im R3

SeiC = ψ([a,b]) mit ψ : I→R3 unda<beine glatte Kurve. Sei wiederψ(t) = (x(t),y(t),z(t)).Dann ist der Vektor

ψ′(t) = (x′(t),y′(t),z′(t))

tangential zur KurveC im Punktψ(t). Wir nennen daher den Einheitsvektor

T(t) =1

‖ψ ′(t)‖·ψ ′(t) =

1√x′(t)2 +y′(t)2 +z′(t)2

· (x′(t),y′(t),z′(t))

den Tangenten(einheits)vektorvonC im Punktψ(t).

Sei nunψ zweimal stetig differenzierbar. Dann können wir den Einheitsvektor

N(t) =1

‖ψ ′′(t)‖·ψ ′′(t) =

1√x′′(t)2 +y′′(t)2 +z′′(t)2

· (x′′(t),y′′(t),z′′(t))

betrachten. Da‖T(t)‖ = 1, steht er senkrecht auf dem Tangentenvektor T(t) (und damitauch auf der Kurve) und heißt(Haupt-)Normalen(einheits)vektor. Die Zahl

k :=√

x′′(t)2 +y′′(t)2 +z′′(t)2

heißtKrümmung der KurveC in ψ(t),

ρ =1k

ist der Krümmungsradius.Bildet man das Kreuzprodukt aus dem Tan-gentenvektor und dem Normalenvektor, so er-hält man denBinormalen(einheits)vektor

B(t) = T(t)×N(t)

und damit einbegleitendes Dreibein, d.h.,mit dem Kurvenpunkt sich verändernde Koor-dinatenachsen eines rechtwinkligen Koordi-natensystems, das sich jeweils der Kurve an-paßt.

T(t)

N(t)ψ(t)

CB(t)

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8 Differentialrechnung

8.5.3 Richtung des steilsten Anstieges

Sei f : D( f )⊆ Rn→ R in x0 ∈ D( f ) differenzierbar.

Wir untersuchen nun die Frage, für welche Richtungr ∈ Rn mit ‖r‖ = 1 die Richtungs-ableitung∂ f (x0, r) maximal wird.

Es gilt∂ f (x0, r) = 〈gradf (x0), r〉 ≤ ‖gradf (x0)‖ · ‖r‖= ‖gradf (x0)‖ .

Ist gradf (x0) = 0, so gilt∂ f (x0, r) = 0 für jede Richtungr.

Sei nun gradf (x0) 6= 0 und

r :=1

‖gradf (x0)‖gradf (x0) .

Dann gilt∂ f (x0, r) = 〈gradf (x0), r〉= ‖gradf (x0)‖ ,

d.h., die Richtungsableitung wird maximal in Richtung des Gradienten:

Satz 8.5.6.Der Gradient von f in x0 zeigt inRichtung des stärksten Anstieges von f in x0.

Beispiel 8.5.7.Man finde die Richtung, in derf (x,y) = 4x2−3y2+5 am stärksten im Punkt(1,1) wächst.

Es gilt∂1 f (1,1) = 8, ∂2 f (1,1) =−6 und daher gradf (1,1) = (8,−6). In Richtung(8,−6)tritt also der stärkste Anstieg vonf in (1,1) auf. ♦

8.5.4 Niveauhyperfläche

Sei f : D ⊆ Rn→ R stetig differenzierbar aufD. Dann ist durch graphf eine Hyperflächeim Rn+1 gegeben.

Für c∈ R betrachten wir die Menge

Nc = {x∈ Rn : f (x) = c} ,

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8.5 Geometrische Interpretationen

welcheNiveauhyperflächevon f zum Niveauc heißt. Fürn = 2 ist Nc eine Kurve (Ni-veaulinie), fürn = 3 eine Fläche (Niveaufläche).

SeiC = ψ[I ] mit ψ ∈C1(I ,Rn) und einem IntervallI ⊆R eine Kurve inNc. Seix0∈C⊆Nc.Dann gibt es eint0 ∈ I mit ψ(t0) = x0. Weiter gilt

f (ψ(t)) = f (x0) für alle t ∈ I .

Mit der Kettenregel erhalten wir

0 = f ′(ψ(t))◦ψ′(t) =

⟨gradf (ψ(t)),ψ ′(t)

⟩= 0,

d.h., der Gradient gradf (x0) von f in x0 steht senkrecht auf dem Tangentialvektorψ ′(t0) andie KurveC im Punktx0 = ψ(t0). Da dies für jede (glatte) Kurve inNc durchx0 gilt, stehtder Gradient senkrecht aufNc im Punktx0.

In Kombination mit Satz8.5.6finden wir:

Satz 8.5.8.Unter obigen Voraussetzungensteht der Gradient von f in einem Punkt x∈Nc der Niveauhyperfläche Nc von f zum Ni-veau c senkrecht auf allen Tangenten an Nc

und damit auf Nc im Punkt x und zeigt in Rich-tung wachsender Werte von c und damit inRichtung wachsender Werte von f .

Beispiel 8.5.9.SeiU(x,y,z) dasPotential eines KraftfeldesF(x,y,z) in einer offenen Men-geD⊆ R3, d.h., es gelte

F(x,y,z) =−gradU(x,y,z) für alle (x,y,z) ∈ D .

In jedem Punkt(x,y,z) ∈ D steht der KraftvektorF(x,y,z) senkrecht auf der zugehörigenÄquipotentialfläche

Nc = {(x,y,z) ∈ R3 : U(x,y,z) = c}und weist in Richtung des stärksten Potentialabfalls (Minuszeichen beachten).

Ein Beispiel ist das Gravitationspotential

U(x,y,z) =−Gm·m0√

x2 +y2 +z2, (x,y,z) 6= (0,0,0) ,

der im Punkt(x,y,z) befindlichen Massem in Bezug auf die im Nullpunkt konzentrierteMassem0 (G ist die Gravitationskonstante). Die ÄquipotentialflächenNc haben die Glei-chungx2+y2+z2 = 1

(Gmm0c)2 , sind also Kugelflächen um den Nullpunkt. Die Gravitations-kraft ist

F(x,y,z) =−gradU(x,y,z) =−Gm·m0√

x2 +y2 +z23

xyz

.

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8 Differentialrechnung

Die Kraft F weist radikal zum Nullpunkt hin. ♦

8.6 Höhere, lokale Approximation

8.6.1 Taylor-Polynome

Definition 8.6.1. Sei f : D( f ) ⊆ R→ R, x0 Häufungspunkt vonD( f ). Ein Polynompheißtn-tesTaylor-Polynomder Funktionf in x0, wenn

1. degp≤ n,

2. p approximiert f in x0 mindestensn-ten Grades, d.h.| f (x)− p(x)| = o(|x− x0|n) fürx→ x0. ♦

Satz 8.6.2 (Eindeutigkeit).Sei f: D( f ) ⊆ R→ R, x0 ∈ D( f ) Häufungspunkt von D( f ).Dann gibt es für jedes n∈ N höchstens ein n-tes Taylor-Polynom.

Damit ist die BezeichnungT fx0,n für dasn-te Taylor-Polynom vonf in x0 gerechtfertigt.

Wir wissen schon:

Satz 8.6.3 (Existenz).Sei f: D( f )⊆ R→ R und x0 ∈ D( f ) HP von D( f ).

1. T fx0,0

existiert genau dann, wenn f in x0 stetig ist. Es gilt dann

T fx0,0

(x) = f (x0) .

2. T fx0,1

existiert genau dann, wenn f in x0 differenzierbar ist. Es gilt dann

T fx0,1

(x) = f (x0)+ f ′(x0)(x−x0) .

Eigenschaften:

•WennT fx0,n(x) = ∑n

k=0ck(x−x0)k, dannT fx0,n−1(x) = ∑n−1

k=0 ck(x−x0)k.

• Ist f selbst ein Polynomp mit degp = n, dann giltT px0,n = p. Genauer: Wennp(x) =

∑nk=0ck(x−x0)k, dann istT p

x0,m(x) = ∑mk=0ck(x−x0)k für allem≤ n.

Offene Fragen:

•Wann existierenT fx0,n mit n> 1?

•Was kannT fx0,n als Ersatz fürf leisten?

178

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8.6 Höhere, lokale Approximation

8.6.2 Die Taylor-Formel

Sei f : R→ R ein Polynom, d.h.,f (x) = ∑nk=0akxk mit ak ∈ R. Sei der Einfachheit halber

x0 = 0. Dann ist

T f0,m(x) =

m

∑k=0

akxk

für m≤ n. Da f (0)(x0) = a0, f (1)(x0) = a1, f (2)(x0) = 2a2, . . . , f (k)(x0) = k!ak für k≤ nhaben wir

T fx0,m(x) :=

m

∑k=0

f (k)(x0)k!

(x−x0)k (8.6.1)

für unsere spezielle Situation eines Polynomsf undx0 = 0 gefunden.

MitRf

x0,m(x) := f (x)−T fx0,m(x)

bezeichnen wir dasRestglied. Damit gilt trivialerweise

f (x) =m

∑k=0

f (k)(x0)k!

(x−x0)k +Rfx0,m(x) . (8.6.2)

Wesentlich ist nun, zu zeigen, daß

Rfx0,m(x) = o(|x−x0|m) für x→ x0. (8.6.3)

Satz 8.6.4 (Taylor-Formel mit Restgliedabschätzung).Sei f ∈ Cm(D) mit einem Inter-vall D. Dann existiert eine Funktionϑ : D→ ]0,1[, so daß(8.6.2), (8.6.3) gelten mit

Rfx0,m(x) =

f (m)(x0 + ϑ(x)(x−x0))− f (m)(x0)(m−1)!

(x−x0)m(1−ϑ(x))m−1 (8.6.4)

und damit

|Rfx0,m(x)| ≤ 1

(m−1)!sup

0<t<1| f (m)(x0 + t(x−x0))− f (m)(x0)| · |x−x0|m .

Ist f im Innern von D sogar(m+ 1)-mal differenzierbar, dann gibt es für jedes p> 0 einξ : D\{x0}→ D mit ξ (x) zwischen x und x0, und es gilt dieSchlömilch-Darstellung

Rfx0,m(x) =

f (m+1)(ξ (x))pm!

(x−ξ (x)x−x0

)m−p+1

(x−x0)m+1 . (8.6.5)

Speziell haben wir dieLagrange-Darstellung(p = m+1)

Rfx0,m(x) =

f (m+1)(ξ (x))(m+1)!

(x−x0)m+1 . (8.6.6)

179

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8 Differentialrechnung

Beweis.Ergibt sich aus dem verallgemeinerten Mittelwertsatz für eine passend gewählteHilfsfunktion.

Bemerkung 8.6.5.1. Hauptaussage des Satzes ist die Approximation vonf in x0 durchein Polynom mitkontrolliertemRest.

2. Fürm= 0 erhalten wir als Spezialfall wieder den Mittelwertsatz. Tatsächlich ist der Satzvon Taylor aber eine Folgerung aus dem (verallgemeinerten) Mittelwertsatz.

3. Das Bestimmen des Taylor-PolynomsT fx0,m(x) := ∑m

k=0f (k)(x0)

k! (x− x0)k für einem-mal

in x0 differenzierbare Funktionf ist trivial. Wesentlich ist, daßRfx0,m(x) = o(|x−x0|m) für

x→ x0.

4. Wegen (8.6.2) und (8.6.3) berühren sichf und seinm-tes Taylor-Polynom inx0 mitder Ordnungm. Wir haben damit eine gute lokale Approximation vonf in x0 durch einPolynom. Wennf genügend glatt ist, kann die Approximationsgüte durch Vergrößerungvonm verbessert werden.

5. Obwohl wir eine Darstellungen für das Restglied haben, ist die nichtlokale Approxi-mation von f durch Taylor-Polynome nicht die beste Wahl. Hierfür sollte man anderePolynom-Approximationen verwenden. ♦

Beispiel 8.6.6.

1. Wir berechnen die quadratische Approximation vonf (x) =√

x an der Stellex0 = 1.96,und wissen bereitsf ′(x) = 1

2√

x. Weiteres Ableiten ergibt nach der Quotientenregelf ′′(x) =

12

(−

12√

x

(√

x)2

)=−1

41

x√

x und damit

T f1.96,2(x) = 1.4+

12.8

(x−1.96)+12

(−1

41

1.96·1.4

)(x−1.96)2 .

Für x = 2 ergibt sich:

T f1.96,2(2) = 1.4+

0.042.8− 0.042

8·1.4·1.96= 1.414212828. . .

f (2) = 1.414213562. . .

Schätzen wir nun den FehlerRfx0,2

(x) = f (3)(ξ (x))3! (x− x0)3 in der Lagrage-Darstellung für

x0 = 1.96 undx = 2 ab. Es giltf ′′(ξ ) =−14ξ−

32 und daherf ′′′(ξ ) =−1

4(−32)ξ−

52 = 3

8ξ−52 .

Somit gilt

|Rf1.96,2(2)| ≤ sup

ξ∈[1.96,2]

f (3)(ξ )3!

(2−1.96)3 =3

8·3·1.96−

52 ·0.043

≈ 1.49·10−6 .

180

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8.6 Höhere, lokale Approximation

2. Wir betrachtenf (x) = expx aufR. Dann gilt f ∈C∞(R) und wir haben

f (x) = f ′(x) = · · ·= f (m+1)(x) .

Somit gilt

expx =m

∑k=0

xk

k!+Rexp

0,m(x)

mit

|Rexp0,m(x)| ≤ sup

ξ zwischen 0 undxeξ |x|m+1

(m+1)!≤ e|x|

|x|m+1

(m+1)!→ 0 für m→ ∞ .

Damit gilt

expx =∞

∑k=0

xk

k!

für allex∈ R. ♦

Definition 8.6.7. Sei f : D( f )→R, x0∈D( f ) und seif in x0 unendlich oft differenzierbar.Die Folge

∑m=0

f (k)(x0)k!

(x−x0)k

der Taylor-PolynomeT fx0,m bzw. die Funktionf : D( f )→ R mit

f (x) =∞

∑m=0

f (k)(x0)k!

(x−x0)k für x∈ D( f )

und

D( f ) := {x∈ R :∞

∑m=0

f (k)(x0)k!

(x−x0)k konvergiert}

heißtTaylor-Reihe von f um x0.

Die Funktion f heißtdurch die Taylor-Reihe f um x0 auf der MengeM ⊆D( f ) darstell-bar oderentwickelbar, wennx0 ∈M ⊆ D( f ) und

f (x) = f (x) für x∈M ,

d.h., wenn die Taylor-Reihe∑∞m=0

f (k)(x0)k! (x−x0)k gegenf (x) für allex∈M konvergiert.♦

Satz 8.6.8.Sei f: D( f )→ R, x0 ∈ D( f ) und sei f in x0 unendlich oft differenzierbar, undsei f : D( f )→ R die Taylor-Reihe von f um x0 ∈M ⊆D( f ). Dann ist f genau dann durchf um x0 auf M darstellbar, wennlimm→∞ Rf

x0,m(x) = 0 für alle x∈M.

181

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8 Differentialrechnung

Beweis.Da f (x) = T fx0,m(x)+Rf

x0,m(x) für x∈ D( f ), gilt

T fx0,m(x) = f (x)−Rf

x0,m(x) .

Hieraus liest man die Behauptung direkt ab.Bemerkung 8.6.9.1. Oben haben wir somit exp in eine Taylor-Reihe um 0 entwickelt:

expx =∞

∑k=0

xk

k!für x∈ R .

2. Die Aufstellung der Taylor-Reihe für eineC∞-Funktion f ist trivial. Wesentlich ist, zuzeigen, daß die Funktion auch durch die Taylor-Reihe dargestellt wird, d.h., daß die Taylor-Reihe konvergiert und dieselbe Funktion darstellt. ♦Beispiel 8.6.10.1. Wir betrachten die Funktionf (x) = sinx und die Stellex0 = 0. Danngilt:

f (x) = sinx f(x0) = 0f ′(x) = cosx f ′(x0) = 1f ′′(x) = −sinx f ′′(x0) = 0f ′′′(x) = −cosx f ′′′(x0) = −1

f (4)(x) = sinx f (4)(x0) = 0

usw., daher

Tsin0,2n+1(x) = Tsin

0,2n+2(x) = x− 13!

x3 +15!

x5− 17!

x7 +19!

x9− . . .+ (−1)n

(2n+1)!x2n+1 ,

d.h.,

sinx =n

∑k=0

(−1)k x2k+1

(2k+1)!+Rsin

0,2n+1(x)

mit

|Rsin0,m(x)| ≤ |x|m+1

(m+1)!→ 0 für m→ ∞, x∈ R .

Somit haben wir die Taylor-Entwicklung

sinx =∞

∑k=0

(−1)k x2k+1

(2k+1)!für x∈ R .

Für m= 1 bzw.m= 2 erhalten wir folgende Skizzen fürTsin0,3 (x) = x− 1

3!x3 undTsin

0,5 (x) =x− 1

3!x3 + 1

5!x5:

x

y

-2 -1 1 2

-1

1sin(x)

T sin0,3 (x)

x

y

-2 -1 1 2

-1

1sin(x)

T sin0,5 (x)

182

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8.6 Höhere, lokale Approximation

2. Wir betrachten die Funktionf (x) = cosx und die Stellex0 = 0. Dann gilt:

f (x) = cosx f(x0) = 1f ′(x) = −sinx f ′(x0) = 0f ′′(x) = −cosx f ′′(x0) = −1f ′′′(x) = sinx f ′′′(x0) = 0

f (4)(x) = cosx f (4)(x0) = 1

usw., daher

Tcos0,2n(x) = Tcos

0,2n+1(x) = 1− 12!

x2 +14!

x4− 16!

x6 +18!

x8− . . .+ (−1)n

(2n)!x2n ,

d.h.,

cosx =n

∑k=0

(−1)k x2k

(2k)!+Rcos

0,2n(x)

mit

|Rcos0,m(x)| ≤ |x|m+1

(m+1)!→ 0 für m→ ∞, x∈ R .

Somit haben wir die Taylor-Entwicklung

cosx =∞

∑k=0

(−1)k x2k

(2k)!für x∈ R .

3. Sei

f (x) ={

0, für x = 0,e−x−2

, für x 6= 0.

Dann ist f (−0) = f (+0) = 0, also f stetig. Es gilt

f ′(x) =2x3e−x−2

und f ′(+0) = f ′(−0) = 0. Durch Fortsetzung der Differenzierbarkeitsuntersuchung erhältman f ∈C∞(R) mit f (k)(0) = 0 für allek∈ N. Damit gilt

T f0,n(x) = 0 für allex∈ R

aberT f

0,m(x) 6−→ f (x) für m→ ∞ undx 6= 0.

Die Funktion f kann also auf keinem IntervallM 6= {0} in eine Taylor-Reihe umx0 ent-wickelt werden, obwohlf ∈C∞(R). ♦

Noch zu beantwortende Frage:

• Wann und wo konvergieren die Werte der Taylor-Reihe einer Funktion gegen die Werteder Funktion?

183

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8 Differentialrechnung

8.6.3 Höhere Ableitungen von Funktionen mehrerer Variabler

Sei f : D( f ) ⊆ Rn→ R. Existiert die partielle Ableitung∂k f , so können wir wieder nachihrer Differenzierbarkeit fragen, wir erhalten z.B. eine partielle Ableitung zweiter Ordnung

∂i∂k f (x) := ∂i (∂k f )(x) .

Analog kann man partielle Ableitungen dritter und höherer Ordnung betrachten, z.B.

∂i∂k∂` f (x) := ∂i (∂k∂` f )(x) .

Auf diese Weise definieren wir iterativ einen-te partielle Ableitung als eine partielle Ab-leitung einer(n−1)-ten partiellen Ableitung.

Ohne den Begriff der höheren Differenzierbarkeit hier genauer untersuchen zu wollen, nen-nen wir eine Funktionf : D( f ) ⊆ Rn→ Rm aufgrund Satz8.2.24n-mal [stetig] (partiell)differenzierbar , wenn allen-ten partiellen Ableitungenn-ter Ordnung (und damit auch derniederen Ordnungen) vonf existieren [und stetig sind].

Sei zum Beispielf : D( f ) ⊆ Rn→ R zweimal differenzierbar. Die partiellen Ableitungenzweiter Ordnung lauten dann

∂i∂k f (x) mit i,k∈ {1, . . . ,n} .

Prinzipiell gilt∂i∂k f (x) 6= ∂k∂i f (x) für i 6= k ,

d.h., es kommt auf die Reihenfolge an, in der differenziert wird. Jedoch gilt:

Satz 8.6.11 (Satz von Schwarz).Für die Funktion f: D( f )⊆Rn→R, D( f ) offen, mögendie partiellen Ableitungen∂i∂k f und∂k∂i f auf D( f ) existieren und stetig sein. Dann gilt

∂i∂k f (x) = ∂k∂i f (x) für x∈ D( f ) und i,k∈ {1, . . . ,n} .

Bemerkung 8.6.12.1. Dies zeigt erneut, daß stetige (partielle) Differenzierbarkeit der an-gepaßte Begriff ist.

2. Da unter der Voraussetzungen des Satzes die Reihenfolge der Differenzierung egal ist,können wir zum Beispiel setzen

∂i,k := ∂i∂k = ∂k∂i ,

∂i,k,` := ∂i∂k∂` = ∂i∂`∂k = ∂k∂i∂` = ∂k∂`∂i = ∂`∂i∂k = ∂`∂k∂i . ♦

184

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8.6 Höhere, lokale Approximation

Beispiel 8.6.13.Gesucht ist∂2∂1 f für die Funktionf : R2→ R mit

f (x,y) =sinx√1+x2

+cos(xy2) , (x,y) ∈ R2 .

Die direkte Berechnung von∂2∂1 f (in dieser Reihenfolge der Differentiation) ist wegendes ersten Summanden umständlich. Daf aus beliebig oft stetig (partiell) differenzierbarenFunktionen zusammengesetzt ist, existieren die zweiten partiellen Ableitungen und sindstetig. Nach Satz8.6.11kann man die Reihenfolge der partiellen Ableitungen vertauschen.Mit ∂2 f (x,y) =−2xysin(xy2) folgt

∂2∂1 f (x,y) = ∂1∂2 f (x,y) =∂

∂x[−2xysin(xy2)] =−2ysin(xy2)−2xy3cos(xy2) . ♦

Im folgenden interessieren uns vor allem partielle Ableitungen zweiter Ordnung von Ska-larfunktionen. Die(n,n)-Matrix

H f (x0) :=(∂i∂ j f (x0)

)i, j =

∂1∂1 f (x0) · · · ∂1∂n f (x0)...

...∂n∂1 f (x0) · · · ∂n∂n f (x0)

heißtHesse-Matrixder Funktionf : D⊆Rn→R im Punktx0 ∈D. Sind alle vorkommen-den partiellen Ableitungen inx0 stetig, so istH f (x0) nach Satz8.6.11symmetrisch.

8.6.4 Mehrdimensionale Taylor-Formel

Wir wollen nun die Taylor-Formel auf Abbildungenf : D⊆ Rn→ R verallgemeinern. Ab-bildungen ausRn nachRm können durch Betrachtung der Koordinatenfunktionen hieraufzurückgeführt werden.

Da wir höhere partielle Ableitungen benötigen, brauchen wir ein geeignete Schreibweise:

Die partielle Differentiation nach deri-ten Variablen ist eine Abbildung (Differentialoperator)der differenzierbaren Funktionen in die stetigen Funktionen:

∂i : C1(D,R)→C0(D,R) mit (∂i f )(x) = ∂i f (x) .

Diese Abbildungen können wie üblich addiert, skalar multipliziert und miteinander überla-gert werden: Zum Beispiel gilt

(α1∂1 + α2∂2) f (x0) = α1∂1 f (x0)+ α2∂2 f (x0) = ∂1 f (x0)α1 + ∂2 f (x0)α2

und

∂1◦∂2 f (x0) = ∂1∂2 f (x0) = ∂1,2 f (x0) , ∂21 f (x0) = ∂1◦∂1 f (x0) = ∂1,1 f (x0) ,

185

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8 Differentialrechnung

wobei sich die Definitionsbereiche in natürlicher Weise ergeben. Hierbei seien∂ 0i die iden-

tischen Abbildungen,∂

0i f (x0) = f (x0) .

Satz 8.6.14.Sei f∈Cm(D,R), D⊆ Rn offen, x0 ∈ D. Dann gilt die Taylor-Formel

f (x0 +h) =m

∑k=0

1k!

(h1∂1 + · · ·+hn

∂n)k f (x0)+R(h) für x0 +h∈ D

mit R(h)‖h‖m → 0 für h→ 0. Ist f ∈Cm+1(D,R) so gilt

R(h) =1

(m+1)!(h1

∂1 + · · ·+hn∂n)m+1 f (x0 + ϑ(h) ·h)

mit ϑ(h) ∈ [0,1].

Bemerkung 8.6.15.Für k = 0 haben wir

10!

(h1∂1 + · · ·+hn

∂n)0 f (x0) = f (x0) .

Für k = 1 ergibt sich

11!

(h1∂1 + · · ·+hn

∂n)1 f (x0) = ∂1 f (x0)h1 + · · ·+ ∂n f (x0)hn = gradf (x0)>h.

Bei k = 2 wird es schon komplizierter:

12!

(h1∂1 + · · ·+hn

∂n)2 f (x0) =12!

n

∑i, j=1

∂i∂ j f (x0)hih j = h>H f (x0)h,

wobei die Hesse-MatrixH f (x0) :=

(∂i∂ j f (x0)

)i, j

nach Satz8.6.11symmetrisch ist. ♦

Folgerung 8.6.16.Sei f∈C2(D,R), D⊆ Rn offen, x0 ∈ D. Dann gilt

f (x0 +h) = f (x0)+gradf (x0)>h+12

h>H f (x0)h+R(h) für x0 +h∈ D

mit R(h)‖h‖2 → 0 für h→ 0.

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8.6 Höhere, lokale Approximation

Beispiel 8.6.17.Sei f ∈C2(R2,R) mit f (x,y) = sin(x+2y). Dann gilt

gradf (x,y) = (cos(x+2y),2cos(x+2y))

H f (x0) =(−sin(x+2y) −2sin(x+2y)−2sin(x+2y) −4sin(x+2y)

)und somit

f (x+h,y+k) = sin(x+2y)+cos(x+2y)(h+2k)+sin(x+2y)(−12

h2−2hk−2k2)+R(h,k) .

8.6.5 Hinreichende Bedingungen für lokale Extrema

Sei f : D( f ) ⊆ Rn→ R. Satz8.3.3ergab gradf (x0) = 0 als notwendiges Kriterium fürein lokales Extremum in einem inneren Punktx0 ∈ D( f ), in dem f differenzierbar ist. Eininnerer Punktx0 vonD( f ) mit gradf (x0) = 0 heißt daherkritischer Punkt .

Wir wollen nun hinreichende Bedingungen für lokale Maxima oder Minima finden.

Sei dazuf ∈C2(D,R) undx0 ∈ D ein kritischer Punkt. Nach Folgerung8.6.16gilt

f (x0 +h) = f (x0)+gradf (x0)>h︸ ︷︷ ︸=0

+12

h>H f (x0)h+R(h)

mit R(h)‖h‖2 → 0 für h→ 0.

Der Graph von

h 7→ f (x0)+12

h>H f (x0)h

stellt eine Quadrik inRn+1 dar: Der Graph besteht aus allen Punkten(h,κ) ∈ Rn+1 mit

f (x0)+12

h>H f (x0)h−κ = 0.

Definition 8.6.18. Sei A ∈ Rn×n. Eine AbbildungQ: Rn→ R mit Q(x) = x>Ax heißtquadratische Form in Rn mit derFormmatrix A. ♦

Bemerkung 8.6.19.Es gilt

x>(A+A>)x = x>Ax+x>A> x = x>Ax+(x>Ax)> = 2x>Ax

und daher

x>Ax = x>Bx mit B = B> =12

(A+A>) .

Eine nichtsymmetrische FormmatrixAkann also stets durch die symmetrische Matrix12(A+

A>) ersetzt werden. ♦

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8 Differentialrechnung

Im Folgenden gehen wir daher davon aus, daß die FormmatrixA symmetrisch ist.

Definition 8.6.20. Eine quadratische FormQ in Rn heißt

• positiv definit, wennQ(x)> 0 für allex∈ Rn\{0};• positiv semidefinit, wennQ(x)≥ 0 für allex∈ Rn;• negativ definit, wennQ(x)< 0 für allex∈ Rn\{0};• negativ semidefinit, wennQ(x)≤ 0 für allex∈ Rn;• indefinit , wenn sie weder positiv noch negativ semidefinit ist. ♦

Wie im nächsten Semester gezeigt wird, bildet obige Quadrik ein nach oben (unten) geöff-netes elliptisches Paraboloid, wenn die quadratische FormQ( f ,x0) : Rn→ Rn mit

Q( f ,x0)(h) = h 7→ 12

h>H f (x0)h

positiv (negativ) definit ist.

Wenn dieQ( f ,x0) hingegen indefinit ist, dann ist die Quadrik ein hyperbolisches Parabolo-id.

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8.6 Höhere, lokale Approximation

Da der Graph vonf beix0 in quadratischer Approximation durch diese Quadriken beschrie-ben wird, erhalten wir:

Satz 8.6.21.Sei f∈C2(D,R), D⊆ Rn offen, und x0 ein kritischer Punkt.

Wenn Q( f ,x0) positiv (negativ) definit ist, dann hat f in x0 ein strenges lokales Minimum(Maximum).

Wenn Q( f ,x0) indefinit ist, dann hat f in x0 kein lokales Extremum.

Bemerkung 8.6.22.Es verbleibt also nur noch der Fall, daßH f (x0) positiv oder negativsemidefinit ist. Hier ist ohne weitere Informationen (zum Beispiel über höhere Ableitungen)keine Aussage möglich. ♦

Später werden wir ein Kriterium zur Untersuchung der Definitheit vonQ( f ,x0) über dieEigenwerte vonH f (x0) kennenlernen. Wir geben hier ein weiteres Kriterium an:

Sei A = (ai j )ni, j=1 ∈ Rn×n eine symmetrische Matrix. Mitµk bezeichnen wir denk-ten

HauptminorenvonA, d.h.µk := det(ai j )k

i, j=1 .

Satz 8.6.23.Sei Q(x) = ∑ni, j=1ai j xix j mit symmetrischer Matrix A= (ai j )n

i, j=1 ∈ Rn×n.

• Q ist genau dann positiv definit (semidefinit), wenn alle Hauptminorenµk positiv (nicht-negativ) sind.

• Q ist genau dann negativ definit (semidefinit), wenn alle(−1)kµk positiv (nichtnegativ)sind.

Bemerkung 8.6.24.Für n = 2 haben wir

µ1 = a11 , µ2 =∣∣∣∣ a11 a12

a12 a22

∣∣∣∣= a11a22−a212 . ♦

Ist x0 kritischer Punkt vonf , so erhalten wir damit die hinreichenden Bedingungen

lokales Minimum: ∂ 21 f (x0)> 0 und ∂ 2

1 f (x0)∂ 22 f (x0)− (∂1,2 f (x0))2 > 0

lokales Maximum: ∂ 21 f (x0)< 0 und ∂ 2

1 f (x0)∂ 22 f (x0)− (∂1,2 f (x0))2 > 0

Sattelpunkt: ∂ 21 f (x0)∂ 2

2 f (x0)− (∂1,2 f (x0))2 < 0

Beispiel 8.6.25.Sei f (x,y) = 3x2y+4y3−3x2−12y2 +1 aufR2. Wir haben

gradf (x,y) = (6xy−6x,3x2 +12y2−24y)

189

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8 Differentialrechnung

und daher(0,0) , (0,2) , (2,1) , (−2,1)

als kritische Punkte.

Weiter gilt

∂21 f (x,y) = 6y−6, ∂

22 f (x,y) = 24y−24, ∂1,2 f (x,y) = 6x . ♦

(x,y) ∂ 21 f (x,y) ∂ 2

2 f (x,y) ∂1,2 f (x,y)(0,0) −6 −24 0 lokales Maximum(0,2) 6 24 0 lokales Minimum(2,1) 0 0 12 kein lok. Extremum aber Sattelpunkt

(−2,1) 0 0 −12 kein lok. Extremum aber Sattelpunkt

Bemerkung 8.6.26.Sei f ∈Ck(D,R), D⊆ R offen,k≥ 2. Seix0 kritischer Punkt. KeineEntscheidung ist möglich im indefiniten Fall, d.h., hierf ′(x0) = 0, f ′′(x0) = 0. Ist k> 2kann man aber versuchen, höhere Glieder im Taylor-Polynom zu verwenden. ♦

8.6.6 Extremwertprobleme mit Nebenbedingungen

Beispiel 8.6.27.Gesucht ist ein Rechteck maximalen Flächeninhalts bei vorgegebenemUmfangu. Wir haben alsof (x,y) = xy, D( f ) = R≥0×R≥0 zu maximieren unter der Ne-benbedingung 2(x+y) = u.

Aus der Nebenbedingung finden wiry = u/2−x. Damit ist

g(x) = f (x,u/2−x) = x(u/2−x)

auf [0,u/2] zu maximieren. Es giltg′(x) = u/2− 2x, so daß sichx0 = u/4 ∈ [0,u/2] alskritischer Punkt ergibt. Offensichtlich ist dies auch die globale Maximalstelle.

Das Rechteck mit größtem Flächeninhalt bei gegebenem Umfang ist also das Quadrat.♦

Verallgemeinerung: Gegeben sei eine Funktionf : D( f ) ⊆ Rn→ R und eineNebenbe-dingungs- oderRestriktionsmenge

N := {x∈ D( f ) : ϕ(x) = 0}

mit ϕ : D( f )→ Rp, d.h. mitp Nebenbedingungen in Gleichungsform.

Definition 8.6.28. f hat in x0 ∈ N ein relatives oder bedingtes Maximum (Minimum)unter der NebenbedingungN, wenn eine UmgebungU von x0 existiert, so daßf (x) ≤f (x0), ( f (x)≥ f (x0)) für allex∈U ∩N∩D( f ). ♦

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8.6 Höhere, lokale Approximation

Satz 8.6.29.Seien f∈C1(D( f ),R), ϕ ∈C1(D( f ),Rp) mit offenem D( f )⊆Rn, n≥ p. Seiweiter N= {x∈ D( f ) : ϕ(x) = 0}, x0 ∈ N, d.h.,ϕ(x0) = 0, undrang(ϕ ′(x0)) = p.

Wenn f in x0 ein relatives Extremum unter der Nebenbedingung N hat, dann existierenZahlenλ1, . . . ,λp mit

gradf (x0)−p

∑j=1

λ j gradϕj(x0) = 0 , ϕ(x0) = 0. (8.6.7)

Bemerkung 8.6.30.1. Das Kriterium ist im allgemeinen nicht hinreichend, das heißt, obin einer kritischen Stelle tatsächlich ein Extremum vorliegt, muß natürlich noch geprüftwerden.

2. (8.6.7) ist ein nichtlineares System vonn+ p Gleichungen für dien+ p Unbekanntenx1

0, . . . ,xn0, λ1, . . . ,λp. Setzt man

F(x,λ ) = f (x)−p

∑j=0

λ jϕj(x)

so erhält man (8.6.7) durchgradF(x,λ ) = 0.

3. Im Falle p = 1 lautet die Rangeigenschaft gradϕ(x0) 6= 0. (8.6.7) bedeutet dann, daßgradf (x0) und gradϕ(x0) parallel sind.

4. Die Zahlenλi heißenLagrange-Multiplikatoren . Meist haben sie keine inhaltliche Be-deutung. In einigen Fällen können sie aber als Zwangskräfte (Physik) oder Schattenpreise(Wirtschaft) interpretiert werden. ♦

Beispiel 8.6.31.Man finde alle Punkte(x,y) auf der Ellipseϕ(x,y) := 4x2+y2−4 = 0, fürwelche der Abstand zu(2,0) extremal wird.

Da der Abstand genau dann extremal wird, wenn sein Quadrat extremal wird, können wiralso nach Extremstellen vonf (x,y) = (x−2)2 +y2 suchen. Da

gradf (x) = (2(x−2),2y) , gradϕ(x) = (8x,2y) ,

erhalten wir als notwendige Bedingung

2(x0−2)−8λx0 = 0, 2y0−2λy0 = 0, 4x20 +y2

0 = 4.

Wenny0 6= 0, dann istλ = 1 und daherx0 =−23 undy0 =−2

3

√5 odery0 = +2

3

√5.

Wenny0 = 0, dann istx0 = 1 oderx0 =−1 mit λ =−14 bzw. λ = 3

4.

Durch geometrische Betrachtungen erhalten wir, daß in(−2

3,−23

√5)

und(−2

3,+23

√5)

relative Maxima und in(1,0), (−1,0) relative Minima vorliegen. ♦

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8 Differentialrechnung

8.7 Potenzreihen und Taylor-Reihen

Im Abschnitt8.6.2sahen wir, daß man bestimmte Funktionen wie exp, sin und cos in einesogenannte Taylor-Reihen entwickeln kann. Wir werden sehen, daß Taylor-Reihen speziellePotenzreihen sind.

Entstehende Fragen sind nun:

•Was ist und wo konvergiert eine Potenzreihe?

• Ist die Entwicklung einer Funktionf in der Nähe eines Punktesx0 ∈D( f ) in eine Potenz-reihe bzw. Taylor-Reihe eindeutig?

•Wie glatt ist eine Potenzreihe?

8.7.1 Potenzreihen

Definition 8.7.1. Seienan ∈ R, n∈ N undx0 ∈ R. Dann heißt die Folge(pn)n∈N der Poly-nomepn : R→ R mit

pn(x) =n

∑k=0

ak(x−x0)k

einePotenzreiheum x0 mit denKoeffizienten an (Beachte hier: 1= 00). Die Grenzfunk-tion P: D(P)⊆ R→ R mit

P(x) =∞

∑n=0

an(x−x0)n für x∈ D(P) := {y∈ R :∞

∑n=0

an(y−x0)n konvergiert}

heißt ebenfallsPotenzreiheoder auchSumme der Potenzreihe.

Wir nennen die Potenzreihe∑∞n=0an(x−x0)n absolut konvergent, wenn∑∞

n=0 |an| · |x−x0|nkonvergiert. ♦

Bemerkung 8.7.2.1. Mit der Substitutiont = x−x0 erhalten wir die Potenzreihe∑∞n=0antn

um 0. Man kann also o.B.d.A. vonx0 = 0 ausgehen. Dies werden wir im folgenden so tun.

2. Fehlendexn-Terme haben den Koeffizientenan = 0.

3. Die Partialsummenpn(x) = ∑nk=0ak(x− x0)k sind Polynome vom Grad kleiner oder

gleichk in x. Sie sind aufR definiert.

4. Obwohl alle Partialsummen aufR definiert sind, muß die Potenzreihe nicht für allex∈Rkonvergieren, d.h., die Grenzfunktion muß nicht auf ganzR definiert sein.

5. Jede Potenzreihe∑∞n=0an(x−x0)n konvergiert mindestens inx0. ♦

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8.7 Potenzreihen und Taylor-Reihen

Beispiel 8.7.3.1. Wir betrachten die Potenzreihe∑∞n=0

xn

n! . Für die Folge der Partialsummenan der Stellex = 20 erhalten wir die ersten 11 Folgenglieder (näherungsweise)

1, 21, 221, 1554.3, 8221, 34887.6, 1.2·105, 3.8·105, 1.0·106, 2.4·106, 5.2·106 .

Sie konvergiert aber trotzdem für allex ∈ R gegen ex, da sie die schon bekannte Taylor-Reihe zu exp umx0 = 0 ist, die Grenzfunktion ist also exp.

2. Die Potenzreihe∑∞n=0xn (geometrische Reihe) ist absolut konvergent für allex∈ ]−1,1[

gegen 11−x. Für |x| ≥ 1 ist sie divergent. Die GrenzfunktionP ist alsoP(x) = 1

1−x aufD(P) = ]−1,1[.

3. Die Potenzreihe∑∞n=0n!xn konvergiert nur fürx = 0. Die GrenzfunktionP ist hier

P(x) = 1 aufD(P) = {0}.

4. In der Potenzreihe∑∞n=0anxn = ∑∞

n=0x2n

n! sind die Koeffizientena2i+1, i ∈N, alle 0. Setzenwir t = x2, so erhalten wir

∑n=0

x2n

n!=

∑n=0

tn

n!= et = ex2

.

Die GrenzfunktionP ist hier alsoP(x) = ex2aufD(P) = R. ♦

8.7.2 Konvergenzradius

Satz 8.7.4.Für jede Potenzreihe∑∞n=0anxn existiert genau einρ ∈ R≥0∪{∞} mit den fol-

genden Eigenschaften:

1. Die Potenzreihe konvergiert absolut für alle x∈ R mit |x|< ρ.2. Sie divergiert für alle x∈ R mit |x|> ρ.

(Quotientenkriterium)Es gilt

ρ = limn→∞| an

an+1| , (8.7.1)

falls der Grenzwert zumindest im uneigentlichen Sinne existiert.

(Wurzelkriterium) WennW := lim

n→∞n√|an| (8.7.2)

zumindest im uneigentlichen Sinne existiert, so giltρ = 1W für W ∈ ]0,∞[, ρ = 0 für W = ∞

undρ = ∞ für W = 0.

Beweis.Die allgemeine Aussage zur Existenz und den Eigenschaften vonρ können wirhier nicht zeigen. Seiρ durch (8.7.1) gegeben. Seix∈ R 6=0 fixiert. Dann gilt

limn→∞|an+1xn+1

anxn |= limn→∞|an+1x

an|= |x| lim

n→∞|an+1

an|= |x|

ρ.

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8 Differentialrechnung

Nach dem Quotientenkriterium für Zahlenreihen (Satz6.2.23) folgt die Konvergenz fürx∈ R mit |x|< ρ und die Divergenz für|x|> ρ.

Sei nunρ durch (8.7.2) gegeben. Seix∈ R 6=0 fixiert. Dann gilt

limn→∞

n√|anxn|= lim

n→∞n√|an| · |xn|= lim

n→∞n√|an| · |x|n = |x| lim

n→∞n√|an|= |x|W ,

und die Aussage folgt aus dem Wurzelkriterium für Zahlenreihen (Satz6.2.21).

Definition 8.7.5. Die Zahlρ aus obigen Satz heißtKonvergenzradiusder Reihe. ♦

Beispiel 8.7.6.1. Für∑∞n=0

xn

n! haben wirρ = limn→∞ | anan+1|= limn→∞ |

1n!1

(n+1)!|= limn→∞ |n+

1|= ∞.

2. Für∑∞n=0xn erhalten wirρ = limn→∞ | an

an+1|= limn→∞ |11|= limn→∞ |1|= 1.

3. Für∑∞n=0n!xn gilt ρ = limn→∞ | an

an+1|= limn→∞ | n!

(n+1)! |= limn→∞ | 1n+1|= 0.

4. In der Potenzreihe∑∞n=1

1nxn ist an = 1

n für n≥ 1. Der Grenzwert

limn→∞| an

an+1|= lim

n→∞| nn+1

|= 1

existiert. Daher finden wir hier den Konvergenzradiusρ = 1.

5. In der Potenzreihe∑∞n=0(2n +1)xn ist an = (2n +1)> 0 und der Grenzwert

limn→∞| an

an+1|= lim

n→∞| 2n +12n+1 +1

|= 12

existiert. Daher finden wir hier den Konvergenzradiusρ = 12.

6. In der Potenzreihe∑∞n=1

nn

n! xn ist an = nn

n! > 0 und der Grenzwert

limn→∞| an

an+1|= lim

n→∞| nn(n+1)!n!(n+1)n+1 |= lim

n→∞

(n

n+1

)n

= limn→∞

(1− 1

n

)n

|= 1e

existiert. Daher finden wir hier den Konvergenzradiusρ = 1e.

7. In der Potenzreihe∑∞n=1n22nxn ist an = n22n und, wegen

limn→∞

n√

an = limn→∞

n√

n22n = 2 limn→∞

n√

n2 = 2 limn→∞

n√

n limn→∞

n√

n = 2,

erhalten wir den Konvergenzradiusρ = 12.

8. In der Potenzreihe∑∞n=1n!xn ist an = n! und, wegen

limn→∞

n√

an = limn→∞

n√

n! = ∞ ,

erhalten wir den Konvergenzradiusρ = 0. ♦

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8.7 Potenzreihen und Taylor-Reihen

Zur Abschätzung des Konvergenzradius ist oft folgender Satz hilfreich:

Satz 8.7.7.1. Ist die Reihe∑∞n=0anxn konvergent für ein x= r, so ist die Reihe absolut

konvergent für alle x mit|x|< |r|, und für den Konvergenzradiusρ gilt ρ ≥ |r|.2. Ist die Reihe∑∞

n=0anxn divergent für ein x= s, so ist die Reihe divergent für alle x mit|x|> |s|, und für den Konvergenzradiusρ gilt ρ ≤ |s|.

Beweis.1. Da die Reihe fürx = r konvergiert, kann nach Satz8.7.4nicht |r|> ρ gelten.

2. Wenn die Reihe fürx = s divergiert, so kann nach Satz8.7.4nicht |s|< ρ gelten.

Beispiel 8.7.8.Die Potenzreihe∑∞n=1

1nxn divergiert fürx = 1 (harmonische Reihe!). Damit

haben wirρ ≤ 1. Sie konvergiert aber auch fürx =−1 (alternierende harmonische Reihe).Damit haben wirρ ≥ 1. Somit giltρ = 1 und sie konvergiert absolut fürx mit |x|< 1, undsie divergiert fürx mit |x|> 1. ♦

8.7.3 Rechnen mit Potenzreihen

Satz 8.7.9.Haben die Potenzreihen∑∞n=0anxn und∑∞

n=0bnxn die Konvergenzradienρa undρb, so gilt für alle x∈ R mit |x|<min{ρa,ρb} und fürλ ,µ ∈ R

λ

∑n=0

anxn + µ

∑n=0

bnxn =∞

∑n=0

(λan + µbn)xn

und [∞

∑n=0

anxn

[∞

∑n=0

bnxn

]=

∑n=0

cnxn

mit

cn = a0bn +a1bn−1 + · · ·+anb0 =n

∑k=0

akbn−k .

Bemerkung 8.7.10.1. Potenzreihen können also gliedweise addiert (bzw. subtrahiert) wer-den und der Konvergenzradius der entstehenden Reihe ist mindestens min{ρa,ρb}.2. Die Multiplikation von Potenzreihen erfolgt nicht gliedweise, sondern nach dem im Satzgenannten Cauchy-Produkt. ♦

Satz 8.7.11.Die Potenzreihe∑∞n=0anxn habe den Konvergenzradiusρ. Sei P die Summe

der Potenzreihe. Dann gilt:

1. P ist differenzierbar auf]−ρ,ρ[, und es gilt

P′(x) =

(∞

∑n=0

anxn

)′=

∑n=0

(anxn)′ =∞

∑n=1

nanxn−1 (x∈ ]−ρ,ρ[) .

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8 Differentialrechnung

Die Potenzreihe∑∞n=1nanxn−1 hat wieder den Konvergenzradiusρ.

2. P ist integrierbar auf jedem Intervall[a,b]⊂ ]−ρ,ρ[ , und es gilt∫ x

0P(t)dt =

∫ x

0

∑n=0

antndt =

∑n=0

∫ x

0ant

ndt =∞

∑n=0

1n+1

anxn+1 (x∈ [a,b]) .

Die Potenzreihe∑∞n=0

1n+1anxn+1 hat wieder den Konvergenzradiusρ.

Bemerkung 8.7.12.1. Potenzreihen sind also gliedweise differenzierbar und integrierbar;bezüglich Integration siehe Kapitel??. Bei Potenzreihen können die Grenzwertbildung derDifferentiation bzw. Integration mit der Grenzwertbildung der Reihe vertauscht werden.Für andere Funktionenreihen oder -folgen gilt dies nicht unbedingt!

2. Die Grenzfunktionen von Potenzreihen sind somit im Innern des Konvergenzintervallsstetig und beliebig oft differenzierbar. ♦

Satz 8.7.13 (Identitätssatz).Seien∑∞n=0an(x− x0)n und∑∞

n=0bn(x− x0)n zwei Potenzrei-hen mit den Konvergenzradienρa und ρb und den Grenzfunktionen f und g. Gilt f(ξi) =g(ξi) für eine Folge(ξi)i∈N von Punktenξi ∈ ]x0−min{ρa,ρb},x0+min{ρa,ρb}[\{x0}mitξi → x0, so gilt

ρa = ρb , f = g, an = bn =f (n)(x0)

n!(n∈ N) .

Bemerkung 8.7.14.1. Man vergleiche die Aussage mit der Aussage zur Identität von Po-lynomen.

2. Die Potenzreihendarstellung einer Funktionf umx0 ist also eindeutig.

3. Entwickelt man die Grenzfunktion einer Potenzreihe um 0 in eine Taylor-Reihe um 0 ,so erhält man wieder diese Potenzreihe (Vergleiche: Polynom und Taylor-Polynom).

4. Der Weg zur Bestimmung einer Potenzreihendarstellung einer Funktionf muß also nichtimmer über den Satz von Taylor erfolgen. ♦

Beispiel 8.7.15.1. Die Potenzreihe∑∞n=0xn hat den Konvergenzradiusρ = 1 und die Sum-

me

f (x) =∞

∑n=0

xn =1

1−xfür x∈ ]−1,1[ .

Gliedweises Differenzieren liefert

f ′(x) =1

(1−x)2 =∞

∑n=1

nxn−1 für x∈ ]−1,1[ .

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8.7 Potenzreihen und Taylor-Reihen

Weiter gilt

f (k)(x) =k!

(1−x)k+1 =∞

∑n=k

n(n−1) · · ·(n−k+1)xn−k =∞

∑n=k

(nk

)xn−k für x∈ ]−1,1[ .

2. Die Potenzreihe∑∞n=0(−1)nx2n hat den Konvergenzradiusρ = 1 und die Summe

f (x) =∞

∑n=0

(−1)nx2n =1

1+x2 für x∈ ]−1,1[ .

Dies folgt aus dem vorherigen Beispiel, wenn manx durch−x2 ersetzt. Durch gliedweiseIntegration erhalten wir

arctanx =∫ x

0

11+ t2 dt =

∫ x

0

∑n=0

(−1)nt2ndt =∞

∑n=0

∫ x

0(−1)nt2ndt

=∞

∑n=0

(−1)n 12n+1

t2n+1∣∣t=xt=0 =

∑n=0

(−1)n

2n+1x2n+1 ,

also∞

∑n=0

(−1)n

2n+1x2n+1 = arctanx für x∈ ]−1,1[ .

Im Grenzfallx = 1 erhalten wir∞

∑n=0

(−1)n

2n+1=

π

4,

d.h., eine (langsam konvergente) Reihe zur Berechnung vonπ. ♦

197