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Mathematik f¨ ur Bauingenieure, Modul II Dr. Theo Overhagen Mathematik Universit¨ at Siegen

Mathematik fur Bauingenieure, Modul II¨ · INHALTSVERZEICHNIS III Vorbemerkung Das vorliegende Rumpfskript ist Fortsetzung des Skriptes fur Modul 1. Es soll die Arbeit des Mit-¨

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Mathematik fur Bauingenieure, Modul II

Dr. Theo Overhagen

Mathematik

Universitat Siegen

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I

Inhaltsverzeichnis

1 Analytische Geometrie 11.1 Der Vektorraum IRn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Skalarprodukt, Gleichungsdarstellung einer Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31.3 Kreuzprodukt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31.4 Spatprodukt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41.5 Geraden und Ebenen im Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

2 Lineare Optimierung 112.1 Aufgabenstellung, Graphische Losung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112.2 Analytische Losung, Simplexverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132.3 Transportprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

3 Funktionen mehrerer Variabler 263.1 Geometrische Veranschaulichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263.2 Stetigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303.3 Partielle und totale Differenzierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313.4 Extrema von Funktionen mehrerer Variabler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363.5 Implizite Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413.6 Bereichsintegrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423.7 Koordinatentransformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

4 Gewohnliche Differentialgleichungen 484.1 Komplexe Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

4.1.1 Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484.1.2 Darstellung der komplexen Zahlen in der Gaußschen Zahlenebene . . . . . . . . . 49

4.2 Definition der Differentialgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504.2.1 Beispiele von Differentialgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

4.3 Differentialgleichungen 1. Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554.3.1 Richtungsfeld, Polygonzugverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554.3.2 Exakte Differentialgleichungen, Integrierender Faktor . . . . . . . . . . . . . . . . 564.3.3 Trennung der Variablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

4.4 Lineare Differentialgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574.4.1 Definition und Struktur der Losungsmenge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574.4.2 Lineare Differentialgleichungen 1. Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594.4.3 Lineare Differentialgleichungen 2. Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604.4.4 Lineare Differentialgleichungen n-ter Ordnung mit konstanten Koeffizienten . . . 614.4.5 Spezielle Losungsansatze fur die partikulare Losung . . . . . . . . . . . . . . . . 62

5 Einfuhrung in die Statistik 645.1 Einfuhrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645.2 Beschreibende Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

5.2.1 Haufigkeitsverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645.2.2 Statistische Maßzahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

5.3 Zufallsvariable und ihre Verteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735.3.1 Zufallsvariable und Wahrscheinlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735.3.2 Diskrete Gleichverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

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INHALTSVERZEICHNIS II

5.3.3 Binomialverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 775.3.4 Stetige Gleichverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 795.3.5 Normalverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

5.4 Einfuhrung in die schließende Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 815.4.1 Stichproben, Schatzfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 815.4.2 Konfidenzintervalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

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INHALTSVERZEICHNIS III

Vorbemerkung

Das vorliegende Rumpfskript ist Fortsetzung des Skriptes fur Modul 1. Es soll die Arbeit des Mit-schreibens wahrend der Vorlesung reduzieren und kann nicht die Vorlesung oder zusatzliche Arbeit mitentsprechender Fachliteratur ersetzen.

Literatur

Die angegebene Literatur ist ein kleiner willkurlicher Ausschnitt aus der einschlagigen Literatur. Sieerganzt die in der Literaturliste des Skriptes zu Modul 1 angegebene Literatur. Jeder sollte (vor allemunter den in der Uni-Bibliothek vorhandenen Buchern) herausfinden, welche Literatur fur ihn geeignetist.

Beichelt: Stochastik fur Ingenieure, Teubner Verlag, Stuttgart.

Beyer/Hackel/Pieper/Tiedge: Wahrscheinlichkeitsrechnung u. math. Statistik, Teubner Verlag,Leipzig.

Burg/Haf/Wille: Hohere Mathematik fur Ingenieure, Bd.1-3, Teubner, Stuttgart. ????

Dobner/Dobner: Gewohnliche Differenzialgleichungen, Theorie und Praxis. Fachbuchverlag Leipzigim Hanser Verlag, Leipzig.

Fischer: Stochastik einmal anders. Vieweg Verlag, Wiesbaden.

Timmann: Repetitorium der gewohnlichen Differentialgleichungen, Binomi-Verlag, Springe.

Papula: Mathematik fur Ingenieure und Naturwissenschaftler, Bd. 3, Vieweg, Braunschweig.

Sachs: Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik f. Ing.-Studenten an Fachhochschulen. Fach-buchverlag Leipzig im Hanser Verlag, Leipzig.

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1

1 Analytische Geometrie

1.1 Der Vektorraum IRn

Im Vorkurs-Skript §3.2 und im Skript zu Modul I wurden schon Vektoren eingefuhrt. Hier sollen nochmaldie wichtigsten Eigenschaften zusammengefaßt und ihre Anwendungen in der analytischen Geometriesowie der Zusammenhang zu den linearen Gleichungssystemen zusammengestellt werden.

Vektoren sind in der Mathematik allgemein Objekte, fur die eine Addition und eine Multiplikationmit Skalaren (Elementen eines Korpers) definiert sind, die bestimmten Rechenregeln genugen. Eineentsprechende Menge von Vektoren nennt man Vektorraum.Wir wollen uns hier auf n-Tupel reeller Zahlen (mit n ∈ IN) und auf reelle Skalare beschranken undbezeichnen den zugehorigen Vektorraum mit IRn.

Definition 1.1.1 Fur k ∈ IN, α1, . . . , αk ∈ IR, ~a1, . . . ,~ak ∈ IRn heißt

~b =k∑

i=1

αi~ai Linearkombination der Vektoren ~a1, . . . ,~ak.

Kann man (mindestens) einen der Vektoren ~a1, . . . ,~am als Linearkombination der anderen darstellen,dann heißen die Vektoren linear abhangig und sonst linear unabhangig.

Satz 1.1.2 Folgende Aussagen sind aquivalent:

(a) Die Vektoren ~a1, . . . ,~am sind linear unabhangig.

(b) Die Gleichungm∑

i=1

αi~ai = ~0 gilt nur fur α1 = α2 = . . . = αm = 0.

(c) Die Matrix mit den Spaltenvektoren ~a1, . . . ,~am hat Rang m.

Im IRn kann es damit hochstens jeweils n linear unabhangige Vektoren geben.Eine Menge von n linear unabhangigen Vektoren nennt man Basis des Vektorraums. Man kann jedenVektor des IRn als Linearkombination der Vektoren einer solchen Basis darstellen, und diese Darstellungist eindeutig. Damit kann man jede Basis als Koordinatensystem verwenden, nicht nur dieNormalbasisder

Koordinateneinheitsvektoren ~e1 := (1, 0, . . . , 0), . . . , ~en := (0, . . . , 0, 1).

Beispiele 1.1.3

(1) Eine Walze der Masse m rollt nur auf Grund ihres Eigengewichts auf einer schiefen Ebene mitNeigungswinkel α. Welche Kraft druckt auf die Ebene und welche Kraft beschleunigt die Walze?

(2) Eine Straßenlampe der Masse m = 2, 446 kg hangt in der Mitte eines Haltedrahtes, der an denStraßenseiten in gleicher Hohe an Masten befestigt ist. Die Masten sind 15m voneinander entferntund die Lampe hangt 0, 6m durch. Wie groß sind die Spannkrafte in den Drahten?

(3) Ein Schwimmer durchquert einen Fluß der Breite b. Die Geschwindigkeit des Flußwassers istkonstant gleich ~v. Da der Schwimmer sich rechtwinklig zu den Ufern bewegen mochte, ist seinGeschwindigkeitsvektor ~c schrag stromaufwarts gerichtet. Wie lange braucht der Schwimmer, wenn|~c| konstant ist, und in welcher Richtung muß er schwimmen?

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1. Analytische Geometrie 2

Den Abstand d(P,Q) zweier Punkte P = ~x und Q = ~y definierenwir (analog zu den entsprechenden Formeln in der Ebene IR2 undim Raum IR3, die sich aus dem Satz des Pythagoras ergeben,)durch

d(P,Q) =√

(x1 − y1)2 + (x2 − y2)2 + . . .+ (xn − yn)2.

Wir bezeichnen den Abstand von P und Q in Zukunft durch

|P −Q| = |~x− ~y|

und den Abstand von P zum Ursprung ~0 mit |P | = |~x|.

z

y

x

❵❵

x0

y0

z0

x2

0+ y2

0

x2

0+ y2

0+ z2

0

Fur beliebige ~x, ~y ∈ IRn und λ ∈ IR gilt

∣λ~x∣

∣ = |λ| ·∣

∣~x∣

∣ und∣

∣~x+ ~y∣

∣ ≤∣

∣~x∣

∣+∣

∣~y∣

∣ (Dreiecksungleichung).

Ein Vektor ~x mit∣

∣~x∣

∣ = 1 heißt Einheitsvektor. Zum Beispiel ist fur jedes ~x ∈ IRn mit ~x 6= ~0 der

Vektor ~e :=~x∣

∣~x∣

ein Einheitsvektor.

~x · ~y :=

n∑

k=1

xkyk heißt Skalarprodukt der beiden Vektoren ~x und ~y.

Fur beliebige λ ∈ IR, ~x, ~y, ~z ∈ IRn gilt

(

λ~x)

· ~y = λ ·(

~x · ~y)

,(

~x+ ~y)

· ~z =(

~x · ~z)

+(

~y · ~z)

, ~x · ~y = ~y · ~x und ~x · ~x =∣

∣~x∣

2 ≥ 0.

Zwei Vektoren ~x, ~y 6= ~0 spannen ein Parallelogramm mit Diagona-len ~x + ~y und ~x− ~y auf. Gilt ~x · ~y = 0, dann sind die Diagonalengleich lang, das Parallelogramm ist also ein Rechteck und die Vek-toren ~x und ~y sind zueinander orthogonal.

⑦~x− ~y

~x+ ~y~y

~x

Seien nun ~ex und ~ey die zugehorigen Einheitsvektoren, λ~ex die Pro-jektion von ~ey auf die von ~ex aufgespannte Gerade, α der Winkelzwischen ~x und ~y, dann gilt λ = cosα bzw.

~x · ~y =∣

∣~x∣

∣ ·∣

∣~y∣

∣ · cosα (Satz von Schwarz).

❨❨❵

~x~ex

~y~ey

λ~ex

α

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1. Analytische Geometrie 3

1.2 Skalarprodukt, Gleichungsdarstellung einer Ebene

Eine Ebene im IR3 ist eine Punktmenge der Form

(x1, x2, x3) ∈ IR3; a1x1 + a2x2 + a3x3 = c.

Mit Hilfe des Skalarprodukts kann man dies auch in der Form schreiben:

~x ∈ IR3; ~a · ~x = c

Der Vektor ~a ist zu der Parallelebene durch den Nullpunkt (d.h. mit c = 0) orthogonal und heißtNormalenvektor der Ebene.

Analog nennt man eine (durch die lineare Funktion von n Variablen beschriebenen) Punktmenge

(x1, x2, . . . , xn) ∈ IRn; a1x1 + a2x2 + . . . + anxn = c Hyperebene.

Im Fall n = 3 ist das eine Ebene, im Fall n = 2 eine Gerade.

Der Vektor ~a := (a1, a2, . . . , an) heißt Normalenvektor der Hyperebene, die Darstellung

~a · ~x = c Normalform.

Hyperebenen mit gleichem Normalenvektor und verschiedenem c sind zueinander parallel.

Ist ~a ein Einheitsvektor, dann heißt die Darstellung Hessesche Normalform. |c0| ist der Abstand desNullpunktes von der Ebene, und das Vorzeichen gibt an, in welche Richtung, bezogen auf den Nullpunkt,der Normalenvektor zeigt. Die Hessesche Normalform ist bis auf die Vorzeichen von ~a (bzw. c0) eindeutigbestimmt.

Ganz analog erhalt man aus der Hesseschen Normalform ~a0 · ~x = c0 zu jedem Punkt ~x1 ∈ IRn denorientierten senkrechten Abstand zu der Ebene durch

d = ~a0 · ~x1 − c0.

d ist positiv, wenn der Punkt ~x1 und der Nullpunkt auf verschiedenen Seiten der Hyperebene liegen,und negativ, wenn sie auf der gleichen Seite liegen.

1.3 Kreuzprodukt

Speziell im IR3 kann man je zwei Vektoren ~a und ~b einen anderen Vektor ~z zuordnen:

Definition 1.3.1 Fur ~a,~b ∈ IR3 sei ~c der Vektor mit folgenden Eigenschaften:

(1) ~c ist orthogonal zu ~a und ~b.

(2) |~c| = |~a| · |~b| · sinα, und dabei ist α der von ~a und ~b eingeschlossene Winkel.

(3) ~a, ~b und ~c bilden (in dieser Reihenfolge) ein Rechtssystem.

~c heißt Vektorprodukt (oder Kreuzprodukt) von ~a und ~b. Schreibweise: ~c = ~a×~b.~c ist durch ~a und ~b eindeutig bestimmt und gleich dem Nullvektor, falls ~a = ~0 oder ~b = ~0 oder falls ~aund ~b parallel sind.

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1. Analytische Geometrie 4

Bemerkungen 1.3.2

(1) Sind die Vektoren ~a und ~b nicht gleich dem Nullvektor und nicht parallel, dann spannen sie einParallelogramm auf, dessen Flacheninhalt gleich |~a×~b| ist.

(2) Das Vektorprodukt ist nicht kommutativ, denn es gilt ~a×~b = −~b× ~a,d.h. Vertauschung der Vektoren erzeugt als Vektorprodukt einen Vektor, der dieselbe Lange, aberentgegengesetzte Richtung wie das ursprungliche Vektorprodukt hat.

(3) Fur beliebiges λ ∈ IR gilt (λ~a)×~b = λ(~a×~b).

(4) Fur beliebige Vektoren ~a, ~b, ~c gilt ~a× (~b+ ~c) = (~a×~b) + (~a× ~c).

(5) Man erhalt das Vektorprodukt in Komponentenschreibweise durch Berechnen der”Determinante“

~a×~b =

~e1 ~e2 ~e3a1 a2 a3b1 b2 b3

.

(6) Im allgemeinen gilt ~a×(

~b× ~c)

6=(

~a×~b)

× ~c.

Beispiele 1.3.3

(1) Berechne fur ~a =

51−1

, ~b =

2−71

, ~c =

308

die Produkte ~a×~b, ~b× ~c, ~a×(

~b× ~c)

,(

~a×~b)

× ~c

und zeige mit Hilfe des Skalarprodukts, daß ~a×~b auf ~a und ~b jeweils senkrecht steht.

(2) Auf einen Massenpunkt der Masse m wirke eine Kraft ~F , die vom Massenpunkt immer in Rich-tung eines festen Punktes (z.B. des Nullpunktes) zeigt. Ist ~x der Ortsvektor des Massenpunktes,dann gilt also ~F = λ~x. (Beispiel: Gravitationskraft der Sonne auf die Erde). Bewegt sich derMassenpunkt, dann wird sein Ort durch die Vektorfunktion ~x(t) in Abhangigkeit von der Zeit tbeschrieben. Ist diese Funktion zweimal stetig differenzierbar, dann folgt aus dem NewtonschenBewegungsgesetz

~F = m · ~x(t).Da ~F und ~x parallel sind, ergibt Vektormultiplikation der Gleichung mit ~x(t)

m · ~x(t)× ~x(t) = ~x(t)× ~F = ~x(t)×(

λ~x(t))

= 0,

und Integration nach t m · ~x(t)× ~x(t) = ~cmit einem konstanten Vektor ~c. Die linke Seite heißt Drehimpuls des Massenpunktes bezuglichdes Nullpunktes. Damit ergibt sich: Der Drehimpuls des Massenpunktes bezuglich des Nullpunktesist konstant und die Bahnkurve liegt in einer Ebene senkrecht zu ~c.

1.4 Spatprodukt

Drei linear unabhangige Vektoren ~a,~b,~c ∈ IR3 spannen einParallelepiped auf, d.h. einen Korper, der von 3 Paaren zu-einander parallelen ebenen Seitenflachen begrenzt wird, die wie-derum Parallelogramme sind. Einen solchen Korper nennt manauch Spat. Das von ~a und ~b aufgespannte Parallelogramm hat dieFlache |~a ×~b| und die zugehorige Hohe ergibt sich als Skalarpro-dukt von ~c mit dem Einheitsvektor in Richtung ~a×~b. Als Volumenergibt sich damit V = |(~a×~b) · ~c|.

♣♣

~a

~b

~c

~a×~b

h

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1. Analytische Geometrie 5

Definition 1.4.1 Seien ~a,~b,~c ∈ IR3. Dann heißt [~a~b~c] := (~a ×~b) · ~c Spatprodukt von ~a, ~bund ~c.

Bemerkungen 1.4.2

(1) Das Volumen des zugehorigen Spats ist der Betrag des Spatprodukts. Bilden die Vektoren einRechtssystem, dann ist das Spatprodukt positiv, also gleich dem Volumen.

(2) Das Volumen des Spats, das aus dem Rechtssystem ~a,~b,~c erzeugt ist, ist auch das Produkt derFlache ~b × ~c mit der Lange der zugehorigen Hohe, also gleich ~a · (~b × ~c). Da die Reihenfolge derMultiplikationszeichen vertauscht werden kann, ist die Schreibweise des Spatprodukts gerechtfer-tigt.

(3) Da das Skalarprodukt kommutativ ist, gilt (~b× ~c) · ~a = ~a · (~b× ~c).Analog folgt

[~a~b~c] = [~b~c~a] = [~c~a~b],

d.h. das Spatprodukt andert sich bei zyklischer Vertauschung nicht.

(4) Wegen ~a×~b = −~b× ~a gilt [~a~b~c] = −[~b~a~c].

(5) Wegen ~a× ~a = 0 gilt [~a~a~b] = [~b~a~a] = [~a~b~a] = 0.

Beispiel 1.4.3 Eine Flussigkeit fließt mit konstanter Geschwindigkeit ~v durch eine Parallelogramm-flache, die von den Vektoren ~a und ~b aufgespannt wird. Dann ist die Flussigkeitsmenge, die in einerZeiteinheit durch das Parallelogramm fließt, gleich dem Volumen des Spats, das von den Vektoren ~a, ~bund ~v aufgespannt wird, also gleich

∣[~a~b~v]∣

∣.

1.5 Geraden und Ebenen im Raum

Die Losungen ~x = (x1, x2, . . . , xn) einer homogenen linearen Gleichung mit n Variablen

a1x1 + a2x2 + . . .+ anxn = 0

kann man mit Hilfe des Skalarprodukts als Menge der Punkte im IRn interpretieren, deren Ortsvektorenauf dem Vektor ~a = (a1, . . . , an) senkrecht stehen.

Eine Ebene im IR3 wird festgelegt

• durch drei Punkte ~x1, ~x2 und ~x3, die nicht auf einer gemeinsamen Geraden liegen, bzw.

• durch den Ortsvektor ~x1 eines Punktes und zwei linear unabhangige Richtungsvektoren ~r1(=~x2 − ~x1) und ~r2(= ~x3 − ~x1).

Aus der Parameterdarstellung~x = ~x1 + s · ~r1 + t · ~r2

erhalt man mit Hilfe des Vektorprodukts sofort die Normalform ~a · ~x = b mit

~a = ~r1 × ~r2 und b = ~a · ~x1

bzw. die Hessesche Normalform~a

|~a| · ~x =b

|~a| .

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1. Analytische Geometrie 6

Beispiel 1.5.1 (Abstand Punkt Ebene)Die Ebene durch die drei Punkte (1, 0, 0), (0, 1, 0) und (0, 0, 1) hat die Parameterdarstellung

~x =

100

+ s ·

−110

+ t ·

−101

, s, t ∈ IR,

und damit die Hessesche Normalform1√3

111

· ~x− 1√3= 0.

Der Abstand des Punktes (3, 3, 4) von der Ebene ist d = 3√3.

Sei E1 die Ebene mit Parameter- bzw. Normalendarstellung

~x = ~x1 + s · ~r11 + t · ~r12 bzw. ~a1 · ~x = b1

und die E2 die Ebene mit

~x = ~x2 + s · ~r21 + t · ~r22 bzw. ~a2 · ~x = b2.

• Die Ebenen sind gleich genau dann, wenn die Normalenvektoren ~a1 bzw. ~a2 linear abhangig sindund die drei Vektoren ~x1 − ~x2, ~r11 und ~r12 linear abhangig sind.Die 2. Bedingung ist erfullt, wenn das Spatprodukt [(~x1 − ~x2)~r11 ~r12] Null ist.

• Die Ebenen sind parallel, wenn die Normalenvektoren ~a1 bzw. ~a2 linear abhangig sind und die dreiVektoren ~x1 − ~x2, ~r11 und ~r12 linear unabhangig sind.

• Die Ebenen schneiden sich in einer Geraden, wenn die Normalenvektoren ~a1 bzw. ~a2 linear un-abhangig sind. Die Schnittgerade hat den Richtungsvektor ~a1 × ~a2.Der Schnittwinkel ist gleich dem Winkel, den die Normalenvektoren einschließen.

Beispiele 1.5.2

(1) Die Ebenen E1 : ~x =

100

+ s ·

110

+ t ·

011

und E2 : ~x =

221

+ s ·

121

+ t ·

32−1

haben die Normalen ~a1 =

1−11

bzw. ~a2 =

−44−4

.

~x1 − ~x2 =

100

221

=

−1−2−1

ist linear abhangig von den jeweiligen Richtungsvektoren, die Ebenen sind also gleich.

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1. Analytische Geometrie 7

(2) Die Ebene E3 : ~x =

010

+ s ·

110

+ t ·

011

hat zwar wieder einen parallelen (bzw. sogar gleichen) Normalenvektor wie E1 und E2, aber

~x1 − ~x3 =

100

010

=

1−10

ist nicht linear abhangig von den Richtungsvektoren, d.h. E3 ist parallel zu E1 und E2.

(3) (Schnitt zweier Ebenen)Die Ebenen mit der Gleichungsdarstellung

E1 : −x +y −z = 0E2 : −5x +y +6z = 14

haben die Normalen ~a1 =

−11−1

bzw. ~a2 =

−516

.

Fur den Schnittwinkel φ gilt

cosφ =~a1 · ~a2|~a1| · |~a2|

= 0,

die Ebenen stehen also senkrecht aufeinander.

Die Schnittgerade hat den Richtungsvektor ~r = ~a1 × ~a2 =

7114

.

Setzt man z.B. x = 0 in das Gleichungssystem ein, dann erhalt man y = z = 2 und damit einen

Ortsvektor

022

der Schnittgeraden.

Den Schnittpunkt einer Ebenen mit einer Geraden erhalt man z.B. durch Einsetzen der Parameterglei-chung der Geraden in die Normalform der Ebene.

Beispiel 1.5.3 (Schnittpunkt Ebene Gerade)

Gesucht ist der Fußpunkt des Lotes von dem Punkt

121

auf die Ebene

E : x− 2y + z − 7 = 0.

Ein Normalenvektor der Ebene ist

1−21

, und daher hat die Lotgerade die Parameterdarstellung

~x =

121

+ s ·

1−21

.

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1. Analytische Geometrie 8

Einsetzen in die Normalform der Ebene ergibt −2 + 6s− 7 = 0,

also als Parameterwert des Schnittpunktes s0 =3

2und den Schnittpunkt

1

2

5−25

.

Um den Abstand eines Punktes P mit Ortsvektor ~y im IR3 voneiner Geraden g mit Parameterdarstellung

~x = ~x0 + s · ~r

zu bestimmen, betrachten wir das Parallelogramm, das von ~r und~y − ~x0 aufgespannt wird.

Die Lange der Hohe zu der Seite ~r und damit der Abstand desPunktes P von der Geraden sei h.

Der Flacheninhalt des Parallelogramms ist einerseits |~r×(~y−~x0)|,andererseits |~r| · h.

Damit folgt h =1

|~r| · |~r × (~y − ~x0)|.

q

O

~x0

~x0 + ~r

~r

h

g

P

~y − ~x0

~y

Beispiel 1.5.4 (Abstand Punkt Gerade) Der Punkt P mit Ortsvektor ~y =

213

hat zur Geraden

g : ~x =

121

+ s

111

den Abstand

h =1√3

111

×

1−12

∣ =1√3

3−1−2

∣ =

14

3.

g1, g2 seien zwei Geraden im IR3 mit Parameterdarstellung

~x = ~x1 + s · ~r1 bzw. ~x = ~x2 + s · ~r2.

• Die Geraden sind identisch genau dann, wenn ~x1 − ~x2 und die beiden Richtungsvektoren ~r1 und~r2 alle zueinander parallel sind.

• Die Geraden sind parallel genau dann, wenn die beiden Richtungsvektoren ~r1 und ~r2 parallel sind,aber nicht ~x1 − ~x2.

Ihr Abstand ist dann∣

∣(~x1 − ~x2)−(

(~x1 − ~x2) ·~r1|~r1|) ~r1|~r1|∣

∣.

• Die Geraden schneiden sich (in genau 1 Punkt), wenn die Richtungsvektoren linear unabhangigsind und das lineare Gleichungssystem

~x1 + s · ~r1 = ~x2 + t · ~r2

losbar ist.

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1. Analytische Geometrie 9

• Sonst sind die beiden Geraden windschief.

Als Abstand von windschiefen Geraden bezeichnet man den kleinsten Abstand von Punkten aufder einen Geraden zu Punkten auf der anderen Geraden. Fur diese Punkte

~y1 = ~x1 + u~r1 ∈ g1, ~y2 = ~x2 + v~r2 ∈ g2

mit minimalem Abstand ist ~y1 − ~y2 senkrecht zu g1 und g2, d.h. es gibt eine Zahl w ∈ IR mit

~y1 − ~y2 = w · (~r1 × ~r2).

Losen des linearen Gleichungssystems ~x1 + u~r1 − ~x2 − v~r2 = w · (~r1 × ~r2)

mit 3 Gleichungen und den 3 Unbekannten u, v, w ergibt mit d =∣

∣w · (~r1 × ~r2)∣

den gesuchten Abstand.

Beispiele 1.5.5

(1) Bei den beiden Geraden

g1 : ~x =

110

+ s ·

121

und g2 : ~x =

231

+ s ·

242

sind ~x1 − ~x2 und die Richtungsvektoren parallel, die Geraden sind also gleich.

(2) Die Gerade

g3 : ~x =

001

+ s ·

121

hat zwar wieder einen parallelen (bzw. sogar gleichen) Normalenvektor wie g1 und g2, aber

~x1 − ~x3 =

11−1

ist nicht parallel zu den Richtungsvektoren, d.h. g3 ist parallel zu g1 und g2.

Ihr Abstand ist

d =∣

11−1

−(

11−1

· 1√6

121

) 1√6

121

∣ =1

3

√21.

(3) (Schnitt zweier Geraden)Die Geraden

g1 : ~x =

110

+ s ·

121

und g2 : ~x =

211

+ s ·

101

haben linear unabhangige Richtungsvektoren, und das lineare Gleichungssystem

s ·

121

− t ·

101

=

211

110

hat die Losung s = 0, t = −1, die Geraden schneiden sich also im Punkt P

110

.

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1. Analytische Geometrie 10

(4) (windschiefe Geraden)Die Geraden

g1 : ~x =

110

+ s ·

121

und g3 : ~x =

232

+ s ·

101

haben linear unabhangige Richtungsvektoren, und das lineare Gleichungssystem

s · ~r1 − t · ~r2 = ~x2 − ~x1

hat keine Losung (s, t). Die Geraden sind also windschief.

Das lineare Gleichungssystem

110

+ s ·

121

232

− t ·

101

= w ·

121

×

101

= w ·

20−2

hat die Losung u = 1, t = −1

2, w =

1

4und der Abstand von g1 und g3 ist

d =1

4

20−2

∣ =1

2

√2.

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11

2 Lineare Optimierung

2.1 Aufgabenstellung, Graphische Losung

Beispiel 2.1.1 In einer Werkstatt werden zwei Fahrzeugtypen F1 und F2 instandgesetzt. Dazu sinddrei Arbeitsgange A1, A2 und A3 notwendig. Die erforderlichen Arbeitszeiten je Fahrzeugtyp und diezur Verfugung stehende Gesamtarbeitszeit Z sind in folgender Tabelle aufgelistet:

F1 F2 Z

A1 4 8 96A2 8 4 120A3 6 0 78

Der Gewinn fur ein Fahrzeug vom Typ F1 betragt 12 Punkte, fur ein Fahrzeug vom Typ F2 8 Punkte.Wieviele Fahrzeuge von jedem Typ muß man annehmen, um den Gesamtgewinn zu maximieren?

Ist x1 die Anzahl der Fahrzeuge vom Typ F1, x2 die Anzahl vom Typ F2, dann ist der erzielte Gewinn

z(x1, x2) := 12x1 + 8x2.

Die diesbezugliche Funktion nennt man Zielfunktion des Problems.Aus der Zeitaufwandstabelle ergeben sich Einschrankungen, die sogenannten Nebenbedingungen

4x1 + 8x2 ≤ 968x1 + 4x2 ≤ 1206x1 ≤ 78

.

Weiter machen negative Mengen x1 und x2 keinen Sinn, d.h. es mussen dieNichtnegativbedingungen

x1 ≥ 0, x2 ≥ 0

gelten. Bei unserem speziellen Beispiel mussen die Mengen auch noch ganzzahlig sein.

Definition 2.1.2 Sucht man Werte von Variablen x1, . . . , xn, so daß die

Zielfunktion z(x1, . . . , xn) :=n∑

i=1

cixi (2.1)

maximal wird, wobei die

Nebenbedingungen

a11x1 + a12x2 + . . . + a1nxn ≤ b1a21x1 + a22x2 + . . . + a2nxn ≤ b2

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .am1x1 + am2x2 + . . . + amnxn ≤ bm

(2.2)

und dieNichtnegativbedingungen xi ≥ 0, 1 ≤ i ≤ n, (2.3)

erfullt sein mussen, dann nennt man das Problem lineares Optimierungsproblem.(Die Koeffizienten aik, bi, ck, 1 ≤ i ≤ m, 1 ≤ k ≤ n, sind reelle Zahlen.)

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2. Lineare Optimierung 12

Bemerkungen 2.1.3

(1) Als Nebenbedingungen konnen auch Gleichungen auftreten. Man spricht dann von einem Problemmit gemischten Nebenbedingungen.

(2) Durch Multiplikation mit −1 kann man erreichen, daß die Zielfunktion und die Nebenbedingungenin der obigen Form auftreten.

(3) Wir setzen in Zukunft A :=

a11 . . . a1n...

...am1 . . . amn

, ~b :=

b1...bm

, ~x :=

x1...xn

und ~c :=

c1...cn

.

Fur zwei Vektoren ~u und ~v im IRk gelte ~u ≤ ~v genau dann, wenn fur alle 1 ≤ i ≤ k gilt ui ≤ vi.Dann erhalt man das lineare Optimierungsproblem in der Form

z(~x) = ~c · ~x → max, A~x ≤ ~b, ~x ≥ ~0.

Jedes ~x ∈ IRn, das die Nebenbedingungen A~x ≤ ~b erfullt, heißt Losung des linearen Optimie-rungsproblems.Jede Losung, die zusatzlich die Nichtnegativbedingungen ~x ≥ ~0 erfullt, heißt zulassige Losung.Jede zulassige Losung, fur die die Zielfunktion den optimalen Wert annimmt, heißt optimaleLosung.

(4) Ein lineares Optimierungsproblem kann viele optimale Losung haben oder auch keine Losung.

Um eine Vorstellung von der Losungsmenge zu bekommen, betrachten wir nochmals unser Beispiel 2.1.1und losen es graphisch:Wir fuhren ein Koordinatensystem ein und ordnen dem Vektor ~x den Punkt der Ebene mit Ortsvektor~x zu. Da jede der Ungleichungen der Nebenbedingungen und der Nichtnegativbedingungen von allenPunkten erfullt wird, die in einer Halbebene liegen, ist die Menge der zulassigen Losungen der Schnitt von5 Halbebenen, namlich dem Funfeck mit den Ecken (0|0), (13|0), (13|4), (12|6), (0|12). Der Rand wirdvon den Geraden gebildet, die sich ergeben, wenn man in den Ungleichungen das Ungleichungszeichendurch das Gleichheitszeichen ersetzt.

Die Punkte, fur die die Zielfunktion jeweils gleicheiner Konstante z0 ist, liegen auf einer Geraden,und alle diese Geraden sind zueinander parallel. Ver-schiebt man also eine dieser Geraden parallel, dannwachst der Wert z0 in der einen Verschiebungsrich-tung und nimmt in der anderen ab. Die optima-len Losungen ergeben sich als Schnitt der Geradenmit moglichst großem z0-Wert mit der Menge derzulassigen Losungen. In unserem Beispiel ergibt sichdie optimale Losung (12|6), und das ist eine Ecke desFunfeckes.

x1

x2

g4

g5

g3

g2

g1

2

4

6

8

10

12

2 4 6 8 10 12 14z = 24 z = 72

z = 144 z = 192

Fur ein lineares Optimierungsproblem mit n Variablen ergibt sich analog die zulassige Losungsmenge(falls sie nicht leer ist), als Durchschnitt endlich vieler Halbraume, also als konvexes Polyeder, dessenRand von den Hyperebenen begrenzt wird, die durch die Nebenbedingungen und Nichtnegativbedingun-gen definiert sind. Die Menge der Punkte, fur die die Zielfunktion konstant ist, entspricht einer weiterenHyperebene, und geeignetes Verschieben ergibt die optimalen Losungen, falls sie existieren.

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2. Lineare Optimierung 13

Ein Randpunkt des Polyeders ist dadurch ausgezeichnet, daß bei mindestens einer der Ungleichungendie Gleichheit gilt. Ein zulassiger Losungspunkt, bei dem in n linear unabhangigen Ungleichungen dieGleichheit gilt, ist eine Ecke des Polyeders.Gibt es also hinreichend viele Ungleichungen, dann liegt mindestens eine optimale Losung in einer Eckedes Polyeders, so daß man eigentlich nur die Zielfunktion an allen Ecken ausrechnen muß und dannmit dem großten Wert eine optimale Losung erhalt. Fur große Optimierungsprobleme ist diese Methodeaber zu aufwendig.

2.2 Analytische Losung, Simplexverfahren

Um die Ergebnisse aus den Betrachtungen der Theorie der linearen Gleichungssysteme auf die lineareOptimierung ubertragen zu konnen, erzeugen wir aus dem linearen Optimierungsproblem mit Unglei-chungen als Nebenbedingungen durch Einfuhren von m zusatzlichen Variablen ein lineares Optimie-rungsproblem, bei dem die Nebenbedingungen in Gleichungsform dargestellt werden:

Durch Einfuhren der neuen Schlupfvariablen x3, x4 und x5 erhalt man im Beispiel 2.1.1

z(x1, x2, x3, x4, x5) := 12x1 + 8x2 + 0x3 + 0x4 + 0x5 → max

4x1 + 8x2 + x3 = 968x1 + 4x2 + x4 = 1206x1 + x5 = 78

xi ≥ 0, i = 1, . . . , 5.

Wir betrachten nun speziell lineare Optimierungsproble der Form 2.1- 2.3 mit nichtnegativer rechterSeite:

Definition 2.2.1 Das lineare Optimierungsproblem

z(x1, . . . , xn+m) :=n+m∑

i=1

cixi = c1x1 + . . .+ cnxn + cn+1xn+1 + . . . + cn+mxn+m → max,

a11x1 + a12x2 + . . . + a1nxn + xn+1 = b1a21x1 + a22x2 + . . . + a2nxn + xn+2 = b2

... . . . . . . . . . . . . . . ....

. . ....

...am1x1 + am2x2 + . . . + amnxn + xn+m = bm

xi ≥ 0, 1 ≤ i ≤ n+m, bi ≥ 0, 1 ≤ i ≤ m,

(2.4)

heißt Standard-Maximum-Problem.

In Matrix-Schreibweise lautet das Standard-Maximum-Problem

z(~x) = ~c · ~x → max, A~x = ~b, ~x ≥ ~0, ~b ≥ ~0

mit A :=

a11 . . . a1n 1 0 . . . 0a21 . . . a2n 0 1 . . . 0...

......

...am1 . . . amn 0 0 . . . 1

, ~b :=

b1...bm

, ~x :=

x1...xnxn+1...

xn+m

und ~c :=

c1...cncn+1...

cn+m

=

c1...cn0...0

.

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2. Lineare Optimierung 14

Die Koeffizientenmatrix des Standard-Maximum-Problems in Beispiel 2.1.1 ist

A =

4 8 1 0 08 4 0 1 06 0 0 0 1

mit Rang A = 3, d.h. maximal 3 Spaltenvektoren sind linear unabhangig. Da die Matrix 5 Spal-

tenvektoren hat, gibt es maximal

(

5

3

)

= 10 mogliche Kombinationen von je 3 linear unabhangigen

Spaltenvektoren, von denen in der Tat 9, d.h. alle bis auf die Kombination ~a2,~a3,~a4 linear unabhangigsind. Wir nennen eine solche Kombination Basis.Betrachten wir die Basis ~a1,~a2,~a3. Die zugehorigen Variablen x1, x2, x3 nennen wir Basisvariable.Man kann das Gleichungssystem A · ~x = ~b so umformen, daß in jeder Gleichung genau eine der Basis-variablen auftritt, und zwar mit Koeffizient 1. In unserem Beispiel ergibt sich

x1 +1

6x5 = 13

x2 +1

4x4 − 1

3x5 = 4

x3 − 2x4 + 2x5 = 12

.

Definition 2.2.2 Gegeben sei das Standard-Maximum-Problem 2.4. Eine Menge von m linear un-abhangigen Spaltenvektoren von A heißt Basis, die zugehorigen Variablen Basisvariablen, eine Dar-stellung des Gleichungssystems A · ~x = ~b, bei dem in jeder Gleichung genau eine der Basisvariablenauftritt, und zwar mit Koeffizient 1, heißt Basisdarstellung, eine Losung des Gleichungssystems, beider alle Nichtbasisvariable den Wert Null haben, Basislosung und eine Basislosung, bei der alle Ba-sisvariablen nichtnegativ sind, zulassige Basislosung.

Bemerkungen 2.2.3

(1) Eine zulassige Basislosung kann hochstens m positive Komponenten besitzen.

(2) Jede zulassige Basislosung entspricht einer Ecke des Polyeders der zulassigen Losungen.

Man erhalt sofort

Satz 2.2.4 (Simplextheorem) Eine der zulassigen Basislosungen ist Losung des Standard-Maximum-Problems 2.4. Dabei ist eine zulassige Basislosung optimal, wenn in der Darstellung der Zielfunktion alsFunktion der Nicht-Basisvariablen xm+1, . . . , xm+n

z = d0 + dm+1xm+1 + . . .+ dm+nxm+n

alle Koeffizienten der Nicht-Basisvariablen kleiner oder gleich Null sind.

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2. Lineare Optimierung 15

Fur Beispiel 2.1.1 erhalt man

Basis Basisdarst. zul.Basislosung Wert Ecke

~a3,~a4,~a5

x3 + 4x1 + 8x2 = 96x4 + 8x1 + 4x2 = 120

x5 + 6x1 = 78

z − 12x1 − 8x2 = 0

009612078

0 (0|0)

~a1,~a3,~a4

x1 + 16x5 = 13

x3 + 8x2 − 23x5 = 44

x4 + 4x2 − 43x5 = 16

z − 8x2 + 2x5 = 156

13044160

156 (13|0)

~a1,~a2,~a3

x1 + 16x5 = 13

x2 + 14x4 − 1

3x5 = 4

x3 − 2x4 + 2x5 = 12

z + 2x4 − 23x5 = 188

1341200

188 (13|4)

~a1,~a2,~a5

x1 − 112x3 + 1

6x4 = 12

x2 + 16x3 − 1

12x4 = 6

x5 + 12x3 − x4 = 6

z + 13x3 + 4

3x4 = 192

126006

192 (12|6)

~a2,~a4,~a5

x2 + 12x1 + 1

8x3 = 12

x4 + 6x1 − 12x3 = 72

x5 + 6x1 = 78

z − 8x1 + x3 = 96

01207278

96 (0|12)

Das Simplexverfahren ist ein Algorithmus, bei dem eine Ausgangslosung so lange verbessert wird,bis eine optimale Losung gefunden wird oder die Nichtlosbarkeit erkannt wird. Dabei geht man voneiner Ecke des Polyeders zu der benachbarten Ecke uber, fur die die Zielfunktion einen großeren Werthat. Der Ubergang zu einer Nachbarecke entspricht dem Austausch einer der Basisvariablen durch eineNicht-Basisvariable.Man wahlt dabei die Nicht-Basisvariable xj, deren positiver Koeffizient dj in der Darstellung der Ziel-funktion maximal ist.Als Ausgangslosung kann man z.B. die zulassige Basislosung nehmen, bei der die Schlupfvariablen alsBasisvariablen gewahlt werden.

Damit erhalt man folgenden Losungsalgorithmus.Simplexverfahren:

(1) Aufstellung des Ausgangstableaus

x1 x2 . . . xn xn+1 xn+2 . . . xn+m b

a11 a12 . . . a1n 1 0 . . . 0 b1a21 a22 . . . a2n 0 1 . . . 0 b2...

......

......

......

......

am2 . . . amn 0 0 . . . 1 am1 bmd1 d2 . . . dn 0 0 . . . 0 −d0

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2. Lineare Optimierung 16

(2) Optimalitatsprufung:Gilt fur alle Koeffizienten der letzten Zeile di ≤ 0, 1 ≤ i ≤ n, dann ist die optimale Losung erreichtund das Verfahren endet. Sonst fahrt man mit Schritt (3) fort.

(3) Nichtlosbarkeitsprufung:Sind die Nebenbedingungen widerspruchlich, dann existiert keine Losung. Ist ein dj großer als Nullund alle aij in derselben Spalte kleiner oder gleich Null, dann ist die Zielfunktion auf der Mengeder zulassigen Losungen nicht beschrankt. In beiden Fallen bricht das Verfahren ab. Sonst weitermit Schritt (4).

(4) Pivot-Wahl:

(a) Auswahl der auszutauschenden Nichtbasisvariablen:Wahle Spalte l mit dl = maxdj , 1 ≤ j ≤ n. Dann wird die Nichtbasisvariable xl neueBasisvariable.

(b) Auswahl der auszutauschenden Basisvariablen:

Ermittle Zeile k mitbkakl

= min biail

; ail > 0. akl wird Pivot, die Variable xn+k wird Nicht-

Basisvariable.

(5) Variablen-Austausch:

(a) Dividiere die k-te Zeile durch akl. Das neue a′kl wird 1.

(b) Addiere Vielfache der k-ten Zeile jeweils so zu den anderen Zeilen, daß das neue Element a′ilbzw. d′l in der l-ten Spalte Null wird.

(c) Vertausche die l-te und die (n+ k)-te Spalte.

Weiter mit Schritt (2).

Bemerkungen 2.2.5

(1) Enthalt die Spalte einer Nicht-Basisvariablen in der letzten (Zielfunktions-) Zeile den Wert 0, danntritt das Maximum an mehreren Polyeder-Ecken auf, d.h. die Losung ist nicht eindeutig.

(2) Die Auswahl der Pivot-Spalte beruht auf der Idee, daß man bei Eliminierung des großten di dieZielfunktion am meisten vergroßert.

(3) Die Auswahl der Pivot-Zeile gewahrleistet, daß auch in dem neuen Tableau die neuen rechtenSeiten bk nichtnegativ sind.

Die Quotientenbiail

werden nur fur die Zeilen berechnet, fur die ail > 0.

Gibt es mehrere”kleinste“ positive Quotienten, dann kann man beliebig eine der entsprechenden

Zeilen auswahlen.

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2. Lineare Optimierung 17

Beispiel 2.2.6 Fur Beispiel 2.1.1 ergibt sich

Durchlauf x1 x2 x3 x4 x5 bbiail

I 4 8 1 0 0 96 248 4 0 1 0 120 15

6 0 0 0 1 78 13

12 8 0 0 0 0

II 0 8 1 0 −23 44 11

2

0 4 0 1 −43 16 4

1 0 0 0 16 13

0 8 0 0 −2 −156

III 0 0 1 −2 2 12 60 1 0 1

4 −13 4

1 0 0 0 16 13 78

0 0 0 −2 23 −188

IV 0 0 12 −1 1 6

0 1 16 − 1

12 0 61 0 − 1

1216 0 12

0 0 −13 −4

3 0 −192

Definition 2.2.7 Das lineare Optimierungsproblem z(x1, . . . , xn) :=

n∑

i=1

cixi → min

mit den Nebenbedingungen

a11x1 + a12x2 + . . . + a1nxn ≥ b1a21x1 + a22x2 + . . . + a2nxn ≥ b2

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .am1x1 + am2x2 + . . . + amnxn ≥ bm

und xi ≥ 0, 1 ≤ i ≤ n, bk ≥ 0, 1 ≤ k ≤ m,

heißt Minimum-Problem.

In Matrix-Schreibweise lautet das Minimum-Problem

z(~x) = ~c · ~x → min, A~x ≥ ~b, ~x ≥ ~0, ~b ≥ ~0.

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2. Lineare Optimierung 18

Satz 2.2.8 (Dualitatssatz der linearen Optimierung) Zu jedem Minimum-Problem

z(~x) = ~c · ~x → min, A~x ≥ ~b, ~x ≥ ~0,

gibt es genau ein Maximum-Problem

z∗(~u) = ~b · ~u → max, AT~u ≤ ~c, ~u ≥ ~0,

mit der Eigenschaft:

(a) Der optimale Losungswert von z∗ ist gleich dem optimalen Wert von z.

(b) In den Endtableaus der beiden Probleme sind die Werte der Basisvariablen der einen Aufgabe bisauf das Vorzeichen gleich den Werten der Nicht-Basisvariablen des anderen Problems.

Beispiel 2.2.9 Zu dem Minimum-Problem

z(x1, x2, x3, x4) := 2x1 + x2 + 2x3 + x4 → min

x1 + x3 ≥ 10x1 + x2 + x3 + 2x4 ≥ 20

x2 + x3 + x4 ≥ 15

xi ≥ 0, i = 1, . . . , 4.

bzw.z(~x) = ~c · ~x → min, A~x ≥ ~b, ~x ≥ ~0,

mit

A =

1 0 1 01 1 1 20 1 1 1

, ~b =

102015

, ~c =

2121

,

erhalt man das duale Maximum-Problem

z∗(~u) = ~b · ~u → min, AT~u ≤ ~c, ~u ≥ ~0, mit AT =

1 1 00 1 11 1 10 2 1

bzw.

z∗(u1, u2, u3) := 10u1 + 20u2 + 15u3 → max

u1 +u2 ≤ 2u2 +u3 ≤ 1

u1 +u2 +u3 ≤ 22u2 +u3 ≤ 1

ui ≥ 0, i = 1, . . . , 3.

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2. Lineare Optimierung 19

Mit dem Simplex-Verfahren erhalt man

Durchlauf u1 u2 u3 u4 u5 u6 u7 cciail

I 1 1 0 1 0 0 0 2 20 1 1 0 1 0 0 1 11 1 1 0 0 1 0 2 2

0 2 1 0 0 0 1 1 0, 5

10 20 15 0 0 0 0 0

II 1 0 −0, 5 1 0 0 −0, 5 1, 5 1, 50 0 0, 5 0 1 0 −0, 5 0, 51 0 0, 5 0 0 1 −0, 5 1, 5 1, 50 1 0, 5 0 0 0 0, 5 0, 5

10 0 5 0 0 0 −10 −10

III 1 0 −0, 5 1 0 0 −0, 5 1, 50 0 0, 5 0 1 0 −0, 5 0, 5 1

0 0 1 −1 0 1 0 0 00 1 0, 5 0 0 0 0, 5 0, 5 1

0 0 10 −10 0 0 −5 −25

IV 1 0 0 0, 5 0 0, 5 −0, 5 1, 50 0 0 0, 5 1 −0, 5 −0, 5 0, 50 0 1 −1 0 1 0 00 1 0 0, 5 0 −0, 5 0, 5 0, 5

0 0 0 0 0 −10 −5 −25

die Losung

z∗max = zmin = 25, x1 = u4 = 0, x2 = u5 = 0, x3 = u6 = 10, x4 = u7 = 5.

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2. Lineare Optimierung 20

2.3 Transportprobleme

Ein Spezialfall der linearen Optimierung ist die lineare Transportoptimierung.

Beispiel 2.3.1 Drei Treibstofflager T1, T2, T3 beliefern vier Verbraucher P1, P2, P3, P4.Die Lagerkapazitaten seien a1 = 200, a2 = 90, a3 = 120 und die Bedarfsmengen b1 = 30, b2 = 190,b3 = 60 und b4 = 130.

Die Entfernungen ergeben sich aus der Tabelle

P1 P2 P3 P4

T1 6 3 5 1

T2 3 7 4 4

T3 5 2 3 1

.

(Gesamtkapazitat und Gesamtbedarf stimmen in diesem Beispiel uberein.)

Der Transport ist so zu organisieren, daß der Gesamtweg minimal ist, aber der Gesamtbedarf abgedecktwird.

Wir bezeichnen die Transportmenge von Lager Ti nach Verbraucher Pj mit xij. Es sollen keine negativeTransportmengen (d.h. in umgekehrter Richtung) auftreten. Dann ergibt sich folgender Verteilungsplan

P1 P2 P3 P4 a

T1 x11 x12 x13 x14 200T2 x21 x22 x23 x24 90T3 x31 x32 x33 x34 120

b 30 190 60 130 410

.

Allgemein ergibt sich

Definition 2.3.2 An m Versandstellen A1, . . . , Am sei ein Gut in den positiven Mengen a1, . . . , amverfugbar, und es werde an n Bestimmungsorten B1, . . . , Bn in den positiven Mengen b1, . . . , bn benotigt.

Es gelte

m∑

i=1

ai =

n∑

j=1

bj. Die Transportkosten von Ai nach Bj betragen kij .

Die Bestimmung von Transportmengen xij ≥ 0 von Ai nach Bj mit minimalen Gesamtkosten, d.h. mit

K =

m∑

i=1

n∑

j=1

kijxij

→ min,

unter den Nebenbedingungen in Form der

Versandbedingungen

m∑

i=1

xij = bj, 1 ≤ j ≤ n,

und der Empfangsbedingungen

n∑

j=1

xij = ai, 1 ≤ i ≤ m.

heißt ausgeglichenen Transportproblem.

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2. Lineare Optimierung 21

Bemerkungen 2.3.3

(1) In der Praxis stimmen Gesamtkapazitat und Gesamtbedarf oft nicht uberein. Ein nichtausgegli-chenes Transportproblem laßt sich aber durch Einfuhrung zusatzlicher fiktiver Versandstellen bzw.Bestimmungsorten mit extrem hohen Kosten in ein aquivalentes ausgeglichenes Transportproblemumwandeln.

(2) Ein ausgeglichenes Transportproblem ist ein Minimum-Problem mit m · n Variablen und m + nNebenbedingungen, die schon in Form von Gleichungen vorliegen. Jede Variable kommt in denNebenbedingungen genau zweimal vor, und jedes Mal mit Koeffizient 1.Wegen der Ausgeglichenheitsbedingung ist der Rang der Koeffizientenmatrix der m + n Neben-bedingungen gleich r = m + n − 1, d.h. eine der Gleichungen ist uberflussig, und man erhaltr = m+ n− 1 Basisvariable und m · n− r (frei wahlbare) Nicht-Basisvariable.

(3) Jedes ausgeglichene Transportproblem hat mindestens eine optimale Losung.

Wir gewinnen eine optimale Losung durch zwei Schritte:Zuerst gewinnen wir eine zulassige Basislosung als Ausgangslosung.Dann geben wir ein Verfahren an, mit dem man erkennen kann, ob die vorliegende Losung optimal ist,und das gegebenenfalls die Ausgangslosung verbessert.

Ausgangslosung mit Nord-West-Ecken-Regel

Beginnend mit dem Feld links oben (daher NW-Ecken-Regel) werden die Felder der Transportmatrixso aufgefullt, daß gerade noch die Nebenbedingungen erfullt sind.

1. Schritt: x11 := mina1, b1.2. Schritt: Fur x11 = a1 setze x1j := 0, 2 ≤ j ≤ n, und b′1 := b1 − a1. Fur x11 = b1 setze xi1 := 0,2 ≤ i ≤ m, und a′1 := a1 − b1.3. Schritt: Durch Schritt 1-2 sind die Transportmengen in der ersten Zeile bzw. ersten Spalte festgelegt.Streiche diese und wende Schritt 1-2 auf das reduzierte Schema an (mit a′1 statt a1 bzw. b′1 statt b1).

Beispiel 2.3.4 Fur Beispiel 2.3.1 ergibt sich

P1 P2 P3 P4 a

T1 30 170 0 0 200T2 0 20 60 10 90T3 0 0 0 120 120

b 30 190 60 130 410

.

Bemerkungen 2.3.5

(1) Bei dem Verfahren wahlt man immer das Nord-West-Element und streicht anschließend eine Spalteoder Zeile.Es werden insgesamt n− 1 Spalten und k Zeilen (mit 0 ≤ k ≤ m− 1) gestrichen und dabei jeweils1 Element ausgewahlt, d.h. mit den verbleibenden m− k Elementen der letzten Spalte insgesamtn− 1 + k + (m− k) = n+m− 1.Oder es werden insgesamt m − 1 Zeilen und k Spalten (mit 0 ≤ k ≤ n − 1) gestrichen unddabei jeweils 1 Element ausgewahlt, d.h. mit den verbleibenden n− k Elementen der letzten Zeileinsgesamt m− 1 + k + (n − k) = n+m− 1.Die Werte der nicht ausgewahlten Elemente sind Null, die der ausgewahlten sind nichtnegativ,d.h. wir haben eine zulassige Basislosung gefunden, wobei die ersteren die Nicht-Basisvariablenund die letzteren die Basisvariable sind.

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2. Lineare Optimierung 22

(2) Es gibt eine Vielzahl von weiteren Verfahren zur Gewinnung einer Anfangslosung, z.B. die”auf-

steigende Indexmethode“ oder die”Vogelsche Approximationsmethode“. Sie sind rechentechnisch

aufwendiger als die Nord-West-Ecken-Methode, liefern aber oft schon Losungen, die der optima-len Losung naher liegen (da die Nord-West-Ecken-Methode die Transportkosten uberhaupt nichtberucksichtigt).

Potentialmethode zur Gewinnung einer optimalen Losung

Wir fassen Kosten- und Verteilungstabelle in einer Tabelle zusammen. Zuerst sei es wieder an unseremBeispiel 2.3.1 demonstriert:Jedes Feld wird nochmal in 4 Felder unterteilt, wobei links oben die Kosten kij und rechts unten dieLiefermenge xij eingetragen werden. Der Vollstandigkeit halber kennzeichnen wir im Feld links unten,ob es sich um eine Basisvariable handelt oder nicht.

P1 P2 P3 P4 a

6 3 5 1T1 BV 30 BV 170 0 0 200

3 7 4 4T2 0 BV 20 BV 60 BV 10 90

5 2 3 1T3 0 0 0 BV 120 120

b 30 190 60 130 410

.

Wir suchen nun Potentiale u1, . . . , um, v1, . . . , vn ∈ IR mit

ui + vj = kij fur alle i, j, fur die xij Basisvariable ist.

Da es r = m + n − 1 Basislosungen und m + n Potentiale gibt, ist das System unterbestimmt, mankann also ein Potential frei wahlen, z.B. u1 = 0, und die anderen Werte lassen sich daraus sukzessive(eindeutig) berechnen. Dabei mussen auch Basisvariable berucksichtigt werden, deren Wert Null ist.

Ist ~xB eine zulassige Basislosung, ~x eine beliebige zulassige Losung, dann gilt fur die Kosten

K(~x) =

m∑

i=1

n∑

j=1

kijxij =

m∑

i=1

n∑

j=1

(kij − ui − vj)xij +

m∑

i=1

uiai +

n∑

j=1

vjbj

=

m∑

i=1

n∑

j=1

k∗ijxij +K0 =

m∑

i=1

n∑

j=1xij Nicht-Basisvariable

k∗ijxij +K0

mit

k∗ij = kij − ui − vj, K0 =

m∑

i=1

uiai +

n∑

j=1

vjbj =

m∑

i=1

n∑

j=1xij Basisvariable

kijxij = K(~xB).

Damit erhalt man

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2. Lineare Optimierung 23

Satz 2.3.6 (Optimalitatskriterium) Sei ~xB eine zulassige Basislosung des Transportproblems mitKostenmatrix (kij) und ui, vj Losungen des linearen Gleichungssystems

ui + vj = kij , xij Basisvariable.

Sind alle Elemente der modifizierten Kostenmatrix

k∗ij := kij − ui − vj

nichtnegativ, dann ist ~xB eine optimale zulassige Basislosung und K(~xB) Kostenminimum.

Wir fugen in unserem Beispiel die Potentiale in eine zusatzliche Spalte bzw. Zeile ein:

P1 P2 P3 P4 a u

6 3 5 1 0T1 BV 30 BV 170 0 0 200

3 7 4 4 4T2 0 BV 20 BV 60 BV 10 90

5 2 3 1 1T3 0 0 0 BV 120 120

b 30 190 60 130 410

v 6 3 0 0

.

Fur die Felder der Nicht-Basisvariablen xij = 0 berechnen wir die modifizierten Kosten k∗ij und tragendiese Werte in die freien Felder des Schemas ein:

P1 P2 P3 P4 a u

6 3 5 5 1 1 0T1 BV 30 BV 170 0 0 200

3 −7 7 4 4 4T2 0 BV 20 BV 60 BV 10 90

5 −2 2 −2 3 2 1 1T3 0 0 0 BV 120 120

b 30 190 60 130 410

v 6 3 0 0

.

Da es Felder mit negativen modifizierten Kosten k∗ij gibt, ist die Anfangslosung (mit den KostenK = 1230) also nicht optimal.

Zur Gewinnung einer verbesserten zulassigen Basislosung tauschen wir wie bei der Simplexmethode eineNicht-Basisvariable, und zwar die Variable mit kleinstem k∗ij, gegen eine Basisvariable aus.Sei xlk diese Nicht-Basisvariable.

Wir konstruieren nun einen Verschiebekreis, d.h. einen geschlossenen Weg, der aus Teilen in Zeilen-bzw. Spaltenrichtung besteht und dessen Ecken (außer der Anfangsecke) Basislosungen sind:

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2. Lineare Optimierung 24

Vom Ausgangsfeld F1 = (lk) wahlt man in derselben Zeile (Spalte) eine Basisvariable xlj (bzw. xik)im Feld F2, die in ihrer Spalte (bzw. Zeile) eine weitere Basisvariable im Feld F3 hat. In F3 andertman wieder die Richtung zu einem Feld F4 usw. Nach endlich vielen Schritten kehrt man wieder zumAusgangsfeld F1 zuruck, hat also einen geschlossenen Weg (Verschiebekreis) konstruiert.Die Felder auf diesem Weg kennzeichnet man abwechselnd mit + und −, beginnend mit + fur F1. Wei-ter bestimmt man das kleinste xij der mit − gekennzeichneten Felder. Wir wollen diesen Wert mit x∗

bezeichnen.Addiert man zu jedem xij in einem mit + gekennzeichneten Feld x∗ und subtrahiert von jedem xij ineinem mit − gekennzeichneten Feld x∗, dann verandern sich weder die Zeilensummen noch die Spalten-summen. Die Nicht-Basisvariable xlk = 0 wird zur Basisvariablen xlk = x∗ und die Basisvariable in demmit − gekennzeichneten Feld mit xpq = x∗ wird zur Nicht-Basisvariablen xpq = 0.

Aus der Konstruktion ergibt sich, daß die Kosten fur die neue Basislosung (im Falle x∗ > 0) kleinersind, daß man also eine bessere Basislosung gefunden hat.

Fur unser Beispiel ergibt sich der Verschiebekreis

(21) → (22) → (12) → (11) und x∗ = 20,

also eine neue Basislosung

P1 P2 P3 P4 a u

6 3 5 1T1 BV 10 BV 190 0 0 200

3 7 4 4T2 BV 20 0 BV 60 BV 10 90

5 2 3 1T3 0 0 0 BV 120 120

b 30 190 60 130 410

v

.

mit den Kosten K = 1090. Neuberechnung der Potentiale und der k∗ij ergibt

P1 P2 P3 P4 a u

6 3 5 −2 1 −6 0T1 BV 10 BV 190 0 0 200

3 7 7 4 4 −3T2 BV 20 0 BV 60 BV 10 90

5 5 2 5 3 2 1 −6T3 0 0 0 BV 120 120

b 30 190 60 130 410

v 6 3 7 7

.

Die Losung ist also nicht optimal. Es ergibt sich der Verschiebekreis

(14) → (24) → (21) → (11) → (14) und x∗ = 10.

x14 wird Basisvariable und x24 oder x11 wird Nicht-Basisvariable. Wir wahlen x24 als Nicht-Basisvariableund erhalten wieder mit Neuberechnung der Potentiale und k∗ij die Losung

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2. Lineare Optimierung 25

P1 P2 P3 P4 a u

6 3 5 −2 1 0T1 BV 0 BV 190 0 BV 10 200

3 7 7 4 4 6 −3T2 BV 30 0 BV 60 0 90

5 −1 2 −1 3 −4 1 0T3 0 0 0 BV 120 120

b 30 190 60 130 410

v 6 3 7 1

mit den Kosten K = 1030, die wieder nicht optimal ist. Es ergibt sich der Verschiebekreis

(33) → (34) → (14) → (11) → (21) → (23) → (33) und x∗ = 0.

x33 wird Basisvariable und x11 Nicht-Basisvariable. Wir erhalten mit Neuberechnung der Potentiale undk∗ij die Losung

P1 P2 P3 P4 a u

6 4 3 5 2 1 0T1 0 BV 190 0 BV 10 200

3 7 3 4 4 2 1T2 BV 30 0 BV 60 0 90

5 3 2 −1 3 1 0T3 0 0 BV 0 BV 120 120

b 30 190 60 130 410

v 2 3 3 1

mit den Kosten K = 1030, die nicht optimal ist.

Es ergibt sich der Verschiebekreis

(32) → (34) → (14) → (12) → (32) und x∗ = 120.

x32 wird Basisvariable und x34 Nicht-Basisvariable. Wir erhalten mit Neuberechnung der Potentiale undk∗ij die Losung

P1 P2 P3 P4 a u

6 3 3 5 1 1 0T1 0 BV 70 0 BV 130 200

3 7 4 4 4 3 0T2 BV 30 0 BV 60 0 90

5 3 2 3 1 1 −1T3 0 BV 120 BV 0 0 120

b 30 190 60 130 410

v 3 3 4 1

mit den Kosten K = 910, die optimal ist.

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26

3 Funktionen mehrerer Variabler

3.1 Geometrische Veranschaulichung

In den Anwendungen treten meist Funktionen von mehreren reellen Variablen auf. Zum Beispiel hangtdie kinetische Energie E eines Korpers von seiner Masse m und seiner Geschwindigkeit v ab. Es giltE = 1

2mv2. Rotiert der Korper zusatzlich um eine feste Achse, dann hangt E auch noch von derWinkelgeschwindigkeit ω und dem Tragheitsmoment J des Korpers bezuglich dieser Achse ab, E ist alsoFunktion der 4 Variablen m, v, ω und J . Wir wollen nun die bisherigen Uberlegungen der Differential-und Integralrechnung auf solche Funktionen mehrerer Variabler ubertragen.

Ein wichtiges Hilfsmittel zum Verstandnis der Funktionen war ihr Bild in einem kartesischen Koordina-tensystem, in dem die unabhangige Variable x und die abhangige Variable y = f(x) dargestellt werden.Analog laßt sich eine Funktion f(x, y) zweier unabhangiger Variabler darstellen, indem man in den Raumein 3-dimensionales kartesisches Koordinatensystem (mit jeweils zueinander senkrechten) x-Achse, y-Achse und z-Achse legt und die Funktion durch die

”Flache“ (x, y, z); z = f(x, y), (x, y) ∈ D (mit

einer geeigneten Punktmenge D der (x, y)-Ebene) darstellt.

Allgemein bezeichnen wir die Menge aller geordneten Paare, Tripel oder allgemein n-Tupel, als 2-, 3-bzw. n-dimensionalen reellen Raum IR

2, IR3 bzw. IR

n. Der 2-dimensionale Raum heißt auchEbene.

Ein n-Tupel bezeichnen wir wieder als Vektor ~x = (x1, x2, . . . , xn) im IRn. Als Darstellung ist auch

~x =

x1x2...xn

ublich.

Mit der Abstandsdefinition kann man den Begriff der Umgebung verallgemeinern:

Uǫ(P0) := P ∈ IRn; |P − P0| < ǫ heißt ǫ-Umgebung von P0.

Eine ǫ-Umgebung von ~x0 im IR2 ist also eine offene Kreisscheibe mit Mittelpunkt ~x0 und Radius ǫ, eineǫ-Umgebung im IR3 die entsprechende offene Kugel.

In vielen Fallen beschreibt man Punktmengen im IRn durch Ungleichungen.

Beispiel 3.1.1

(1) Die Menge der Punkte

D1 :=(x, y, z) ∈ IR3; 1 ≤ x ≤ 3, 0 ≤ y ≤ 3,

1 ≤ z ≤ 4

ist ein Quader. Die Randpunkte gehoren zu der Men-ge, sie ist also abgeschlossen. Da der großte Abstandvon Punkten der Menge zum Nullpunkt kleiner als 6ist, ist die Menge auch beschrankt.

z

y

x

4

1

3

1 3

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3. Funktionen mehrerer Variabler 27

(2) Die Menge der Punkte

Z :=(x, y, z) ∈ IR3; −R ≤ x ≤ R,

−√

R2 − x2 ≤ y ≤√

R2 − x2, 1 ≤ z ≤ 4

ist ein gerader Kreiszylinder. Die Randpunkte gehoren zu der Men-ge, sie ist also abgeschlossen. Da der großte Abstand von Punktender Menge zum Nullpunkt nicht großer als

√16 +R2 ist, ist die

Menge auch beschrankt.

z

y

x

4

1

R

Das kartesische Koordinatensystem ist manchmal relativ ungeeignet zur Beschreibung von Flachen oderFunktionen. Wir fuhren daher zwei weitere Moglichkeiten fur ein Koordinatensystem ein:

1. Jeder Punkt P ′ der (x, y)-Ebene (außer dem Nullpunkt) laßt sichumkehrbar eindeutig durch den Abstand r0 vom Nullpunkt undden Winkel φ0, den der Verbindungsstrahl vom Nullpunkt zu P ′

mit der positiven x-Achse einschließt und der von der x-Achse ausgegen den Uhrzeigersinn gemessen wird, beschreiben. Damit kannman jeden Punkt P des Raums mit den kartesischen Koordina-ten (x0, y0, z0) (außer den Punkten der z-Achse) durch die dreiZylinderkoordinaten r0, φ0 und z0 beschreiben.

z

y

x

x0

y0

z0

P

P ′

r0φ0

Offensichtlich gilt x0 = r0 · cosφ0, y0 = r0 · sinφ0, (0 ≤ r, 0 ≤ φ0 < 2π)

bzw. r0 =√

x20 + y20 und φ0 =

arctany0x0

fur x0 > 0, y0 > 0

π

2fur x0 = 0, y0 > 0

arctany0x0

+ π fur x0 < 0

2fur x0 = 0, y0 < 0

arctany0x0

+ 2π fur x0 > 0, y0 < 0

.

Betrachtet man nur die Ebene und ersetzt die kartesischen Koordinaten x und y durch r und φ,dann nennt man die Koordinaten r, φ Polarkoordinaten.

Die Menge aller Punkte mit einem festen x-Wert, d.h. (x, y, z); x = x0, y, z ∈ IR, ist eine Ebeneim Raum parallel zur (y, z)-Ebene. Analog gilt das fur die Mengen mit festem y- bzw. z-Wert.

Bei Zylinderkoordinaten gilt: Die Mengen mit

• festem r-Wert r0 bilden einen nach oben und unten unbeschrankten geraden Kreiszylindermit Radius r0 und der z-Achse als Achse,

• festem φ-Wert φ0 eine Halbebene senkrecht zur (x, y)-Ebene durch die Gerade φ = φ0, diedurch die z-Achse berandet wird.

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3. Funktionen mehrerer Variabler 28

• festem z-Wert z0 eine Ebene parallel zur (x, y)-Ebene.

z

y

x

③r0

z

y

x

③φ0

z

y

x

z0

Beispiele 3.1.2

(1) Der Zylinder aus dem vorigen Beispiel wird in Zylinderkoordinaten beschrieben durch dieUngleichungen

0 ≤ r ≤ R, 0 ≤ φ < 2π, 1 ≤ z ≤ 4.

(2) Legt man einen geraden Kreiskegel mit Grundkreisradius Rund Hohe h so, daß die Spitze im Ursprung liegt und dieKegelachse gleich der z-Achse ist, dann wird er in Zylinder-koordinaten beschrieben durch

0 ≤ r ≤ R, 0 ≤ φ < 2π,h

R· r ≤ z ≤ h.

z

yx

h

R

2. Sei P ein beliebiger Punkt P des Raums (außer dem Nullpunkt)und P ′ die Projektion auf die (x, y)-Ebene. P laßt sich um-kehrbar eindeutig durch den Abstand r0 vom Nullpunkt, denWinkel φ0, den der Verbindungsstrahl vom Nullpunkt zu P ′

mit der positiven x-Achse einschließt und der von der x-Achseaus gegen den Uhrzeigersinn gemessen wird, und den Winkel θ,den der Strahl vom Nullpunkt zu P mit der positiven z-Achseeinschließt und der von der z-Achse aus in Richtung des Uhr-zeigersinns gemessen wird, beschreiben. Damit kann man jedenPunkt des Raums mit den kartesischen Koordinaten (x0, y0, z0)(außer dem Nullpunkt) durch die drei Kugelkoordinaten r0,φ0 und θ0 beschreiben. Offensichtlich gilt

z

y

x

x0

y0

z0

P

P ′

r0 sin θ0

r0 cos θ0

r0

φ0

θ0

x0 = r0 · cosφ0 · sin θ0, y0 = r0 · sinφ0 · sin θ0, z0 = r0 · cos θ0,(0 ≤ r, 0 ≤ φ0 < 2π, 0 ≤ θ ≤ π)

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3. Funktionen mehrerer Variabler 29

bzw.

r0 =√

x20 + y20 + z20 , φ0 =

arctany0x0

fur x0 > 0, y0 > 0

π

2fur x0 = 0, y0 > 0

arctany0x0

+ π fur x0 < 0

2fur x0 = 0, y0 < 0

arctany0x0

+ 2π fur x0 > 0, y0 < 0

, θ0 = arccosz0r0

.

Oft wird der Winkel θ ersetzt durch den Winkel θ∗ zwischen dem Verbindungsstrahl vom Nullpunktzu P und seiner Projektion. Dann gilt θ∗ = π

2 − θ und

x0 = r0 · cosφ0 · cos θ∗0, y0 =r0 · sinφ0 · cos θ∗0, z0 = r0 · sin θ∗0,(0 ≤ r, 0 ≤ φ0 < 2π, −π

2≤ θ∗ ≤ π

2).

Beispiel 3.1.3 Die Kugel mit Mittelpunkt im Nullpunkt und Radius R wird in Kugelkoordinatenbeschrieben durch die Ungleichungen 0 ≤ r ≤ R, 0 ≤ φ < 2π, 0 ≤ θ ≤ π.

Wir betrachten Funktionen f(x, y) zweier reeller Veranderlicher. Jedem Paar (x, y) ordnen wir einenPunkt der (x, y)-Ebene in einem raumlichen kartesischen Koordinatensystem zu. Dann stellt die Mengeder Punkte

(x, y, z); x, y ∈ IR, z = f(x, y)die Funktion grafisch dar. Man kann nun auf verschiedene Weise versuchen, diese Flache durch eineebene Zeichnung zu beschreiben:

(1) Eine Darstellung durch Parameterlinien erhalt man, wenn man auf der Flache die Linien(x0, y, z); y ∈ IR, z = f(x0, y) und (x, y0, z); x ∈ IR, z = f(x, y0) hervorhebt. Sie sind dasBild des Netzes in der (x, y)-Ebene, das durch x = x0 bzw. y = y0 beschrieben wird. Dabei wahltman die Werte der Parameter x0 und y0 moglichst mit festem Abstand.

(2) Schneidet man die Flache mit der Ebene z = z0, dann erhalt man die zugehorige Hohenlinie(oder Niveaulinie) als Menge aller Punkte (x, y, z0) im Raum mit f(x, y) = z0. Die Projektioneiner Hohenlinie auf die (x, y)-Ebene heißt Isoquante. Wahlt man fur z0 Werte in gleichmaßigemAbstand, dann erhalt man eine relativ aussagefahige Darstellung der Flache in der Ebene.Analog zu der Darstellung durch die Isoquanten kann man die Flache durch Schnitte parallel zuden anderen Koordinatenebenen darstellen.

Fur Funktionen mit 3 Veranderlichen ist die geometrische Darstellung schwieriger. Man kann sie sichals Dichtefunktion oder Temperaturverteilung im Raum vorstellen. Den Hohenlinien entsprechen danndie Niveauflachen (x, y, z); f(x, y, z) = c.

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3. Funktionen mehrerer Variabler 30

3.2 Stetigkeit

Wir ubertragen im folgenden Begriffe wie Stetigkeit, Ableitung und Integration auf Funktionen von nVariablen. Dabei macht es begrifflich keinen großen Unterschied, ob man den Fall n = 2 oder n > 2betrachtet. Wir formulieren die Definitionen daher wegen der einfacheren Darstellung meist nur fur denFall n = 2.

Analog zur Stetigkeit von Funktionen einer Variablen erhalt man:

Definition 3.2.1 Sei f eine Funktion von 2 reellen Variablen mit Definitionsgebiet D, (x, y) ∈ D.f heißt stetig in (x, y), wenn fur jede Folge von Paaren (xk, yk) ∈ D mit

limk→∞

xk = x und limk→∞

yk = y

die Zahlenfolge f(xk, yk) gegen f(x, y) konvergiert.Ist f in jedem Punkt von D′ ⊂ D stetig, dann heißt f stetig in D′.

Mit der Abstandsmessung in der Ebene ergibt sich als aquivalente Definition:

Satz 3.2.2 Sei f eine Funktion von 2 reellen Variablen mit Definitionsgebiet D, (x, y) ∈ D.f ist stetig in (x, y) genau dann, wenn es fur jedes ǫ > 0 ein δ > 0 gibt, so daß fur alle (x, y) ∈ D mit∣

∣(x, y)− (x, y)∣

∣ < δ gilt∣

∣f(x, y)− f(x, y)∣

∣ < ǫ.

Fur die stetigen Funktionen mehrerer Variabler gilt analog zu den Funktionen einer Variablen:

Satz 3.2.3 (a) Summe, Produkt und Vielfache von stetigen Funktionen sind stetig.

Sind die Funktionen f und g in (x, y) stetig und gilt g(x, y) 6= 0, dann ist der Quotientf

gin (x, y)

stetig.

(b) Liegen die Funktionswerte der Funktion f(x, y) im Intervall I ⊂ IR, ist g : I → IR eine reellwertigeFunktion einer Variablen und ist f stetig in (x, y), g stetig in f(x, y), dann ist gf stetig in (x, y).

(c) Ist A eine abgeschlossene und beschrankte Teilmenge des Definitionsgebietes von f und ist f in Astetig, dann hat f dort ein Minimum und ein Maximum, d.h. es gibt (x1, y1), (x2, y2) ∈ A mit

f(x1, y1) ≤ f(x, y) ≤ f(x2, y2) fur alle (x, y) ∈ A.

Beispiel 3.2.4

(1) f(x, y) := x und g(x, y) := y sind in (x, y) fur alle x, y ∈ IR stetig.Eine Funktion

f(x, y) :=∑

0≤i≤m0≤j≤n

aij xiyj

heißt Polynom in den Variablen x und y.Jedes Polynom von n Variablen ist in seinem Definitionsgebiet stetig.

Analog ubertragt man den Begriff der gebrochen rationalen Funktion auf den Fall mehrerer Varia-bler. Eine gebrochen rationale Funktion mehrerer Variabler ist in allen Punkten stetig, in denender Nenner nicht Null wird.

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3. Funktionen mehrerer Variabler 31

(2) Die Funktion f(x, y) :=

y2 sin1

xfur x 6= 0

0 fur x = 0ist fur kein y0 6= 0 in (0, y0) stetig.

(3) Sei f(x, y) :=

x · yx2 + y2

fur (x, y) 6= (0, 0)

0 fur (x, y) = (0, 0).

Fur festes x0 ∈ IR bzw. y0 ∈ IR sind die Funktionen g(x) := f(x, y0) bzw. h(y) := f(x0, y) in IR

stetig, aber f ist in (0, 0) nicht stetig.

3.3 Partielle und totale Differenzierbarkeit

Wir betrachten ein kartesisches Koordinatensystem im Raum und eine Flache, die durch eine Funktionf(x, y) beschrieben wird. Wir wollen die Steigungen der Flache in einem Punkt (x0, y0) bestimmen.

Offensichtlich ist die Steigung davon abhangig, in welche Richtung man sich bewegt. Zwei der Richtungensind von besonderer Wichtigkeit:

Die Parallelebene y = y0 zur (x, z)-Ebene im Abstandy0 schneidet aus der Flache eine Kurve heraus, diein dieser Ebene durch die Funktion g(x) := f(x, y0)beschrieben wird. Ist g(x) im Punkt (x0, y0) differen-zierbar, dann gibt also g′(x0) die Steigung (oder dasGefalle) der Flache in x-Richtung an.

Analoges gilt fur den Schnitt der Flache mit der Ebenex = x0.

y

z

x

x0

y0

fx

fy

P0

Definition 3.3.1 Sei f(x, y) eine im Gebiet D ⊂ IR2 definierte Funktion und P0 = (x0, y0) ∈ D.f heißt in P0 nach x partiell differenzierbar , wenn die Funktion g(x) := f(x, y0) in x0 differen-zierbar ist, d.h. wenn

fx(x0, y0) :=∂f

∂x(x0, y0) := lim

h→0

f(x0 + h, y0)− f(x0, y0)

h

existiert. fx(x0, y0) heißt die partielle Ableitung von f nach x in (x0, y0).

Bemerkungen 3.3.2

(1) Analog definiert man die partielle Ableitung einer Funktion von n Variablen nach der Variablenxk im Punkt ~x0 durch

fxk( ~x0) :=

∂f

∂xk( ~x0) := lim

h→0

f( ~x0 + h · ~ek)− f( ~x0)

h.

(2) Ist f nach jeder Variablen partiell differenzierbar, dann nennt man f partiell differenzierbar.

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3. Funktionen mehrerer Variabler 32

(3) Da die partielle Ableitung eigentlich eine Ableitung einer Funktion einer Variablen ist, geltennaturlich die entsprechenden Rechenregeln.

Beispiel 3.3.3

(1) Die Funktion f(x, y, z) := (x2 + y3)2 + cos(2x+ 3z) + eyz hat in IR3 die partiellen Ableitungen

fx = 4x(x2 + y3)− 2 sin(2x+ 3z), fy = 6y2(x2 + y3) + zeyz , fz = −3 sin(2x+ 3z) + yeyz.

(2) Die Funktion f(x, y) :=

x · yx2 + y2

fur (x, y) 6= (0, 0)

0 fur (x, y) = (0, 0)hat in IR2 die partiellen Ableitungen

fx(x, y) :=

y · (y2 − x2)

(x2 + y2)2fur (x, y) 6= (0, 0)

0 fur (x, y) = (0, 0)

, fy(x, y) :=

x · (x2 − y2)

(x2 + y2)2fur (x, y) 6= (0, 0)

0 fur (x, y) = (0, 0)

.

Obwohl beide partiellen Ableitungen auch in (0, 0) existieren, ist f in (0, 0) nicht stetig.

Existiert fur eine Funktion f(x1, . . . , xn) von n Variablen eine partielle Ableitung nach einer Variablenxk in einem Gebiet, und ist die Ableitungs-Funktion fxk

(x1, . . . , xn) wieder nach einer Variablen xlpartiell differenzierbar, dann heißt deren Ableitung partielle Ableitung 2. Ordnung von f und wirdmit

∂2f

∂xk∂xlbzw. fxkxl

bezeichnet.Analog erhalt man partielle Ableitungen 3., 4. bzw. n-ter Ordnung.

Beispiel 3.3.4 Die Funktion f(x, y, z) := (x2 + y3)2 + cos(2x + 3z) + eyz hat in IR3 die partiellenAbleitungen 2. Ordnung

fxx = 12x2 + 4y3 − 4 cos(2x+ 3y), fxy = 12xy2, fxz = −6 cos(2x+ 3z),

fyx = 12xy2, fyy = 12x2y + 30y4 + z2eyz , fyz = eyz + yzeyz,

fzx = −6 cos(2x+ 3z), fzy = eyz + yzeyz, fzz = −9 cos(2x+ 3z) + y2eyz.

Die Gleichheit der”gemischten“ 2. Ableitungen ist kein Zufall, denn es gilt

Satz 3.3.5 (Schwarz) Sind f , fx, fy, fxy und fyx in einer Umgebung von (x0, y0) definiert und dieletzten beiden in (x0, y0) stetig, dann gilt

fxy(x0, y0) = fyx(x0, y0).

Wir nannten eine Funktion f(x) differenzierbar in einem Punkt, wenn ihr Graph dort eine Tangentey = g(x) besaß. Das war gleichbedeutend damit, daß bei kleinen Anderungen von x die Werte von fund g sich nur wenig unterschieden.Jede differenzierbare Funktion war auch stetig.Die Eigenschaft

”partiell differenzierbar“ kann schon deshalb keine vernunftige Verallgemeinerung sein,

weil es partiell differenzierbare Funktionen gibt, die nicht stetig sind.

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3. Funktionen mehrerer Variabler 33

Definition 3.3.6 Sei D ⊂ IR2 ein Gebiet, f auf D definiert und (x0, y0) ∈ D.f heißt in (x0, y0) (vollstandig) differenzierbar , wenn es a, b ∈ IR gibt mit

f(x, y) =f(x0, y0) + a · (x− x0) + b · (y − y0) + ǫ1(x, y) · (x− x0) + ǫ2(x, y) · (y − y0)

und limx→x0y→y0

ǫi(x, y) = 0, i = 1, 2.

Bemerkung 3.3.7 f ist (vollstandig) differenzierbar in (x0, y0), wenn es eine lineare Funktion g durchf(x0, y0) gibt mit

f(x, y) =g(x, y) + ǫ1(x, y) · (x− x0) + ǫ2(x, y) · (y − y0)

und limx→x0y→y0

ǫi(x, y) = 0, i = 1, 2.

Durch g(x, y) := f(x0, y0) + a · (x− x0) + b · (y − y0)wird die Tangentialebene an die Flache zu f im Punkt

(

x0, y0, f(x0, y0))

beschrieben.

Folgerungen 3.3.8

(1) Ist f in (x0, y0) differenzierbar, dann ist f dort auch partiell differenzierbar, und es gilt

a = fx(x0, y0), b = fy(x0, y0).

(2) Ist f in (x0, y0) differenzierbar, dann ist f dort auch stetig.

Beispiel 3.3.9 Die Funktion f(x, y) := 2x2 + y2 beschreibt einen Kegel mit Spitze im Ursprung. DieSchnitte mit den Ebenen z = z0, z0 > 0, sind Ellipsen. Mit

fx(x0, y0) = 4x0, fy(x0, y0) = 2y0

erhalt man

ǫ1(x, y)(x− x0) + ǫ2(x, y)(y − y0) = f(x, y)− f(x0, y0)− fx(x0, y0)(x− x0)− fy(x0, y0)(y − y0)

=(

2(x− x0))

(x− x0) +(

y − y0)

(y − y0),

alsoǫ1(x, y) = 2(x− x0) → 0, ǫ2(x, y) = y − y0 → 0 fur x → x0, y → y0.

Nach Folgerung 3.3.8(1) ist eine vollstandig differenzierbare Funktion auch partiell differenzierbar.Die Umkehrung gilt i.a. nicht, denn jede vollstandig differenzierbare Funktion ist stetig, aber nicht jedepartiell differenzierbare Funktion.

Es gilt aber

Satz 3.3.10 Sei D ⊂ IR2 ein Gebiet, f auf D definiert, in D partiell differenzierbar und alle partiellenAbleitungen seien in D stetig.Dann ist f in D vollstandig differenzierbar.

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3. Funktionen mehrerer Variabler 34

Ist eine Funktion f in einem Gebiet D partiell differenzierbar und sind alle partiellen Ableitungen in Dstetig, dann heißt f in D stetig differenzierbar.

Beispiel 3.3.11 Die Funktion f(x, y) := 2x2 + xy2 hat die in IR2 stetigen partiellen Ableitungen

fx(x, y) = 4x+ y2, fy(x, y) = 2xy

und im Flachenpunkt(

3,−1, f(3,−1))

=(

3,−1, 21)

die Tangentialebene mit der Gleichung

z = 21 + 13(x− 3)− 6(y + 1) = 13x− 6y − 24.

Bei Messungen von Großen treten in der Regel Fehler auf, sei es durch Ungenauigkeit der Meßinstru-mente, Beobachtungsfehler oder aus anderen Grunden.Nach der Messung kennt man weder den Fehler ǫ noch den wahren Wert x0, sondern nur den Meßwertx.Durch mehrmalige Messung erhalt man Schatzwerte fur die maximale Abweichung dx > 0 der Meßwertenach oben oder unten, d.h. es gilt x− dx ≤ x0 ≤ x+ dx.

dx heißt absoluter (maximaler) Fehler unddx

xrelativer (maximaler) Fehler.

Da der relative Fehler die Große des Meßwertes x mitberucksichtigt, ist er zur Beurteilung der Genau-igkeit besser geeignet. Ist f(x, y) eine in einem Gebiet D definierte Funktion, dann haben ungenaueWerte der Variablen Auswirkungen auf den Funktionswert.

Ist f in D differenzierbar und sind x und y die Meßwerte, dx und dy die absoluten Fehler, dann ergibtsich fur die maximale Abweichung der Funktionswerte∣

∣df(x0, y0)

∣:=∣

∣f(x, y)− f(x0, y0)

∣≈∣

∣fx(x, y) · dx+ fy(x, y) · dy

∣≤∣

∣fx(x, y)

∣· dx+

∣fy(x, y)

∣· dy.

Analog ergibt sich fur Funktionen von n Variablen

∣df( ~x0)

∣:=∣

∣f(~x)− f( ~x0)

∣≈

n∑

k=1

∣fxk

(~x)∣

∣· dxk.

Die rechte Seite ist ein Schatzwert fur den absoluten Fehler von f .

Beispiel 3.3.12 Fur einen geraden Kreiszylinder mit Masse m, Hohe h und Radius r ergeben sichfolgende Meßwerte:

m = (89 ± 0, 3)g, h = (89± 0, 1)mm, r = (45± 0, 1)mm.

Die Dichtefunktion σ(m,h, r) :=m

πr2hist fur r 6= 0, h 6= 0 stetig differenzierbar mit den partiellen

Ableitungen

σm =1

πr2h, σh =

−m

πr2h2, σr =

−2m

πr3h.

Mit m = 89, h = 89, r = 45, dm = 0, 3, dh = dr = 0, 1 ergibt sich fur den absoluten Fehler alsSchatzwert

dσ(m,h, r) =∣

∣σm(m,h, r)∣

∣ · dm+∣

∣σh(m,h, r)∣

∣ · dh+ σr(m,h, r)∣

∣ · dr

= σ(m,h, r)

(

dm

m+

dh

h+ 2

dr

r

)

= 1, 5719 · 10−4 ·(

0, 3

89+

0, 1

89+ 2

0, 1

45

)

= 1, 41 · 10−3 g/cm3.

Fur den relativen Fehler ergibt sich als Schatzwertdσ(m,h, r)

σ(m,h, r)= 0, 89%.

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3. Funktionen mehrerer Variabler 35

Definition 3.3.13 Sei D ⊂ IRn ein Gebiet, f auf D definiert und differenzierbar und P0 = ~x0 ∈ D.Die in einer Umgebung von ~0 definierte Funktion

df( ~x0, h1, . . . , hn) :=n∑

k=1

fxk( ~x0) · hk

heißt totales Differential von f in P0.

Die Funktionf(x, y) =

xy

x2 + y2

laßt sich in Polarkoordinaten einfacher beschreiben. Es gilt namlich

f(x, y) =1

2sin(2φ).

Um die partiellen Ableitungen nach x bzw. y zu berechnen, wurde man gern diese einfache Form bzw.die partiellen Ableitungen nach r und φ benutzen.

Satz 3.3.14 (Kettenregel) Sei D ⊂ IRn ein Gebiet, f(~x) in D definiert und differenzierbar. Sind diexk differenzierbare Funktionen von u1, . . . , um, dann gilt

∂f(

~x(u1, . . . um))

∂uj=

n∑

k=1

∂f

∂xk· ∂xk∂uj

.

Formal entsteht∂f

∂ujdurch

”Division“ des vollstandigen Differentials von f durch ∂uj.

Die partiellen Ableitungen einer differenzierbaren Funktion f(x, y) geben nur die Steigung von Tangen-ten an die Flache an, die in Parallelebenen zu den Koordinatenebenen liegen.Wir betrachten nun eine beliebige Gerade g in der (x, y)-Ebene durch den Punkt P0 = (x0, y0) mitRichtungsvektor (a1, a2), d.h. mit der Parameterdarstellung (x, y) = (x0, y0) + t(a1, a2), t ∈ IR.Der Schnitt der zur (x, y)-Ebene senkrechten Ebene E durch g schneidet die Tangentialebene von f ineiner Geraden, die Tangente an den Schnitt der Ebene E mit der Flache ist.Die Steigung dieser Tangenten gibt also die Steigung bzw. das Gefalle der Flache in der entsprechendenRichtung wieder.

Definition 3.3.15 Sei D ⊂ IR2 ein Gebiet, f auf D definiert und in (x0, y0) ∈ D vollstandig differen-zierbar. Weiter sei ~a = (a1, a2) 6= (0, 0). Dann heißt

∂f

∂~a(x0, y0) := lim

t→0

f(x0 + ta1, y0 + ta2)− f(x0, y0)

t · |~a|Richtungsableitung von f in Richtung ~a.

Faßt man die Werte der partiellen Ableitungen von f in (x0, y0) in dem Vektor

grad f(x0, y0) :=(

fx(x0, y0), fy(x0, y0))

, dem Gradienten von f an der Stelle (x0, y0),

zusammen, dann folgt aus der Kettenregel

∂f

∂~a(x0, y0) =

1√

a21 + a22

(

fx(x0, y0) · a1 + fy(x0, y0) · a2)

=1

|~a| ~a · grad f(x0, y0).

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3. Funktionen mehrerer Variabler 36

Bemerkungen 3.3.16

(1) Fur das Skalarprodukt zweier Vektoren im IRn gilt die Schwarzsche Ungleichung

∣~a ·~b∣

∣ ≤∣

∣~a∣

∣ ·∣

∣~b∣

∣.

Daraus folgt, daß die Flache in Richtung von grad f(x0, y0) den großten Anstieg hat und in Ge-genrichtung das großte Gefalle.

(2) Fur ~a = ~ek ist∂f

∂~a( ~x0) = fxk

( ~x0), die partiellen Ableitungen sind also spezielle Richtungsableitun-gen.

(3) Ist ~a zu grad f( ~x0) orthogonal, dann ist die Ableitung von f in Richtung ~a Null, d.h. f andert sichin dieser Richtung nicht. ~a ist Tangentenvektor an eine Hohenlinie.Man kann allgemein beweisen, daß der Gradientenvektor auf jeder Hohenlinie senkrecht steht.

Beispiel 3.3.17 Die in IR2 vollstandig differenzierbare Funktion f(x, y) := xy + x2 hat im PunktP = (1, 2) den Gradienten (4, 1). Als Richtungsableitungen ergeben sich fur

~a1 = (1, 1) :∂f

∂ ~a1=

1

2

√2 (1 · 4 + 1 · 1) = 3, 5355 . . . ,

~a2 = (2, 1) :∂f

∂ ~a2=

1

5

√5 (2 · 4 + 1 · 1) = 4, 0249 . . . ,

~a3 = (3, 1) :∂f

∂ ~a3=

1

10

√10 (3 · 4 + 1 · 1) = 4, 1109 . . . ,

~a4 = (4, 1) :∂f

∂ ~a4=

1

17

√17 (4 · 4 + 1 · 1) = 4, 1231 . . . ,

~a5 = (5, 1) :∂f

∂ ~a5=

1

26

√26 (5 · 4 + 1 · 1) = 4, 1184 . . . ,

− ~a4 = (4, 1) :∂f

∂(− ~a1)=

1

17

√17 (−4 · 4− 1 · 1) = −4, 1231 . . . .

Der großte Anstieg ist in Richtung von ~a4, das großte Gefalle in Richtung − ~a4.

3.4 Extrema von Funktionen mehrerer Variabler

Wie bei Funktionen einer Variablen definiert man absolute und relative Maxima, Minima, Extrema undExtremalstellen von Funktionen mehrerer Variablen.

Ist eine Funktion f(x, y) differenzierbar, d.h. hat sie in (x0, y0) eine Tangentialebene, dann kann (x0, y0)nur dann relative Extremalstelle sein, wenn die Tangentialebene parallel zur (x, y)-Ebene ist, also dieAbleitung in jeder Richtung Null ist.Es ergibt sich damit als Verallgemeinerung der notwendigen Bedingung fur das Vorliegen einer relativenExtremalstelle:

Satz 3.4.1 Sei D ∈ IRn ein Gebiet, ~x0 ∈ D und f(~x) in D definiert und in ~x0 differenzierbar.Ist ~x0 relative Extremalstelle von f , dann gilt grad f( ~x0) = 0.

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3. Funktionen mehrerer Variabler 37

Bemerkung 3.4.2 Die Punkte ~x0 mit grad f( ~x0) = ~0 heißen stationare Punkte.

Beispiel 3.4.3 Die Funktionf(x, y) := 2x3 − 3x2 + y2

ist in IR2 definiert und stetig differenzierbar mit den partiellen Ableitungen

fx = 6x2 − 6x, fy = 2y.

Die notwendige Bedingung fur relative Extremalstellen erfullen nur die zwei (stationaren) Punkte (0, 0)und (1, 0) mit f(0, 0) = 0 und f(1, 0) = −1.

Untersuchung von (0, 0):Fur alle Punkte (x, 0) der x-Achse mit −1 < x < 1 gilt f(x, 0) < 0 und fur alle Punkte (0, y) der y-Achsemit y 6= 0 gilt f(0, y) > 0.(0, 0) ist also keine relative Extremalstelle.

Untersuchung von (1, 0):Wir fuhren wir (etwas veranderte) Polarkoordinaten ein durch x = 1 + r cosφ, y = r sinφ.Eine ǫ-Umgebung von (1, 0) hat dann die Darstellung (r, φ); 0 < r < ǫ, 0 ≤ φ < 2π und es gilt

f(x, y) = −1 + r2 ·(

1 + 2 cos2 φ · (1 + r cosφ))

.

Fur 0 < r < 1 ist f(x, y) > −1, d.h. f hat bei (1, 0) ein relatives Minimum.

Fur eine Funktion f(x) einer Variablen gilt: x0 ist relativer Extremwert, wenn

f ′(x0) = 0 (notw. Beding.) und f ′′(x0) 6= 0 (hinreich. Beding.).

Die zu der hinreichenden Bedingung analoge Bedingung fur Funktionen mehrerer Variabler ist nicht soeinfach zu formulieren.

Fur Funktionen zweier Variabler gilt

Satz 3.4.4 Sei D ∈ IR2 ein Gebiet, (x0, y0) ∈ D und f(x, y) in D definiert und in x0, y0) zweimal stetigdifferenzierbar. Weiter sei fx(x0, y0) = fy(x0, y0) = 0 und

D := fxx(x0, y0) · fyy(x0, y0)−(

fxy(x0, y0))2.

Dann gilt:

(a) Ist D > 0 und fxx(x0, y0) < 0 (bzw. fyy(x0, y0) < 0), dann hat f in (x0, y0) ein relatives Maximum.

(b) Ist D > 0 und fxx(x0, y0) > 0 (bzw. fyy(x0, y0) > 0), dann hat f in (x0, y0) ein relatives Minimum.

(c) Ist D < 0, dann hat f in (x0, y0) ein kein relatives Extremum, sondern einen Sattelpunkt.

(d) Ist D = 0, dann kann man ohne weitere Untersuchung keine Aussage uber das Vorliegen einerrelativen Extremalstelle machen.

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3. Funktionen mehrerer Variabler 38

Bemerkung 3.4.5 Fur Funktionen von 3 oder mehr Variablen muß man (neben dem Gradienten) dieHaupt-Unterdeterminanten der Hesse-Matrix

fx1x1 fx1x2 . . . fx1xn

fx2x1 fx2x2 . . . fx2xn

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .fxnx1 fxnx2 . . . fxnxn

untersuchen. Sind namlich alle Determinanten

∣fx1x1

∣ ,

fx1x1 fx1x2

fx2x1 fx2x2

,

fx1x1 fx1x2 fx1x3

fx2x1 fx2x2 fx2x3

fx3x1 fx3x2 fx3x3

, usw.

an der Stelle ~x0 positiv, dann hat f dort ein relatives Minimum, und wenn diese Determinanten ab-wechselnd positiv und negativ sind, ein relatives Maximum.

Beispiel 3.4.6

(1) Die Funktionf(x, y) := 3x2y + 4y3 − 3x2 − 12y2 + 1

hat die partiellen Ableitungen

fx = 6x(y − 1), fy = 3(x2 + 4y2 − 8y)

und damit die stationaren Punkte (0, 0), (0, 2), (±2, 1).

Die partiellen Ableitungen 2. Ordnung sind

fxx = 6(y − 1), fxy = fyx = 6x, fyy = 24(y − 1)

und damit ergibt sichD = 144(y − 1)2 − 36x2.

f hat also in (0, 0) ein relatives Maximum, in (0, 2) ein relatives Minimum und in den anderenbeiden Punkten Sattelpunkte.

(2) Ausgleichsrechnung: Man geht davon aus, daß zwischen 2 Großen x und y ein linearer Zusam-menhang y = g(x) = ax+ b besteht.

Um a und b zu bestimmen, hat man n Meßpunkte Pk = (xk, yk), 1 ≤ k ≤ n, die aber nicht aufeiner Geraden liegen.

Gesucht ist also jetzt eine Gerade, die moglichst wenig Abstand zu den Meßpunkten hat, fur die

f(a, b) :=

n∑

k=1

(

g(xk)− yk)2

=

n∑

k=1

(

axk + b− yk)2

moglichst klein wird, d.h. ein absolutes Minimum annimmt. Die Gerade heißt Ausgleichsgerade.Es gilt

fa = 2 ·n∑

k=1

xk(

axk + b− yk)

= 2

[

a ·n∑

k=1

x2k + b ·n∑

k=1

xk −n∑

k=1

xkyk

]

,

fb = 2 ·n∑

k=1

(

axk + b− yk)

= 2

[

a ·n∑

k=1

xk + b · n−n∑

k=1

yk

]

.

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3. Funktionen mehrerer Variabler 39

Fur die stationaren Punkte ergibt sich

a =

n ·n∑

k=1

xkyk −(

n∑

k=1

xk

)

·(

n∑

k=1

yk

)

n ·n∑

k=1

x2k −(

n∑

k=1

xk

)2 , b =1

n

(

n∑

k=1

yk − a ·n∑

k=1

xk

)

.

Seien x :=1

n

n∑

k=1

xk, y :=1

n

n∑

k=1

yk die arithmetischen Mittel der Meßwerte und

sx :=

1

n− 1

n∑

k=1

(xk − x)2 die Standardabweichung der xk,

sxy :=1

n− 1

n∑

k=1

(xk − x)(yk − y) die Kovarianz der Meßpunkte.

Dann gilt a =sxys2x

, b = y − ax,

und die Ausgleichsgerade y = a · (x − x) + y geht durch (x, y). Da sx nur dann Null wird, wennalle xk gleich sind (was sinnlos ware), sind a und b und damit die Ausgleichsgerade eindeutigbestimmt.

Extremwerte mit Nebenbedingungen:

Sucht man einen Korper mit maximalem Volumen, dessen Oberflache vorgegeben ist, oder will man auseinem kreisrunden Baumstamm einen rechteckigen Balken ausschneiden, dessen Widerstandsmomentmoglichst groß ist, dann hat man Nebenbedingungen zu berucksichtigen.Man kann versuchen, die Nebenbedingungen jeweils nach einer Variablen aufzulosen und damit eineFunktion (mit weniger Variablen) zu konstruieren, die die Nebenbedingungen erfullt und deren Extrem-werte zu bestimmen sind.Eine andere Methode ist mit Hilfe der Lagrange-Funktion:

Satz 3.4.7 (Lagrangesche Multiplikationsregel) Sei D ⊂ IRn ein Gebiet, f, g1, . . . , gm seien auf Ddefinierte und stetig differenzierbare Funktionen und A := ~x ∈ D; gl(~x) = 0, 1 ≤ l ≤ m, .Ist ~x0 ∈ A Extremstelle von f eingeschrankt auf A, dann gilt fur ~x0 das folgende Gleichungssystem

∂f

∂xk( ~x0) +

m∑

l=1

λl∂gl∂xk

( ~x0) = 0, 1 ≤ k ≤ n,

gl( ~x0) = 0, 1 ≤ l ≤ m,

wobei die λl reelle Zahlen sind.

Bemerkung 3.4.8 Die λl heißen Lagrangesche Multiplikatoren, die Funktion

F (x1, . . . , xn, λ1, . . . , λm) := f(x1, . . . , xn) +m∑

l=1

λlgl(x1, . . . , xn)

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3. Funktionen mehrerer Variabler 40

Lagrange-Funktion.Die Bestimmung der relativen Extremwerte von f unter den Nebenbedingungen gl = 0 ist also gleich-bedeutend mit der Bestimmung der relativen Extremwerte der zugehorigen Lagrange-Funktion.

Beispiel 3.4.9 Gesucht sind die Punkte im 3-dimensionalen Raum, die vom Ursprung den Abstand 1haben, auf der Ebene x + y + z = 0 liegen und von der z-Achse maximalen bzw. minimalen Abstandhaben:Ein Punkt (x, y, z) hat vom Ursprung Abstand 1, wenn die Bedingung

g1(x, y, z) := x2 + y2 + z2 − 1 = 0

erfullt ist. Er liegt auf der Ebene, wenn die Bedingung

g2(x, y, z) := x+ y + z = 0

erfullt ist.Der Abstand zur z-Achse ist gegeben durch

f(x, y, z) :=√

x2 + y2.

Man erhalt damit die Lagrange-Funktion

F (x, y, z, λ1, λ2) := f + λ1g1 + λ2g2.

Als Gleichungssystem ergibt sich

x√

x2 + y2+ 2λ1x+ λ2 = 0

y√

x2 + y2+ 2λ1y + λ2 = 0

2λ1z + λ2 = 0

x2 + y2 + z2 − 1 = 0

x+ y + z = 0

Als in Frage kommende Punkte ergeben sich aus dem Gleichungssystem die Punkte

P1,2 =(

± 1

2

√2,∓1

2

√2, 0)

, P3,4 =(

± 1

6

√6,±1

6

√6,∓1

3

√6)

.

Es gilt

f(P1,2) = 1, f(P3,4) =1

3

√3.

Die Menge A ist gleich dem Schnitt von Kugel und Ebene, also eine Kreislinie.Es ist anschaulich klar, daß es auf diesem Kreis (mindestens) je einen Punkt mit minimalem undmaximalem Abstand zur z-Achse gibt. Diese Punkte mussen relative Extremwerte sein, d.h. bei P1, P2

liegen relative Maxima und bei P3, P4 relative Minima.

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3. Funktionen mehrerer Variabler 41

3.5 Implizite Funktionen

Die Hohenlinie einer Funktion F (x, y) ist die Menge aller Punkte (x, y), fur die die Funktion denselbenWert annimmt, also fur die F (x, y) = c gilt.

Wir wollen nun untersuchen, unter welchen Voraussetzungen man diese Menge durch eine Funktiony = f(x) beschreiben kann, d.h. wann man die Gleichung nach y auflosen kann.Weiter mochte man bestimmte Eigenschaften dieser Funktion f(x) aus Eigenschaften von F herleiten,ohne sie vorher berechnet zu haben, wie z.B. Stetigkeit, Differenzierbarkeit und Wert der Ableitung.

Existiert f , dann heißt f die durch F (x, y) = c bestimmte implizite Funktion.

Naturlich kann man sich auf Gleichungen mit c = 0 beschranken, denn sonst ersetzt man F durchF ∗(x, y) := F (x, y)− c.Gibt es keine durch F (x, y) = 0 definierte implizite Funktion y = f(x), dann sucht man nach einerimpliziten Funktion x = g(y).

Beispiele 3.5.1

1. Die Gleichung 2x2 + 3y = 0 kann man eindeutig nach y = f(x) = −2

3x2 auflosen.

Die durch die Funktion F (x, y) = 2x2+3y beschriebene Flache schneidet die (x, y)-Ebene in einerKurve, die durch f(x) beschrieben werden kann.

2. Die Gleichung x2 − y2 + 1 = 0 ergibt zwei Losungen y1,2 = ±√x2 + 1, also keine eindeutig

bestimmte implizite Funktion.Die durch die Funktion F (x, y) = x2 − y2 − 1 beschriebene Flache schneidet die (x, y)-Ebene ineiner Kurve, die durch zwei Funktionen f1,2(x) beschrieben werden kann.

3. Die Gleichung x2 + y2 +1 = 0 hat in IR keine Losung, definiert also keine implizite Funktion.Die durch die Funktion F (x, y) = x2+y2+1 beschriebene Flache schneidet die (x, y)-Ebene nicht.

Satz 3.5.2 (uber implizite Funktionen) Sei D ⊂ IR2 ein Gebiet, (x0, y0) ∈ D, F (x, y) auf D defi-niert, nach y partiell differenzierbar mit Fy(x, y) 6= 0 in D und F (x0, y0) = 0. Dann gilt:

(a) Es gibt ein offenes Intervall (a, b) mit x0 ∈ (a, b), so daß fur alle x ∈ (a, b) die GleichungF (x, y) = 0 genau eine Losung y = f(x) hat.Die Funktion f(x) ist in (a, b) stetig.

(b) Ist F (x, y) in D stetig differenzierbar, dann ist f(x) in (a, b) differenzierbar und fur alle x ∈ (a, b)gilt Fx

(

x, f(x))

+ Fy

(

x, f(x))

· f ′(x) = 0.

Beispiel 3.5.3F (x, y) := x2 + exyey ist in IR2 definiert und in (0, 0) Null.Weiter ist F nach y partiell differenzierbar mit Fy = exey(1 + y).Fy(x, y) 6= 0 fur y 6= −1, d.h. es gibt eine Umgebung D von (0, 0) mit Fy 6= 0.

Damit gibt es ein Intervall (a, b) mit a < 0, b > 0 und eine Funktion f(x) mit F(

x, f(x))

= 0 fur allex ∈ (a, b).Man kann aber f und (a, b) nicht unmittelbar explizit bestimmen.Da F stetig differenzierbar ist mit Fx = 2x+ exyey, gilt

f ′(x) =2x+ exyey

exey(1 + y).

Z.B. fur x = 0 ist y = f(0) = 0 und es gilt f ′(0) = 0.

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3. Funktionen mehrerer Variabler 42

3.6 Bereichsintegrale

Wir betrachten (vorerst) eine nichtnegative Funktionf(x, y), die uber einem beschrankten und abgeschlos-senen Bereich B ⊂ IR2 definiert ist. B habe einen wohl-definierten Flacheninhalt. Dann beschreibt die Menge

M = (x, y, z) ∈ IR3; (x, y) ∈ B, 0 ≤ z ≤ f(x, y)

den Teil eines”Zylinders“ uber B, dessen

”Boden“

von B und dessen”Deckel“ vom Graph von f gebildet

wird.

y

z

xB

f(x, y)

Das Volumen von M nennen wir Integral von f uber dem Bereich B und bezeichnen es durch

V =

∫∫

Bf(x, y) d(x, y).

Um V zu berechnen, nehmen wir zuerst an, daß B einachsenparalleles Rechteck ist, also

B = (x, y); a ≤ x ≤ b, c ≤ y ≤ d.

Wir zerlegen [c, d] in n Intervalle [yk−1, yk] der Lange

∆y =d− c

n(mit y0 := c, yn := d), und legen durch je-

des yk eine zur (x, z)-Ebene parallele Ebene. Dadurchwird M in

”Scheiben“ zerschnitten. Ist f stetig und

sind die Scheiben hinreichend”dunn“, dann ist das

y

z

x∆y

f(x, y)

Volumen ∆Vk der k-ten Scheibe naherungsweise gleich dem Produkt von Scheibenhohe ∆y und Flacheninhaltder Schnittflache bei yk, d.h.

∆Vk ≈(∫ b

af(x, yk) dx

)

·∆y.

Summation uber alle Scheiben ergibt als Naherung des Gesamtvolumens

V =n∑

k=1

∆Vk ≈n∑

k=1

(∫ b

af(x, yk) dx

)

·∆y.

Man kann zeigen, daß das”Parameterintegral“ F (y) :=

∫ b

af(x, y) dx fur stetiges f stetig in y ist. Fur

n → ∞ erhalt man

V =

∫∫

Bf(x, y) d(x, y) =

∫ d

c

(∫ b

af(x, y) dx

)

dy.

Da es gleichgultig ist, ob man M in y- oder in x-Richtung in Scheiben schneidet, ergibt sich

∫ b

a

∫ d

cf(x, y) dy dx =

∫ d

c

∫ b

af(x, y) dx dy.

(Die Klammern um die Integrale kann man weglassen, da die Ausdrucke auch ohne Klammern eindeutigsind.)

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3. Funktionen mehrerer Variabler 43

Beispiel 3.6.1 Fur das Volumen unter dem Graph der Funktion f(x, y) := 2− xy uber dem RechteckB = (x, y); 0 ≤ x ≤ 1, 0 ≤ y ≤ 2 erhalt man

V =

∫∫

Bf(x, y) d(x, y) =

∫ 2

0

∫ 1

0(2− xy) dx dy =

∫ 2

0

[

2x− x2y

2

]1

0

dy =

∫ 2

0

(

2− y

2

)

dy = 3

bzw.

∫ 1

0

∫ 2

0(2− xy) dy dx = 3.

Wir wollen nun an Stelle der Rechtecke allgemeinere Bereiche B betrachten:

Definition 3.6.2 Seien g(x), h(x) zwei im Intervall [a, b] stetige Funktionen. Dann heißt

B := (x, y); a ≤ x ≤ b, g(x) ≤ y ≤ h(x)

Normalbereich.

Analog nennen wir einen Bereich

B := (x, y); c ≤ y ≤ d, g∗(y) ≤ x ≤ h∗(y)

Normalbereich. Fur einen Normalbereich erhalt man das Volumen unter der Funktion f(x, y) wie imRechtecksfall mit analogen

”Scheibenzerlegungen“ durch

V =

∫ b

a

∫ h(x)

g(x)f(x, y) dy dx.

Beispiele 3.6.3

1. Fur die Pyramide mit den Ecken (0, 0, 0), (a, 0, 0), (0, b, 0), (0, 0, c) ergibt sich

B = (x, y); 0 ≤ x ≤ a, 0 ≤ y ≤ b− b

ax und f(x, y) = c− c

ax− c

by, also

V =

∫ a

0

∫ b− bax

0

(

c− c

ax− c

by)

dy dx =abc

6.

2. Sei B der Teil des Kreise um den Ursprung mit Radius r im 1. Quadranten, f(x, y) := x3y2. Dannist

V =

∫ r

0

√r2−x2

0x3y2 dy dx =

1

3

∫ r

0x3(r2 − x2)3/2 dx =

2

105r7.

Ist B Vereinigung von Normalbereichen B1, . . . , Bm, dann setzt man im Einklang mit der Vorstellungdes Volumens

∫∫

Bf(x, y) d(x, y) :=

m∑

k=1

∫∫

Bk

f(x, y) d(x, y).

Außerdem dehnt man die Definition auf stetige reellwertige Funktionen f(x, y) aus. Damit ist dasBereichsintegral fur Funktionen zweier Variabler fur die praktisch auftretenden Falle definiert.

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3. Funktionen mehrerer Variabler 44

Die vorigen Uberlegungen lassen sich sofort auf stetige Funktionen dreier Variablen ubertragen. Fureinen Quader B = (x, y, z); a ≤ x ≤ b, c ≤ y ≤ d, e ≤ z ≤ f gilt

∫∫∫

Bf(x, y, z) d(x, y, z) :=

∫ b

a

∫ d

c

∫ f

ef(x, y, z) dz dy dx,

und fur einen Normalbereich B = (x, y, z); a ≤ x ≤ b, g1(x) ≤ y ≤ g2(x), h1(x, y) ≤ z ≤ h2(x, y)∫∫∫

Bf(x, y, z) d(x, y, z) :=

∫ b

a

∫ g2(x)

g1(x)

∫ h2(x,y)

h1(x,y)f(x, y, z) dz dy dx.

Beispiele 3.6.4

1. Fur den Schwerpunkt ~x0 der quadratischen Pyramide B mit Spitze im Ursprung, die durch

B = (x, y, z); 0 ≤ x ≤ h,−ax

2h≤ y ≤ ax

2h, −ax

2h≤ z ≤ ax

2h

beschrieben wird, gilt

x0 =1

V

∫∫∫

Bx d(x, y, z), y0 =

1

V

∫∫∫

By d(x, y, z), z0 =

1

V

∫∫∫

Bz d(x, y, z).

Mit V =a2h

3erhalt man x0 =

3

4h, y0 = z0 = 0.

2. Sei B der gerade Kreiszylinder mit z-Achse als Achse, Grundkreisradius r und − l

2≤ z ≤ l

2.

Hat der Zylinder die konstante Massendichte 1, dann ist das Tragheitsmoment bezuglich der x-Achse gegeben durch

Tx =

∫∫∫

B(y2 + z2) d(x, y, z) =

∫ r

−r

√r2−x2

−√r2−x2

∫ l/2

l/2(y2 + z2) dz dy dx =

πlr2

12(3r2 + l2).

3.7 Koordinatentransformationen

Ist das (zusammenhangende) Gebiet G∗, uber das integriert wird, nicht durch kartesische Koordinaten,sondern durch andere Koordinaten (z.B. Polar- oder Zylinderkoordinaten) gegeben, dann verandert sichdas Integral zur Bestimmung des Volumens.

Zwischen den kartesischen Koordinaten x, y und neuen Koordinaten u, v sei durch

x = g(u, v), y = h(u, v) bzw. u = k(x, y) v = l(x, y)

eine eineindeutige Zuordnung~T : G∗ → G

gegeben. (~T heißt auch Transformation von G∗ auf G.)

Wir setzen voraus, daß g, h, k, l und damit ~T auf G∗ stetig differenzierbare Funktionen sind.

Durch ~T wird ein aus den achsenparallelen Geraden

u = const. bzw. v = const.

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3. Funktionen mehrerer Variabler 45

bestehendes Netz in G∗ auf ein krummliniges Netz in G abgebildet.Das Rechteck mit den Ecken

(u0, v0), (u0 +∆u, v0), (u0, v0 +∆v), (u0 +∆u, v0 +∆v)

wird zu einem krummlinigen Viereck in G, das bei hinreichend kleinen ∆u und ∆v nahezu die Gestalteines Parallelogramms hat, und dessen Flacheninhalt naherungsweise gleich

∆F ≈∣

gu(u0, v0) gv(u0, v0)hu(u0, v0) hv(u0, v0)

∣ ·∆u · ∆v

ist.

∂(x, y)

∂(u, v):=

gu gvhu hv

:= gu · hv − gv · hu

heißt Funktionaldeterminante.

Da ~T eine eineindeutige Transformation ist, ist die Funktionaldeterminante in ganz G∗ ungleich Null.Da sie stetig und G∗ zusammenhangend ist, ist sie in ganz G∗ entweder positiv oder negativ.

∆u ·∆v

ist die Flache des Ausgangsrechtecks, d.h. der Betrag der Funktionaldeterminante gibt das lokaleVerhaltnis von Bild- zur Urbild-Flache bei der Transformation wieder.

Ein Flachenelement d(x, y) entspricht also vor der Transformation der Flache

∂(x, y)

∂(u, v)

· d(u, v),

und damit erhalt man die Transformationsformel∫∫

Bf(x, y) d(x, y) =

∫∫

B∗

f(

g(u, v), h(u, v))

·∣

∂(x, y)

∂(u, v)

· d(u, v).

Dabei sei B∗ ⊂ G∗ ein Normalbereich und B das Bild unter der Transformation.

Beispiele 3.7.1

(1) Eine ebene Platte habe die Gestalt eines Kreissektors K mit Radius R und Winkel α. Die Massen-Flachendichte sei konstant gleich 1. Zu bestimmen ist der Schwerpunkt.Legt man das Koordinatensystem so, daß der Ursprung im Kreismittelpunkt und der Kreissektorsymmetrisch zur x-Achse liegt, dann ist die y-Koordinate des Schwerpunktes aus Symmetrie-grunden 0.

Die Sektorflache ist F =α

2R2, und damit die x-Koordinate des Schwerpunktes

x0 =2

αR2

∫∫

Kx d(x, y).

In Polarkoordinatenx = r cosφ, y = r sinφ

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3. Funktionen mehrerer Variabler 46

wird der Kreissektor durch die Ungleichungen

0 ≤ r ≤ R, −α

2≤ φ ≤ α

2

beschrieben. Die Funktionaldeterminante ist gleich r, und damit ergibt sich

x0 =2

αR2

∫ α/2

−α/2

∫ R

0r cosφ · r dr dφ =

4

3Rsin α

2

α.

(2) Mit den”elliptischen Koordinaten“ (s, t) mit

x = as cos t, y = bs sin t

ergibt sich fur die Ellipse

E := (x, y); x2

a2+

y2

b2= 1

die DarstellungE = (s, t); 0 ≤ s ≤ 1, 0 ≤ t ≤ 2π.

Mit der Funktionaldeterminante abs ergibt sich fur den Flacheninhalt

FE =

∫∫

Ed(x, y) =

∫ 1

0

∫ 2π

0abs dt ds = abπ.

Fur Funktionen von n > 2 Variablen betrachten wir analog eine umkehrbar eindeutige und stetig

differenzierbare Transformation ~T =

g1(u1, . . . , un)...

gn(u1, . . . , un)

von einem Gebiet G∗ ⊂ IRn auf ein Gebiet

G ⊂ IRn mit der Funktionaldeterminante

∂(x1, . . . , xn)

∂(u1, . . . , un):=

∂g1∂u1

. . . ∂g1∂un

......

∂gn∂u1

. . . ∂gn∂un

.

Im Fall n = 3 berechnet sich die Determinante durch

∂(x1, x2, x3)

∂(u1, u2, u3)=∂g1∂u1

· ∂g2∂u2

· ∂g3∂u3

+∂g1∂u2

· ∂g2∂u3

· ∂g3∂u1

+∂g1∂u3

· ∂g2∂u1

· ∂g3∂u2

− ∂g1∂u3

· ∂g2∂u2

· ∂g3∂u1

− ∂g1∂u2

· ∂g2∂u1

· ∂g3∂u3

− ∂g1∂u1

· ∂g2∂u3

· ∂g3∂u2

.

Fur Zylinderkoordinaten (r, φ, z) mit

x = r cosφ, y = r sinφ, z

ist die Funktionaldeterminante gleich r.

Fur Kugelkoordinaten (r, φ, θ) mit

x = r cosφ sin θ, y = r sinφ sin θ, z = r cos θ,

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3. Funktionen mehrerer Variabler 47

ist die Funktionaldeterminante gleich −r2 sin θ.

Damit ergibt sich analog zu den Funktionen zweier Variablen die Transformationsformel

∫∫

Bf(x1, . . . , xn) d(x1, . . . , xn)

=

∫∫

B∗

f(

g1(u1, . . . , un), . . . , gn(u1, . . . , un))

·∣

∂(x1, . . . , xn)

∂(u1, . . . , un)

· d(u1, . . . , un).

Beispiele 3.7.2

(1) In einem zylindrischen Gefaß mit innerem Radius R und Innenhohe h befindet sich ein Pulver. DieDichte des Pulvers ist am Grund des Gefaßes am großten (wegen des Drucks der daruber liegendenMasse), namlich ρ1, und nimmt linear bis zur Hohe h auf den Wert ρ2 ab. Zu bestimmen ist dieGesamtmasse M des Pulvers.Wir legen die Grundflache des Zylinders in die (x, y)-Ebene. Fur die Dichte in Hohe z gilt

ρ(z) = (ρ2 − ρ1) ·z

h+ ρ1.

Der vom Pulver ausgefullte Bereich ist beschrieben durch

0 ≤ r ≤ R, 0 ≤ φ ≤ 2π, 0 ≤ z ≤ h.

Damit ergibt sich die Masse durch

M =

∫ h

0

∫ R

0

∫ 2π

0

(

(ρ2 − ρ1) ·z

h+ ρ1

)

· r dφ dr dz =1

2R2hπ(ρ1 + ρ2).

(2) Zu bestimmen ist das Tragheitsmoment einer Vollkugel mit Dichte 1 bezuglich einer Achse durchden Mittelpunkt. Legt man den Mittelpunkt der Kugel vom Radius R in den Ursprung und dieAchse auf die z-Achse, dann erhalt man mit Kugelkoordinaten

Tz =

∫∫∫

B(x2 + y2) d(x, y, z) =

∫ π

0

∫ 2π

0

∫ R

0r2 · sin2 θ · r2 · sin θ dr dφ dθ =

8

15πR5.

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48

4 Gewohnliche Differentialgleichungen

4.1 Komplexe Zahlen

4.1.1 Definition

Da Quadrate reeller Zahlen stets nichtnegativ sind, hat die Gleichung x2 = −1 keine (reelle) Losung.Es besteht also eine ahnliche Situation wie bei der Losbarkeit der Gleichung 3x = 7 innerhalb ZZ.

Fur die Losbarkeit der letzten Gleichung fuhrte man die rationalen Zahlen ein.Analog erweitert man IR:

Definition 4.1.1 (a) i :=√−1. Die

”Zahl“ i mit i2 = −1 heißt imaginare Einheit.

(b) Die Menge IC := z = a+ bi | a, b ∈ IR heißt Menge der komplexen Zahlen.Re z := a heißt Realteil, Im z := b Imaginarteil von z = a+ bi.

Zwei komplexe Zahlen z1 = a1 + b1i und z2 := a2 + b2i heißen gleich, wenn a1 = a2 und b1 = b2,d.h. wenn sie in Real- und Imaginarteil ubereinstimmen.

Eine Zahl der Form bi (mit b ∈ IR) heißt imaginare Zahl.

(c) In IC seien folgendermaßen Addition und Multiplikation definiert:

z1 + z2 = (a1 + b1i) + (a2 + b2i) := (a1 + a2) + (b1 + b2)i

z1 · z2 = (a1 + b1i) · (a2 + b2i) := (a1 · a2 − b1 · b2) + (a1 · b2 + a2 · b1)i.

Bemerkungen 4.1.2

(1) Man rechnet also in IC, als ob i eine durch einen Buchstaben vertretene reelle Zahl sei, und ersetztjeweils i2 durch −1, i3 durch −i, i4 durch 1 usw.

(2) Fur eine alternative Definition von IC konnte man auch die Menge IR2 betrachten mit folgenderAddition und Multiplikation

(a1, b1) + (a2, b2) := (a1 + a2, b1 + b2)

(a1, b1) · (a2, b2) := (a1 · a2 − b1 · b2, a1 · b2 + a2 · b1).

Identifiziert man jetzt ein Zahlenpaar (a, 0) mit der reellen Zahl a, dann hat man ohne Definitioneines neuen Symbols eine Menge eingefuhrt, die genau dieselben algebraischen Eigenschaften hatwie IC, also als andere Darstellung derselben Menge aufgefaßt werden kann. (Addition und Multipli-kation sind naturlich so definiert, daß sie genau der Addition und Multiplikation in IC entsprechen.Das Paar (0, 1) entspricht der imaginaren Einheit.)

(3) Mit Einfuhrung der imaginaren Zahlen werden alle in IR nicht losbaren reinquadratischen Glei-chungen

x2 = −a mit a ∈ IR, a > 0,

losbar mit den Losungen x1,2 = ±√a i.Zu in IR nicht losbaren gemischtquadratischen Gleichungen der Form

x2 + bx+ c = 0, b, c ∈ IR, b2 − 4c < 0,

erhalt man mit quadratischer Erganzung die Losungen x1,2 =b

2± i

2

4c− b2.

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4. Gewohnliche Differentialgleichungen 49

Satz 4.1.3 Die Menge IC bildet mit der Addition und Multiplikation aus der vorigen Definition einenKorper, d.h. es gelten dieselben Rechenregeln bezuglich der Addition, Subtraktion, Multiplikation undDivision wie in IQ und IR.

Bemerkung 4.1.4 Fur das Reziproke einer komplexen Zahl z = a+ bi 6= 0 folgt aus der 3. binomischenFormel (a+ bi) · (a− bi) = a2 − b2i2 = a2 + b2 :

z−1 =a

a2 + b2− b

a2 + b2i.

Die beiden Faktoren in der binomischen Formel nennt man zueinander konjugiert komplexe Zahlen.Ist z = a+ bi, dann bezeichnet man die dazu konjugiert komplexe Zahl mit z, d.h. es gilt z = a− bi.Es gilt z = z genau dann, wenn z ∈ IR, und z = −z genau dann, wenn z imaginar. Weiter gilt

z1 + z2 = z1 + z2, z1 · z2 = z1 · z2.

4.1.2 Darstellung der komplexen Zahlen in der Gaußschen Zahlenebene

Die reellen Zahlen und die Rechenoperationen konnten sehr anschaulich auf der Zahlengeraden dar-gestellt werden. Verwendet man ein rechtwinkliges (kartesisches) Koordinatensystem, dann kann manjeder komplexen Zahl z = a+ bi umkehrbar eindeutig den Punkt der Ebene mit den Koordinaten (a, b)zuordnen. Die reellen Zahlen entsprechen den Punkten der x-Achse (auch reelle Achse genannt), dieimaginaren Zahlen der y-Achse (imaginare Achse genannt). Die den Zahlen z und −z entsprechendenPunkte liegen symmetrisch bezuglich des Nullpunkts, die den konjugiert komplexen Zahlen z und zentsprechenden Punkte symmetrisch bezuglich der reellen Achse.

Stellt man die Punkte der komplexen Zahlenebene

durch Ortsvektoren dar, d.h. durch Pfeile−−→OP vom

Nullpunkt O zu dem entsprechenden Punkt P , dannlaßt sich die Summe zweier komplexer Zahlen durchVektoraddition der zugehorigen Ortsvektoren darstel-

len, d.h. der Ortsvektor−−→OP zu der Summe von−−→

OP1 und−−→OP2 ist die Diagonale des Parallelogramms

OP1P2P .

x

y

O

P1

P2

P

Im z1

Im z2

Im (z1 + z2)

Re z1 Re z2 Re (z1 + z2)

z1

z2

z1 + z2

Der Ortsvektor, der in der komplexen Zahlenebene diekomplexe Zahl z = a+bi beschreibt, ist durch die kar-tesischen Koordinaten eindeutig bestimmt. Man kannihn aber auch mit Hilfe der Polarkoordinaten (r, ϕ)festlegen.Wie gewohnt ist ϕ der Winkel zwischen der positivenreellen Achse und dem Ortsvektor zu z und r = |z|die Lange des Ortsvektors. ϕ heißt Argument und|z| Betrag der komplexen Zahl z.

x

y

O zIm z

Re zϕ

r = |z|

Aus den Additionstheoremen der trigonometrischen Funktionen folgt

z1 · z2 =(

|z1|(cosϕ1 + i sinϕ1))

·(

|z2|(cosϕ2 + i sinϕ2))

= |z1| |z2|(

cos(ϕ1 + ϕ2) + i sin(ϕ1 + ϕ2))

.

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4. Gewohnliche Differentialgleichungen 50

Bei der Multiplikation zweier komplexer Zahlen mul-tiplizieren also sich die Betrage und addieren sich dieArgumente. Damit ergibt sich eine geometrische Kon-struktion des Produktes: Man verbinde z1 mit demPunkt 1 (auf der reellen Achse) und konstruiere denPunkt z so, daß die Dreiecke 01z1 und 0z2z ahnlichsind.

x

y

0 1

z1

z2

z = z1 · z2

ϕ2

ϕ1

ϕ1

Aus der Multiplikationsformel zweier komplexer Zahlen in Polarform erhalt man leicht mit vollstandigerInduktion fur die Potenzen die Moivre-Formel

zn =[

r(cosϕ+ i sinϕ)]n

= rn(

cos(nϕ) + i sin(nϕ))

.

Mit der Euler-Formel eiϕ = cosϕ+ i sinϕ ergibt sich die kurzere Darstellung zn = rn · einϕ.

Der wichtigste Satz uber die komplexen Zahlen ist

Satz 4.1.5 (Fundamentalsatz der Algebra) Sei n ∈ IN. Dann hat jedes Polynom vom Grad n mitkomplexen Koeffizienten genau n (moglicherweise ubereinstimmende) komplexe Nullstellen, d.h. mankann das Polynom als Produkt von n Linearformen schreiben.

Bemerkung 4.1.6 Ein Polynom vom Grad n ∈ IN mit reellen Koeffizienten hat ebenfalls genau n (nichtnotwendig verschiedene) komplexe Nullstellen.Ist z0 eine nichtreelle Nullstelle eines solchen Polynoms, dann auch z0.

Beispiel 4.1.7 Das Polynom z4 − 1 hat die Nullstellen 1, i,−1,−i.

Das Polynom z4 + 1 hat die Nullstellen1 + i

2,−1 + i

2,−1− i

2,1− i

2.

4.2 Definition der Differentialgleichungen

Bei der Formulierung vieler wichtiger Probleme aus den Natur-, Ingenieur- und Gesellschaftswissenschaf-ten mit Hilfe der Mathematik treten oft Gleichungen auf, die eine unbekannte, noch zu bestimmendeFunktion zusammen mit einer oder mehreren ihrer Ableitungen enthalten. Zum Beispiel wird beimNewtonschen Gravitationsgesetz

m · x′′(t) = F(

t, x(t), x′(t))

,

die Bewegung x(t) eines Teilchens der Masse m als Funktion des Ortes in Abhangigkeit von der Zeitgesucht, wobei die auf das Teilchen wirkende Kraft F moglicherweise wieder von Zeit t, Ort x undGeschwindigkeit x′ abhangt.

Eine solche Aufgabenstellung heißt (gewohnliche) Differentialgleichung.Gesucht werden moglichst Methoden zur Auffindung der unbekannten Funktion oder zu ihrer Approxi-mation, zumindest aber Aussagen uber das Verhalten der Funktion.

Dabei heißt eine Funktion u(x) Losung der Differentialgleichung in einem Intervall I, wenn sieund alle ihre in der Differentialgleichung vorkommenden Ableitungen in I existieren und fur alle x ∈ Ider Differentialgleichung genugen.

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4. Gewohnliche Differentialgleichungen 51

Unter der Ordnung einer Differentialgleichung versteht man die Ordnung der hochsten Ableitungder gesuchten Funktion, die in der Gleichung auftritt. Zum Beispiel ist die Gleichung des Gravitations-gesetzes eine gewohnliche Differentialgleichung 2. Ordnung.

Allgemein laßt sich eine gewohnliche Differentialgleichung n-ter Ordnung in der Form

F(

x, y(x), y′(x), . . . , y(n)(x))

= 0 (4.1)

darstellen. Dabei gibt F den Zusammenhang zwischen der unabhangigen Variablen x, der gesuchtenFunktion y(x) und ihren Ableitungen an. Laßt sich die Gleichung (4.1) nach der Ableitung mit derhochsten Ordnung auflosen, d.h. gibt es eine Funktion f , so daß

y(n) = f(

x, y(x), y′(x), . . . , y(n−1))

(4.2)

aquivalent zu (4.1) ist, dann heißt die Differentialgleichung explizit, sonst implizit. Zum Beispiel ist

y′′′ + 2ex · y′′ + y · y′ = x

eine explizite gewohnliche Differentialgleichung 3. Ordnung,

y′2 + x · y′ + 4y = 0

eine implizite gewohnliche Differentialgleichung 1. Ordnung, die den beiden expliziten Differentialglei-chungen

y′ =1

2

(

− x+√

x2 − 16y)

und y′ =1

2

(

− x−√

x2 − 16y)

entspricht.

Es gibt Differentialgleichungen, die (in IR) nicht losbar sind, wie z.B. (y′)2 + 1 = 0.Ist aber eine Differentialgleichung losbar, dann existieren immer unendlich viele Losungen. Zum Beispielhat die Differentialgleichung y′ = 0 die Losungen y(x) = c mit beliebig wahlbarem festen c ∈ IR und dieDifferentialgleichung y′′ = 0 die Losungen y(x) = c1x+ c2 mit beliebig wahlbaren festen c1, c2 ∈ IR.

Als Anwender ist man aber i.a. an einer bestimmten Losung interessiert, d.h. die gesuchte Losung sollzusatzliche Bedingungen erfullen. Sind zusatzlich fur einen festen Wert x0 der Funktionswert y(x0)und die Ableitungen y′(x0), y

′′(x0), . . . , y(n−1)(x0) festgelegt, dann spricht man von einem Anfangs-

wertproblem. Sind die Funktionswerte und irgendwelche Ableitungen an zwei verschiedenen Wertenx1 und x2 festgelegt und man sucht die Funktion im Intervall (x1, x2), dann spricht man von einemRandwertproblem.

4.2.1 Beispiele von Differentialgleichungen

(1) 1883 entdeckte Robert Koch den Cholera-Bazillus Vibrio cholerae, den Erreger der Cholera, einerDarmkrankheit, die vor allem durch verseuchtes Gebrauchs- und Trinkwasser ubertragen wird.Zur Zeit t0 werde in einem Labor eine Kolonie dieses Erregers in eine Nahrflussigkeit gebracht.Nach 30 Minuten zahlt man 329 Bakterien und nach weiteren 60 Minuten 2 684. Wie groß ist dieVerdopplungszeit und wieviele Mitglieder hat die Kolonie nach 5 Stunden?

(2) Populationsmodelle: Es sei eine Bakterienpopulation in einer (ausreichend vorhandenen) Nahr-flussigkeit vorgegeben, und es sei P (t) die Zahl der Bakterien. Wir nehmen an, daß die Bakteri-enzunahme ∆P in der Zeitspanne ∆t proportional zur aktuellen Bakterienzahl P (t) ist, d.h. daß

mit einem geeigneten Proportionalitatsfaktor α gilt∆P

∆t≈ α · P (t).

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4. Gewohnliche Differentialgleichungen 52

Betrachtet man nun P (t) als differenzierbare Funktion, dann erhalt man die lineare Differential-gleichung 1. Ordnung

P ′ =dP

dt= α · P.

Jede Funktion P (t) = c eαt mit beliebig gewahltem c ∈ IR ist Losung dieser Differentialglei-chung.

Ist P0 die”Anfangspopulation“ zur Zeit t0, dann gilt P (t) = P0 e

α(t−t0), t ≥ t0.

Fur die”Verdopplungszeit“ δ gilt 2 =

P (t+ δ)

P (t)=

P0 eα(t+δ−t0)

P0 eα(t−t0).

δ = (ln 2)/α ist unabhangig von der Populationsgroße P (t), d.h. P (t) verdoppelt sich immer infesten Zeitabstanden.

Durch die Differentialgleichung kann wegen limt→∞

P (t) → ∞ keine reale Population dargestellt sein.

Wurde zum Beispiel das Bevolkerungswachstum der Menschheit auf der Erde durch dieses Modellbeschrieben, dann ware (bei einer Bevolkerung von ca 5 Milliarden in 1986 und einer derzeitigenVerdopplungszeit von ca 35 Jahren)

im Jahr 1 986 2 000 2 100 2 300 2 501

P (t) = 5 · 109 6, 6 · 109 48, 9 · 109 2, 7 · 1012 148, 7 · 1012.

Da die feste Erdoberflache ca. 149 · 1012qm betragt, hatte also jeder Mensch im Jahr 2 501 einenQuadratmeter feste Erde zum Leben und zur Nahrungsversorgung zur Verfugung.

Es ist sinnvoll anzunehmen, daß eine Population eine gewisse Maximalgroße, die Tragerkapazitat Kihres Lebensraumes, nicht uberschreitet. Die Wachstumsrate nimmt man dann sowohl proportionalzur vorhandenen Populationsgroße P (t) als auch zum verbleibenden LebensraumK−P (t) an, undman erhalt als neue (quadratische) Differentialgleichung

P ′ = λP (K − P ), mit Konstanten λ,K > 0.

Fur P = K ergibt sich kein Wachstum mehr, d.h. die Population stagniert. Wiederum durch Probe

zeigt man, daß P (t) =K

1 +(K

P0− 1)

e−λK(t−t0), t ≥ t0,

eine Losung des zugehorigen Anfangswertproblems mit dem Anfangswert P (t0) = P0 > 0 ist (furP0 = 0 ist P (t) ≡ 0 die einzige Losung).

Genauere Untersuchungen zeigen, daß die Zuwachsrate bis K/2 wachst und dann abnimmt. DieTragerkapazitat der Erde wird auf ca. 10 Milliarden Menschen geschatzt. Demzufolge mußte dieGeschwindigkeit des Bevolkerungswachstums seit 1 986 abnehmen.

An vielerlei Beispielen ist ein entsprechendes Wachstumsverhalten beobachtet worden - bei einfa-chen Lebewesen in einem Reagenzglas, bei Gewichtszunahme von Ratten (betrachtet als Zellen-population unter beengten Verhaltnissen), bei dem Hohenwachstum von Sonnenblumen und beiZulassungszahlen von Automobilen.

(3) Freier Fall: Durch x(t) werde die Bewegung eines Massenpunktes mit konstanter Masse m langsder x-Achse in Abhangigkeit von der Zeit t beschrieben.

Seine Geschwindigkeit sei v(t) = x(t) =dx(t)

dtund die Beschleunigung b(t) = x(t) =

d2x(t)

dt2.

Bewegt sich der Massenpunkt unter Einfluß einer Kraft K in x-Richtung, dann wird die Bewegung

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4. Gewohnliche Differentialgleichungen 53

nach dem Newtonschen Gravitationsgesetz beschrieben durch K = mx.Ist K = f(t, x, x) eine Funktion von Zeit, Ort und Geschwindigkeit, dann erhalt man die expliziteDifferentialgleichung 2. Ordnung mx = f(t, x, x).Bei vorgegebener Anfangslage und -Geschwindigkeit ergeben sich im physikalischen Versuch (bisauf Meßfehler) dieselben Meßwerte - der Vorgang ist also determiniert. Im mathematischen Modelldes zugehorigen Anfangswertproblems muß also eine eindeutige Losung existieren.

Beim freien Fall aus geringer Hohe ohne Luftwiderstand mit Anfangswerten t0 = 0, x(0) = 0 undv(0) = v0 istK = mg (mit der Gravitationskonstanten g), und man erhalt die Differentialgleichung

mx = mg mit der Losung x(t) =1

2gt2 + v0t.

Ist die Geschwindigkeit nicht zu groß, dann kann man die Verzogerung des Falls durch den Luftwi-derstand proportional zur Geschwindigkeit (mit Faktor ρ > 0) annehmen. Unter Berucksichtigungder Verzogerungswirkung des Luftwiderstandes ergibt sich mx = mg − ρx.Das ist eine lineare Differentialgleichung 1. Ordnung fur die Geschwindigkeit v = x mit der Losung

v(t) =(

v0 −mg

ρ

)

e−ρt/m +mg

ρ.

Integration ergibt x(t) =m

ρ

(

v0 −mg

ρ

)(

1− e−ρt/m)

+mg

ρt.

Fur t → ∞ folgt v(t) → mg

ρ, d.h. die Fallgeschwindigkeit stabilisiert sich (wichtig fur Fallschirm-

springer).

(4) Ein ruhig atmender erwachsener Mensch macht etwa 16 Atemzuge pro Minute. Bei jedem Atemzugatmet er ca. einen halben Liter Luft ein. Die ausgeatmete Luft enthalt 20 % weniger Sauerstoffals die eingeatmete. Es soll angenommen werden, daß sie sich sofort und vollstandig mit der Zim-merluft gleichmaßig vermischt. In einem luftdicht abgeschlossenen Zimmer mit V Liter Luftinhaltbefinde sich genau ein ruhig atmender Erwachsener. Die Menge des Sauerstoffs sei durch die Funk-tion S(t) in Abhangigkeit von der Zeit (in Minuten) beschrieben, und die Sauerstoffmenge zur Zeitt0 = 0 sei S0.

(a) Bestimmen Sie S(t).

(b) Das Zimmer enthalte 40 cbm Luft. Wieviel Prozent des ursprunglich vorhandenen Sauer-stoffs sind nach 8 Stunden verbraucht? Wieviel Prozent Sauerstoff enthalt die Zimmerluftnach dieser Zeit, wenn ihr ursprunglicher Sauerstoffgehalt mit dem von Frischluft (21 %)ubereinstimmt?

(5) Bei Schneeballen, Mottenkugeln, Bonbons vermindert sich das Volumen V beim Schmelzen, Ver-dunsten, Lutschen mit einer zeitlichen Rate proportional zur jeweils vorhandenen Oberflache F ,

d.h. es giltdV

dt= −λF mit einer Konstanten λ > 0. Sei r0 der Anfangs-Radius einer ausge-

legten Mottenkugel und r(t) ihr Radius nach der Zeit t.

(a) Wie groß ist r(t)?

(b) Die Mottenkugel habe nach 60 Tagen die Halfte ihres Gewichtes verloren. Nach wieviel Tagenist ihr Radius auf ein Zehntel des Anfangsradius geschrumpft?

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4. Gewohnliche Differentialgleichungen 54

(6) Ein Hund schwimmt von einem Ufer eines Flusses zu seinem Herrn, der senkrecht gegenuber steht.Er schwimmt so, daß seine Schnauze immer auf seinen Herrn gerichtet ist. Welchen Differential-gleichungen genugen die Koordinaten x(t) und y(t) des jeweiligen Ortes, an dem sich der Hundbefindet? Bestimmen Sie die Differentialgleichung der Bahnkurve y(x) (die

”Hundekurve“) und

untersuchen Sie die Losungen dieser Differentialgleichung.Daten: Der Hund schwimmt mit konstanter Eigenschwimmgeschwindigkeit v, Stromungsgeschwindigkeitdes Wassers ist c, die Breite des Flusses a, Standort des Herrn sei der Nullpunkt.

(7) Ein Wassertank enthalt zur Zeit t = 0 1000 Liter einer Salzlosung aus Wasser und Q0 kg Salz.Es fließen fortwahrend 30l/min einer Salzlosung mit 1

4 kg/10l nach und gleichzeitig 30l aus demTank. Durch standiges Ruhren ist die Salzkonzentration im Tank stets gleichmaßig. Wie groß istdie Salzmenge nach einer Stunde und gegen welchen Wert konvergiert die Salzmenge fur t → ∞ ?

(8) Archaologische Zeitbestimmung: Nach Untersuchungen von Willard Libby (1908- 1980, Nobelpreisf. Chemie 1960) sammeln Pflanzen wahrend ihres Wachstums ein radioaktives Kohlenstoff-Isotop(C 14) und mit dem Absterben der Pflanze beginnt der radioaktive Zerfall. Die Halbwertszeit vonC 14 ist 5568 (±30) Jahre und derzeitige Meßmethoden sind hinreichend, wenn das Verhaltnis vonderzeitiger Menge und Anfangsmenge nicht kleiner als 4 · 10−6 ist. Bis zu welchem Alter ist dieseMethode anwendbar?

(9) Die Leiche von Mr. Max Miller wurde am 21.12.1990, 8.00 Uhr, in einem Kuhlhaus in New York ge-funden. Man weiß aus Experimenten, daß die Anderung der Korpertemperatur eines Toten propor-tional zum Unterschied zwischen aktueller Korpertemperatur und Umgebungstemperatur ist. DerLeichenbeschauer mißt um 8 Uhr 77 F (Fahrenheit - amerikanische Leiche!) als Korpertemperaturvon Mr.Miller und um 10 Uhr 59 F. Die Kuhlhaustemperatur ist konstant auf 41 F eingestellt,die normale Korpertemperatur eines Menschen ist 98, 6 F. Wann starb Mr. Miller und wer warder Morder?

(10) Die Ausbreitung einer einzelnen Handlungsweise innerhalb einer großen Population (z.B. Auto-fahrer schalten das Scheinwerferlicht bei Sonnenuntergang an) hangt oft teilweise von den außerenUmstanden (zunehmende Dunkelheit) und teilweise von einem Nachahmungsverhalten ab. Istx(t) = at der außere Anreiz, b der Nachahmungsfaktor, y(t) der Anteil der Menschen, die dieHandlung schon vollzogen haben, so stelle man die zugehorige Differentialgleichung fur y(t) aufund lose sie. Dabei werde angenommen, daß die Veranderung proportional zu dem Anteil der Men-schen ist, die die Handlung noch nicht vollzogen haben, wobei der Proportionalitatsfaktor von derZeit t abhangt.

(11) Fur die Beschreibung mancher Probleme benotigt man mehrere miteinander gekoppelte Differen-tialgleichungen, in denen mehrere Funktionen mit ihren Ableitungen gesucht werden. Als Beispielsei folgende Situation beschrieben:

In einem abgeschlossenen Wald leben Kaninchen, die sich von Pflanzen ernahren (die Vorrate seienunbegrenzt), und Fuchse, die sich von Kaninchen (und nur von Kaninchen) ernahren. F sei dieZahl der Fuchse, K die Zahl der Kaninchen. Dann kann man die zeitlichen Veranderungen derZahlen F und K durch folgendes System beschreiben:

dK

dt= K · (a− αF ),

dF

dt= F · (−c+ γK).

Dabei seien a ist die Wachstumsrate der Kaninchen, c die Todesrate der Fuchse und α und γ Maßefur die Interaktion zwischen beiden Arten.

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4. Gewohnliche Differentialgleichungen 55

4.3 Differentialgleichungen 1. Ordnung

Wir betrachten zunachst Differentialgleichungen 1. Ordnung, also

F (x, y, y′) = 0 bzw. y′ = f(x, y).

Fur spezielle Funktionen f bzw. f existieren einfache Losungsmethoden. Z.B. entspricht das Losen einerDifferentialgleichung der Form y′ = f(x) der Bestimmung der Stammfunktion von f(x).

4.3.1 Richtungsfeld, Polygonzugverfahren

Ist die Funktion y(x) Losung der expliziten Differentialgleichung y′ = f(x, y) im Intervall I ⊂ IR, dannwird durch f(x, y) in jedem Punkt von B =

(

x, y(x))

;x ∈ I die Steigung der Losungskurve gegeben.Lauft also ein Punkt auf einer Losungskurve, dann wird er mit Steigung y′ = f(x, y)

”weitergeschickt“.

Man kann daher die Differentialgleichung geometrisch veranschaulichen, indem man in jedem zulassigenPunkt (in dem f definiert ist) ein kleines Geradenstuck der Richtung f(x, y) antragt. Ein solches Objektheißt Linienelement, und die Gesamtheit der Linienelemente nennt man Richtungsfeld.

Die Losungen der Differentialgleichung bilden eine Kurvenschar. Eine Kurve, die alle Punkte der Scharmit demselben Anstieg verbindet, heißt Isokline.

Beispiel 4.3.1 y′ = x+ y.Die Isoklinen sind die Geraden x + y = const.und y = ex − x − 1 ist Losung der Differential-gleichung durch den Punkt (0, 0).

x

y

x+ y = 0

x+ y = −2

x+ y = 2

y = ex − x− 1

Jede Losungskurve ist in jedem Punkt tangential zum entsprechenden Linienelement. Damit erhalt mansofort ein Naherungsverfahren zur Bestimmung der Losung eines Anfangswertproblems, das EulerschePolygonzug-Verfahren:

Man zerlege das Intervall I = [x0, x0 + l] in n gleichlange Intervalle der Lange h = l/n und setzt

xk := x0 + kh, 0 ≤ k ≤ n, also xn = x0 + l.

Ist y0 der vorgegebene Anfangswert, dann berechnet man sukzessiv

yk := yk−1 + h · f(xk−1, yk−1), 1 ≤ k ≤ n.

Dann betrachtet man den Polygonzug mit den Ecken (x0, y0), . . . , (xn, yn) als Naherung der Losungs-kurve. Durch Verfeinerung der Intervallteilung erhalt man anschaulich als Grenzwert die Losung desAnfangswertproblems. Dabei muß naturlich sichergestellt sein, daß das Anfangswertproblem eindeutiglosbar ist und daß das Verfahren konvergiert.

Das Polygonzugverfahren ist i.a. rechentechnisch sehr aufwendig. Fur die numerische Behandlung vonDifferentialgleichungen eignet sich z.B. das Naherungsverfahren von Runge-Kutta wesentlich besser.

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4. Gewohnliche Differentialgleichungen 56

4.3.2 Exakte Differentialgleichungen, Integrierender Faktor

Ist F eine Funktion in einem Gebiet G ⊂ IR2, dann beschreibt die Gleichung F (x, y) = c impliziteine Funktion y(x).Ist F in G stetig differenzierbar, und y in einem Intervall I ⊂ IR (mit (x, y(x));x ∈ I ⊂ G) stetigdifferenzierbar, dann ergibt die Differentiation der obigen Gleichung nach x

Fx(x, y) + Fy(x, y) · y′ = 0,

also eine Differentialgleichung 1. Ordnung.Gibt es umgekehrt zu einer Differentialgleichung der Form

g(x, y) + h(x, y) · y′ = 0

eine Funktion F (x, y) mitFx = g und Fy = h,

dann laßt sie sich in der Formd

dxF(

x, y(x))

= 0 schreiben.

Eine Losung einer solchen Differentialgleichung erhalt man also durch Integration vond

dxF(

x, y(x))

und Auflosen der impliziten Gleichung F (x, y) = c nach y.

Definition 4.3.2 Sei G ⊂ IR2 ein Gebiet und g, h : G → IR. Die Differentialgleichung

g(x, y) + h(x, y) · y′ = 0

heißt exakt im Gebiet G, wenn es eine in G stetig differenzierbare Funktion F (x, y) gibt mit Fx = gund Fy = h.F heißt Stammfunktion der Differentialgleichung.

Beispiel 4.3.3 Die Gleichung 2x+2y · y′ = 0 ist exakt und F (x, y) = x2+ y2 eine Stammfunktion.

Es gilt

Satz 4.3.4 Sei G ⊂ IR2 ein einfach zusammenhangendes Gebiet und g, h : G → IR stetig differenzierbarin G mit g2 + h2 > 0 in G.Die Differentialgleichung

g(x, y) + h(x, y) · y′ = 0

ist exakt genau dann, wenn gy = hx. In diesem Fall ist fur beliebiges (x0, y0) ∈ G

F (x, y) =

∫ x

x0

g(t, y0) dt+

∫ y

y0

h(x, t) dt

eine Stammfunktion, und man erhalt durch Auflosen der Gleichungen F (x, y) = c, c ∈ IR, samtlicheLosungen y(x).Durch jeden Punkt von G geht genau eine Losungskurve.

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4. Gewohnliche Differentialgleichungen 57

Beispiel 4.3.5

(1) 2x3 + 3y + (3x+ y − 1) · y′ = 0.

(2) (y cos x+ 2xey) + (sinx+ x2ey − 1) · y′ = 0.

Nicht-exakte Differentialgleichungen lassen sich manchmal durch Multiplikation mit einer in G stetigenFunktion M(x, y) 6= 0 in eine aquivalente exakte Differentialgleichung umwandeln. Eine solche Funktionheißt integrierender Faktor.

Beispiel 4.3.6 Die Differentialgleichung x2+y2+x+xyy′ = 0 ist nicht exakt, hat aber den integrierendenFaktor M(x) = x.

4.3.3 Trennung der Variablen

Mit”Trennung der Variablen“ bezeichnet man eine Integrationsmethode fur Differentialgleichungen der

Formy′ = g(x) · h(y).

Satz 4.3.7 Seien Ix, Iy ⊂ IR offene Intervalle, die Funktion g(x) stetig in Ix und die Funktion h(y)stetig in Iy. Dann gilt fur die Differentialgleichung y′ = g(x) · h(y)

(a) Ist y0 Nullstelle von h in Iy, dann ist y(x) ≡ y0 Losung in Ix.

(b) Die weiteren Losungen erhalt man durch Losen der Gleichung

dy

h(y)=

g(x) dx+ C

mit beliebigem C ∈ IR.

Bemerkung 4.3.8 In der letzten Gleichung wird links nach y und rechts nach x integriert.

Beispiele 4.3.9 (a) y′ = k · y. (b) (x+ 1) · y′ = 2y.

4.4 Lineare Differentialgleichungen

4.4.1 Definition und Struktur der Losungsmenge

Ist f(x, y, y′, . . . , y(n−1)) eine lineare Funktion in den Variablen y, y′, . . . , y(n−1), dann heißt die Differen-tialgleichung y(n) = f(x, y′, . . . , y(n−1)) lineare Differentialgleichung n-ter Ordnung. Sie laßt sichalso in der Form

y(n) + pn−1(x) · y(n−1) + pn−2(x) · y(n−2) + . . .+ p1(x) · y′ + p0(x) · y = q(x)

mit in einem Intervall I ⊂ IR definierten reellwertigen und i.a. stetigen Funktionen p0(x), p1(x), . . .,pn−1(x), q(x) darstellen.Die Funktionen p0(x), p1(x), . . . , pn−1(x) nennt man auch Koeffizientenfunktionen, die Funktion q(x)Storfunktion.Die obige Darstellung der linearen Differentialgleichung heißt Normalform.

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4. Gewohnliche Differentialgleichungen 58

Lineare Differentialgleichungen sind von besonderer Bedeutung, da einerseits sich viele Anwendungspro-bleme durch lineare Differentialgleichungen exakt oder naherungsweise beschreiben lassen, man ande-rerseits uber ihre Losungen (speziell im Fall konstanter Koeffizienten p0(x), p1(x), . . . , pn−1(x)) relativviel weiß. Es gilt z.B.

Satz 4.4.1 Sei I ⊂ IR ein abgeschlossenes beschranktes Intervall, p0(x), p1(x), . . . pn−1(x), q(x) : I → IR

stetig in I.Dann hat fur beliebige Wahl von x0 ∈ I und y0, y1, . . . , yn−1 ∈ IR das Anfangswertproblem

y(n) +n−1∑

i=1

pi(x) · y(i) = q(x), y(i)(x0) = yi, 0 ≤ i ≤ n− 1,

genau eine Losung y(x) in I.

Ist q(x) ≡ 0, dann spricht man von einer homogenen linearen Differentialgleichung, sonst voneiner inhomogenen linearen Differentialgleichung. Die Losungsmenge einer linearen Differential-gleichung hat eine spezielle algebraische Struktur:

Satz 4.4.2 Gegeben sei die lineare Differentialgleichung n-ter Ordnung y(n)+n−1∑

i=1

pi(x) · y(i) = q(x) mit

stetigen Koeffizientenfunktionen und stetiger Storfunktion. Dann gilt:

(a) Die Losungen der homogenen Gleichung bilden einen n-dimensionalen Vektorraum, die Losungender inhomogenen Gleichung einen n-dimensionalen affinen Raum.

(b) Sei yp(x) eine feste (partikulare) Losung der inhomogenen Gleichung. Dann gilt:y(x) ist eine weitere Losung der inhomogenen Gleichung genau dann, wenn yh(x) = y(x)− yp(x)Losung der zugehorigen homogenen Gleichung ist.

Die Struktur der Losungsmenge ist also analog zu der Struktur der Losungsmenge eines linearen Glei-chungssystems.

Zur Bestimmung der allgemeinen Losung einer linearen Differentialgleichung sind daher eine Basis desn-dimensionalen Losungsraums, d.h. n linear unabhangige Losungen y1, y2, . . . , yn der homogenen Glei-chung, und außerdem irgendeine feste Losung yp der inhomogenen Gleichung zu bestimmen.Die Basis nennt man auch Fundamentalsystem der homogenen Differentialgleichung.Die Losungsmenge ist dann

y(x) =n∑

i=1

ciyi(x) + yp(x); c1, c2, . . . , cn ∈ IR

.

Eine partikularen Losung kann man mit Hilfe der”Methode der Variation der Konstanten“ aus den

Basislosungen gewinnen. Meist kommt man aber mit speziellen Losungsansatzen (in Abhangigkeit derGestalt der Storfunktion) schneller zum Ziel.

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4. Gewohnliche Differentialgleichungen 59

Um festzustellen, wann n Losungen y1(x), y2(x), . . . , yn(x) der homogenen Gleichung linear unabhangigsind, betrachten wir

Definition 4.4.3 Seien y1(x), y2(x), . . . , yn(x) in einem Intervall I ⊂ IR n-mal differenzierbare Funk-tionen. Dann heißt

W (x) :=

y1 y2 . . . yny′1 y′2 . . . y′n...

......

y(n−1)1 y

(n−1)2 . . . y

(n−1)n

Wronski-Determinante.

Es gilt

Satz 4.4.4 Sind y1(x), . . . , yn(x) Losungen derselben homogenen Differentialgleichung im Intervall I,W (x) die zugehorige Wronski-Determinante. Dann gilt:

(a) Entweder ist W (x) = 0 fur alle x ∈ I oder W (x) 6= 0 fur alle x ∈ I.

(b) Gibt es ein x0 ∈ I mit W (x0) 6= 0, dann sind die Losungen linear unabhangig.

Bemerkung 4.4.5 Da die Wronski-Determinante von n Losungen derselben homogenen Differential-gleichung eine in I stetige Funktion ist, ist sie also in I identisch Null oder immer positiv oder immernegativ.

4.4.2 Lineare Differentialgleichungen 1. Ordnung

Die Losungsmenge einer homogenen linearen Differentialgleichung 1. Ordnung ist ein 1-dimensionalerVektorraum. Man erhalt die allgemeine Losung der homogenen Gleichung durch die Methode der Tren-nung der Variablen:

Satz 4.4.6 Die Differentialgleichung y′ + p0(x) · y = 0 hat die Losungsmenge

y = c1e−

p0(x) dx; c1 ∈ IR

.

Zur Bestimmung einer partikularen Losung der inhomogenen Gleichung

y′ + p0(x) · y = q(x)

mit Hilfe der Variation der Konstanten betrachten wir die Funktion

yp(x) := c(x) · yh(x).

yh(x) sei eine beliebige Losung der zugehorigen homogenen Gleichung (mit yh 6≡ 0) und c(x) einedifferenzierbare Funktion, die so beschaffen ist, daß yp(x) Losung der inhomogenen Gleichung ist.

Damit ergibt sich fur c(x)

die Differentialgleichung c′(x) = q(x) ·(

yh(x))−1

bzw. c(x) =

q(x) · e∫

p0(x) dx dx,

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4. Gewohnliche Differentialgleichungen 60

und die allgemeine Losung der inhomogenen Gleichung

y = c1e−

p0(x) dx +(

q(x) · e∫

p0(x) dx dx)

· e−∫

p0(x) dx

= e−∫

p0(x) dx ·(

c1 +

q(x) · e∫

p0(x) dx dx

)

, c1 ∈ IR.

(4.3)

Bemerkungen 4.4.7

(1) Mit 4.3 haben wir eine Formel entwickelt, mit der wir (analog zur p, q)-Formel bei den quadrati-schen Gleichungen) direkt aus der Normalform der linearen Differentialgleichung 1. Ordnung dieallgemeine Losung berechnen konnen.

(2) Die Differentialgleichung hat den integrierenden Faktor M(x) = e∫

p0(x) dx.

Beispiele 4.4.8

(1) y′ + 2xy = x.

(2) y′ + y tan x− 1

cos x= 0.

(3) In einem elektrischen Stromkreis mit konstantem Widerstand R, konstanter Induktivitat L undmit angelegter Spannung U(t) wird der zeitliche Verlauf der Stromstarke i durch die lineare Dif-ferentialgleichung 1. Ordnung

L · i′ +R · i = U(t)

beschrieben. Als Losung ergibt sich

i(t) = e−Rt/L(

C +

∫ t U(s)

LeRs/L ds

)

bzw. fur den Einschaltvorgang (ab t = 0) bei konstanter Spannung

i(t) = e−Rt/L(

C +

∫ t

0

U

LeRs/L ds

)

= e−Rt/L(

C − U

R

)

+U

R.

4.4.3 Lineare Differentialgleichungen 2. Ordnung

Fur die Wronski-Determinante zweier Losungen y1, y2 einer homogenen linearen Differentialgleichung2. Ordnung in Normalform y′′ + p1(x) · y′ + p0(x) · y = 0 gilt

W (x) = c · e−∫

p1(x) dx, c ∈ IR.

Dabei ist c = 0 genau dann, wenn die beiden Losungen linear abhangig sind.

Ist eine Losung (außer der Nulllosung) bekannt, dann kann man aus dieser Beziehung eine dazu linearunabhangige Losung berechnen.

Beispiel 4.4.9 Die Differentialgleichung y′′ − xy′ + y = 0 hat die spezielle Losung y1(x) = x.

Die Wronski-Determinante ist wegen p1(x) = −x

W (x) = c · e−∫

p1(x) dx = c · ex2/2, c ∈ IR.

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4. Gewohnliche Differentialgleichungen 61

Fur eine linear unabhangige Losung y2(x) ergibt sich wegen

W (x) = xy′2(x)− y2(x)

die Differentialgleichung 1. Ordnung

y′2 −1

xy2 = c · ex2/2 · 1

x

und damit die allgemeine Losung

y(x) = c1x+ c2x

∫ x

x0

1

s2es

2/2 ds.

Hat man eine Losungsbasis y1, y2 der homogenen Gleichung gefunden, dann erhalt man wieder durchden Ansatz

y(x) = c1(x) · y1(x) + c2(x) · y2(x)der Variation der Konstanten eine partikulare Losung der inhomogenen Gleichung

y′′ + p1(x) · y′ + p0(x) · y = q(x).

Die Ableitungen c′1, c′2 der zu bestimmenden Funktionen sollen die zusatzliche Bedingung

c′1 · y1 + c′2 · y2 = 0

erfullen.Einsetzen in die Differentialgleichung ergibt das lineare Gleichungssystem

c′1 · y1 + c′2 · y2 = 0c′1 · y′1 + c′2 · y′2 = q(x)

.

Die Koeffizientendeterminante ist gleich der Wronski-Determinante, also ungleich Null, d.h. das Glei-chungssystem ist (z.B. mit der Cramerschen Regel) eindeutig losbar.

4.4.4 Lineare Differentialgleichungen n-ter Ordnung mit konstanten Koeffizienten

Fur eine lineare Differentialgleichung hoherer Ordnung ist es i.a. ziemlich schwer, ein Fundamentalsys-tem zu bestimmen ( - die Konstruktion einer partikularen Losung mit der Methode der Variation derKonstanten lauft analog).

Fur eine homogene lineare Differentialgleichung n-ter Ordnung mit konstanten Koeffizienten

y(n) +n−1∑

k=0

pky(k) = 0, p0, p1, . . . , pn−1 ∈ IR,

macht man den speziellen Losungsansatzy(x) = eαx

und erhalt das charakteristisches Polynom

r(α) = αn +n−1∑

k=0

pkαk = 0.

Dieses Polynom hat nach dem Hauptsatz der Algebra genau n (nicht notwendig verschiedene) komplexeNullstellen α1, . . . , αn.

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4. Gewohnliche Differentialgleichungen 62

Zur Bestimmung eines Fundamentalsystems ergeben sich folgende Schritte:

1. Man bestimme alle verschiedenen Nullstellen αj des charakteristischen Polynoms einschließlichder Ordnung, d.h. wie oft sie als Nullstelle auftreten.

2. Zu jeder k-fachen Nullstelle α ist eαx, xeαx, . . . , xk−1eαx eine linear unabhangige Losungsmengeder homogenen Gleichung.Ist α = β + iγ nicht-reell, dann ersetze man die Losungsmengen zu α und α durch

eβx cos γx, xeβx cos γx, . . . , xk−1eβx cos γx, eβx sin γx, xeβx sin γx, . . . , xk−1eβx sin γx.

Satz 4.4.10 Die n durch das obige Verfahren gefundenen Losungen bilden ein Fundamentalsystem.

Beispiele 4.4.11

(1) y′′′ − 6y′′ + 11y′ − 6y = 0 hat die Losungsbasis y1(x) = ex, y2(x) = e2x, y3(x) = e3x.

(2) 2y′′′ − 5y′′ + 6y′ − 2y = 0 hat die komplexe Losungsbasis

y1(x) = ex/2, y2(x) = e(1+i)x, y3(x) = e(1−i)x

und die reelle Losungsbasis

y1(x) = ex/2, y∗2(x) = ex cosx, y∗3(x) = ex sinx.

(3) y(4) − 4y′′′ + 5y′′ − 4y′ + 4y = 0 hat die komplexe Losungsbasis

y1(x) = e2x, y2(x) = xe2x, y3(x) = eix, y4(x) = e−ix

und die reelle Losungsbasis

y1(x) = e2x, y2(x) = xe2x, y∗3(x) = cos x, y∗4(x) = sinx.

4.4.5 Spezielle Losungsansatze fur die partikulare Losung

Hat die Storfunktion eine spezielle Gestalt, ist sie z.B. ein Polynom oder eine Exponentialfunktionoder Summe oder Produkt solcher Funktionen, dann fuhren spezielle Ansatze fur die Partikularlosungyp i.a. schneller als bei der Variation der Konstanten zum Ziel. Der Grundgedanke ist dabei, daß beiDifferentiation solcher Funktionen ahnliche Funktionen entstehen.

Satz 4.4.12 Gegeben sei eine lineare Differentialgleichung n-ter Ordnung mit Storfunktion q(x).

(1) q(x) habe die Form Pm(x) · eαx mit einem Polynom Pm(x) vom Grad m und α ∈ IR:

(a) Ist α nicht Nullstelle des charakteristischen Polynoms, dann setze

yp := Bm(x) · eαx mit Bm(x) :=m∑

j=0

ajxj .

(b) Ist α Nullstelle des charakteristischen Polynoms der Ordnung k, dann setze

yp := xk ·Bm(x) · eαx mit Bm(x) :=m∑

j=0

ajxj .

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4. Gewohnliche Differentialgleichungen 63

(2) q(x) habe die Form Pm(x) · eβx · cos γx oder q(x) = Pm(x) · eβx · sin γx mit einem Polynom Pm(x)vom Grad m und β, γ ∈ IR:

(a) Ist α = β + iγ nicht Nullstelle des charakteristischen Polynoms, dann setze

yp := Bm(x) · eβx · (a cos γx+ b sin γx) mit Bm(x) :=

m∑

j=0

ajxj .

(b) Ist α = β + iγ Nullstelle des charakteristischen Polynoms der Ordnung k, dann setze

yp := xk · Bm(x) · eβx · (a cos γx+ b sin γx) mit Bm(x) :=

m∑

j=0

ajxj.

Die unbekannten Koeffizienten von Bm(x) bzw. a, b konnen durch Einsetzen von yp in die Differential-gleichung und durch Koeffizientenvergleich bestimmt werden.

Die so bestimmten Funktionen yp sind dann partikulare Losungen der Differentialgleichung.

Beispiele 4.4.13

(1) y′′ + y′ − 2y = x2.

(2) y′′ + y′ = x2.

(3) y′′ − 2y′ + y = x · ex.

(4) y′′ + y = ex · sinx.

(5) y′′ + y = sinx.

Ist die Storfunktion eine Summe von Funktionen der Art wie in Satz 4.4.12, dann erhalt man einepartikulare Losung mit

Satz 4.4.14 Sind yp und y∗p partikulare Losungen der linearen Differentialgleichungen

y(n) +

n−1∑

k=0

pky(k) = q1(x) und y(n) +

n−1∑

k=0

pky(k) = q∗(x),

dann ist yp + y∗p partikulare Losung von

y(n) +n−1∑

k=0

pky(k) = q(x) + q∗(x).

Beispiele 4.4.15

(1) y′′ + 2y′ − 3y = ex + x2 + 4x− 5.

(2) y′′ + 2y′ − y = e3x + sin 2x.

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64

5 Einfuhrung in die Statistik

5.1 Einfuhrung

Bislang standen sogenannte deterministische Vorgange im Vordergrund des Interesses, also Vorgange,deren Eintreten sicher vorhergesagt werden kann, wenn die Voraussetzungen dafur gegeben sind. Deter-ministische Gesetzmaßigkeiten sind z.B. das Fallgesetz, die Wellengleichungen, der Schmelzpunkt einerSubstanz oder chemische Reaktionen.

Im Gegensatz dazu werden wir uns nun mit zufalligen Ereignissen beschaftigen, die unter gegebenenVoraussetzungen eintreten konnen, aber nicht mussen. Zufallig ist z.B. die Wartezeit an den Kassen einesSupermarktes, die Fehleranfalligkeit des neuen Fernsehers oder die Anzahl der Kunden einer Tankstellebzw. der Tagesumsatz an Kraftstoffen.

Die Wahrscheinlichkeitsrechnung beschaftigt sich nun mit der Erforschung von Gesetzmaßigkeiten, denenzufallige Ereignisse unterworfen sind. Die dort gefundenen Ergebnisse ermoglichen es, aus einer relativkleinen Anzahl von bekannten Daten auf eine unbekannte Gesamtmenge von Daten zu schließen, also z.B.aus Stichproben-Befragungen von Wahlern Hochrechnungen auf den zu erwartenden Wahlausgang zumachen. Naturlich werden diese Aussagen nicht mit absoluter Sicherheit eintreffen, sondern nur mit einergewissen Wahrscheinlichkeit, aber wie z.B. die Wahlen zeigen, liegen Hochrechnung und ausgezahltesEndergebnis in den meisten Fallen sehr dicht beieinander.

Beispiele 5.1.1

(1) Der auf einer Großbaustelle eingebrachte Beton wird einer laufenden Qualitatskontrolle unterzo-gen. Dazu werden in gewissen Zeitabstanden Betonwurfel gefertigt und in einer Prufanstalt aufihre Druckfestigkeit untersucht. Bei 40 untersuchten Wurfeln ergaben sich die Werte 29, 4; 35, 5;32, 1; 36, 3; 31, 5; 36, 3; 35, 3; 34, 9; . . .. Hatte man aus jeder eingebrachten Betonmischungeinen Testwurfel gefertigt und auf seine Druckfestigkeit untersucht, dann hatte man die Grund-gesamtheit vollstandig untersucht. Die untersuchte Teilmenge nennt man eine Stichprobe vomUmfang n = 40 mit dem Merkmal Druckfestigkeit. Da jede reelle Zahl als Wert angenommenwerden kann, bezeichnet man das Merkmal als stetige Große.

(2) Zur Fertigungskontrolle werden aus der Tagesproduktion eines Geratetyps 10 Gerate herausgenom-men und untersucht. Die Tagesproduktion ist die Grundgesamtheit, die Menge der untersuchtenGerate die Stichprobe. Ist ein Gerat in Ordnung, gibt man ihm das Merkmal 1, sonst 0. Hier sindfur das Merkmal nur endlich viele Werte moglich und man bezeichnet es als diskrete Große.

5.2 Beschreibende Statistik

5.2.1 Haufigkeitsverteilung

Daten von empirischen Untersuchungen mussen in der Regel so aufbereitet werden, daß ein Unbetei-ligter sie moglichst rasch einordnen kann. Dazu kann man die Daten, die nach der Erfassung i.a. inungeordneter Form in einer Urliste vorliegen, sortieren, sie grafisch darstellen oder sie verdichten, d.h.an Hand weniger aus den Daten errechneten Kennzahlen charakteristische Eigenschaften herausfiltern.

Wie in den vorangestellten Beispielen unterscheidet man zwischen diskreten Großen und stetigenGroßen.

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5. Einfuhrung in die Statistik 65

Diskrete Großen sind z.B. die Anzahlen von Einwohnern verschiedener Stadtteile, oder der Fahrzeuge,die in einem festen Zeitintervall eine Kreuzung uberqueren, oder die Personen pro Haushalt usw., eskonnen also endlich viele (oder im Grenzfall abzahlbar unendlich viele) Werte angenommen werden.

Stetige Großen sind z.B. die Geschwindigkeit der Fahrzeuge, die Reisezeit fur eine bestimmte Fahrtusw., es konnen also unendlich viele Werte eines Intervalls angenommen werden. Dabei sind die beob-achteten Werte entweder Einzelwerte, die mit einer bestimmten Genauigkeit gemessen werden, oder einMeßkontinuum, z.B. die Aufzeichnung eines Fahrtenschreibers.

Beispiele 5.2.1

(1) Die”Siegener Automobil-Union“ stellte an einem Tag 500 Autos her, und zwar 250 rote, 100 blaue

und 150 grune. Die zu untersuchende Menge sei die Menge E = e1, . . . , e500 dieser Autos, dasfestzustellende Merkmal die Farbe, wobei

”rot“ durch die Zahl a1 = 1,

”blau“ durch die Zahl

a2 = 2 und”grun“ durch die Zahl a3 = 3 dargestellt werden soll.

Die Anzahl der roten Autos heißt die absolute Haufigkeit von a1 und wird mit h1 bezeichnet.Im Beispiel ist h1 = 250, h2 = 100 und h3 = 150.

Der prozentuale Anteil der roten Autos an der Gesamtproduktion heißt prozentuale Haufigkeitund wird mit f ′

r bezeichnet. Im Beispiel ist f ′1 = 50%, f ′

2 = 20% und f ′3 = 30%.

Die Menge der 3 Paare (1; 250), (2; 100) und (3; 150) heißt Haufigkeitsverteilung des MerkmalsA auf E. Man kann die Haufigkeitsverteilung grafisch z.B. durch ein Stabdiagramm oder durchein Tortendiagramm darstellen.

Farbe

Anzahl

rot blau grun

100

150

250

rot

blau

grun

(2) 150 Familien mit Kindern wurden nach der Zahl ihrer Kinder befragt. Das Ergebnis der Befragungist in folgender Tabelle dargestellt:

Kinderzahl ar 1 2 3 4 5 6 7

abs. Haufigkeit hr 42 54 36 12 3 1 2

proz. Haufigkeit f ′r 28,0 36,0 24,0 8,0 2,0 0,7 1,3

Z.B. fur die Fragestellung, wie viele Familien hochstens 4 Kinder haben, betrachtet man die abso-lute und relative bzw. prozentuale Summenhaufigkeit (oder kumulierte Haufigkeit) Hr, Fr undF ′r. Fur das Beispiel der Familien gilt

Kinderzahl ar 1 2 3 4 5 6 7

kumulierte Haufigkeit Hr 42 96 132 144 147 148 150

rel. Haufigkeit fr 0,2800 0,3600 0,2400 0,0800 0,0200 0,0067 0,0133

kum. rel. Hauf. Fr 0,2800 0,6400 0,8800 0,9600 0,9800 0,9867 1,0000

kum. proz. Hauf. F ′r 28,00 64,00 88,00 96,00 98,00 98,67 100,00

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5. Einfuhrung in die Statistik 66

Man kann die (Summen-)Verteilungsfunktion grafisch durch eine Treppenfunktion darstellen:

x

F (x)

r

r

r

rr r r

1 2 3 4 5 6 7

1, 0

0, 25

0, 75

0, 5

Aus der Tabelle oder der Zeichnung liest man F (4) = 0, 96 ab, d.h. 96% der Familien habenweniger als 5 Kinder.

(3) Bei der Abschatzung von gefahrenen Personenkilometern auf einer Bundesstraße wird außer derVerkehrsstarke auch der

”Besetzungsgrad“ der PKW’s erhoben. Dazu registriert man an Hand

einer Strichliste, mit wie vielen Personen der vorbeifahrende PKW besetzt ist (Urliste).

r 1 2 3 4 5 6 Summe

Zahl der Insassen ar 1 2 3 4 5 ≥ 6

Zahl der PKW’s hr 21 8 5 2 1 1 38

proz. Anteil der PKW’s f ′r 55,3 21,0 13,2 5,3 2,6 2,6 100,0

kumul. Haufigkeit Hr 21 29 34 36 37 38

kumul. proz. Haufigk. F ′r 55,3 76,3 89,5 94,8 97,4 100,0

Definition 5.2.2 Sei E = e1, . . . , en die zu untersuchende Menge, X die Merkmalsvariable mit denverschiedenen Werten a1, . . . , am, m ≤ n. Dann heißt

(a) hr := #ei;xi = ar absolute Haufigkeit von ar,

fr :=hrn

relative Haufigkeit von ar und

f ′r := 100 · fr% prozentuale Haufigkeit von ar.

Es gilt

m∑

r=1

hr = n,

m∑

r=1

fr = 1 und

m∑

r=1

f ′r = 100%.

(b) Hr :=∑

ai≤ar

hi kumulierte absolute Haufigkeit von ar,

Fr :=∑

ai≤ar

hi kumulierte relative Haufigkeit von ar und

F (x) :=∑

ai≤x

fi relative Haufigkeitsverteilungsfunktion.

Kann die Merkmalsvariable eine große Zahl von Werten annehmen (oder ist sie stetig), dann gruppiertman die Daten zur besseren Darstellung in

Klassen (bzw. Intervallen) Ik = (xuk , xok].

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5. Einfuhrung in die Statistik 67

Dann heißen

h∗k := #ei; xi ∈ Ik bzw. f∗k :=

h∗kn

absolute bzw. relative Klassenhaufigkeit von Ik.

x∗k :=xuk + xok

2heißt Klassenmitte von Ik.

In dem Beispiel der Familien ergibt sich

Intervalle (0,2] (2,4] (4,6] (6,8]

abs. Klassenhaufigkeit h∗k 96 48 4 2

rel. Klassenhaufigkeit f∗k 0,6400 0,3200 0,0267 0,0133

Klassenmitte 1 3 5 7

Zur graphischen Darstellung tragt man uber den Intervallen Ik Rechtecke auf, deren

Flachen proportional den Klassenhaufigkeiten

sind, und erhalt ein Histogramm.

Der Streckenzug, der die Mitten der oberen Rechtecksseiten verbindet, heißt Haufigkeitspolygon.

Beispiel 5.2.3 Bei einer Klausur nahmen 50 Studenten teil. Es waren maximal 100 Punkte zu erreichen.Die Punkteverteilung war wie folgt:

Punkte 6 8 12 13 14 15 17 18 20 23 26 31 32 33 35 36 38

Anzahl 2 1 2 1 1 1 1 1 2 1 2 2 1 2 4 1 1

Punkte 40 41 42 43 46 47 48 50 52 53 55 56 58 59 61 67 72

Anzahl 1 2 1 1 3 1 1 3 1 2 1 2 1 1 1 1 1

Bei folgender Klasseneinteilung

Punkte 0-8 -16 -24 -32 -36 -42 -48 -53 -59 -72 -100

Anzahl 3 5 5 5 7 5 6 6 5 3 0

proz. Haufigk. f ′r 6 10 10 10 14 10 12 12 10 6 0

Intervalllange δxr 8 8 8 8 4 6 6 5 6 13 28

Hohe f ′

r

δxr0,75 1,25 1,25 1,25 3,5 1, 6 2 2,4 1, 6 0,46 0

Klassenmitte 4 12 20 28 34 39 45 50,5 56 65,5 86

ergibt sich als Histogramm bzw. als Haufigkeitspolygon

Punkte8 16 24 3236 42 4853 59 72 100

1

2

3

Punkte

proz. Hauf.

r

r r r

r

r

r r

r

r

r

4 12 20 28 3439 4550, 5

56 65, 5 86

5

10

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5. Einfuhrung in die Statistik 68

Die Verteilungsfunktion F (x) summiert die relativen Haufigkeiten fr bis r ≤ x bzw. die Flachen desHistogramms bis zur Stelle x und ergibt sich in dem Beispiel als

F (x) =

0, 0075 x fur 0 ≤ x ≤ 8

0, 0125 · (x− 8) + 0, 06 fur 8 < x ≤ 32

0, 035 · (x − 32) + 0, 36 fur 32 < x ≤ 36

0, 016 · (x − 36) + 0, 5 fur 36 < x ≤ 42

0, 02 · (x− 42) + 0, 6 fur 42 < x ≤ 48

0, 024 · (x − 48) + 0, 72 fur 48 < x ≤ 53

0, 016 · (x − 53) + 0, 84 fur 53 < x ≤ 59

0, 0046 · (x− 72) + 0, 94 fur 59 < x ≤ 72

1 fur 72 < x ≤ 100

bzw.

Punkte

F (x)

r

r

r

r

r

r

r

r

r r

8 16 24 3236 42 4853 59 72 100

0, 5

1, 0

Mit Hilfe der Funktion F (x) erhalt man z.B. Antworten auf Fragen folgender Art:

1. Wie viele Klausuren haben mehr als 20 aber nicht mehr als 40 Punkte?Antwort: Der relative Anteil ergibt sich als F (40) − F (20) = 0, 356.

2. Wie muß man die Mindestpunktzahl festlegen, damit 60% der Teilnehmer bestanden haben?Antwort: Sei x die Punktzahl, die F (x) Klausuren gerade erreicht haben. Wenn 40% nicht beste-hen, dann ist also x gesucht mit

F (x) = 0, 4, also x = 33, 14.

5.2.2 Statistische Maßzahlen

Schon bei der Zusammenfassung der Daten in Klassen reduziert man die Information, um eine großereUbersichtlichkeit zu gewinnen. Dasselbe Ziel verfolgt die Mittelbildung. Entsprechend der Struktur derDaten bzw. der Aufgabenstellung sind verschiedene Arten von Mittelwerten gebrauchlich (und sinnvoll).

Das bekannteste Mittel ist das arithmetische Mittel der n Werte x1, . . . , xn

x :=1

n

n∑

i=1

xi.

Sind die Daten in einer Haufigkeitsverteilung geordnet, d.h. jeweils hi Objekte haben das Merkmal ai,1 ≤ i ≤ m, dann gilt

x =1

n

m∑

i=1

hiai =

m∑

i=1

fiai.

Im Fall gruppierter Daten reprasentiert die Klassenmitte die gesamte Klasse. Als Naherungswert ver-wendet man

x∗ =1

n

m∑

i=1

h∗ix∗i =

m∑

i=1

f∗i x

∗i .

Beispiel 5.2.4 Fur die Punkteverteilung bei der Klausur ergibt sich x = 36, 84 und x∗ = 35, 89.

Bemerkung 5.2.5 I.a. sind x und x∗ verschieden. Sind die Klassenmitten aber die genauen arithmeti-schen Mittel der in der Klasse zusammengefaßten Daten, dann sind die Werte gleich.

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5. Einfuhrung in die Statistik 69

Das arithmetische Mittel ist die Zahl, fur die die Summe der Quadrate der Abstande von den einzelnen

Werten, also die Funktion F (y) :=

n∑

i=1

(xi − y)2, minimal ist. Allerdings ist es empfindlich gegenuber

”Ausreißern“. Zum Beispiel ist das arithmetische Mittel der Vermogen der Bewohner eines Dorfes mit100 Einwohnern großer als 1 Million, wenn 1 Einwohner 100 Millionen besitzt und die anderen besitzlossind. Daher betrachtet man manchmal ein gewogenes arithmetisches Mittel

xG =

n∑

i=1

Gixi

n∑

i=1

Gi

=n∑

i=1

gixi mit gi :=Gin∑

i=1

Gi

mit”Gewichten“ Gi.

Bemerkungen 5.2.6

(1) Wahlt man als Gewichte die absoluten Haufigkeiten, dann erhalt man das arithmetische Mittel.

(2) Das gewogene arithmetische Mittel wird z.B. verwendet, wenn Meßwerte mit unterschiedlichenGenauigkeiten gemessen werden.

(3) Will man den Mittelwert aus n Zahlen berechnen, die arithmetische Mittelwerte aus Stichprobenverschiedenen Umfangs sind, dann wahlt man die Umfange der Stichproben als Gewichte.

Beispiel 5.2.7 Ein Kfz fahrt eine Stunde mit einer Geschwindigkeit von 60 km/h und anschließendzwei Stunden mit 80 km/h. Dann ermittelt man die Durchschnittsgeschwindigkeit

vG =60 · 1 + 80 · 2

1 + 2km/h = 73, 3 km/h.

Fur Wachstumserscheinungen ergibt sich als geeigneter Mittelwert das geometrische Mittel

xg :=n

n∏

i=1

xi.

Beispiel 5.2.8 In einem Entwicklungsland mit starken Bevolkerungszuwachsen wurden von 1969 bis1974 folgende Einwohnerzahlen einer kleinen Stadt registriert:

i Jahr Einwohnerzahl Ei Zuwachsfaktor xi1 1969 24 500 -

2 1970 26 210 1, 070

3 1971 28 780 1, 098

4 1972 30 500 1, 060

5 1973 34 420 1, 129

6 1974 35 520 1, 032

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5. Einfuhrung in die Statistik 70

Der mittlere Zuwachsfaktor ergibt sich als geometrisches Mittel

xg = 5√x1 · . . . · x5 = 1, 077.

Da hier eine luckenlose Zeitreihe vorliegt, gilt auch

xg = 5

E6

E1.

Mittelt man Werte, die sich als Quotienten ergeben (wie Geschwindigkeit = Weg/Zeit oder Dichte =Masse/Volumen, und entspricht der Zahler der Haufigkeit, dann berechnet man das

harmonische Mittel xh =n

n∑

i=1

1

xi

=n

m∑

j=1

hj1

xj

.

Beispiel 5.2.9 Ein Fahrzeug fahrt uber eine Strecke von 25 km. Da die Strecken unterschiedlich gutausgebaut sind, kann man die einzelnen nur mit bestimmten Geschwindigkeiten befahren. Gesucht istdie durchschnittliche Geschwindigkeit.

i Lange hi [km] Geschwindigkeit xi [km/h] Reisezeit hi

xi[h] xi · hi

1 1 30 0, 0333 30

2 1 45 0, 0222 45

3 12 50 0, 2400 600

4 3 65 0, 0462 195

5 1 80 0, 0125 80

6 2 100 0, 0200 200

7 5 120 0, 0417 600∑

25 0,4159 1.750

Die Gesamtstrecke ist 25 km, die Gesamtreisezeit 0, 4159h die durchschnittliche Geschwindigkeit also

x =25

0, 4159= 60, 11 [km/h].

Das arithmetische Mittel der Geschwindigkeiten wurde

y =1750

25= 70 [km/h]

und eine Reisezeit von 0, 3571 [h] ergeben, was sicher nicht stimmen kann.

Ein anderer moglicher Mittelwert ist der mittlere Wert der nach der Große geordneten Reihe der Werte,also der Wert, der die geordnete Reihe in 2 gleiche Teile teilt. Er heißt

Median (oder Zentralwert oder 50%-Quantil).

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5. Einfuhrung in die Statistik 71

Zu seiner Bestimmung sortiert man bei unklassierten Daten die Werte der Große nach. Ist die Zahl nder Werte ungerade, dann gibt es stets ein mittleres Element. Ist n gerade, dann wahlt man als Median

Z das arithmetische Mittel der Werte desn

2-ten und des

n

2+ 1-ten Elements.

Beispiele 5.2.10

1. Fur das Beispiel der Klausur (mit 50 Studenten, unklassiert) ergibt sich Z = 37.

2. In einer Firma gebe es 7 Frauen mit jahrlichem Bruttoeinkommen von 70, 70, 70, 80, 80, 80, 180(in Tausend Euro) und 9 Manner mit jahrlichem Bruttoeinkommen von 50, 60, 70, 80, 90, 90, 90,90, 100. Fur die Frauen ergibt sich ein Median von ZF = 80, fur die Manner von ZM = 90 undinsgesamt von Z = 80.

Bei einer klassierten Haufigkeitstabelle stellt man fest, in welcher Klasse die absoluten bzw. relativen

kumulierten Haufigkeitenn

2bzw. 0, 5 erreichen. Das ist die sogenannte Einfallsklasse [(aj , bj ], in der der

Zentralwert liegen muß. Innerhalb dieser Klasse geht man von einem linearen Verlauf aus und bestimmtZ mit der linearen Interpolation

Z = aj +

n

2−Hj−1

Hj −Hj−1· (bj − aj) bzw. Z = aj +

0, 5 − Fj−1

Fj − Fj−1· (bj − aj).

Beispiele 5.2.11

1. Fur das Beispiel der Kinderzahl der Familien ergibt sich unklassiert Z = 2. Aus der Klassenbildungergibt sich die Einfallsklasse (0, 2] und

Z = 0 +0, 5− 0

0, 64 − 0· 2 = 1, 56.

2. Fur das Beispiel der Klausur (mit 50 Studenten) ergibt sich bei der Gruppierung aus dem Skript

Z = 36.

Bemerkungen 5.2.12

(1) Das arithmetische Mittel der Einkommen der Frauen aus dem vorigen Beispiel ist xF = 90, das derManner xM = 80, und insgesamt ergibt sich x = 84, 375. Je nach Wahl des Mittelwertes verdienenalso die Manner mehr als die Frauen oder umgekehrt, d.h. man kann jeweils nach personlichemGeschmack die eine oder die andere Gruppe reicher erscheinen lassen.

(2) Der Median ist weniger empfindlich gegenuber Ausreißern als das arithmetische Mittel. Zum Bei-spiel druckt das Einkommen von 180 das arithmetische Mittel nach oben, hat aber auf den Mediankeine Auswirkungen.

(3) Fur klassierte Daten erhalt man Z aus der Verteilungsfunktion , namlich als Wert F−1(0, 5). Mankann Z daher auch aus dem Graphen von F ablesen.

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5. Einfuhrung in die Statistik 72

(4) Betrachtet man statt der Summe der quadratischen Abweichungen die Betragssumme der Abwei-chungen der Einzelwerte von einem Wert a

f(a) :=n∑

k=1

|xk − a|,

dann nimmt f bei a = Z ihr Minimum an.

Der Mittelwert ist allein zu wenig aussagekraftig. Zum Beispiel ergeben beide Meßreihen 1; 5; 10; 15; 19und 9; 9; 10; 11; 11 sowohl den arithmetischen Mittelwert 10 als auch den Meridian 10. Man erganztdaher den Mittelwert durch einen

”Streuparameter“, der erkennbar macht, ob die Meßwerte dicht um

den Mittelwert liegen oder stark nach oben bzw. unten abweichen.

Definition 5.2.13 Gegeben seien die n Beobachtungswerte x1, x2, . . . , xn. Ist x das arithmetische Mit-tel, a ein beliebiger Wert, dann heißt

s2a :=1

n− 1

n∑

i=1

(xi − a)2 mittlere quadratische Abweichung von a,

s2 :=1

n− 1

n∑

i=1

(xi − x)2 Varianz,

s :=

1

n− 1

n∑

i=1

(xi − x)2 Standardabweichung.

Bemerkungen 5.2.14

(1) Die mittlere quadratische Abweichung nimmt bei a = x ihr Minimum an. Der Nenner n− 1 wird(statt des eigentlich logischen Nenners n) im Hinblick auf die Anwendung bei Stichproben gewahlt.

(2) Treten die verschiedenen Werte a1, . . . , am mit der Haufigkeit hj , 1 ≤ j ≤ m ≤ n, auf, dann gilt

s2 =1

n− 1

m∑

j=1

hj(aj − x)2.

(3) Im Fall gruppierter Daten verwendet man als Varianz (s∗)2 =1

n− 1

m∑

j=1

h∗j(x∗j − x∗)2.

Beispiel 5.2.15 Fur die beiden Meßreihen ergibt sich eine Standardabweichung von 7, 28 bzw. 1.

Manchmal informativer als die Variation ist der

Variationskoeffizient ν :=s

x,

der die Variation in Relation zum arithmetischen Mittel setzt.

Neben Varianz und Standardabweichung betrachtet man als Streuparameter die

Spannweite R := xmax − xmin

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5. Einfuhrung in die Statistik 73

und denQuartilsabstand Q := x75% − x25%,

der die 25% kleinsten und 25% großten Merkmalsauspragungen nicht berucksichtigt und vom Restdie Spannweite angibt. Naturlich ist der Quartilsabstand wesentlich robuster gegen Ausreißer als dieBandbreite.

5.3 Zufallsvariable und ihre Verteilungen

5.3.1 Zufallsvariable und Wahrscheinlichkeit

Wie beim Beispiel der Betonwurfel werden die untersuchten Massen in der Regel nicht die Grundge-samtheit darstellen, sondern eine Stichprobe darstellen. Grundlage der beurteilenden Statistik sind dieZufallsvariable und ihre Verteilungen. Einen Prozeß, der nicht eindeutig durch die außeren Bedingungenfestgelegt ist, nennt man einen zufalligen Versuch oder Zufallsexperiment. Dabei setzt man voraus,daß der Versuch

• unter gleichbleibenden Bedingungen ablauft,

• (zumindest theoretisch) beliebig oft wiederholt werden kann,

• mehrere einander ausschließende Ergebnisse haben kann und das Ergebnis im konkreten Fall nichtsicher vorausgesagt werden kann.

Das Ergebnis des Versuchs heißt Ereignis. Tritt ein Ereignis bei jeder Wiederholung des Versuchs auf,dann heißt es sicheres Ereignis, tritt es nie auf, unmogliches Ereignis.

Beispiel 5.3.1 Ein Standardbeispiel ist das Wurfeln mit einem idealen Wurfel mit den Augenzahlen 1bis 6. Die Zufallsgroße W sei die erzielte Augenzahl. Ereignisse sind dann z.B.

(a) Wi : W = i (1 ≤ i ≤ 6) (b) Wg : W ist gerade, Wu : W ist ungerade

(c) W2+ : W > 2 (d) W2+0 : W ≥ 2.

Ω : W ∈ 1, 2, 3, 4, 5, 6 ist das sichere Ereignis, ∅ : W /∈ 1, 2, 3, 4, 5, 6 das unmogliche Ereignis.

Man stellt ein Ereignis durch die Menge dar, die als Elemente alle moglichen auftretenden Ergebnissehat, z.B. das Ereignis der geraden Augenzahl beim Wurfeln durch W ∈ 2, 4, 6.Ein Ereignis, das durch eine 1-elementige Menge dargestellt wird, heißt Elementarereignis. BeimWurfeln gibt es die 6 Elementarereignisse W1, . . . ,W6.

Bedeutet das Ereignis C, daß das Ereignis A oder das Ereignis B (oder A und B) eintritt, dann schreibtman C = A ∪B. Es gilt z.B. Wg = W2 ∪W4 ∪W6.

Definition 5.3.2 Wir betrachten einen Versuch mit zugehoriger Ereignismenge Ω.Eine Funktion X : Ω → IR heißt Zufallsvariable (d.h. man ordnet jedem Ereignis eine reelle Zahl zu).Hat X endlich viele oder abzahlbar viele Werte, dann heißt sie diskret, ist jeder Wert eines IntervallsFunktionswert von X, dann heißt sie stetig.

Bei Wiederholung eines Versuchs beobachtet man, daß bestimmte Ereignisse haufiger auftreten alsandere. Dies wird durch den Begriff der Wahrscheinlichkeit ausgedruckt: Einer Zahl zwischen 0 und1. Dabei bedeutet 0, 8, daß bei einer großen Zahl von Beobachtungen in 80 % der Falle mit dem Eintretendes Ereignisses zu rechnen ist. Fur die Wahrscheinlichkeit legt man gewisse Fundamentalregeln fest:

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5. Einfuhrung in die Statistik 74

(1) Jedem Ereignis A wird eine reelle Zahl P (A) aus dem Intervall [0, 1] zugeordnet. Weiter giltP (Ω) = 1 und P (∅) = 0.

(2) Sind die Ereignisse Ai paarweise unabhangig, dann gilt P(

Ai

)

=∑

P (Ai). (Dabei kann man

sowohl uber endlich viele als auch abzahlbar viele Ereignisse die Vereinigung und Summe bilden.)

Beispiele 5.3.3

(1) Bei einem idealen Wurfel ist P (Wi) =1

6und damit P (Wg) =

1

2.

Betrachtet man die (diskrete) Zufallsvariable X mit X(Wg) = 0, X(Wu) = 1, (d.h. X ist 0, wenndie Augenzahl gerade ist, und X ist 1, wenn die Augenzahl ungerade ist,) dann gilt

P (X = 0) = P (X = 1) =1

2.

(2) Wurfelt man gleichzeitig mit zwei idealen Wurfeln, dann ergeben sich 36 Elementarereignisse mit

Wahrscheinlichkeit1

36.

Betrachtet man als Zufallsvariable X die erzielte Augenzahl mit Wertebereich 2, 3, 4, . . . , 12,dann gilt

Augenzahl Xi 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

pi := P (X = Xi)136

236

336

436

536

636

536

436

336

236

136

.

Betrachtet man als Zufallsvariable X das Produkt der einzelnen Augenzahlen, dann gilt

Produkt Xi 1 2 3 4 5 6 8 9 10 12 15 16 18 20 24 25 30 36

pi136

236

236

336

236

436

236

136

236

436

236

136

236

236

236

136

236

136

.

Die in den Tabellen dargestellten Menge der Paare (xi, pi); pi = P (X = xi) heißt Wahrscheinlich-keitsverteilung der diskreten Zufallsvariablen X. Man kann sie durch Saulendiagramme darstellen. Imletzten Beispiel ergeben sich die Diagramme

X

36 · p

2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

1

2

3

4

5

6

X

36 · p

1 2 3 4 5 6 8 9 10 12 15 16 18 20 24 25 30 36

1

2

3

4

5

6

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5. Einfuhrung in die Statistik 75

Um die Wahrscheinlichkeit P (a < X ≤ b) dafur zu berechnen, daß X einen Wert zwischen a und bannimmt, ist die

Verteilungsfunktion F (x) := P (X ≤ x) : IR → [0, 1]

der Zufallsvariablen nutzlich.

Fur eine diskrete Zufallsvariable X mit Werten pi gilt

F (x) =∑

xi≤x

pi und P (a < X ≤ b) =∑

a<xi≤b

pi = F (b)− F (a).

Fur die Augensumme bei zweimaligem Wurfeln folgt

x ∈ F (x)

(−∞, 2) 0

[2, 3) 136

[3, 4) 336

[4, 5) 636

[5, 6) 1036

[6, 7) 1536

[7, 8) 2136

[8, 9) 2636

[9, 10) 3036

[10, 11) 3336

[11, 12) 3536

[12,∞) 1

x

F (x)

r

r

r

r

r

r

r

r

r

r

r

2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

0, 5

1, 0

Entsprechend der Charakterisierung von Haufigkeitsverteilungen betrachtet man entsprechende Maßzah-len. Dem arithmetischen Mittel entspricht bei der Wahrscheinlichkeitsverteilung der Erwartungswert,als Streuparameter ergibt sich analog die Varianz:

Definition 5.3.4 Sei X eine diskrete Zufallsvariable mit Werten x1, x2, . . . und zugehorigen Wahr-scheinlichkeiten p1, p2, . . .. Dann heißt

E(X) :=∑

i

xi · pi Erwartungswert von X,

V ar(X) :=∑

i

(xi − E(X))2 · pi Varianz von X,

σ(X) :=√

V ar(X) Standardabweichung.

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5. Einfuhrung in die Statistik 76

Beispiel 5.3.5 Auf einem Jahrmarkt kann man beim Wurfeln mit zwei Wurfeln Geld gewinnen:Der Einsatz ist 1 Euro. Ist die Augensumme 11, dann erhalt man 5 Euro, bei Augensumme 12 erhaltman 20 Euro, in den anderen Fallen nichts.Der Gewinn ist eine diskrete Zufallsvariable X mit den Wertenx1 = 20− 1 = 19 bei Augensumme 12,x2 = 5− 1 = 4 bei Augensumme 11 undx3 = 0− 1 = −1 sonst.

Mit

p1 =1

36, p2 =

2

36, p3 = 1− p1 − p2 =

33

36

ergibt sich der Erwartungswert E = −1

6Euro ≈ −17 Cents, die Varianz V ar(X) ≈ 11, 81 und die

Standardabweichung σ(X) ≈ 3, 44.

Fur eine stetige Zufallsvariable mochte man die Summendarstellung durch ein Integral ersetzen undbetrachtet dazu Wahrscheinlichkeitsverteilungen und Zufallsvariable mit einer

Dichtefunktion f(x) : IR → [0, 1],

die folgende Eigenschaften erfullt:

1. f(x) ≥ 0 fur alle x ∈ IR,

2.

∫ ∞

−∞f(x) dx = 1,

3. P (a < X ≤ b) =

∫ b

af(x) dx fur alle a ≤ b.

Fur die Verteilungsfunktion gilt dann

F (x) =

∫ x

−∞f(t) dt und P (a < X ≤ b) = F (b)− F (a) =

∫ b

af(t) dt.

Die Wahrscheinlichkeit dafur, daß X einen Wert zwischen a und b annimmt, ist also gleich der Flacheunter Kurve der Dichtefunktion f(t) zwischen a und b.

Als entsprechende Maßzahlen ergeben sich

Definition 5.3.6 Sei X eine stetige Zufallsvariable mit der Dichtefunktion f(x). Dann heißt

E(X) :=

∫ ∞

−∞x · f(x) dx Erwartungswert von X,

V ar(X) :=

∫ ∞

−∞(x−E(X))2 · f(x) dx Varianz von X,

σ(X) :=√

V ar(X) Standardabweichung.

Mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsverteilung laßt sich eine Zufallsgroße umfassend beschreiben. Im folgen-den wird eine kleine Auswahl von Verteilungen behandelt, die fur praktische Anwendungen besonderswichtig sind.

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5. Einfuhrung in die Statistik 77

5.3.2 Diskrete Gleichverteilung

Wir nehmen an, daß alle n Realisierungen einer diskreten Zufallsgroße X mit derselben Wahrscheinlich-

keit p =1

nauftreten. Als Verteilungsfunktion ergibt sich die Treppenfunktion

F (x) = P (X ≤ x) =∑

xj≤x

P (X = xj) =

j∑

i=1

pi = j · 1n

fur xj ≤ x < xj+1.

Der Erwartungswert ist

E(X) =

n∑

i=1

xipi =1

n

n∑

i=1

xi = x,

also gleich dem arithmetischen Mittel, und die Varianz ist

σ2(X) = V ar(X) =n∑

i=1

(xi − x)2pi =1

n

n∑

i=1

x2i − x2.

5.3.3 Binomialverteilung

Wir betrachten einen zufalligen Versuch, der genau zwei Ergebnisse A und A hat. Es interessiert dieFrage, wie oft bei n-maliger Wiederholung das Ereignis A eintritt. Die ZufallsgroßeX ist also die zufalligeAnzahl der Beobachtungen mit Ergebnis A. X kann damit genau die Werte 0, 1, 2, . . . , n annehmen. Sieist vollstandig charakterisiert, wenn es gelingt, die Wahrscheinlichkeit fur das Auftreten jedes dieserWerte von X, d.h. P (X = k) = pk, 0 ≤ k ≤ n, anzugeben.

Wir legen noch als Voraussetzungen fest:

- Es gibt nur zwei verschiedene, sich gegenseitig ausschließende Versuchsergebnisse A und A.

- Die Wahrscheinlichkeiten von A und A sind bei jedem Versuch gleich, und zwar P (A) = p, P (A) =q = 1− p.

- Die einzelnen Versuche sind voneinander unabhangig, d.h. das Ergebnis eines Versuches darf nichtvon den vorhergehenden Versuchen abhangen und nicht nachfolgende Versuche beeinflussen.

Beispiel 5.3.7 Es sind n gleichartige Gerate auf ihre Funktionstuchtigkeit zu prufen. Das Ereignis Abedeute, daß das Gerat intakt ist, A, daß es defekt ist. Zu bestimmen ist die Wahrscheinlichkeit dafur,daß genau k Gerate intakt sind. Es ergibt sich

P (X = k) =

(

n

k

)

pk(1− p)n−k.

Definition 5.3.8 Eine diskrete Zufallsgroße X heißt binomialverteilt mit den Parametern n und p,wenn ihre n+ 1 Realisierungen 0, 1, 2, . . . , n mit den Einzelwahrscheinlichkeiten

pk = P (X = k) =

(

n

k

)

pk(1− p)n−k

auftreten. X heißt B(n;p)-verteilt.

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5. Einfuhrung in die Statistik 78

Die Verteilungsfunktion ist F (x) =∑

xk≤x

pk =

0 fur x < 0∑

k≤x

(

n

k

)

pk(1− p)n−k fur 0 ≤ x < n

1 fur x ≥ n

,

der Erwartungswert E(X) =n∑

k=0

k

(

n

k

)

pk(1− p)n−k = np,

die Varianz V ar(X) =

n∑

k=0

k2(

n

k

)

pk(1− p)n−k − n2p2 = np(1− p)

und der Variationskoeffizient ν =σ(X)

E(X)=

1− p

np.

Beispiele 5.3.9

(1) Wir betrachten nochmals das obige Beispiel mit den Geraten. Jedes der Gerate sei mit einerWahrscheinlichkeit von p = 95 % intakt, und es werden 100 Gerate gepruft. Der Erwartungswertist dann

E(X) = 100 · 0, 95 = 95

und die Standardabweichung

σX =√

np(1− p) =√

100 · 0, 95 · 0, 05 ≈ 2, 18.

Fur die Wahrscheinlichkeit, daß hochstens 2 der 100 Gerate defekt sind, erhalt man

P (X ≥ 98) =100∑

k=98

(

100

k

)

0, 95k · 0, 05100−k = 0, 1183,

d.h. in 88,17 % der Falle kann man mit mehr als 2 defekten Geraten rechnen.

(2) Ein Schutze trifft mit der Wahrscheinlichkeit p = 0, 6 das Ziel. Mit welcher Wahrscheinlichkeittrifft er das Ziel bei 10 Schussen genau einmal?

Ist die Zufallsgroße x die Anzahl der Treffer, dann gilt

P (X = 1) =

(

10

1

)

p · (1− p)9 = 10 · 0, 6 · 0, 49 ≈ 0, 0016.

Genau ein Treffer ist also recht unwahrscheinlich.

Die Wahrscheinlichkeit, daß mindestens einmal getroffen wird, ist

P (X ≥ 1) = 1− P (X = 0) = 1−(

10

0

)

p0 · (1− p)10 = 1− 0, 410 = 1− 0, 0001 = 0, 9999.

Die Bestimmung der Werte bei einer Binomialverteilung ist oft muhsam und aufwendig. Deshalb benutztman oft Tabellen, in denen die entsprechenden Werte schon angegeben sind.

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5. Einfuhrung in die Statistik 79

Ist X die Anzahl des Eintreffens von A, X ′ die Anzahl des Eintreffens von A, und ist X B(n;p)-verteilt,dann ist X ′ B(n;1-p)-verteilt, es gilt

P (X = k) = P (X ′ = n− k),

und fur die Verteilungsfunktionen gilt

Fp(X) = 1− F1−p(n− x− 1).

Damit genugt es, Tabellen der Binomialverteilung fur p ≤ 1

2zu erstellen.

Fur großes n und kleines p erhalt man als eine Naherung, die die manchmal aufwendigen Berechnungenbzw. die Tabellen unnotig macht,

P (X = k) ≈ (np)k

k!e−np (Poissonsche Naherungsformel).

5.3.4 Stetige Gleichverteilung

Ist die Dichtefunktion in einem Intervall [a, ] konstant und sonst Null, d.h.

f(x) =

1

b− afur x ∈ [a, b]

f(x) = 0 sonst,

dann nennt man die zugehorige Zufallsgroße stetig gleichverteilt.

Als Verteilungsfunktion ergibt sich die Funktion

F (x) = P (X ≤ x) =

t≤xf(t) dt =

0 fur x ≤ a

x− a

b− afur a ≤ x ≤ b

1 fur a ≤ x

.

Der Erwartungswert ist

E(X) =

∫ ∞

−∞xf(x) dx =

∫ ∞

∞x

1

b− adx =

a+ b

2,

also wieder das arithmetische Mittel, und die Varianz ist

σ2(X) = V ar(X) =

∫ ∞

−∞(x− E(x))2f(x) dx =

(b− a)2

12.

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5. Einfuhrung in die Statistik 80

5.3.5 Normalverteilung

Die Normalverteilung oder Gauß-Verteilung ist dadurch gekennzeichnet, daß ihre Realisierungen voll-kommen symmetrisch um den Erwartungswert liegen. Diese Symmetrie tritt auf, wenn die Zufallsgroßedurch Uberlagerung vieler einzelner relativ geringfugiger Einflusse bestimmt wird.

Definition 5.3.10 Fur die Dichtefunktion

f(x) =1

σ√2π

e− 1

2

(

(x−µ)σ

)2

heißt die zugehorige stetige Zufallsvariable X

normalverteilt mit den Parametern µ und σ,

kurz N(µ;σ)-verteilt.

Die Graph der Dichtefunktion ist als”Gaußsche Glockenkurve“ bekannt und zusammen mit dem Bild

von Gauß auf dem Zehn-Mark-Schein abgebildet.

f ist symmetrisch bezuglich x = µ und hat ihr Maximum in x = µ mit f(µ) =1

σ√2π

.

In µ± σ liegen die Wendepunkte von f .

Die Flache unterhalb der Kurve muß (unabhangig von der Wahl von µ und σ) konstant gleich 1 sein(das war eine der Forderungen an die Dichtefunktion), und das Maximum ist umso großer, je kleiner σist, d.h. bei kleinem σ fallt die Dichtekurve relativ rasch auf beiden Seiten und der uberwiegende Teilder Flache konzentriert sich um x = µ.

Als Verteilungsfunktion ergibt sich die Funktion

F (x) =

∫ x

−∞f(t) dt =

1

σ√2π

∫ x

−∞e− 1

2

(

(t−µ)σ

)2

dt.

Der Erwartungswert ist

E(X) =

∫ ∞

−∞xf(x) dx =

1

σ√2π

∫ ∞

∞x e

− 12

(

(x−µ)σ

)2

dx = µ,

die Varianz ist

σ2(X) = V ar(X) =1

σ√2π

∫ ∞

−∞(x− µ)2e

− 12

(

(x−µ)σ

)2

dx = σ2

und der Variationskoeffizient ν =σ

µ.

Die Parameter µ und σ sind also identisch mit dem Erwartungswert und der Standardabweichung. AusSymmetriegrunden gilt

F (µ) = P (X ≤ µ) = P (X ≥ µ) =1

2.

Durch Ubergang zu der neuen Zufallsgroße

U :=X − µ

σ

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5. Einfuhrung in die Statistik 81

transformiert man die Kurve von f(x) zu einer Kurve symmetrisch zur x-Achse mit Wendepunkten in±1. Die neue Dichtefunktion ist

φ(u) =1√2π

e(−u2

2)

und die Verteilungsfunktion

Φ(u) =1√2π

∫ u

−∞e(− t2

2)dt.

U heißt standardisiert normalverteilt oder N(0;1)-verteilt.

Ist X N(µ;σ)-verteilt und kennt man die Standard-Normalverteilung, dann kennt man wegen

F (b) = P (X ≤ b) = Φ

(

b− µ

σ

)

, P (a < X ≤ b) = F (b)− F (a) = Φ

(

b− µ

σ

)

− Φ

(

a− µ

σ

)

auch die Verteilung von X. Es reicht also aus, die Funktion Φ(u) zu vertafeln, und wegenΦ(−u) = 1− Φ(u) nur fur die Werte u > 0.

u

φ(u)

1 2 3−1−2−3

0, 1

0, 2

0, 3

0, 4

u

Φ(u)

1 2 3−1−2−3

0, 25

0, 5

0, 75

1, 0

5.4 Einfuhrung in die schließende Statistik

5.4.1 Stichproben, Schatzfunktionen

Bisher wurde immer angenommen, daß die Verteilungsfunktionen einschließlich der Parameter bekanntsind. Wir wollen nun aber Aussagen machen, ohne die gesamte Grundmenge in die Untersuchung einzu-beziehen. Dazu untersuchen wir nur eine Teilmenge, d.h. eine Stichprobe, und versuchen, Ruckschlusseauf die Grundmenge zu machen.

Definition 5.4.1 Wird durch Zufallsauswahl eine Teilmenge der Grundmenge bestimmt, dann heißt dieTeilmenge (Zufalls-) Stichprobe und die Zahl ihrer Elemente Umfang der Stichprobe. Das Bestim-men der Elemente heißt Ziehen der Stichprobe. Jedes Element der Grundmenge muß eine angebbareWahrscheinlichkeit besitzen, gezogen zu werden.

Ist die Wahrscheinlichkeit fur alle Elemente der Grundmenge gleich und unabhangig davon, welcheElemente schon gezogen wurden, dann heißt die Stichprobe einfach. Eine einfache Stichprobe ist ei-gentlich nur bei unendlichen Grundmengen moglich, aber in der Praxis spricht man auch von einfachenStichproben, wenn die Stichprobe nicht mehr als 5 % der Elemente der Grundmenge enthalt.

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5. Einfuhrung in die Statistik 82

Beispiele 5.4.2

(1) Fur eine Einkommensuntersuchung betrachtet man z.B. die mannlichen und weiblichen Arbeitneh-mer jeweils getrennt und zieht fur jede Gruppe eine einfache Stichprobe. Die gesamte Stichprobeheißt dann geschichtete Stichprobe.

(2) Zur Bestimmung des Kaufverhaltens teilt man die zu untersuchende Grundmenge in Teilmengen(”Klumpen“) auf, wahlt zufallig einige Klumpen aus und untersucht diese vollstandig. Naturlich

konnen Ungenauigkeiten auftreten, wenn z.B. einzelne Klumpen regionale oder andere Besonder-heiten aufweisen.

Fur eine einfache Stichprobe vom Umfang n mit den Werten x1, . . . , xn betrachtet man entsprechendeParameter wie bei der statistischen Erfassung der Grundmenge mit k Elementen: Man nennt analog

x :=1

n

n∑

i=1

xi das arithmetische Mittel der Stichprobe,

s2 :=1

n− 1

n∑

i=1

(xi − x)2 die Varianz der Stichprobe,

s :=

1

n− 1

n∑

i=1

(xi − x)2 die Standardabweichung der Stichprobe und

p :=n

kden Anteil der Stichprobe.

Die so berechneten Werte sind Schatzwerte fur die entsprechenden Parameter der Grundmenge. Furandere einfache Stichproben ergeben sich andere Werte. Die Werte sind also Auspragungen von ent-sprechenden Zufallsvariablen, dem Stichproben-Mittel X , der Stichproben-Varianz S2 und demStichproben-Anteil P . Man nennt diese Zufallsvariablen Schatzfunktionen.

Damit kann man mit Hilfe der Verteilungsfunktionen der Schatzfunktionen die”Genauigkeit“ eines

Schatzwertes beurteilen. Es gilt

Satz 5.4.3 Es sei X eine Zufallsvariable mit dem Erwartungswert µ := E(X) und der Varianz σ2.Dann gilt:

(a) Die Zufallsvariable X (Stichproben-Mittel) hat den Erwartungswert µ und die Varianzσ2

n, d.h.

die Standardabweichungσ√n.

(b) Ist X N(µ;σ)-verteilt, dann ist X N(µ;σ√n)-verteilt.

(c) Die Zufallsvariablen X und Z :=X − µ

σsind asymptotisch normalverteilt, d.h. mit wachsendem n

nahert sich die Verteilung von X immer mehr der N(µ;σ)-Verteilung und Z der N(0;1)-Verteilung.

Bemerkung 5.4.4 Wegen E(X) = µ streuen die Werte x um µ. Die Streuung wird umso kleiner, jegroßer n ist, und damit wird eine Schatzung des arithmetischen Mittels der Grundmenge durch denMittelwert einer Stichprobe mit wachsendem Stichprobenumfang besser.

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5. Einfuhrung in die Statistik 83

Beispiel 5.4.5 Der Benzinverbrauch bei einem bestimmten Kfz-Typ ist i.A. nicht fur alle Kfz’s diesesTyps gleich, kann also als Zufallsvariable aufgefaßt werden. Ist der Verbrauch normalverteilt mit µ =10Liter/100 km und σ = 1Liter/100 km, dann ist der durchschnittliche Verbrauch von 25 Autos

N(10;1

5)-verteilt und von 100 Autos N(10; 1

10 )-verteilt.

Die Wahrscheinlichkeit, daß der Durchschnittsverbrauch bei 25 Autos zwischen 9, 8 und 10, 2 liegt, istp1 = 0, 6826, und dafur, daß bei 100 Autos der Durchschnittsverbrauch uber 10,2 liegt, p2 = 0, 0228.

Umgekehrt kann man nach einem Intervall [µ −∆, µ +∆] suchen, in dem der Durchschnittsverbrauchder Stichprobe mit einer gegebenen Wahrscheinlichkeit p liegt. Zum Beispiel erhalt man bei 25 Autosund einer Wahrscheinlichkeit von p = 90 % das Intervall um µ = 10 mit ∆ = 0, 329.

5.4.2 Konfidenzintervalle

Eine einzige Stichprobe, d.h. eine sogenannte Punktschatzung, erlaubt naturlich keine Aussage uberdie Genauigkeit einer Schatzung. Um eine Angabe uber die Sicherheit der Schatzung eines Parameterszu erhalten, konstruiert man ein Intervall [A,B], das den wahren Wert des Parameters mit einer vorge-gebenen Wahrscheinlichkeit uberdeckt. Das ist eine ahnliche Aufgabenstellung wie im vorigen Beispiel,in dem aber der Erwartungswert vorgegeben war.

Definition 5.4.6 Erhalt man mit einer vorgegebenen Wahrscheinlichkeit p = 1 − α auf Grund ei-ner Stichprobe ein Intervall [A,B], das einen unbekannten Parameter v mit der Wahrscheinlichkeitp enthalt, dann heißt dieses Intervall Konfidenzintervall (oder Vertrauensintervall) fur v. A und Bheißen Konfidenzgrenzen, p Konfidenzniveau oder statistische Sicherheit und α Irrtumswahr-scheinlichkeit.

Die Konfidenzgrenzen werden aus Stichproben bestimmt und sind also von der speziellen Stichprobeabhangig, also wieder Zufallsgroßen.

Beispiel 5.4.7 Eine Maschine schneidet Stahlbleche automatisch auf eine vorher fest eingestellte Lange.Aus vorherigen Messungen der Fertigungsprozesse kennt man die Standardabweichung σ = 2, 2 cm.Gesucht ist ein Konfidenzintervall fur die mittlere Lange der Bleche bei einer Wahrscheinlichkeit vonp = 95 %, wenn eine Stichprobe von n = 40 Blechen die mittlere Lange x = 80, 5 cm ergeben hat.

Fur die Bestimmung eines Konfidenzintervalls [A,B] bei bekannter Varianz σ2 ergibt sich folgendesVerfahren:

(1) Wahle eine Wahrscheinlichkeit p = 1− α als Konfidenzniveau.

(2) Bestimme z aus der Tafel der Standard-Normalverteilung mit

P (−z ≤ Z ≤ z) = p bzw. Φ(z) =1 + p

2.

(3) Berechne x =1

n

n∑

i=1

xi der Stichprobe.

(4) Berechne ∆ = z · σ√n. Damit ergibt sich A = x−∆ und B = x+∆.

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5. Einfuhrung in die Statistik 84

Fur das Beispiel ergibt sich als Konfidenzintervall 79, 818 ≤ µ ≤ 81, 182.

Analog kann man auch die Frage beantworten, wie groß eine Stichprobe sein muß, damit mit einerstatistischen Sicherheit p das Konfidenzintervall eine vorgegebene Lange hat.

Ist die Standardabweichung σ unbekannt, dann kann man fur große Stichproben (Faustregel n ≥ 30) σdurch die Standardabweichung der Stichprobe, also durch

s =

1

n− 1

n∑

i=1

(xi − x)2

approximieren.

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Index

Ableitungpartielle, 31partielle ∼ n-ter Ordnung, 32Richtungs-, 35

Abstand, 2Anfangswertproblem, 51Anteil

einer Stichprobe, 82Stichproben-∼, 82

Ausgleichsgerade, 38Ausgleichsrechnung, 38

B(n;p)-verteilt, 77Basis, 1Betrag, 2Binomialverteilung, 77

IC, 48charakteristisches Polynom, 61

Dichtefunktion, 76Differential

totales, 35Differentialgleichung, 50

exakte, 56explizite, 51homogene lineare, 58implizite, 51inhomogene lineare, 58Losung, 50lineare, 57Ordnung, 51Stammfunktion, 56

differenzierbarpartiell, 31stetig, 34vollstandig, 33

Dreiecksungleichung, 2

Einheitsvektor, 2Elementarereignis, 73Ereignis, 73

sicheres, 73unmogliches, 73

Erwartungswert, 75, 76Euler-Formel, 50Extremum, 36

absolutes, 36mit Nebenbedingungen, 39relatives, 36

Fehlerabsoluter, 34relativer, 34

Fundamentalsystem, 58Funktion

implizite, 41stetige, 30

Funktionaldeterminante, 45

Gauß-verteilt, 80gleichverteilt

diskret, 77stetig, 79

Gradient, 35

Haufigkeitabsolute, 66kumulierte absolute, 66kumulierte relative, 66prozentuale, 66relative, 66

Haufigkeitspolygon, 67Haufigkeitsverteilung, 65Haufigkeitsverteilungsfunktion

relative, 66Hohenlinie, 29Hesse-Matrix, 38Hessesche Normalform, 3Histogramm, 67Hyperebene, 3

imaginare Einheit, 48Imaginarteil, 48Integral

Bereichs-, 42integrierender Faktor, 57Irrtumswahrscheinlichkeit, 83Isokline, 55Isoquante, 29

Kettenregel, 35Klassen, 67Klassenhaufigkeit, 67Klassenmitte, 67

85

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INDEX 86

Konfidenzgrenze, 83Konfidenzintervall, 83Konfidenzniveau, 83konjugiert komplex, 49Koordinaten

Kugel-, 28Polar-, 27Zylinder-, 27

Kovarianz, 39Kreuzprodukt, 3Kugelkoordinaten, 28

Lagrange-Funktion, 39-sche Multiplikationsregel, 39-sche Multiplikatoren, 39

linear abhangig, 1linear unabhangig, 1lineares Optimierungsproblem, 11

Basis, 14Basisdarstellung, 14Basislosung, 14Basisvariable, 14Losung, 12Nebenbedingungen, 11Nichtnegativbedingungen, 11optimale Losung, 12Zielfunktion, 11zulassige Basislosung, 14zulassige Losung, 12

Linearkombination, 1Linienelement, 55

Maximum, 36absolutes, 36relatives, 36

Median, 70Minimum, 36

absolutes, 36relatives, 36

Minimum-Problem, 17Mittel

arithmetisches, 68arithmetisches ∼ einer Stichprobe, 82gewogenes arithmetisches, 69Stichproben-∼, 82

Moivre-Formel, 50

N(µ;σ)-verteilt, 80N(0;1)-verteilt, 81

Nebenbedingungen, 11Nichtnegativbedingungen, 11Niveauflache, 29Niveaulinie, 29Nord-West-Ecken-Regel, 21Normalbereich, 43Normalenvektor, 3Normalform, 3, 57normalverteilt, 80

standardisiert, 81

Optimierungsproblemlineares, 11

Ordnung, 51orthogonal, 2

Parallelepiped, 4Parameterdarstellung

einer Ebene, 5partielle Ableitung, 31partikulare Losung, 58Poissonsche Naherungsformel, 79Polarkoordinaten, 27Polygonzug-Verfahren, 55

Quantil, 70Quartilsabstand, 73

IRn, 26Randwertproblem, 51Realteil, 48Richtungsableitung, 35Richtungsfeld, 55

Sattelpunkt, 37Schatzfunktion, 82Schlupfvariable, 13Skalarprodukt, 2Spannweite, 73Spat, 4Spatprodukt, 5Storfunktion, 57Stammfunktion

einer Differentialgleichung, 56Standard-Maximum-Problem, 13Standardabweichung, 39, 72, 75, 76

einer Stichprobe, 82stationarer Punkt, 37statistische Sicherheit, 83stetig, 30

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INDEX 87

Stichprobe, 81einfache, 81Umfang, 81

Stichproben-Anteil, 82-Mittel, 82-Varianz, 82

totales Differential, 35Transformation, 44Transportproblem

ausgeglichenes, 20Trennung der Variablen, 57

Umfang einer Stichprobe, 81Umgebung, 26

ǫ–∼, 26

Varianz, 72, 75, 76einer Stichprobe, 82Stichproben-∼, 82

Variation der Konstanten, 59Variationskoeffizient, 72Vektor, 26

zueinander orthogonale ∼, 2Betrag, 2Einheits-, 2Normalen-, 3Skalarprodukt, 2

Vektorprodukt, 3Vektorraum, 1Versuch, 73Verteilungsfunktion, 75, 76Vertrauensintervall, 83

Wahrscheinlichkeit, 73Wahrscheinlichkeitsverteilung, 74Wronski-Determinante, 59

Zahlenimaginare, 48komplexe, 48konjugiert komplexe, 49

Zentralwert, 70Ziehen einer Stichprobe, 81Zielfunktion, 11Zufallsexperiment, 73Zufallsvariable, 73

diskrete, 73stetige, 73

Zylinderkoordinaten, 27