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Mathematik f¨ ur Bauingenieure und Chemiker, Modul I Dr. Theo Overhagen Mathematik Universit¨ at Siegen

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Mathematik fur Bauingenieure und Chemiker, Modul I

Dr. Theo OverhagenMathematik

Universitat Siegen

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I

Inhaltsverzeichnis

1 Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 11.1 Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

1.1.1 Definition und Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.2 Polynome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41.1.3 Wurzel-, Exponential- und Logarithmusfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51.1.4 Die Winkelfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

1.2 Einige nutzliche Ungleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91.3 Grenzwerte, Folgen, Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101.4 Grenzwerte von Funktionen, Stetigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181.5 Differentialrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221.6 Anwendungen der Differentialrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261.7 Das bestimmte (Riemann-) Integral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311.8 Die Integralfunktion. Der Hauptsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361.9 Integrationsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381.10 Uneigentliche Integrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431.11 Anwendungen von Differential- und Integralrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

1.11.1 Bogenlange ebener Kurven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451.11.2 Volumen und Mantelflache von Rotationskorpern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

1.12 Numerische Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481.12.1 Horner-Schema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481.12.2 Interpolation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491.12.3 Numerische Losung von Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501.12.4 Numerische Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

1.13 Potenzreihen und Fourierreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531.13.1 Potenzreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531.13.2 Fourier–Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

2 Lineare Algebra 612.1 Lineare Gleichungssysteme und Matrizen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612.2 Das Gaußsche Eliminationsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 632.3 Die inverse Matrix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652.4 Determinanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

3 Darstellende Geometrie 723.1 Aufgabenstellung, Projektionsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723.2 Zweitafelprojektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723.3 Eintafelprojektion (Kotierte Projektion) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 843.4 Zentralprojektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

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INHALTSVERZEICHNIS II

Vorbemerkung

Das vorliegende Rumpfskript soll die Arbeit des Mitschreibens wahrend der Vorlesung reduzieren. Eskann nicht die Vorlesung oder zusatzliche Arbeit mit entsprechender Fachliteratur ersetzen.

In der folgenden Vorlesung setzen wir folgendes voraus: Die Kenntnis

� der Menge IR der reellen Zahlen sowie ihre Stellung innerhalb des Zahlensystems (mit den Men-gen IN der naturlichen, ZZ der ganzen und IQ der rationalen Zahlen) sowie ihre grundlegendenEigenschaften,

� der geometrischen Grundlagen der Ebene und des Raums,

� der elementaren Gleichungslehre und

� der elementaren Funktionen

entsprechend dem Skript”Vorkurs Mathematik fur Bauingenieure“.

Grundlage fur die sprachliche Beschreibung mathematischer Sachverhalte ist die”naive Mengenlehre“

mit Begriffen wie

Menge, Element, Teilmenge, Durchschnitt und Vereinigung.

Auch diese Begriffe setzen wir als bekannt voraus.

Außerdem gehen wir nicht explizit auf die logischen Grundlagen der verschiedenen Beweismethoden wie

direkter Beweis, Widerspruchsbeweis (bzw. indirekter Beweis) undBeweis durch vollstandige Induktion

ein, sondern wenden diese Methoden gegebenenfalls einfach an.

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INHALTSVERZEICHNIS III

Literatur

Die angegebene Literatur ist ein kleiner willkurlicher Ausschnitt aus der einschlagigen Literatur. Jedersollte (vor allem unter den in der Uni-Bibliothek vorhandenen Buchern) herausfinden, welche Literaturfur ihn geeignet ist.

Brauch/Dreyer/Haacke: Mathematik fur Ingenieure, Teubner Verlag, Wiesbaden.

Brunner: Mathematik fur Chemiker I - II, Spektrum, Heidelberg.

Burg/Haf/Wille: Hohere Mathematik fur Ingenieure, Bd.1-3, Teubner, Stuttgart.

Fetzer/Frankel: Mathematik fur Fachhochschulen, Bd.1-2, Springer, Heidelberg.

Fucke/Kirch/Nickel: Darstellende Geometrie fur Ingenieure, Fachbuchverlag Leipzig, Leipzig.

Furlan: Das Gelbe Rechenbuch, Bd.1-2, Verlag Martin Furlan, Dortmund.

Gellrich/Gellrich: Mathematik - Lehr- u. Ubungsbuch fur Fachhochschulen, Bd.1-3,Harri Deutsch, Frankfurt.

Leupold: Mathematik - ein Studienbuch fur Ingenieure, Bd.1-2, Fachbuchverlag Leipzig im HanserVerlag, Leipzig.

Just/Oelschlagel: Mathematik fur Chemiker. Arbeitsbuch mit Beispielen, Aufgaben u. Losungen.Deutscher Verlag fur Grundstoffindustrie. Leipzig, Stuttgart.

Malle: Mathematik fur Techniker, Bd. 1-2, Harri Deutsch, Frankfurt.

Merziger/Wirth: Repetitorium der Hoheren Mathematik, Binomi-Verlag, Springe.

Papula: Mathematik fur Ingenieure und Naturwissenschaftler, Bd. 1-2, Vieweg, Braunschweig.

Papula: Mathematik fur Ingenieure und Naturwissenschaftler, Klausur- und Ubungsaufgaben,Vieweg, Wiesbaden.

Rießinger: Mathematik fur Ingenieure, Springer, Heidelberg.

Rjasanowa,K.: Mathematik fur Bauingenieure, Fachbuchverlag Leipzig im Hanser Verlag, MunchenWien.

Rosch: Mathematik fur Chemiker, Springer, Berlin/Heidelberg.

Schafer/Trippler: Kompaktkurs Ingenieur-Mathematik, Fachbuchverlag Leipzig im Hanser Verlag,Leipzig.

Stingl: Mathematik fur Fachhochschulen, Hanser, Munchen.

Stocker: Mathematik Grundkurs, Bd.1-3, Harri Deutsch, Frankfurt.

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1

1 Differential- und Integralrechnung beiFunktionen einer unabhangigen Variablen

1.1 Funktionen

1.1.1 Definition und Beispiele

Mit Hilfe des Funktionsbegriffes werden in der Mathematik Abhangigkeiten gewisser Großen von anderenbeschrieben.

Beispiele 1.1.1

(1) Beim freien Fall hangt der Weg s, den ein Korper (bei Vernachlassigung der Reibung) zurucklegt,von der Fallzeit t ab. Die Abhangigkeit wird beschrieben durch die Funktion s = 1

2gt2 (mit

Erdbeschleunigung g).

(2) Die Schwingungsdauer t eines”mathematischen Pendels“ wird bei kleinen Ausschlagen von der

Pendellange l bestimmt: t = 2π√

lg .

(3) Der Druck p eines Gases ist abhangig von seinem Volumen V und seiner Temperatur T : p = c·TV

(mit Materialkonstanten c).

(4) Der Preis einer Theater- oder Konzertkarte hangt i.a. von der Sitzreihe ab. Diese Abhangigkeitwird durch z.B. eine Preistabelle beschrieben:

Reihe 1 bis 5 6 bis 10 11 bis 20 21 bis 30

Preis 35 ¿ 28 ¿ 20 ¿ 13 ¿

(5) Das Porto eines Briefes innerhalb Deutschlands hangt vom Gewicht (und der Große) des Briefesab. Ist P das Porto in Euro, G das Gewicht in Gramm, dann gilt zur Zeit

P =

0, 55 falls 0 < G ≤ 20

0, 90 falls 20 < G ≤ 50

1, 45 falls 50 < G ≤ 500

2, 20 falls 500 < G ≤ 1000

(6) Die Anzahl X der Permutationen (Vertauschungen) von n verschiedenen Objekten hangt von ihrerZahl n ab: X = n!.

(7) Die Lange l eines Intervalls [a, b] auf der reellen Zahlengeraden hangt von den Intervallenden ab:l = b− a.

Gemeinsam ist allen diesen Beispielen, daß es eine gewisse Menge X gibt (die moglichen Fallzeiten,Pendellangen, Volumina und Temperaturen, Reihen, Briefgroßen, Anzahlen bzw. Intervallenden), undzu jedem x ∈ X laßt sich in eindeutiger Weise ein Element y aus einer zweiten Menge Y bestimmen.

X heißt Definitionsbereich oder Definitionsmenge, Y Wertebereich.

Die Zuordnung wird durch y = f(x) beschrieben, und y heißt Funktionswert an der Stelle x oder Bildvon x und x Argument oder Urbild von y.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 2

Beispiele 1.1.2 (Es seien a, b, c, ak , bk, ck reelle Zahlen, k,m, n naturliche Zahlen oder Null.)

(1) Die konstante Funktion f : IR → IR mit f(x) := c fur alle x ∈ IR

wird oft auch kurz mit f ≡ c bezeichnet. Ihr Graph ist eine Parallele zur x-Achse (falls c 6= 0)oder die x-Achse.

(2) Fur eine beliebige nichtleere Menge M heißt f : M → M mit f(x) := x fur alle x ∈ M

identische Funktion oder Identitat auf M . Speziell fur M = IR ist der Graph die ersteWinkelhalbierende.

(3) f : IR → IR mit f(x) := a · x+ b fur alle x ∈ IR

heißt lineare Funktion. Ihr Graph ist eine Gerade mit Steigung a, die die y-Achse in (0, b)schneidet. Manchmal werden nur die Funktionen mit b = 0 (durch den Ursprung) als lineareFunktionen bezeichnet. Die anderen Funktionen heißen dann affin.

(4) f : IR → IR mit f(x) := a0 + a1x+ a2x2 + . . .+ amxm =:

m∑

k=0

akxk fur alle x ∈ IR

heißt Polynom oder ganzrationale Funktion. Die Konstanten a0, . . . , am heißen Koeffizien-ten des Polynoms. Der hochste auftretende Exponent von x (mit zugehorigem Koeffizient ungleichNull) heißt Grad des Polynoms.Konstante Funktionen, die Identitat und lineare Funktionen sind samtlich Polynome. Die Funk-tion f ≡ 0 nennt man auch Nullpolynom. Es hat in diesem Sinn keinen Grad. Man weist ihmmanchmal als Grad den Wert −1 zu. Die anderen konstanten Funktionen haben Grad 0, die li-nearen Funktionen Grad 1.Weitere spezielle Polynome sind die quadratischen Funktionen, deren Graph eine Parabel ist,sowie die Potenzfunktionen y = xn, n ∈ IN.

(5) Durch die Vorschrift f(x) :=a0 + a1x+ a2x

2 + . . .+ anxn

b0 + b1x+ . . . + bmxmfur alle x ∈ IR

wird eine gebrochen rationale Funktion auf der Menge aller reellen Zahlen definiert, fur dieder Nenner nicht Null wird.

Z.B. ist f(x) =1

xeine gebrochen rationale Funktion mit Definitionsbereich IR \ {0}. Ihr Graph ist

eine Hyperbel, deren Asymptoten die Koordinatenachsen sind.

(6) Durch f : IR → IR mit f(x) := |x| :={

x falls x ≥ 0

−x falls x < 0fur alle x ∈ IR

wird die Betragsfunktion definiert. Sie beschreibt den Abstand einer reellen Zahl vom Ursprungund spielt bei der Definition der Begriffe

”Grenzwert“,

”stetig“,

”differenzierbar“ eine wesentliche

Rolle.

Oft ergibt sich ein”naturlicher“ Definitionsbereich fur Funktionen reeller Variabler aus der Funktions-

vorschrift. Wir wollen darunter im folgenden die Teilmenge aller reeller Zahlen verstehen, fur die dieFunktionsvorschrift erfullbar ist. Zum Beispiel ist der naturliche Definitionsbereich fur die Funktion

f(x) :=x2√x+ 2

das offene reelle Intervall (−2,∞) und fur die Funktion f(x) := 4

|x|+ 1x die Menge

(−∞,−1] ∪ (0,∞).

Ist f : X → IR eine Funktion (mit beliebigem Definitionsbereich X), dann heißt jedes x ∈ X mitf(x) = 0 Nullstelle der Funktion. Ist X Teilmenge von IR, dann

”schneidet“ der Graph der Funktion

die x-Achse in den Nullstellen von f .

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 3

Da man in IR addieren, multiplizieren und mit Einschrankungen dividieren kann, kann man reellwertigeFunktionen ebenfalls addieren, multiplizieren und mit entsprechenden Einschrankungen dividieren. Diemeisten Regeln fur das Rechnen mit reellen Zahlen ubertragen sich direkt auf die Funktionen, so z.B.das Kommutativ- und das Assoziativgesetz fur Addition sowie das Distributivgesetz.

Man spart sich bei der Untersuchung von reellwertiger Funktionen einer reellen Variablen oft Arbeit,wenn man Symmetrieeigenschaften des Graphen kennt:Sei X ⊂ IR eine nichtleere, zum Nullpunkt symmetrische Menge (d.h. aus x ∈ X folgt −x ∈ X). EineFunktion f : IR → IR heißt gerade auf X, wenn fur alle x ∈ X gilt f(−x) = f(x), und ungerade, wennfur alle x ∈ X gilt f(−x) = −f(x).Die Bezeichnungen orientieren sich am Symmetrieverhalten spezieller Polynome:

Ein Polynom f : IR → IRmit f(x) :=

n∑

k=0

akxk, bei dem nur Potenzen mit geradem Exponenten auftreten,

d.h. alle Koeffizienten mit ungeradem Index Null sind, ist gerade. Analog ist ein Polynom, bei dem nurPotenzen mit ungeradem Exponenten auftreten, d.h. alle Koeffizienten mit geradem Index Null sind,ungerade.Der Graph einer geraden Funktion ist symmetrisch zur y-Achse (Beispiele: die konstanten Funktionenoder y = x2), der Graph einer ungeraden Funktion liegt symmetrisch zum Nullpunkt (Beispiele: dielinearen Funktionen y = ax oder y = x3). Es reicht bei derartigen Funktionen also aus, die Funktionfur nichtnegative Urbilder zu untersuchen.

Ist f(x) eine reellwertige Funktion, I ein reelles Intervall, C eine reelle Zahl und gilt

f(x) ≤ C fur alle x ∈ I,

dann heißt f im Intervall I nach oben beschrankt und C obere Schranke von f in I. (Analogdefiniert man nach unten beschrankt.) Der Graph von f liegt im Bereich des Intervalls I unterhalbder Parallelen y ≡ C zur x-Achse. Ist C obere Schranke von f in I, dann ist jede großere reelle Zahlebenfalls dort obere Schranke.

Beispiel: −3 ist (großte) untere Schranke der Funktion f(x) = x2 + 2x − 2 in IR, 0 ist (kleinste) obereSchranke von f im Intervall [−1−

√3,−1 +

√3].

Ist f(x) eine reellwertige Funktion, I ein reelles Intervall und gilt

f(x1) ≤ f(x2) fur alle x1, x2 ∈ I mit x1 < x2,

dann heißt f im Intervall I monoton wachsend. Gilt sogar

f(x1) < f(x2) fur alle x1, x2 ∈ I mit x1 < x2,

dann heißt f im Intervall I streng monoton wachsend.(Analog definiert man monoton fallend und streng monoton fallend.)

Beispiele 1.1.3 Eine lineare Funktion f(x) = ax+ b mit a > 0 ist in IR streng monoton wachsend. Ista < 0, dann ist f in IR streng monoton fallend. Die Funktion f(x) = x2 ist in (−∞, 0] streng monotonfallend und in [0,∞) streng monoton wachsend. Jede konstante Funktion ist im Definitionsgebiet sowohlmonoton wachsend als auch monoton fallend.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 4

Naturlich konnen verschiedene Urbilder einer Funktion dasselbe Bild besitzen.Spezielle Funktionen, bei denen verschiedene Urbilder immer auch verschiedene Bilder haben, heißenumkehrbar eindeutig. Zu jedem y ∈ f(X) gibt es dann genau ein x ∈ X mit y = f(x), d.h. es gibteine Funktion g : f(X) → X mit g(f(x)) = x. g nennt man Umkehrfunktion oder inverse Funktionvon f und bezeichnet sie mit f−1 bzw. ausfuhrlich mit f−1 : f(X) → X. Offenbar gilt

f−1(

f(x))

= x fur alle x ∈ X, f(

f−1(y))

= y fur alle y ∈ Y.

Man bestimmt die Umkehrfunktion f−1(x), indem man die Funktionsgleichung y = f(x) nach x auflostund dann die Variablennamen x und y vertauscht. Der Graph der Umkehrfunktion f−1 ist das Bild desGraphen von f bei Spiegelung an der 1. Winkelhalbierenden.

Ist f streng monoton wachsend, dann auch ihre Umkehrfunktion. Gleiches gilt auch fur streng monotonfallend.

Beispiele 1.1.4 Jede streng monotone Funktion hat eine Umkehrfunktion, z.B. ist fur eine lineare

Funktion f(x) = ax+ b mit a 6= 0 die Funktion g(x) =x− b

adie zugehorige Umkehrfunktion.

Die konstanten Funktionen haben keine Umkehrfunktion.Die quadratische Funktion f(x) = x2 hat jeweils in den Intervallen (−∞, 0] und [0,∞) eine Umkehr-funktion, namlich die Wurzelfunktionen g1(x) = −√

x und g2(x) =√x. Beide Funktionen sind nur

fur nichtnegative x definiert.

Neben den ublichen Rechenoperationen (Addition, Multiplikation usw. ) gibt es eine weitere Operation,um aus zwei Funktionen f(x) und g(x) eine dritte zu konstruieren, die Verkettung oder Kompositionvon Funktionen:

(f ◦ g)(x) := f(

g(x))

.

Eine Verkettung ist nur moglich, wenn der Definitionsbereich der außeren Funktion f den Wertebe-reich der inneren Funktion g umfaßt. Man bestimmt die Verkettung, indem man an jeder Stelle, ander in der Funktionsgleichung von f die Variable x auftritt, g(x) einsetzt.

Beispiel 1.1.5h(x) = (2x2 − x)2

ist Verkettung der Funktionen

g(x) = 2x2 − x und f(x) = x2,

d.h. h = f ◦ g. Vertauscht man innere und außere Funktion, dann erhalt man i.a. eine andere Funktion,hier z.B.

(g ◦ f)(x) = 2(x2)2 − (x2) = 2x4 − x2.

Hat eine Funktion f eine Umkehrfunktion, dann gilt (f ◦ f−1)(x) = (f−1 ◦ f)(x) = x.

1.1.2 Polynome

Zu den wichtigsten reellwertigen Funktionen einer reellen Variablen gehoren die Polynome. Ihre Funk-tionswerte lassen sich fur jeden Wert von x ∈ IR allein durch Addition und Multiplikation errechnen.

Ein Polynom vom Grad n ≥ 1 hat hochstens n verschiedene Nullstellen x1, x2, . . . , xm. Es laßt sich inder Form

f(x) = (x− x1)s1(x− x2)

s2 · · · (x− xm)sm · q(x)

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 5

darstellen (Zerlegung in Linearfaktoren). Dabei ist q(x) ein Polynom vom Grad n− (s1+ s2+ . . .+ sm),das keine Nullstellen hat. xk nennt man sk-fache Nullstelle.

Die Aussage des Satzes beruht im wesentlichen auf der Tatsache, daß es in der Menge der Polynomewie in ZZ eine Division mit Rest, die Polynomdivision gibt:

Ist g ein beliebiges festes Polynom, aber nicht das Nullpolynom, dann gibt es zu jedem Polynom f

eindeutig bestimmte Polynome q und r mit f = q · g + r und r ≡ 0 oder Grad r < Grad g.

Ist das Restpolynom r gleich dem Nullpolynom, dann nennt man g Teilerpolynom von f . Jede Null-stelle von g ist dann auch Nullstelle von f . Da beim Multiplizieren von Polynomen sich die Gradeaddieren, erhalt man fur Grad f < Grad g die Polynome q ≡ 0 und r = f . Im anderen Fall sortiert mansowohl bei f als auch bei g die Summanden absteigend nach Hohe des Exponenten von x und dividiertden 1. Summanden von f durch den 1. Summanden von g. Kommt eine Potenz, z.B. x4, in einem derPolynome nicht vor, dann ist es nutzlich, an ihre Stelle z.B. den Ausdruck 0 · x4 zu setzen.

Beispiel 1.1.6

(18x4 + 15x3 + 0x2 − 2x + 1) : (3x2 + x− 1) = 6x2 + 3x+ 1 +2

3x2 + x− 118x4 + 6x3 − 6x2

9x3 + 6x2 − 2x + 19x3 + 3x2 − 3x

3x2 + x + 13x2 + x − 1

2

Hat das Zahlerpolynom einer gebrochen rationalen Funktion f(x) einen großeren oder gleich großenGrad wie das Nennerpolynom, dann kann man mit Hilfe der Polynomdivision f(x) als Summe einesPolynoms q(x) und einer echt gebrochen rationalen Funktion r(x) (bei dem der Grad des Zahlerskleiner als der Grad des Nenners ist) darstellen. Fur sehr große und sehr kleine Werte von x (d.h.x → ±∞) nahert sich f(x) dem Polynom q(x).

1.1.3 Wurzel-, Exponential- und Logarithmusfunktion

Als Umkehrfunktion der fur ungerades n ∈ IN in IR und fur gerades n in {x ∈ IR; , x ≥ 0} streng monotonwachsenden Potenzfunktion f(x) = xn ergibt sich die

Wurzelfunktion g(x) := n√x,

die in ihrem Definitionsgebiet (IR fur ungerades n und {x ∈ IR; , x ≥ 0} fur gerades n) ebenfalls strengmonoton wachsend ist.

Fur a ∈ IR, a > 0, ist fur jedes x := pq ∈ IQ mit p ∈ ZZ, q ∈ IN, die Potenz ax definiert durch a

pq := q

√ap.

Durch z.B. Intervallschachtelungen kann man die Potenzen ax auf reelle x ausdehnen.

Aus den Eigenschaften der Potenzen mit rationalen Exponenten ergeben sich entsprechende Eigenschaf-ten der

Exponentialfunktion f(x) = ax, a > 0, a 6= 1 :

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 6

(1) f(x) = ax hat nur positive Funktionswerte und erfullt die Funktionalgleichung

ax+y = ax · ay.

(2) Sei a 6= 1. Die Funktion f : IQ → IR mit f(x) := ax ist fur a > 1 streng monoton steigend, fura < 1 streng monoton fallend. Zu f(x) = ax existiert also die Umkehrfunktion.

(3) Fur alle a gilt a0 = 1, d.h. (0, 1) ist gemeinsamer Punkt aller Exponentialfunktionen.

(4) Zu jeder reellen Zahl y ∈ (0,∞) gibt es ein x ∈ IR mit f(x) = ax = y.

Entsprechend ergibt sich fur a > 0, a 6= 1, als Umkehrfunktion die Logarithmusfunktion f(x) = loga xzur Basis a. Aus den Eigenschaften von ax folgt:

Die Logarithmusfunktion ist fur alle positive x definiert, hat (fur alle a) die Nullstelle 1, ist strengmonoton (wachsend fur a > 1 bzw. fallend fur 0 < a < 1), und genugt der Funktionalgleichung

loga(x1 · x2) = loga x1 + loga x2.

1.1.4 Die Winkelfunktionen

Haben zwei rechtwinklige Dreiecke (neben dem rechten Winkel) einen weiteren Winkel α (und da-mit auch den dritten Winkel) gemeinsam, dann sind sie ahnlich. Nach dem Strahlensatz bzw. denAhnlichkeitssatzen sind entsprechende Seiten zweier Dreiecke zueinander proportional, d.h. fur jedesdieser ahnlichen Dreiecke mit Winkel α sind die Quotienten

Gegenkathete

Hypothenuse,

Ankathete

Hypothenuse,

Gegenkathete

Ankathete,

Ankathete

Gegenkathete

jeweils gleich, hangen also nur vom Winkel α ab.

Man definiert daher fur einen beliebigen Winkel α, 0 < α < 90◦, und ein beliebiges rechtwinkligesDreieck △ABC mit rechtem Winkel bei C, Winkel α bei A und β bei B und Seiten a = BC, b = AC

und c = AB:

sinα =a

c, cosα =

b

c, tanα =

a

b, cotα =

b

a.

q

A B

C

b

c

a

α β

Aus der Definition, β = 90◦ − α und dem Satz von Pythagoras folgt sofort

(1) sin β = cosα, cos β = sinα, tan β = cotα, cot β = tanα,

(2) tanα =sinα

cosα, cotα =

cosα

sinα,

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 7

(3) sin2 α+ cos2 α = 1, 1 + tan2 α =1

cos2 α, 1 + cot2 α =

1

sin2 α.

Die Winkelfunktionen sind bisher nur fur α ∈ (0◦, 90◦) definiert. Betrachtet man nur rechtwinkligeDreiecke mit Hypothenusenlange 1, dann stellen Sinus und Kosinus ebenfalls Langen dar, namlich vonGegenkathete und Ankathete. Wir betrachten nun in einem Koordinatensystem den Kreis um denUrsprung mit Radius 1 (Einheitskreis) und definieren Sinus und Kosinus durch mit Vorzeichen verseheneStreckenlangen:

✻y

x☛

A

B

P

C

D

E

F

O

α

P ist ein beliebiger Punkt des Einheitskreises und α der Winkel zwischen der positiven x-Achse (−→OA)

und dem Ortsvektor zu P (−−→OP ).

Da der Winkel α und die Lange AP des zugehorigen Kreisbogens proportional sind, mißt man denWinkel oft im Bogenmaß.

Es entsprechen also 90◦ dem Bogenmaß π2 , 180

◦ dem Bogenmaß π und allgemein α in Grad dem Bo-

genmaß α · π

180◦.

Wir definieren sinα und cosα als y- bzw. y-Koordinate von P . Dann hat D fur α 6= π2 , α 6= 3π

2 diey-Koordinate tanα und F fur α 6= 0, α 6= π, die x-Koordinate cotα.

Fur die Vorzeichen der Winkelfunktionen ergibt sich

1. Quadrant 2. Quadrant 3. Quadrant 4. Quadrant

α ∈(

0, π2)

α ∈(

π2 , π

)

α ∈(

π, 32 π)

α ∈(

32 π, 2π

)

sinα + + − −cosα + − − +

tanα + − + −cotα + − + −

und außerdem

(1) sin(π − α) = sinα, cos(π − α) = − cosα, tan(π − α) = − tanα, cot(π − α) = − cotα,

(2) sin(α+ π2 ) = cosα, cos(α+ π

2 ) = − sinα, tan(α+ π2 ) = − cotα, cot(α+ π

2 ) = − tanα,

(3) sin(α+ π) = − sinα, cos(α+ π) = − cosα, tan(α+ π) = tanα, cot(α+ π) = cotα,

(4) sin(−α) = − sinα, cos(−α) = cosα, tan(−α) = − tanα, cot(−α) = − cotα.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 8

Fur spezielle Winkel ergeben sich folgende Funktionswerte:

α 0 π6

π4

π3

π2

sinα 0 12

12

√2 1

2

√3 1

cosα 1 12

√3 1

2

√2 1

2 0

tanα 0 13

√3 1

√3 nicht definiert

cotα nicht definiert√3 1 1

3

√3 0

Mit der Definition

sin(α + 2kπ) := sinα, cos(α+ 2kπ) := cosα, tan(α+ 2kπ) := tanα, cot(α+ 2kπ) := cotα

fur beliebiges k ∈ ZZ kann man die Winkelfunktionen auf IR ausdehnen. Sinus- und Kosinusfunktionensind also (2π)-periodisch, Tangens- und Kotangensfunktion π-periodisch. Weiter sind Sinus, Tangensund Kotangens ungerade Funktionen und Kosinus ist eine gerade Funktion.

Fur ein allgemeines Dreieck mit Seiten a, b, c und Winkel α, β und γ gilt

sinα

a=

sin β

b=

sin γ

c(Sinussatz)

und als Verallgemeinerung des Satzes von Pythagoras

a2 = b2 + c2 − 2bc cosα . (Kosinussatz)

Von großer Wichtigkeit sind weiter die Additionstheoreme:

(1) sin(x+ y) = sinx cos y + cos x sin y, sin(x− y) = sinx cos y − cos x sin y,

speziell sin(2x) = 2 sinx cos y,

(2) cos(x+ y) = cos x cos y − sinx sin y, cos(x− y) = cos x cos y + sinx sin y,

speziell cos(2x) = cos2 y − sin2 x,

(3) sinx+ sin y = 2 sinx+ y

2cos

x− y

2, sinx− sin y = 2 cos

x+ y

2sin

x− y

2,

(4) cos x+ cos y = 2 cosx+ y

2cos

x− y

2, cos x+ cos y = −2 sin

x+ y

2sin

x− y

2.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 9

1.2 Einige nutzliche Ungleichungen

Beim Nachweis vieler Eigenschaften von Funktionen, die in der Differential- und Integralrechnung unter-sucht werden, werden Ungleichungen ausgerechnet. Folgende Ungleichungen werden dabei immer wiederauftreten und zur Vereinfachung der Rechnungen nutzlich sein.

Satz 1.2.1 (Dreiecksungleichung) Fur alle a, b ∈ IR gilt

∣ |a| − |b|∣

∣ ≤∣

∣a± b∣

∣ ≤ |a|+ |b|.

Bemerkung 1.2.2 Man kann die Dreiecksungleichung leicht auf den Fall mehrerer reeller Zahlen ver-allgemeinern. Es gilt

∣|a1| − |a2| − |a3| − . . .− |an|∣

∣ ≤∣

∣a1 + a2 + a3 + . . . + an∣

∣ ≤ |a1|+ |a2|+ |a3|+ . . . + |an|.

Die nachste Ungleichung macht eine Aussage uber alle naturlichen Zahlen n. Aussagen dieser Art beweistman oft mit Hilfe des Beweisprinzips der vollstandigen Induktion:

Sei A(n) eine Aussageform uber der Grundmenge IN. Gilt

� A(1) ist wahr (Induktionsanfang),

� fur jede naturliche Zahl n folgt, daß A(n + 1) wahr ist, wenn A(n) wahr ist(Induktionsschritt),

dann ist A(n) fur alle n ∈ IN wahr.

Um zu zeigen, daß die Aussage wirklich fur alle n wahr ist, darf man weder Induktionsanfang nochInduktionsschluß weglassen. Typische Aussagen, die man mit Hilfe dieser Methode beweist, sind z.B.:

Fur alle n ∈ IN gilt

n∑

i=1

i =n(n+ 1)

2und

n∑

i=1

i2 =n(n+ 1)(2n + 1)

6.

Satz 1.2.3 (Bernoullische Ungleichung) Fur alle n ∈ IN und alle x ≥ −1 gilt

(1 + x)n ≥ 1 + nx.

Das Gleichheitszeichen gilt genau dann, wenn n = 1 oder x = 0.

Fur nichtnegatives x ∈ IR folgt die Bernoulli-Ungleichung (durch Weglassen aller Summanden außer denersten beiden) aus

Satz 1.2.4 (Binomischer Satz) Fur alle n ∈ IN0, a, b ∈ IR gilt

(a+ b)n =n∑

k=0

(

n

k

)

akbn−k.

Dabei gilt fur die Binomialkoeffizienten

(

n

k

)

die Rekursionsformel

(

n

k − 1

)

+

(

n

k

)

=

(

n+ 1

k

)

, 1 ≤ k ≤ n, und

(

n

0

)

=

(

n

n

)

= 1.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 10

Im durch diese Formel erzeugten Pascalschen Dreieck steht der

Koeffizient

(

n

k

)

, 0 ≤ k ≤ n, an der k-ten Stelle in der n-ten Reihe,

jeweils beginnend mit n = 0 und k = 0. Die Binomialkoeffizienten

sind symmetrisch, d.h.

(

n

k

)

=

(

n

n− k

)

, und es gilt(

n

k

)

=n!

k! · (n− k)!.

1

1 1

1 2 1

1 3 3 1

1 4 6 4 1

1 5 10 10 5 1

In einem rechtwinkligen Dreieck zerlegt die Hohe h

auf die Hypothenuse diese in die zwei Abschnitte p

und q. Nach dem Hohensatz gilt dann h2 = pq. DerHalbkreis uber der Hypothenuse (Thaleskreis) hat alsRadius das arithmetische Mittel p+q

2 , und dies ist i.a.langer als die Hohe h und genau dann gleich lang,wenn das Dreieck gleichschenklig ist, also p = q gilt.Diese geometrische Ungleichung kann man auch ana-lytisch beweisen:

✛ ✲✛ ✲p q

h =√pq

p+q

2

Satz 1.2.5 (Ungleichung zwischen arithmetischem und geometrischem Mittel)Fur alle p, q ≥ 0 gilt

√pq ≤ p+ q

2,

und Gleichheit gilt genau dann, wenn p = q.

Bemerkung 1.2.6 Auch diese Ungleichung kann man auf den Fall mehrerer nichtnegativer Zahlenverallgemeinern:

n√a1a2a3 · · · an ≤ a1 + a2 + a3 + . . . + an

n.

1.3 Grenzwerte, Folgen, Reihen

Der wichtigste Begriff in der Differential- und Integralrechnung ist der Grenzwert-Begriff. Am einfach-sten laßt er sich am Beispiel von Zahlenfolgen erklaren, die wir daher zuerst untersuchen. Aus denRechenregeln fur Grenzwerte von Zahlenfolgen lassen sich leicht die Rechenregeln fur Grenzwerte vonFunktionen und fur Ableitungen und Integrale herleiten.

Sei Y eine nichtleere Menge.Eine Funktion f : IN → Y nennt man Folge,eine Funktion f : IN → Y ⊂ IR reelle Zahlenfolge.Der Funktionswert f(n) heißt n-tes Folgenglied und wird oft in der

”Indexschreibweise“ mit an bezeich-

net.Fur die gesamte Folge sind die Schreibweisen (a1, a2, a3, . . .) oder (an)n∈IN bzw. kurz (an) ublich. Da-bei werden die Folgenglieder von runden Klammern eingeschlossen, um die Folge von der Bildmengef(IN) = {a1, a2 . . .} zu unterscheiden.Im Unterschied zur Bildmenge ist bei der Folge die Reihenfolge der Folgenglieder wesentlich und es darfein Element mehrfach auftreten. Zum Beispiel wird fur die konstante Folge f : IN → IR mit f(n) := 1die Zahlenfolge durch (1, 1, 1, . . .) bezeichnet, und die Bildmenge ist f(IN) = {1}.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 11

Beispiele 1.3.1

(1) Zahlenfolgen konnen definiert werden, indem fur das n-te Glied eine Formel in Abhangigkeit vonn angegeben wird.Z.B. wird durch an := n die Folge (1, 2, 3, . . .) der naturlichen Zahlen definiert, durch an := n2 dieFolge {1, 4, 9, 16, . . .} der Quadratzahlen, durch an := qn die Folge {1, q, q2, q3, . . .} der Potenzenvon q.

(2) Eine andere Moglichkeit der Beschreibung von Zahlenfolgen ist die rekursive Definition: MittelsderRekursionsformel berechnet man das Folgenglied an aus demWert des Vorgangerglieds an−1

(oder aus demWert mehrerer Vorgangerglieder). Außerdem wird der Wert des ersten Folgengliedesa1 (und gegebenfalls die nachsten Folgenglieder) angegeben.Z.B. wird durch a1 := q, an := q ·an−1 wieder die Folge der Potenzen von q definiert, durch a0 := 1,an := n · an−1 die Folge der Fakultaten (n!), durch a1 := a2 := 1, an+2 := an + an+1 die FolgeFibonacci-Zahlen.

(3) Eine Folge, bei denen die Differenz zweier beliebiger aufeinanderfolgender Glieder an − an−1 kon-stant ist, heißt arithmetische Folge.Beispiele sind (1, 2, 3, 4, . . .), (2, 4, 6, 8, . . .) oder (5, 10, 15, 20, . . .).Ist a1 das 1. Folgenglied, d die konstante Differenz, dann gilt an = a1 + (n− 1)d.

(4) Eine Folge, bei denen alle Folgenglieder ungleich Null sind und der Quotient zweier beliebiger

aufeinanderfolgender Gliederan

an−1konstant ist, heißt geometrische Folge.

Beispiele sind die konstanten Folgen (a, a, a, . . .) und die Folgen der Potenzen (q, q2, q3, q4, . . .).Ist a1 das 1. Folgenglied, q der konstante Quotient, dann gilt an = a1 · qn−1.

Da Folgen spezielle Funktionen sind, sind damit auch monotone und (nach oben oder nach unten)beschrankte Folgen definiert.

Streicht man bei einer vorgegebenen Folge (an) endlich oder unendlich viele Folgenglieder, so daß nochunendlich viele Folgenglieder ubrig bleiben, dann bilden die restlichen Folgenglieder eine neue Folge.Die Reihenfolge, in der sie aufgefuhrt werden, ist gleich der relativen Reihenfolge, in der sie in der Aus-gangsfolge stehen. Die neue Folge heißt Teilfolge von (an). Formelmaßig druckt man dies folgendermaßenaus:

Definition 1.3.2 Sei (an)n∈IN eine beliebige Folge, (nk)k∈IN eine beliebige streng monoton wachsendeFolge naturlicher Zahlen. Dann heißt (ank

)k∈IN Teilfolge von (an)n∈IN.

Beispiel 1.3.3Die Folge (2, 4, 8, 16, 32, . . .) der Zweierpotenzen ist eine Teilfolge der Folge (2, 4, 6, 8, 10, . . .)der geraden Zahlen. Als streng monoton wachsende Index-Folge ergibt sich hier

n1 = 1, n2 = 2, n3 = 4, n4 = 8, allgemein nk = 2k−1.

Die Zahl 32 tritt in der Teilfolge an der k = 5-ten Stelle auf und in der ursprunglichen Folge an dernk = n5 = 16-ten Stelle.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 12

Wir betrachten einige spezielle Folgen:

(1) Bei zahlreichen Prozessen in Natur und Gesellschaft nimmt eine gewisse Große u innerhalb einerhinreichend kleinen Zeitspanne ∆t proportional zu der im Zeitpunkt t vorhandenen Menge u(t) undder Zeitspanne ∆t zu oder ab. Beispiele sind das Wachstum einer Bakterienkultur, die ausreichendNahrung und Platz hat, der Zerfall einer radioaktiven Substanz, die Temperaturdifferenz zwischender variablen Temperatur eines Korpers und einer konstant gehaltenen Umgebungstemperaturoder die Abnahme der Menge einer Substanz, die durch eine chemische Reaktion in Verbindungmit anderen Substanzen tritt. Das jeweilige Verhalten wird naherungsweise durch die Formel

∆u := u(t+∆t)− u(t) = αu(t)∆t

beschrieben, wobei α eine fur den jeweiligen Vorgang spezifische Konstante ist, die bei einemWachstumsprozeß positiv und bei einem Abnahmeprozeß negativ ist und empirisch bestimmtwerden muß. Wir nehmen hier der Einfachheit halber α = 1 an und gehen von einem betrachtetenZeitraum von t = 0 bis t = 1 aus. Weiter unterteilen wir das Zeitintervall in n Zeitintervallegleicher Lange ∆t = 1

n .Es seien tk := k∆t, k = 0, 1, . . . , n, die Endpunkte der kleinen Zeitintervalle und uk := u(tk),k = 0, 1, . . . , n, die Werte von u zu diesen Zeitpunkten. Dann gilt naherungsweise

uk = (1 +1

n)k u0 fur k = 1, . . . , n und insbesondere Un := un = (1 +

1

n)n u0.

Unsere Naherungsformel wird den Prozeß umso genauer beschreiben, je kleiner ∆t ist, d.h. mankann erwarten, daß der Endzustand u(1) umso besser durch Un approximiert wird, je großer n istund daß damit die Glieder der Folge (Un) mit wachsendem n sich einem festen Wert nahern.

Sei en := (1 + 1n)

n, n ∈ IN. Die Folge (en) ist streng monoton wachsend, d.h. es gilt

en = (1 +1

n)n < (1 +

1

n+ 1)n+1 = en+1, n ∈ IN.

Weiter ist die Folge wegen en = (1+1

n)n < 3 fur alle n ∈ IN nach oben durch 3 beschrankt.

In IR gibt es dann eine kleinste obere Schranke der Folge, die Eulersche Zahl heißt und mit demBuchstaben e bezeichnet wird. Die Folgenglieder sind alle kleiner oder gleich e und sie

”nahern“

sich mit wachsendem n immer mehr dieser Zahl. Genauso verhalt sich die Ausgangsfolge (Un),deren Glieder sich immer mehr der Zahl e · u0 nahern.

(2) Eine Moglichkeit, die Menge der reellen Zahlen einzufuhren, ist mit Hilfe von rationalen Intervall-schachtelungen: Es sei (an) eine streng monoton wachsende und (bn) eine streng monoton fallendeFolge rationaler Zahlen, fur jedes n ∈ IN gelte an < bn und die Langen der Intervalle [an, bn] werdenmit wachsendem n beliebig klein. Dann definiert die Intervallschachtelung

(

[an, bn])

genau eine re-elle Zahl. Z.B. gibt die Dezimalbruchdarstellung einer irrationalen Zahl eine Intervallschachtelungwieder.

Das fuhrt zu folgender

Definition 1.3.4 Sei (an) eine beliebige reelle Zahlenfolge, a ∈ IR.

Gibt es zu jedem beliebig vorgegebenen (kleinen) Abstand ǫ > 0 einen Index n0, so daß alle Folgengliederan mit großerem Index n > n0 zu a einen Abstand |an − a| kleiner als ǫ haben, dann heißt die Folgekonvergent gegen a. a heißt Grenzwert oder Limes der Folge.

Schreibweise: an → a fur n → ∞ oder limn→∞

an = a.

Eine nicht konvergente Zahlenfolge heißt divergent.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 13

Bemerkung 1.3.5 Statt den Abstand zwischen Folgengliedern und moglichem Grenzwert zu betrach-ten, kann man untersuchen, ob die Folgenglieder in einem entsprechenden Intervall um a liegen.

Fur a ∈ IR heißt jedes offene Intervall, das a enthalt, Umgebung von a. Fur ǫ > 0 heißt das symmetri-sche Intervall {x ∈ IR ; |x− a| < ǫ} ǫ-Umgebung von a.

Eine Folge (an) ist dann konvergent gegen a, wenn in jeder ǫ-Umgebung von a alle Folgenglieder liegenaußer hochstens endlich vielen. Oder anders ausgedruckt, wenn es fur jedes ǫ > 0 einen Index n0 ∈ IN

gibt, so daß alle Folgenglieder mit hoherem Index als n0 in der ǫ-Umgebung liegen.

Aus der Definition folgt sofort

Satz 1.3.6 (a) Eine Folge hat hochstens einen Grenzwert, d.h. eine konvergente Folge hat genaueinen Grenzwert.

(b) Jede Teilfolge einer konvergenten Folge ist ebenfalls konvergent. Ihr Grenzwert ist gleich demGrenzwert der Ausgangsfolge.

(c) Jede konvergente Folge ist beschrankt.

Beispiele 1.3.7

(1) Die konstante Folge (a, a, a, . . .) konvergiert gegen a.

(2) Die Folge

(

1

n

)

konvergiert gegen Null. Da fur festes p ∈ IN die Folge

(

1

np

)

eine Teilfolge ist, gilt

limn∈IN

1

np= 0. Jede gegen Null konvergente Zahlenfolge heißt Nullfolge.

(3) Die Folge (qn) konvergiert fur −1 < q < 1 gegen 0, sie konvergiert fur q = 1 gegen 1 und siedivergiert fur q ≤ −1 und q > 1.

(4) Fur festes p ∈ IN gilt limn→IN

1p√n= 0.

(5) limn→IN

1n√n= 1. (6) lim

n→IN

(

1 +1

n

)n

= e.

(7) Fur festes q ∈ IR mit |q| < 1 gilt limn→IN

(1 + q + q2 + . . . + qn) = limn→IN

1− qn+1

1− q=

1

1− q.

(8) Die Folge der naturlichen Zahlen divergiert, da sie unbeschrankt ist.

(9) Auch die Folge der Summen der ersten Stammbruche

(

1 +1

2+

1

3+ . . .+

1

n

)

n∈IN= (1,

3

2,11

6,25

12, . . .)

ist unbeschrankt, also divergent. Berechnet man die Glieder der Folge mit Hilfe eines Taschenrech-ners, so scheinen sich die Glieder ab einem bestimmten Index (der von der angezeigten Stellenzahldes Taschenrechners hinter dem Komma abhangt,) nicht mehr zu unterscheiden. Die numerischeBerechnung fuhrt also zu einer falschen Vermutung.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 14

(10) Die Folge((−1)n)n∈IN = (−1, 1,−1, 1, . . .)

divergiert, denn die Teilfolgen

((−1)2n)n∈IN = (1, 1, 1, . . .) und ((−1)2n−1)n∈IN = (−1,−1,−1, . . .)

haben verschiedene Grenzwerte.

Im Beispiel 1 vor der Grenzwertdefinition wurde gezeigt, daß die dort auftretenden monotonen undbeschrankten Folgen konvergent sind. Das gilt allgemein:

Satz 1.3.8 (Monotoniekriterium) Eine monotone Folge konvergiert genau dann, wenn sie beschranktist. In diesem Fall ist der Grenzwert gleich der kleinsten oberen Schranke (dem Supremum) der Fol-genglieder, wenn die Folge monoton wachst, bzw. gleich der großten unteren Schranke (dem Infimum),wenn sie fallt.

Beispiel 1.3.9 Sei a > 0. Zur naherungsweisen Berechnung von x :=√a mit Hilfe des Heron-

Verfahrens formen wir die Gleichung

x2 = a um zu x =1

2

(

x+a

x

)

.

Betrachtet man die rechte Seite der neuen Gleichung als Funktion f(x), dann sucht man also Losungender Gleichung x = f(x). (Man nennt ein solches Problem Fixpunktproblem.)Wir beginnen mit einem Startpunkt x0 > 0 und definieren die Folge (xn) rekursiv durch

xn :=1

2

(

xn−1 +a

xn−1

)

, n ∈ IN.

Die Folgenglieder sind alle positiv, damit auch alle auftretenden Nenner, und daher ist jeweils dasnachste Folgenglied berechenbar.Weiter ist die Folge monoton fallend und durch

√a nach unten beschrankt, konvergiert also gegen einen

Grenzwert x∗.

Die linke Seite konvergiert gegen x∗ und die rechte Seite nach den Rechenregeln gegen1

2

(

x∗ +a

x∗

)

,

d.h. x∗ =√a.

Bemerkung 1.3.10 Bei nicht konvergenten, monoton wachsenden Folgen werden die Folgengliederbeliebig groß, d.h. fur jede reelle Zahl M existiert ein n0 ∈ IN, so daß an > M fur alle n > n0 gilt. Mannennt eine solche Folge bestimmt divergent und druckt dies mit der Bezeichnung lim

n→∞an = ∞ aus.

Analoges gilt fur divergente monoton fallende Folgen mit limn→∞

an = −∞. Es gibt aber auch divergente

unbeschrankte Folgen, die nicht bedingt divergent sind, wie z.B. die Folge(

(−2)n)

.

Fur jede Folge nachzurechnen, ob mit einem vermuteten Grenzwert die Konvergenzdefinition erfullt ist,ist sehr aufwendig. Man versucht daher die Konvergenz oder Divergenz einiger ausgewahlter Folgennachzuweisen und viele andere Folgen auf diese zuruckzufuhren. Dazu dienen folgende

”Rechenregeln“

fur konvergente Folgen:

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 15

Satz 1.3.11 (Einschnurungssatz) Seien (an) und (bn) konvergente Folgen mit gleichem Grenzwerta. Gibt es ein n0 ∈ IN und gilt

an ≤ cn ≤ bn f ur alle n > n0,

dann konvergiert die Folge (cn) gegen den Grenzwert a.

Zum Beispiel gilt:

(

sin(nx)

n

)

ist fur jedes x ∈ IR eine Nullfolge.

Eine fur fast alle Glieder zweier konvergenter Folgen geltende Kleiner-Beziehung hat auch Auswirkungenauf die Beziehung der Grenzwerte zueinander:

Satz 1.3.12 (Vergleichssatz) Seien (an) und (bn) konvergente Folgen mit Grenzwerten a bzw. b. Gibtes ein n0 ∈ IN und gilt an ≤ bn fur alle n > n0, dann gilt a ≤ b.

Bemerkungen 1.3.13

(1) Wie das Beispiel der Folgen

(

1− 1

n

)

und

(

1 +1

n

)

mit gleichem Grenzwert 1 zeigt, kann man

aus an < bn nicht auf a < b, sondern nur auf a ≤ b schließen.

(2) Ist eine konvergente Folge mit Grenzwert a durch α und β nach unten bzw. nach oben beschrankt,dann folgt aus dem Vergleichssatz fur den Grenzwert α ≤ a ≤ β. Wenn man also nicht denGrenzwert explizit kennt, sondern nur die Konvergenzeigenschaft der Folge (z.B. aus dem Mono-toniekriterium), dann erhalt man damit moglicherweise Abschatzungen fur den Grenzwert. ZumBeispiel ergibt sich 2 ≤ e ≤ 3.

Satz 1.3.14 (Rechenregeln fur konvergente Folgen) Seien (an) und (bn) konvergente Folgen mitGrenzwerten a bzw. b, α ∈ IR. Dann gilt:

(a) Die Folge (an + bn) konvergiert und es gilt limn→∞

(an + bn) = a+ b = limn→∞

an + limn→∞

bn.

(Summensatz)

(b) Die Folge (an − bn) konvergiert und es gilt limn→∞

(an − bn) = a− b = limn→∞

an − limn→∞

bn.

(c) Die Folge (anbn) konvergiert und es gilt limn→∞

(anbn) = ab = limn→∞

an limn→∞

bn. (Produktsatz)

(d) Die Folge (αan) konvergiert und es gilt limn→∞

(αan) = αa = α limn→∞

an. (Faktorregel)

(e) Ist zudem b 6= 0, dann gibt es ein n0 ∈ IN mit bn 6= 0 fur alle n > n0, die Folge

(

an

bn

)

n∈IN,n>n0

konvergiert und es gilt limn→∞

(

an

bn

)

=a

b=

limn→∞

an

limn→∞

bn. (Quotientensatz)

Wir konstruieren nun zu einer festen Zahlenfolge (an) eine ”Teilsummenfolge“:

Definition 1.3.15 Sei (an)n∈IN eine reelle Zahlenfolge. Die Folge (sn) mit

sn :=

n∑

k=1

ak

heißt (unendliche) Reihe. Schreibweise:∞∑

k=1

ak. Die sn heißen Teilsummen, die ak Reihenglieder.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 16

Bemerkungen 1.3.16

(1) Naturlich kann eine Reihe auch mit a0 oder a5 anfangen.

(2) Konvergiert die Folge der Teilsummen gegen ein s, dann heißt die Reihe konvergent mit Reihen-wert s. Sonst nennt man sie divergent.

(3) Fur die Teilsummen gilt sn+1 = sn + an+1.

(4) Eine Reihe kann man als”unendliche Summe“ auffassen. Allerdings kann man nicht ohne weiteres

die Rechenregeln fur endliche Summen auf Reihen ubertragen. Nach den Rechenregeln fur Folgen

sind fur zwei konvergente Reihen

∞∑

k=1

ak,

∞∑

k=1

bk mit Wert a bzw. b und α ∈ IR die Reihen

∞∑

k=1

(ak+bk)

und

∞∑

k=1

(αak) konvergent mit Wert a + b bzw. α · a. Eine Produktreihe laßt sich aber nicht ohne

weiteres definieren.

Beispiele 1.3.17

(1) Sei q ∈ IR. Die Reihe

∞∑

k=0

qk heißt geometrische Reihe. Sie konvergiert fur |q| < 1 gegen1

1− q

und ist sonst divergent.

(2) Sei α ∈ IR. Die Reihe

∞∑

k=1

kα heißt harmonische Reihe. Sie konvergiert fur α < −1 und ist sonst

divergent.

Ein einfaches notwendiges Kriterium fur die Konvergenz einer Reihe ist

Satz 1.3.18 Ist die Reihe

∞∑

k=1

ak konvergent, dann ist (ak) eine Nullfolge.

Das Kriterium ist aber nicht hinreichend, wie die harmonische Reihe∞∑

k=1

1

kzeigt.

Aus dem Vergleichskriterium fur Folgen ergibt sich

Satz 1.3.19 Die Reihen

∞∑

k=1

ak und

∞∑

k=1

bk seien gegeben.

(a) Ist

∞∑

k=1

bk konvergent und |ak| ≤ bk fur alle k ≥ k0, dann ist

∞∑

k=1

ak konvergent.

(Majorantenkriterium)

(b) Ist∞∑

k=1

bk divergent und ak ≥ bk > 0 fur alle k ≥ k0, dann ist∞∑

k=1

ak divergent.

(Minorantenkriterium)

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 17

Ist die Reihe∞∑

k=1

|ak| konvergent, dann auch∞∑

k=1

ak.∞∑

k=1

ak heißt absolut konvergent.

Vergleicht man eine Reihe speziell mit der geometrischen Reihe, dann folgt

Satz 1.3.20 (a) Gibt es ein q ∈ IR, 0 < q < 1, mit∣

ak+1

ak

∣≤ q fur alle k ≥ k0, dann konvergiert die

Reihe

∞∑

k=1

ak absolut. (Quotientenkriterium)

(b) Gibt es ein q ∈ IR, 0 < q < 1, mit k√

|ak| ≤ q fur alle k ≥ k0, dann konvergiert die Reihe

∞∑

k=1

ak

absolut. (Wurzelkriterium)

Bemerkungen 1.3.21

(1) Gilt∣

ak+1

ak

∣≥ q oder k

|ak| ≥ q fur ein q > 1 und alle k ≥ k0, dann divergiert die Reihe. Die

Aussagen des Satzes gelten i.a. nicht fur q = 1.

(2) Sowohl fur das Quotienten- als auch das Wurzelkriterium gibt es eine”Grenzwertform“:

Sei(∣

ak+1

ak

)

oder(

k√

|ak|)

konvergent gegen einen Grenzwert q. Dann gilt:

Fur q < 1 konvergiert die Reihe absolut, fur q > 1 ist sie divergent. Fur q = 1 kann man keineAussage uber die Konvergenz machen.

Beispiele 1.3.22

(1) Ist die Reihe∞∑

k=1

ak mit ak > 0, k ∈ IN, konvergent, dann auch∞∑

k=1

ak · ak+1 .

(2)

∞∑

k=1

1

k!heißt Exponentialreihe und konvergiert gegen e.

(3)∞∑

k=1

ak mit ak =(

k√k − 1

)kkonvergiert.

Die bisherigen hinreichenden Konvergenzkriterien machen nur Aussagen uber absolute Konvergenz. Fur

”alternierende Reihen“, bei denen die Reihenglieder abwechselnd positiv oder negativ sind, gibt es auchein einfaches Konvergenzkriterium:

Satz 1.3.23 (Leibniz-Kriterium) Sei (ak) eine Folge mit ak ≥ 0, k ∈ IN. Die Reihe∞∑

k=1

(−1)kak

konvergiert, wenn (ak) eine monoton fallende Nullfolge ist. Fur den Reihenwert s und die Teilsummensn gilt dann |s− sn| ≤ an+1.

Beispiel 1.3.24 Die Reihe

∞∑

k=1

(−1)k1

kkonvergiert, aber nicht absolut.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 18

1.4 Grenzwerte von Funktionen, Stetigkeit

Ist a ∈ IR eine reelle Zahl, (xn)n∈IN eine reelle konvergente Zahlenfolge mit Grenzwert x∗, dann konver-giert die Zahlenfolge (axn) nach den Folgen-Rechenregeln gegen ax∗, genauso die Folgen (ax2n), (ax

3n)

usw. Ist also

p(x) =m∑

i=0

aixi = amxm + am−1x

m−1 + . . .+ a1x+ a0

ein Polynom mit den reellen Koeffizienten am, am−1, . . . , a1, a0, dann konvergiert entsprechend die Fol-ge(

p(xn))

gegen p(x∗). Betrachtet man nun an Stelle der Folge (xn) eine andere konvergente reelleZahlenfolge (yn) mit demselben Grenzwert x∗, dann konvergiert auch

(

p(yn))

gegen p(x∗).

Nicht jede reelle Funktion hat diese Eigenschaft:

Beispiele 1.4.1

(1) Sei f : IR → IR mit f(x) :=

|x|x

fur x 6= 0

0 fur x = 0=

1 fur x > 0

0 fur x = 0

−1 fur x < 0

.

Die Folgen (xn) und (yn) mit xn =1

n, yn = − 1

nkonvergieren beide gegen x∗ = 0, es gilt aber

f(xn) = f(1

n) = 1 fur alle n ∈ IN,

f(yn) = f(− 1

n) = −1 fur alle n ∈ IN,

d.h.(

f(xn))

konvergiert (als konstante Folge) gegen 1, und(

f(yn))

konvergiert (als konstanteFolge) gegen −1.

(2) Sei f : IR → IR mit f(x) := sin1

xfur x 6= 0, f(0) := 0. Zu den Folgen

(xn) = (2

π,2

5π,2

9π, . . .), (yn) = (

2

3π,2

7π,

2

11π, . . .) und (zn) = (

6

π,

6

13π,

6

25π, . . .),

also mit

xn =2

(4n− 3)π, yn =

2

(4n − 1)πund zn =

6

(12n − 11)π,

die alle den gemeinsamen Grenzwert x∗ = 0 haben, erhalt man die Folgen der zugehorigen Funk-tionswerte von f , namlich

(

f(xn))

= (1, 1, 1, . . .) mit Grenzwert 1,(

f(yn))

= (−1,−1,−1, . . .) mit Grenzwert − 1 und

(

f(zn))

= (1

2,1

2,1

2, . . .) mit Grenzwert

1

2.

(3) Die Folge der Funktionswerte zu einer gegen x∗ konvergenten Folge muß uberhaupt nicht konver-

gieren. So ist z.B. die Folge

(

1

n

)

konvergent gegen 0, die Folge der zugehorigen Funktionswerte

der Funktion

f : IR \ {0} → IR mit f(x) :=1

x

ist nicht beschrankt, also nicht konvergent.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 19

Definition 1.4.2 Sei x∗ ∈ IR, I eine Umgebung von x∗ und die Funktion mindestens fur alle x ∈ I,x 6= x∗, definiert. Strebt fur jede gegen x∗ konvergente Zahlenfolge (xn) des Definitionsbereichs von f

die zugehorige Zahlenfolge(

f(xn))

gegen dieselbe Zahl g, dann sagt man, f hat an der Stelle x∗ denGrenzwert g. Schreibweise: lim

x→x∗

f(x) = g.

Beschrankt man sich nur auf Folgen (xn) mit xn < x∗ oder (yn) mit yn > x∗ und konvergieren furalle diese Folgen (von Urbildern) die Folgen der zugehorigen Funktionswerte

(

f(xn))

gegen ein g− bzw.(

f(yn))

gegen ein g+, dann heißt g− linksseitiger und g+ rechtsseitiger Grenzwert von f an derStelle x∗.

Beispiel 1.4.3 Die Funktion aus Beispiel 1.4.1.4.1(1) hat in 0 den linksseitigen Grenzwert −1 und denrechtsseitigen Grenzwert 1.

Haben fur alle bedingt konvergenten Folgen (xn) (mit limn→∞

xn = ∞) die zugehorigen Folgen der Funkti-

onswerte einen gemeinsamen Grenzwert a, dann heißt a Grenzwert von f fur x → ∞ . Schreibweise:limx→∞

f(xn). Entsprechend definiert man limx→−∞

f(xn).

Beispiel 1.4.4 Die Funktion f : IR\{0} → IR mit f(x) :=x− 1

xhat fur x → ∞ den Grenzwert

1.

Hat die Funktion an der Stelle x∗ einen Grenzwert g, dann ist dieser auch linksseitiger und rechtsseitigerGrenzwert. Die Umkehrung gilt ebenfalls:

Satz 1.4.5 Existieren an einer Stelle x∗ sowohl der linksseitige Grenzwert g− als auch der rechtsseitigeGrenzwert g+ einer Funktion f und sind diese gleich, dann hat f an der Stelle x∗ den Grenzwertg− = g+.

In der Grenzwertdefinition wird nichts uber einen moglichen Funktionswert der Funktion an der Stellex∗ gesagt. Funktionen, bei denen in einem Intervall die Grenzwerte existieren und sogar mit den entspre-chenden Funktionswerten ubereinstimmen, bilden eine besonders wichtige Klasse innerhalb der rellenFunktionen:

Definition 1.4.6 Sei I ⊂ IR eine Umgebung von x∗, f : I → IR eine Funktion. f heißt stetig in x∗,wenn f an der Stelle x∗ den Grenzwert f(x∗) hat.

Bemerkungen 1.4.7

(1) Ist f in x∗ stetig, (xn) eine Folge in I mit Grenzwert x∗, dann gilt limn→∞

f(xn) = f(

limn→∞

xn)

.

Stetigkeit von f in x∗ bedeutet also, daß man Funktionszuordnung und Grenzwertbildung vertau-schen darf.

(2) Ist I ′ ⊂ I ein Teilbereich des Definitionsbereichs von f und f stetig in jedem Punkt von I ′, dannnennt man f stetig in I′ .

(3) Analog zu den Grenzwerten definiert man linksseitig stetig und rechtsseitig stetig. Satz 1.4.5gilt entsprechend.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 20

Eine Charakterisierung der Stetigkeit ohne direkten Bezug auf Folgen ist

Satz 1.4.8 Sei I eine Umgebung von x∗ ∈ IR. Eine Funktion f : D → IR ist in x∗ genau dann stetig,wenn gilt: Zu jeder ǫ-Umgebung von f(x∗) gibt es ein δ > 0, so daß fur alle x ∈ I mit |x− x∗| < δ gilt|f(x)− f(x∗)| < ǫ.

Bemerkung 1.4.9 Bei stetigen Funktionen ist also garantiert, daß man fur die Funktionswerte einevorgegebene Maximalabweichung bzw. Toleranz einhalten kann, wenn man bei den Urbildern um wenigerals das zugehorige δ abweicht.

Unmittelbar aus der Definition der Stetigkeit mit Hilfe der Folgen und den Rechenregeln fur Folgenergeben sich Rechenregeln fur stetige Funktionen:

Satz 1.4.10 Seien I eine Umgebung von x∗ ∈ IR, f, g : D → IR in x∗ stetige Funktionen, α ∈ IR. Danngilt:

(a) Die Funktionen f + g, f − g, α · f und f · g sind stetig in x∗.

(b) Gilt g(x∗) 6= 0, dann gibt es eine δ-Umgebung von x∗, in der g nicht Null wird, und die Funktionf

gist in x∗ stetig.

(c) Ist I ′ ⊂ IR mit f(I) ⊂ I ′, h : I ′ → IR eine in f(x∗) stetige Funktion, dann ist die Funktionh ◦ f : D → IR stetig in x∗.

Beispiele 1.4.11

(1) Die identische Funktion ist in jedem Punkt des Definitionsbereichs stetig. Aus den Rechenregelnfolgt, daß die Polynome ebenfalls in ihrem Definitionsbereich stetig sind. Die gebrochen rationalenFunktionen sind in den Punkten ihres Definitionsbereichs stetig, in denen das Nennerpolynomnicht Null ist.

(2) Exponentialfunktionen sind uberall stetig.

(3) Die Funktionen sinx und cos x sind uberall stetig, die Tangensfunktionen ist uberall stetig mitAusnahme der Nullstellen des Kosinus, also mit Ausnahme von xk = (2k + 1)π2 , k ∈ ZZ, und dieKotangensfunktionen ist uberall stetig mit Ausnahme der Nullstellen des Sinus, also mit Ausnahmevon xk = kπ, k ∈ ZZ. In den Unstetigkeitsstellen haben Tangens und Kotangens sowohl jeweilseinen linksseitigen Grenzwert g− und einen rechtsseitigen Grenzwert g+, die beide nicht endlichsind. Eine solche Unstetigkeitsstelle heißt Polstelle.

(4) Die Funktion

f : IR \ {0} → IR mit f(x) :=x2

xist in 0 nicht definiert, hat aber an der Stelle 0 einen Grenzwert g ∈ IR. Setzt man den Funkti-onswert an der Stelle 0 gleich diesem Grenzwert g, dann ist die neue Funktion stetig. Eine solcheUnstetigkeitsstelle heißt hebbar.

Ist allerdings an der Definitionslucke schon ein Funktionswert definiert, der nicht gleich g ist, dannheißt die Unstetigkeitsstelle Einsiedler.

Die Funktionensinx

xund

ex − 1

xsind in IR \ {0} definiert und haben an der Stelle 0 eine hebbare

Unstetigkeit, denn es gilt

limx→0

sinx

x= lim

x→0

ex − 1

x= 1.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 21

(5) Die Funktion

f : IR \ {0} → IR mit f(x) :=|x|x

ist in 0 nicht definiert und hat an der Stelle 0 den linksseitigen Grenzwert g− = −1 und denrechtsseitigen Grenzwert g+ = 1. Eine solche Unstetigkeitsstelle heißt Sprungstelle.

(6) Die Funktion

f : IR \ {0} → IR mit f(x) := sin1

x

hat an der Stelle x∗ = 0 eine Unstetigkeitsstelle. Zu jeder Zahl g ∈ [−1, 1] gibt es eine Folge(xn) mit f(xn) = g, d.h. lim

x→0f(xn) = g. f hat also keinen Grenzwert an der Stelle 0. Eine solche

Unstetigkeitsstelle heißt wesentlich.

Weitere Beispiele fur stetige Funktionen liefert

Satz 1.4.12 Sei I ⊂ IR ein Intervall, f : I → IR eine streng monotone Funktion. Dann ist die Umkehr-funktion f−1 stetig auf f(I).

Beispiele 1.4.13

(1) Die Wurzelfunktionen g : [0,∞) → IR mit g(x) =n√x (mit n ∈ IN) sind als Umkehrfunktionen der

streng monoton wachsenden Polynome f : [0,∞) → IR mit f(x) := xn in (0,∞) stetig und in 0rechtsseitig stetig. Damit ist auch z.B. die Funktion h(x) :=

√x2 + 1 stetig auf IR.

(2) Die Logarithmusfunktionen sind in ihrem Definitionsgebiet stetig.

(3) Die Sinusfunktion ist in [−π2 ,

π2 ] streng monoton wachsend, hat dort also eine Umkehrfunktion, die

man Arcussinus nennt. Schreibweise: arcsinx. Sie ist auf [−1, 1] definiert und stetig.Analog definiert man die ebenfalls in ihrem Definitionsbereich stetigen Funktionen

arccos x : [−1, 1] → [0, π], arctan x : IR → (−π

2,π

2) und arccot x : IR → (0, π).

Ist f eine auf einem Intervall I stetige Funktion mit Funktionswerten f(a) < 0 und f(b) > 0, dannliegt der Punkt

(

a, f(a))

des Graphen unterhalb der x-Achse, der Punkt(

b, f(b))

des Graphen oberhalbder x-Achse. Der Graph kann nur dann zusammenhangend sein, wenn er die x-Achse zwischen a und b

schneidet, d.h. es gilt

Satz 1.4.14 (Nullstellensatz) Sei D ⊂ IR, a, b ∈ D und [a, b] ⊂ D. Weiter sei f : D → IR auf [a, b]stetig und es gelte f(a) · f(b) < 0. Dann besitzt f in (a, b) mindestens eine Nullstelle.

Als sofortige Folgerung (und gleichzeitig als Verallgemeinerung) ergibt sich

Satz 1.4.15 (Zwischenwertsatz) Sei D ⊂ IR, a, b ∈ D und [a, b] ⊂ D. Weiter sei f : D → IR auf[a, b] stetig und y∗ ∈ [f(a), f(b)] bzw. y∗ ∈ [f(b), f(a)]. Dann gibt es mindestens ein x∗ ∈ [a, b] mitf(x∗) = y∗.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 22

1.5 Differentialrechnung

Schon aus dem Graphen einer Funktion laßt sich viel mehr herauslesen als nur die zu den Urbilderngehorenden Funktionswerte, z.B. die Stetigkeit oder das

”Anderungsverhalten“ der Funktion sowie

ungefahre Lage von Maxima und Minima, soweit sie existieren. Wir beschaftigen uns hier mit demAnderungsverhalten der Funktion in der Umgebung fest vorgegebener Punkte, das durch die

”Ablei-

tung“ der Funktion an diesen Stellen beschrieben werden soll.

Beispiel 1.5.1 Der Temperaturschreibereiner Wetterstation zeichnet an einem son-nigen Sommertag in Deutschland folgendeKurve auf:

Setzt man nun die Temperaturanderungzwischen zwei Zeiten t1 und t1 + ∆t zurZeitdifferenz ∆t ins Verhaltnis, dann gibtder Differenzenquotient

θ(t1 +∆t)− θ(t1)

∆t

✻θ – Temperatur in ◦C

t – Tageszeitin Stunden

10

20

30

6 9 12 18 24

∆t

∆θ = θ(t1 +∆t)− θ(t1)

Sekante

die mittlere Temperaturanderung wahrend dieser Zeitspanne an. In unserem Beispiel ist die Temperaturum 9 Uhr 18◦, um 18 Uhr 27◦, die mittlere Temperaturanderung also 9

9 = 1 Grad pro Stunde. Betrachtetman immer kleinere Zeitintervalle von t1 aus, dann strebt die mittlere Anderungsrate gegen diemomentane Anderungsrate zum Zeitpunkt t1.

Wir verallgemeinern dies nun auf beliebige reelle Funktionen. Dabei kann es allerdings passieren, daßder Grenzwert der mittleren Anderungsraten nicht existiert:

Definition 1.5.2 Sei I eine beliebige Umgebung von x0 ∈ IR, f : I → IR eine Funktion. f heißtdifferenzierbar in x0, wenn der Grenzwert

limx→x0

f(x)− f(x0)

x− x0= lim

h→0

f(x0 + h)− f(x0)

h

existiert. Der Grenzwert wird dann mit f ′(x0) bezeichnet und heißt Ableitung (oder Differential-quotient) von f an der Stelle x0.

Man kann die mittlere Anderungsrate am Funktionsgraphen veranschaulichen, indem man die beiden zurBerechnung herangezogenen Kurvenpunkte verbindet. Die mittlere Anderungsrate ist dann die Steigungder

”Sehne“, d.h. der Geraden durch diese beiden Kurvenpunkte. Um eine entsprechende Deutung fur

die momentane Anderungsrate als Grenzwert der mittleren Anderungsrate zu erhalten, betrachtet mandie Sehnen, die entstehen, wenn der Punkt

(

x0+h, f(x0+h))

gegen den Punkt(

x0, f(x0))

strebt. Wennder Grenzwert existiert, dann erhalt man die Tangente an den Graph im Punkt

(

x0, f(x0))

, und diemomentane Anderungsrate entspricht der Steigung dieser Tangenten.

Beispiele 1.5.3

(1) Sei n ∈ IN0. Die Funktion f : IR → IR mit f(x) := xn ist in jedem Punkt x0 ∈ IR differenzierbarmit Ableitung f ′(x0) = nxn−1

0 . Speziell gilt fur die Ableitung der konstanten Funktion f(x) ≡ 1f ′(x0) = 0 und fur die Identitat f(x) = x ergibt sich f ′(x0) = 1.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 23

(2) Die Funktion f : (0,∞) → IR mit f(x) :=1

xist in jedem x0 > 0 differenzierbar mit der Ableitung

f ′(x0) = − 1

x 20

.

(3) Die Funktion f : (0,∞) → IR mit f(x) :=√x ist in jedem x0 > 0 differenzierbar mit der Ableitung

f ′(x0) =1

2 ·√x0.

(4) Die Funktion f(x) : IR → IR mit f(x) = sinx ist in jedem x0 differenzierbar mit f ′(x0) = cos x0.

(5) Die Funktion f(x) : IR → IR mit f(x) = ex ist in jedem x0 differenzierbar mit f ′(x0) = ex0 .

Vor allem fur zusammengesetzte Funktionen ist (analog zu den Grenzwerten von Funktionen und derStetigkeit) die Definition der linksseitigen bzw. rechtsseitigen Ableitung sinnvoll. Bezeichnung:f ′l (x0) bzw. f

′r(x0). Es gilt wieder

Satz 1.5.4 f ist in x0 genau dann differenzierbar, wenn f in x0 linksseitig und rechtsseitig differen-zierbar ist mit f ′

l (x0) = f ′r(x0).

Oft kennt man fur eine Funktion f : I → IR nur fur bestimmte x ∈ I die Funktionswerte und mochteandere Funktionswerte zumindest ungefahr ermitteln. Eine Moglichkeit dazu ist, in einer Umgebung umein Urbild x0 mit bekanntem Funktionswert f(x0) die Funktionsvorschrift durch eine lineare Funktiong : IR → IR zu ersetzen. Ist f in x0 differenzierbar, dann ist die zur Tangente gehorende Funktion dielineare Funktion, die f am besten approximiert. Es gilt

Satz 1.5.5 Sei I eine Umgebung von x0 ∈ IR, f : I → IR eine in x0 differenzierbare Funktion. Danngibt es eine Funktion r(x) : I → IR mit

f(x0 + h) = f(x0) + f ′(x0) · h+ r(h) und limh→0

r(h)

h= 0.

Beispiel 1.5.6 Zur naherungsweisen Berechnung z.B. von√8, 92 betrachtet man die Wurzelfunktion

f(x) =√x in einer Umgebung des Punktes x0 = 9. Mit f ′(x) =

1

2 ·√xfur alle x > 0 ergibt sich

9− 0, 08 ≈√9 +

1

2√9· (−0, 08) = 3− 1

6· 0, 08 = 2, 986.

Der auf 10 Dezimalstellen genaue Wert ist 2, 986636905, der Approximationsfehler r(0, 08) ist damit

−0, 000029762, und fur den Quotienten r(h)h von Fehler r(h) und h = ∆x ergibt sich 0, 000372025.

Die Eigenschaften”stetig im Punkt x0“ und

”differenzierbar im Punkt x0“ sind nicht unabhangig.

Satz 1.5.7 Sei I eine Umgebung von x0 ∈ IR, f : I → IR eine in x0 differenzierbare Funktion. Dann istf in x0 auch stetig.

Bemerkung 1.5.8 Die Umkehrung gilt nicht, denn z.B. die Funktion f : IR → IR mit f(x) := |x| ist inx0 = 0 stetig, aber nicht differenzierbar.

Wie bei Folgen und stetigen Funktionen versucht man naturlich, Rechenregeln fur die Ableitung vonSummen, Vielfachen, Produkten, Quotienten und Verkettungen von differenzierbaren Funktionen auf-zustellen. Mit Hilfe der Definition folgt sofort

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 24

Satz 1.5.9 Seien I eine Umgebung von x0 ∈ IR, f, g : I → IR in x0 differenzierbare Funktionen, a ∈ IR

beliebig, J eine Umgebung von f(x0) mit f(I) ⊂ J und h : J → IR in f(x0) differenzierbar. Dann sind

die Funktionen f + g, a · f , f · g, f

gund h ◦ f in x0 differenzierbar und es gilt:

(a) (f + g)′(x0) = f ′(x0) + g′(x0). (Summenregel)

(b) (a · f)′(x0) = a · f ′(x0). (Faktorregel)

(c) (f · g)′(x0) = f ′(x0) · g(x0) + f(x0) · g′(x0). (Produktregel)

(d) Fur g(x0) 6= 0 gilt

(

f

g

)′(x0) =

f ′(x0) · g(x0)− f(x0) · g′(x0)g(x0)2

. (Quotientenregel)

(e)(

h ◦ f)′(x0) = h′

(

f(x0))

· f ′(x0). (Kettenregel)

(f) Ist f in I streng monoton und stetig, dann ist die Umkehrfunktion f−1 : f(I) → IR in y0 = f(x0)differenzierbar mit der Ableitung(

f−1)′(

f(x0))

=1

f ′(x0). (Ableitung der Umkehrfunktion)

Bemerkungen 1.5.10

(1) Die Differentiation ist linear, d.h. fur a, b ∈ IR und differenzierbare Funktionen f, g ist af + bg

differenzierbar mit(

a · f(x) + b · g(x))′

= a · f ′(x) + b · g′(x).

(2) Die Ableitung einer verketteten Funktion h◦f gleich der Ableitung der außeren Funktion h nachder Variablen, von der sie direkt abhangt, multipliziert mit der Ableitung der inneren Funktionf , es treten also gleichzeitig Ableitungen von Funktionen auf, die von verschiedenen Variablenabhangen. Um die Variable zu kennzeichnen, bezuglich der die momentane Anderungsrate durchdie Ableitung ausgedruckt werden soll (nach der abgeleitet werden soll), benutzt man oft dieBezeichnung

f ′(x0) =:dy

dx∣

∣x=x0

=dy

dx.

(3) Aus der Kettenregel folgt die Regel fur die logarithmische Differentiation:

(

f(x0)g(x0)

)′= f(x0)

g(x0) ·(

g′(x0) · ln(

f(x0))

+ g(x0) ·f ′(x0)f(x0)

)

.

Fur die wichtigsten Funktionen ergibt sich

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 25

Funktion Ableitung Funktion Ableitung

cx c sinx cos x

xα αxα−1 cos x − sinx

n∑

k=0

akxk

n∑

k=1

ak · k · xk−1 tan x1

cos2 x= 1 + tan2 x

ex ex cot x − 1

sin2 x= −1− cot2 x

ax, a > 0 ax ln a arcsinx1√

1− x2

ln |x|, x 6= 01

xarccos x − 1√

1− x2

loga x, a > 0, x > 01

x · ln a arctan x1

1 + x2

Bisher haben wir die momentane Anderungsrate (bzw. die approximierende Gerade) nur in einem festenPunkt x0 betrachtet. Ist eine Funktion f : I → IR in jedem Punkt eines Intervalls I ′ ⊂ I differenzierbar,dann wird jedem x ∈ I ′ der Ableitungswert f ′(x) zugeordnet, also eine (aus f abgeleitete) Funktiondefiniert, die wir Ableitungsfunktion f ′ von f nennen.Ist diese zusatzlich stetig, dann heißt f in I ′ stetig differenzierbar.Ist f ′ in I ′ wieder differenzierbar, dann nennt man die Ableitung von f ′ die 2. Ableitung von f .Bezeichnung: f ′′.Entsprechend definiert man die 3. Ableitung f ′′′, die 4. Ableitung f (4) usw.

Beispiele 1.5.11

(1) Zu bestimmen sind die 1. und 2. Ableitungen und der großtmogliche Definitionsbereich von Funk-tion und Ableitungsfunktionen:

(a) f(x) = x8 + 5x4 − 3x3 − 4, (b) f(x) = (x2 + 3) · ex, (c) f(x) =x3 + x− 1

x2 − 1,

(d) f(x) =1

x· lnx, (e) f(x) = x2 · |x|, (f) f(x) = (2x− 7)16,

(g) f(x) = ln(2x2 + 7), (h) f(t) = e−t2 .

(2) Zu bestimmen sind alle x ∈ IR, fur die die folgende Funktion differenzierbar ist, sowie der Wertder entsprechenden Ableitung:

(a) f(x) =

{

2− x2 fur − 2 ≤ x < 0√4− x2 fur 0 ≤ x ≤ 2

(b) f(x) =

sinx fur− π

2≤ x ≤ 0

− 1

6x3 + 2x fur 0 ≤ x ≤ π

2

(c) f(x) =

x+ x2 cos1

xfur x 6= 0

0 fur x = 0

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 26

(3) Durch sinhx :=ex − e−x

2: IR → IR, cosh x :=

ex + e−x

2: IR → [1,∞),

tanhx :=sinhx

coshx: IR → (−1, 1), coth x :=

coshx

sinhx: IR \ {0} → IR \ [−1, 1]

werden die hyperbolischen Funktionen definiert. coshx ist gerade und sinhx, tanhx, coth xsind ungerade. Es gelten die Additionstheoreme

cosh2 x− sinh2 x = 1,

sinh(x± y) = sinhx cosh y ± cosh x sinh y, cosh(x± y) = coshx cosh y ± sinhx sinh y.

Die Funktionen sind differenzierbar und fur die Ableitungen gilt

(sinhx)′ = coshx, (coshx)′ = sinhx,

(tanhx)′ =1

cosh2 x= 1− tanh2 x, (coth x)′ = − 1

sinh2 x= 1− coth2 x.

Die Umkehrfunktionen sind die Areafunktionen mit den Ableitungen

(arsinhx)′ =1√

x2 + 1, (arcosh x)′ =

1√x2 − 1

, (artanhx)′ =1

1− x2= (arcoth x)′.

1.6 Anwendungen der Differentialrechnung

Die Bestimmung von Maxima oder Minima (allgemein Extrema) einer Funktion ist oft eine wichtigeAufgabe. Es ist aber nicht sicher, ob eine Funktion uberhaupt ein Maximum oder ein Minimum hat.

Beispiele 1.6.1

(1) Die Werte der Funktion f : (0,∞) → IR mit f(x) :=1

xsind positiv. 0 ist kein Funktionswert, aber

jede reelle Zahl y > 0 wird als Funktionswert angenommen. Sie hat also zwar das Infimum 0, aberkein Minimum. Da sie nicht nach oben beschrankt ist, hat sie auch kein Maximum.

(2) f : [0, 1] → IR mit f(x) :=

{

x fur 0 ≤ x < 1

0 fur x = 1hat das Minimum 0 und das Supremum 1, aber

kein Maximum.

Betrachtet man die Werte einer in einem abgeschlossenen (beschrankten) Intervall definierten und ste-tigen Funktion, dann gilt:

Satz 1.6.2 Eine in einem Intervall [a, b] ⊂ IR stetige Funktion f : [a, b] → IR hat ein Minimum und einMaximum.

Bemerkung 1.6.3 Wie die vorangegangenen Beispiele zeigen, sind beide Voraussetzungen”Stetigkeit

der Funktion“ und”Abgeschlossenheit des Intervalls“ fur die Aussage des Satzes notwendig.

Wie bestimmt man aber nun Maximum und Minimum einer solchen Funktion? Bei differenzierbarenFunktionen erhalt man die x-Werte, deren zugehorigen Funktionswerte zumindest in einer Umgebungminimal oder maximal sind.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 27

Definition 1.6.4 Sei I eine Umgebung von x0, f : I → IR eine Funktion. Gibt es eine Umgebung U ⊂ I

mit f(x) ≤ f(x0) fur alle x ∈ U , dann heißt x0 lokale Maximalstelle und f(x0) lokales Maximumvon f . Analog definiert man eine lokale Minimalstelle und ein lokales Minimum. Lokale Maximal-und Minimalstellen nennt man lokale Extremalstellen.

Bemerkungen 1.6.5

(1) Ein lokales Minimum x0 einer Funktion f muß kein Minimum von f sein, wie das Beispiel derFunktion f : [−2, 2] → IR mit f(x) := −x2(x2 − 1) mit dem relativen Minimum x0 = 0 und demMinimum −12 bei x = ±2 zeigt.

(2) Ist f(x0) bezuglich der ǫ-Umgebung U(x0) := (x0 − ǫ, x0 + ǫ) minimal, dann gilt f(x) ≥ f(x0 furalle x ∈ U(x0), d.h.

f(x)− f(x0)

x− x0

{

≤ 0 fur x0 − ǫ < x < x0

≥ 0 fur x0 < x < x0 + ǫ.

Damit folgt

Satz 1.6.6 (notwendige Bedingung fur lokale Extremalstellen) Sei I ⊂ IR ein Intervall, x0 ∈ I

und f : I → IR eine in x0 differenzierbare Funktion. Ist x0 lokale Extremalstelle von f , dann giltf ′(x0) = 0.

Bemerkungen 1.6.7

(1) Um alle lokalen Extremalstellen einer in einem Intervall I differenzierbaren Funktion f zu bestim-men, muß man also (nur) die Nullstellen der Ableitungsfunktion f ′ in I berechnen. Allerdings gibtder vorangegangene Satz nur eine notwendige Bedingung fur das Vorliegen einer lokalen Extremal-stelle an, d.h. auch wenn f ′(x0) = 0 ist, muß x0 keine lokale Extremalstelle sein, wie das Beispielder Funktion f : IR → IR mit f(x) := x3 mit x0 = 0 zeigt.

(2) Hat eine Funktion f bei x0 ein Minimum oder Maximum und liegt eine ǫ-Umgebung von x0im Definitionsintervall von f , dann ist x0 auch lokale Extremalstelle. Ein Extremum, das nichtgleichzeitig lokales Extremum ist, kann also nur am Rand des Definitionsintervalls liegen. Um dieExtrema einer Funktion zu erhalten, muß man also die Funktionswerte an den moglichen lokalenExtremalstellen und an den Randpunkten bestimmen und miteinander vergleichen.

Hat der Graph einer in einem Intervall I differenzierbaren Funktion f : I → IR nur Tangenten mitpositiver Steigung (d.h. es gilt f ′(x) > 0 fur alle x ∈ I), dann haben auch alle Sekanten des Graphenin diesem Bereich positive Steigung. Den engen Zusammenhang zwischen den Sekanten- und Tangen-tensteigungen erkennt man z.B. an folgendem Beispiel: Fahrt man mit dem Auto von A nach B undermittelt nach der Fahrt eine Durchschnittsgeschwindigkeit v0, dann kann man sicher sein, daß der Ta-cho mindestens einmal wahrend der Fahrt die Momentangeschwindigkeit v0 angezeigt hat. Allgemeinwird dieser Zusammenhang ausgedruckt durch

Satz 1.6.8 (Mittelwertsatz der Differentialrechnung) Sei I ⊂ IR ein Intervall, [a, b] ⊂ I,f : I → IR eine in [a, b] stetige und in (a, b) differenzierbare Funktion. Dann gibt es ein x0 ∈ (a, b) mit

f(b)− f(a)

b− a= f ′(x0).

Ein Spezialfall (und gleichzeitig Hilfsmittel beim Beweis) des Mittelwertsatzes ist

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 28

Satz 1.6.9 (Rolle) Sei I ⊂ IR ein Intervall, [a, b] ⊂ I, f : I → IR eine in [a, b] stetige und in (a, b)differenzierbare Funktion und es gelte f(a) = f(b). Dann gibt es ein x0 ∈ (a, b) mit f ′(x0) = 0.

Bemerkungen 1.6.10

(1) Die mittlere Anderungsrate von f im Intervall [a, b] ist also wenigstens an einer Stelle zwischena und b gleich der momentanen Anderungsrate. Geometrisch bedeutet das, daß es zu der Sekantedurch die Endpunkte des Graphen eine Tangente gibt, die parallel zu der Sekante ist und denGraph der Funktion in einem inneren Punkt beruhrt.

(2) Oft wird der Mittelwertsatz folgendermaßen formuliert:Sei I ⊂ IR ein Intervall, h > 0 mit [x0, x0+h] ⊂ I und f : I → IR eine in I stetige und in (x0, x0+h)differenzierbare Funktion. Dann gibt es ein t mit 0 < t < 1 und

f(x0 + h) = f(x0) + f ′(x0 + t · h) · h.

Dabei hangt t i.a. von x0 und von h ab.

Aus dem Mittelwertsatz ergeben sich einige wichtige Aussagen:

Folgerung: Seien f, g auf dem Intervall I = [a, b] definiert, stetig und in (a, b) differenzierbar.

(a) Ist f ′(x) = 0 fur alle x ∈ (a, b), dann ist f eine auf I konstante Funktion.

(b) Ist f ′(x) = g′(x) fur alle x ∈ (a, b), dann unterscheiden sich f und g nur durch eine konstanteFunktion, d.h es gibt ein c ∈ IR mit

f(x) = g(x) + c fur alle x ∈ I.

Eine wichtige Verallgemeinerung des Mittelwertsatzes ist

Satz 1.6.11 (Taylor) Seien I eine Umgebung von x0 ∈ IR, n ∈ IN und die Funktion f : I → IR in I

mindestens (n+ 1)-mal differenzierbar. Dann gibt es zu jedem x ∈ I ein t mit 0 < t < 1, so daß gilt

f(x) =

n∑

k=0

f (k)(x0)

k!(x− x0)

k +Rn mit Rn =f (n+1)

(

x0 + t(x− x0))

(n+ 1)!(x− x0)

n+1.

Die Formel im Satz heißt Taylorsche Formel, das Polynom in der Formel Taylor-Polynom mitEntwicklungspunkt x0, Rn Restglied in der Form von Lagrange.Jede (n+1)-mal differenzierbare Funktion laßt sich also durch ein Polynom n-ten Grades approximieren.

Ist die Funktion sogar beliebig oft differenzierbar, dann gilt

Satz 1.6.12 Ist f in I unendlich oft differenzierbar und limn→∞

Rn(x) = 0 fur alle x ∈ I, dann gilt

f(x) =

∞∑

k=0

f (k)(x0)

k!(x− x0)

k = limn→∞

n∑

k=0

f (k)(x0)

k!(x− x0)

k.

Der Grenzwert der Taylor-Polynome heißt Taylor-Reihe von f mit Entwicklungspunkt x0.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 29

Beispiele 1.6.13

(1) f(x) = ex ist in IR unendlich oft differenzierbar und die Taylor-Reihe von ex um x0 = 0 ist

ex = 1 +x

1!+

x2

2!+

x3

3!+ . . . =

∞∑

k=0

xk

k!.

(2) f(x) = sinx ist in IR unendlich oft differenzierbar und die Taylor-Reihe von sinx um x0 = 0 ist

sinx = x− x3

3!+

x5

5!− x7

7!+ . . . =

∞∑

k=0

(−1)kx2k+1

(2k + 1)!.

(3) f(x) = cos x ist in IR unendlich oft differenzierbar und die Taylor-Reihe von cos x um x0 = 0 ist

cos x = 1− x2

2!+

x4

4!− x6

6!+ . . . =

∞∑

k=0

(−1)kx2k

(2k)!.

(4) Mit Hilfe des entsprechenden Taylor-Polynoms der Funktion f(x) = ln(1 + x) ist der Wert vonln 2 bis auf einen Fehler von 5 · 10−3 zu berechnen.

Satz 1.6.6 gibt nur ein Verfahren an, um mogliche lokale Extremalstellen einer im Definitionsintervalldifferenzierbaren Funktion zu bestimmen, sagt aber (als notwendige Bedingung) nichts daruber aus, obwirklich ein lokales Minimum oder Maximum vorliegt. Wunschenswert ware zusatzlich ein hinreichendesKriterium fur das Vorliegen eines lokalen Minimums bzw. Maximums. Aus dem Satz von Taylor folgt

Satz 1.6.14 (hinreichende Bedingung fur lokale Extremalstellen) Seien I ⊂ IR ein Intervall,x0 ∈ I, f : I → IR in I n-mal stetig differenzierbar. Ist I Umgebung von x0, n gerade und gilt

f ′(x0) = . . . = f (n−1)(x0) = 0 und f (n)(x0) > 0,

dann liegt bei x0 eine lokale Minimalstelle von f vor.

Bemerkungen 1.6.15

(1) Analog ergibt sich aus f ′(x0) = . . . = f (n−1)(x0) = 0, f (n)(x0) < 0 ein relatives Maximum.

(2) Ist n ungerade und f ′(x0) = . . . = f (n−1)(x0) = 0, f (n)(x0) 6= 0, dann liegt bei x0 ein Wende-punkt.

Sowohl die Monotonie als auch der Wert der Ableitungeiner Funktion gibt Auskunft uber ihr Anderungs-verhalten. Es ist daher nicht uberraschend, daß beideEigenschaften nicht unabhangig sind. Die dargestelltein [a, b] differenzierbare Funktion f : [a, b] → IR falltin [a, x2] streng monoton und hat in jedem x ∈ (a, x2)eine Tangente mit negativer Steigung. Sie wachst in[x2, b] streng monoton und hat in jedem x ∈ (x2, b) ei-ne Tangente mit positiver Steigung. Offensichtlich gilt ✲

✻y

xa x1 x2 x3 b

f ′(x1) < 0

f ′(x2) = 0

f ′(x3) > 0

f(x)

Satz 1.6.16 (Monotoniekriterium) Sei I ⊂ IR ein beliebiges nichtleeres Intervall und f : I → IR

eine auf I differenzierbare Funktion. Gilt f ′(x) > 0 fur alle x ∈ I, dann ist f in I streng monotonwachsend.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 30

Bemerkungen 1.6.17

(1) Analog folgt: Gilt f ′(x) < 0 fur alle x ∈ I, dann ist f in I streng monoton fallend.

(2) Das Monotoniekriterium ist nicht umkehrbar. Wie das Beispiel der Funktion f : IR → IR mitf(x) := x3 zeigt, kann eine uberall streng monoton wachsende Funktion durchaus nichtpositiveAbleitungen haben, denn es gilt f ′(0) = 0.

Beispiele 1.6.18

(1) sinhx ist in IR streng monoton wachsend mit limx→∞

sinhx = ∞, limx→−∞

sinhx = −∞, die Umkehr-

funktion arsinhx existiert also in IR.

(2) coshx ist in (−∞, 0] streng monoton fallend und in [0,∞) streng monoton wachsend mit cosh 0 = 1und lim

x→∞coshx = ∞. Die Umkehrfunktion arcoshx existiert in [1,∞).

(3) tanhx ist in IR streng monoton wachsend mit limx→−∞

tanhx = −1 und limx→∞

tanhx = 1, die Um-

kehrfunktion artanhx existiert also in (−1, 1).

(4) coth x ist in IR \ {0} streng monoton fallend mit limx→−∞

coth x = −1, limx→0,x<0

coth x = −∞,

limx→0,x>0

coth x = ∞ und limx→∞

coth x = 1, die Umkehrfunktion arcoth x existiert also in (−∞,−1)∪(1,∞).

In den Rechenregeln 1.4.10 fur Grenzwerte von Funktionen wird vorausgesetzt, daß der Grenzwert der

Nennerfunktion g(x) vonf(x)

g(x)nicht Null wird. Ist der Grenzwert von f an der Stelle x0 positiv, der

Grenzwert von g an der Stelle x0 Null und g sonst in einer Umgebung von x0 positiv, dann folgt

limx→x0

f(x)

g(x)= ∞. Gilt allerdings auch lim

x→x0

f(x) = 0, dann kann man allgemein keine Aussage uber einen

moglichen Grenzwert des Quotienten machen. Fur differenzierbare Funktionen gilt

Satz 1.6.19 (Bernoulli-L’Hospital) Die Funktionen f und g seien in einer Umgebung I von x0differenzierbar und es gelte f(x0) = g(x0) = 0. Existiert der (eigentliche oder uneigentliche) Grenzwert

limx→x0

f ′(x)g′(x)

, dann existiert auch limx→x0

f(x)

g(x)und beide Grenzwerte sind gleich.

Bemerkungen 1.6.20

(1) Analoge Aussagen gelten fur einseitige Grenzwerte, fur uneigentliche Grenzwerte (d.h. x → ±∞)und fur lim

x→x0

f(x) = ±∞, limx→x0

g(x) = ±∞.

(2) Vor der Anwendung der Regel von Bernoulli-L’Hospital ist es erforderlich, sich davon zu uberzeu-

gen, daß ein Grenzwert der Form0

0oder

∞∞ vorliegt, wie das Beispiel mit f(x) = cos x, g(x) = x,

x0 = 0 zeigt.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 31

Beispiele 1.6.21

(1) Zu bestimmen sind die Grenzwerte

(a) limx→0

ex − 1

5x(b) lim

x→1

1 + cos πx

x2 − 2x+ 1(c) lim

x→0,x>0

ln(cos 2x)

ln(cos 3x)(d) lim

x→∞x2

ex

(e) limx→0,x>0

ln(tan 3x)

ln(tan 4x)(f) lim

x→∞3x+ cos x

x(g) lim

x→∞ax

bx, a > 0

(2) Auch andere Arten von Grenzwerten kann man mit der Regel von Bernoulli-L’Hospital berechnen:

(a) Typ 0 · (±∞) : limx→0,x>0

x · lnx (b) Typ ∞−∞ : limx→0

(

1

x− 1

sinx

)

(c) Typ 1∞ : limx→e

(lnx)1

x−e (d) Typ 00 : limx→1,x>1

(lnx)x−1

(e) Typ ∞0 : limx→∞

(lnx)1x

1.7 Das bestimmte (Riemann-) Integral

Beispiel 1.7.1 In eine leere Badewanne wird eine ge-wisse Zeit (bis zum Zeitpunkt T1) gleichformig (d.h.mit konstanter Zuflußgeschwindigkeit v1 > 0) Was-ser eingelassen. Dann wird die Wasserzufuhr gestoppt,gleichzeitig der Abfluß geoffnet und nach einer Weile(zum Zeitpunkt T2) wieder geschlossen. Der Wasserab-fluß verlaufe ebenfalls gleichformig, d.h. mit konstan-ter Abflußgeschwindigkeit v2 < 0.Fur irgendeinen Zeitpunkt t1 wahrend der Zufluß-phase (T0 ≤ t1 ≤ T1) ist die bis dahin zugeflosseneWassermenge F (t1) = v1 · t1, also gleich derFlache unter der Berandung v(t) zwischen T0 und t1.

✻v – Zuflußgeschwindigkeit

t – ZeitT0

T1 T2

v1

v2

t1

t2

r

❜ r

Zu einem Zeitpunkt t2 wahrend der Abflußphase, also T1 ≤ t2 ≤ T2, ist die WassermengeF (t) = v1 ·T1 + v2 · (t2 −T1), also gleich der Flache des Rechtecks oberhalb der t-Achse zwischen T0

und T1, abzuglich der Flache des Rechtecks unterhalb der t-Achse zwischen T1 und t2. Insgesamt ergibtsich die Wassermenge zum Zeitpunkt t als Funktion

F (t) =

v1 · t fur T0 ≤ t ≤ T1

v1 · T1 + v2 · (t− T1) fur T1 ≤ t ≤ T2

v1 · T1 + v2 · (T2 − T1) fur T2 ≤ t

.

(Dabei seien v1, v2, T0, T1 und T2 so, daß F (t) immer großer oder gleich Null ist.)

Ist die Anderungsrate nicht konstant, sondern eine beliebige, auf einem kompakten reellen Intervall Idefinierte und beschrankte Funktion, dann kann man den Flacheninhalt der Flache zwischen Graph undx-Achse i.a. geometrisch nicht exakt bestimmen. Es ist nicht einmal selbstverstandlich, ob man der durchden Funktionsgraph und die x-Achse eingeschlossenen Punktmenge eine reelle Zahl als

”Flacheninhalt“

zuweisen kann, wie man am Beispiel der (zugegebenermaßen etwas skurillen) Funktion

f : [0, 1] → IR mit f(x) :=

{

x fur x ∈ IQ, 0 ≤ x ≤ 1,

1− x fur x 6∈ IQ, 0 ≤ x ≤ 1

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 32

sieht. Nahert man sich der Punktmenge durch eine Folge von Flachen, die aus endlich vielen Rechteckenzusammengesetzt, deren Flacheninhalt also elementar geometrisch bestimmbar sind, dann kann manden Grenzwert der Flacheninhalte als Flacheninhalt der Punktmenge auffassen.

Wir unterteilen zunachst das Intervall [a, b] in n gleich-breite Intervalle [xk−1, xk], 1 ≤ k ≤ n, mit a = x0 <

x1 < . . . < xn = b und Breite ∆x = b−an . Ist f stetig

und z.B. im Intervall [a, a+∆x] streng monoton stei-gend, dann ist f(a) · ∆x kleiner und f(a + ∆x) · ∆x

großer als der Flacheninhalt des entsprechenden Teilsder Punktmenge, und nach dem Zwischenwertsatz gibtes ein x∗ mit a < x∗ < a+∆x, so daß f(x∗) ·∆x genaugleich dem Flacheninhalt ist. Da das genaue x∗ nicht

bekannt ist, nimmt man irgendein x(n)i aus jedem der

Intervalle und bildet die Summen∑

i=1

f(x(n)i ) ·∆x.

✻y

x

x(n)1 x

(n)2 x

(n)n

x0 x1 x2 xn−1 xn

Fur n → ∞ strebt die Intervalllange ∆x gegen Null und die Anzahl der Summanden gegen unendlich.Existiert der Grenzwert der Summen, dann betrachtet man ihn als den gesuchten Flacheninhalt.

Definition 1.7.2 Die Funktion f sei in dem Intervall [a, b] beschrankt. Zu jedem n ∈ IN sei eine

Riemannsche Summe

n∑

i=1

f(x(n)i ) · ∆x mit ∆x = b−a

n , xi = a + i · ∆x und beliebig gewahlten

x(n)i ∈ [xi−1, xi], 1 ≤ i ≤ n, definiert. Konvergieren alle diese Summen fur n → ∞ gegen einen

Wert A, dann heißt A bestimmtes (Riemann-) Integral von f in den Grenzen von a bis b und wird

mit

∫ b

af(x) dx bezeichnet. a heißt untere Integrationsgrenze, b obere Integrationsgrenze und f

integrierbar auf [a, b].

Bemerkungen 1.7.3

(1) Der Wert des bestimmten Integrals ist naturlich unabhangig von der Bezeichnung der Integra-

tionsvariablen, d.h. es gilt

∫ b

af(x) dx =

∫ b

af(t) dt.

(2) Wir haben die Teilintervalle nur der einfacheren Darstellung wegen gleich groß gewahlt. Auch furunterschiedlich große Teilintervalle erhalt man dasselbe Ergebnis, man muß nur verlangen, daßvon jeder Zerlegung von [a, b] die Lange des großten Teilintervalls beim Grenzubergang gegen Nullgeht.

(3) Ist f in einem Teilbereich negativ, dann verlauft der Graph unterhalb der x-Achse. Als Wertdes bestimmten Integrals in diesem Teilbereich erhalt man eine negative Zahl, d.h. das Integralstellt einen mit Vorzeichen versehenen Flacheninhalt dar. Will man also den Flacheninhalt einerPunktmenge zwischen Funktionsgraph und x-Achse bestimmen, dann bestimmt man jeweils inBereichen, wo die Funktion ein einheitliches Vorzeichen hat, das bestimmte Integral und addiertanschließend die Betrage dieser Werte. Es reicht nicht aus, das bestimmte Integral uber das gan-ze Integrationsintervall zu bestimmen. Zum Beispiel ist das bestimmte Integral der ungeraden(integrierbaren) Funktion sinx uber dem Intervall [−π

2 ,π2 ] Null, die eingeschlossene Flache aber

∫ 0

−π/2sinx dx

+

∫ π/2

0sinx dx = 2 ·

∫ π/2

0sinx dx = 2.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 33

(4) Ersetzt man in der Riemannschen Summef(x

(n)i ) durch das Supremum Mi der Funkti-

onswerte im i-ten Intervall, dann nennt mandie SummeObersumme On (Flacheninhalt derRechtecke mit durchgezogener oberer Begren-zung). Mit den Infima mi definiert man ana-log die Untersumme Un (Flacheninhalt derRechtecke mit gestrichelter Linie). Sind alle Mi

(bzw.mi) auch Funktionswerte, dann sind Ober-summe und Untersumme spezielle Riemann-

✻y

x

m2m1

m4

M1

M2 = m3

M4M3

x0 x1 x2 xn

sche Summen. Ist f integrierbar mit bestimmtem Integral A, dann gilt Un ≤ A ≤ On fur allen ∈ IN. Die Folgen der Untersummen bzw. der Obersummen konvergieren, und zwar gegen ihrSupremum bzw. ihr Infimum und es gilt

supUn = limn→∞

Un = A = limn→∞

On = inf On.

Es gilt sogar: f ist genau dann integrierbar, wenn diese Gleichung gilt.

(5) Ist f monoton oder stetig auf [a, b], dann ist f integrierbar auf [a, b]. Auch stuckweise stetigeFunktionen (mit hochstens endlich vielen Unstetigkeitsstellen in [a, b]) sind integrierbar.

(6) Das bestimmte Integral ist nur fur a < b definiert. Um lastige Fallunterscheidungen zu vermeiden,

setzt man

∫ a

af(x) dx := 0 und

∫ a

bf(x) dx := −

∫ b

af(x) dx fur a < b.

Beispiele 1.7.4

(1) Fur I = [a, b], f : I → IR mit f(x) ≡ 1, jede Zerlegung von I und jede Wahl von x(n)i gilt

n∑

i=1

f(x(n)i ) · ∆x = b − a = Un = On, also f ist integrierbar mit

∫ b

af(x) dx = b − a, d.h. das

bestimmte Integral von f ist gleich dem Inhalt des Rechtecks unterhalb des Graphen von f .

(2) Ist gesichert, daß eine Funktion f integrierbar ist, dann genugt zur Berechnung des bestimmten

Integrals eine Folge von Riemannschen Summen. Zur Berechnung von

∫ b

af(x) dx mit f(x) = x

wahlen wir eine Zerlegung des Intervalls in n gleichlange Intervalle und als Zwischenpunkt jeweils

die rechte Intervallgrenze x(n)i = xi = a+ i · b− a

n. Fur die Riemannsche Summe ergibt sich

n∑

i=1

f(x(n)i ) ·∆x =

n∑

i=1

(

a+ i · b− a

n

)

· b− a

n= a(b− a) +

(b− a)2

2· n+ 1

n,

und als Grenzwert fur n → ∞ und damit als Integral1

2(b2 − a2).

(3) Die Funktion f(x) =

1 fur x = 01

xfur x 6= 0

ist auf dem Intervall [0, 3] nicht integrierbar, da sie dort

nicht beschrankt ist.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 34

(4) In jedem reellen Intervall gibt es sowohl rationale als auch irrationale Zahlen. Wahlt man fur die

”Dirichlet-Funktion“

f : [a, b] → IR mit f(x) =

{

1 fur x ∈ [a, b], x ∈ IQ

0 fur x ∈ [a, b], x 6∈ IQ

und eine beliebige Zerlegung von [a, b] die x(n)i irrational, dann gilt

n∑

i=1

f(x(n)i ) ·∆x = 0.

Wahlt man die x(n)i rational, dann gilt

n∑

i=1

f(x(n)i ) ·∆x = 1.

Es gibt also keinen Grenzwert aller Riemannschen Summen, d.h. f ist nicht integrierbar auf [a, b].

Im folgenden wollen wir die Eigenschaften des bestimmten Integrals untersuchen.

Satz 1.7.5 Seien I = [a, b], f, g : I → IR auf I integrierbare Funktionen, α ∈ IR.Dann sind α · f , f + g, |f | und f · g integrierbar auf [a, b].Fur c ∈ [a, b] ist f auch auf [a, c] und [c, b] integrierbar.Es gilt

(a)

∫ b

a

(

αf(x))

dx = α ·∫ b

af(x) dx. (Faktorregel)

(b)

∫ b

a

(

f + g)

(x) dx =

∫ b

af(x) dx+

∫ b

ag(x) dx. (Summenregel)

(c) Fur f(x) ≤ g(x) in I ist

∫ b

af(x) dx ≤

∫ b

ag(x) dx.

(d)

∫ b

af(x) dx

≤∫ b

a|f(x)| dx. (Betragsungleichung)

(e)

∫ b

af(x) dx =

∫ c

af(x) dx+

∫ b

cf(x) dx. (Intervallregel)

Bemerkungen 1.7.6

(1) Sowohl die Summenregel als auch die Intervallregel kann man auf endlich viele Teilintervalle bzw.endlich viele Summanden erweitern, d.h. fur a = a0 < a1 < . . . < an = b und m integrierbareFunktionen fk, 1 ≤ k ≤ m, gilt∫ b

af(x) dx =

n∑

i=1

(

∫ ai

ai−1

f(x) dx

)

und

∫ b

a

(

m∑

k=1

fk(x)

)

dx =

m∑

k=1

(∫ b

afk(x) dx

)

.

(2) Fur m ≤ |f(x)| ≤ M gilt m(b− a) ≤∫ b

a|f(x)| dx ≤ M(b− a).

Mißt man die Große von n Personen, dann ist das arithmetische Mittel ein vernunftiges Maß fur diedurchschnittliche Korpergroße. Betrachtet man aber eine Funktion, die nicht nur endlich viele Urbilderhat, sondern als Urbildmenge ein Intervall, dann ist das i.a. nicht der richtige Ansatz. Wir betrachtenz.B. die Außentemperatur Θ im Laufe eines Tages zwischen 6 Uhr und 18 Uhr. Zu n Messungen zu den

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 35

Zeiten a < t1 < . . . < tn = b konnte man das arithmetische Mittel1

n

n∑

i=1

θ(ti) als mittlere Tagestem-

peratur annehmen, wenn der Graph der Temperaturfunktion die Gestalt einer Treppenfunktion ubergleichgroßen Intervallen hatte. Sind allerdings die Teilintervalle nicht gleich groß, dann mußte man jedenWert der Treppenfunktion mit dem Anteil gewichten, den das Teilintervall [ti−1, ti] am Gesamtintervall

[a, b] hat, d.h. es ergibt sichn∑

i=1

ti − ti−1

b− aθ(ti).

Wir betrachten nun folgende Temperaturverteilungzwischen 6 und 18 Uhr. Die minimale Temperatur ist12, 4◦, die maximale Temperatur 28◦ und das arithme-tische Mittel dieser beiden Werte 20, 2◦. Erhalt manaber z.B. auf Grund von Messungen folgende Tabelle

Zeit 6 6.45 7.30 8.15 9 9.45 10.30 18Temp. 12, 4 13, 7 15 16, 3 18 20 22 27 ✲

✻θ

t

10

20

30

6 9 12 18 24

dann erhalt man als arithmetisches Mittel der Meßwerte 18, 05◦. Ordnet man den Meßwerten moglicheIntervalle zu (z.B. durch mit Hilfe der Mittelpunkte zwischen den Meßzeiten), dann ergibt sich alsgewichtetes Mittel 21, 6◦.

Erinnert man sich an die Riemannschen Summen, dann liegt es nahe, als vernunftigen Mittelwert denGrenzwert der gewichteten Mittel

µ =1

b− a

∫ b

aΘ(t) dt

zu wahlen. Geometrisch bedeutet das:Das Rechteck, dessen eine Seite das Integrationsintervall ist und dessen zweite Seite als orientierte (d.h.mit Vorzeichen versehene) Lange den Mittelwert hat, hat als orientierte Flache den Wert des bestimmtenIntegrals der Funktion.

Beispiele 1.7.7

(1) Die Funktionf1 : [0, 2] → IR mit f(x) := x hat den Mittelwert 1,

f2 : [0, 2] → IR mit f(x) :=

{

x fur 0 ≤ x ≤ 1

x+ 1 fur 1 ≤ x ≤ 2hat den Mittelwert

3

2,

f3 : [0, 2] → IR mit f(x) := x2 hat den Mittelwert4

3.

Bei f1 und f3 ist der Mittelwert auch Funktionswert, bei f2 nicht.

(2) Jede ungerade Funktion f : [−a, a] → IR hat den Mittelwert 0.

Ob der Mittelwert einer Funktion als Funktionswert angenommen wird, ist nach Beispiel (1) sicherabhangig von der Stetigkeit der Funktion. Es gilt

Satz 1.7.8 (1. Mittelwertsatz der Integralrechnung) Ist f : [a, b] → IR stetig auf [a, b], dann gibt

es ein x0 ∈ [a, b] mit

∫ b

af(x) dx = f(x0) · (b− a).

Betrachtet man die Punkte des Integrationsintervalls nicht als gleichwertig, sondern gewichtet sie miteiner nichtnegativen

”Dichtefunktion“ g(x), dann gilt der

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 36

Satz 1.7.9 (Erweiterter 1. Mittelwertsatz der Integralrechnung) Sind f, g : [a, b] → IR R-inte-grierbar auf [a, b], f stetig auf [a, b] und g(x) ≥ 0 in [a, b], dann gibt es ein x0 ∈ [a, b] mit

∫ b

af(x) · g(x) dx = f(x0) ·

∫ b

ag(x) dx.

Beispiel 1.7.10 Wirken an einem Hebelarm zwei Massen m1 und m2 im Abstand x1 bzw. x2, danngibt es eine Stelle x, an der die vereinigte Masse m1 +m2 das gleiche Drehmoment bewirkt. Aus demHebelgesetz folgt fur diese Stelle

x · (m1 +m2) = x1m1 + x2m2 bzw. x =x1m1 + x2m2

m1 +m2.

x heißt Massenschwerpunkt. Entsprechend erhalt man den Massenschwerpunkt fur endlich vielepunktformige Massen.Ist die Masse aber kontinuierlich uber das Intervall [a, b] verteilt und durch die nichtnegative

”Masse-

dichte-Funktion“ m(x) gegeben, dann erhalt man die Gesamtmasse durch M =

∫ b

am(x) dx, und fur

den Massenschwerpunkt x gilt

x ·∫ b

am(x) dx =

∫ b

ax ·m(x) dx bzw. x =

1

M·∫ b

ax ·m(x) dx.

x ist also der Mittelwert aus dem erweiterten Mittelwertsatz (mit f(x) = x und g(x) = m(x)).

1.8 Die Integralfunktion. Der Hauptsatz

Wir betrachten nochmals das Badewannen-Beispiel 1.7.1.7.1 des letzten Abschnitts mit der Zuflußge-schwindigkeit v(t) und der zu- bzw. abgeflossenen Wassermenge F (t) zu Zeitpunkt t.Am Anfang, d.h. zum Zeitpunkt t = T0 war kein Wasser in der Wanne, also F (T0) = 0. Zum Zeitpunktx > T0 entspricht F (t) der orientierten Flache, die von der t-Achse und dem Graph der Funktion v(t)

berandet wird, also F (x) =

∫ x

T0

v(t) dt.

Ist f(x) allgemein eine beliebige auf dem Intervall I = [a, b] integrierbare Funktion, x0 ∈ [a, b] fest, dannist die Funktion

F (x) :=

∫ x

x0

f(t) dt

fur alle x ∈ [a, b] definiert. Sie heißt Integralfunktion von f .

Satz 1.8.1 (Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung) Sei I = [a, b], f : I → IR eineauf I integrierbare Funktion, F (x) die zugehorige Integralfunktion (mit einem festen x0 ∈ I). Dann gilt:

(a) F ist stetig auf I.

(b) Ist f stetig an der Stelle x ∈ I, dann ist F (x) differenzierbar an der Stelle x und es gilt

F ′(x) = f(x).

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 37

Bemerkungen 1.8.2

(1) Sei f(x) die Ableitung der differenzierbaren Funktion F (x). Dann heißt F (x) Stammfunkti-

on oder unbestimmtes Integral von f(x). Bezeichnung: F (x) =

f(x) dx. Der Hauptsatz

stellt damit eine Verbindung zwischen der Berechnung bestimmter Integrale und der Umkehrungder Differentiation, also der Bestimmung einer Stammfunktion einer vorgegebenen Funktion, dar.Gleichzeitig wird damit gezeigt, daß man zu einer stetigen Funktion immer eine Stammfunktionfinden und sie als Integralfunktion konstruieren kann.

(2) Da man viele Stammfunktionen aus einer Tabelle von Ableitungen (ruckwarts) ermitteln kann,gibt der Hauptsatz ein einfaches Verfahren an, um viele bestimmte Integrale zu berechnen. Zuerstist zu der zu integrierenden (stetigen) Funktion f(x) eine Stammfunktion zu ermitteln. Dann gilt

∫ b

af(t) dt = F (b)− F (a).

(3) Eine auf dem Intervall I = [a, b] Riemann-integrierbare Funktion muß nicht unbedingt eine Stamm-funktion besitzen, wie das Beispiel

f : [−1, 1] → IR mit f(x) =

{

−1 fur − 1 ≤ x ≤ 0

1 fur 0 < x ≤ 1

zeigt. Umgekehrt braucht eine Funktion, die eine Stammfunktion besitzt, nicht Riemann-inte-grierbar zu sein, d.h. es gibt differenzierbare Funktionen F (x), deren Ableitung nicht Riemann-

integrierbar ist, wie z.B. F : [−1, 1] → IR mit F (x) =

x2 · cos πx2 fur x 6= 0

0 fur x = 0.

Beispiele 1.8.3

(1) Fur die konstante Funktion f : [a, b] → IR mit f(x) := c > 0 ergibt sich als Flacheninhalt desRechtecks unter dem Graph

M(f) :=

∫ b

ac dx =

[

cx]b

a= (b− a) · c.

Fur die lineare Funktion f : [0, a] → IR mit f(x) :=c

a· x ergibt sich als Dreiecksflache

M(f) :=

∫ a

0

c

a· x dx =

[ c

a

x2

2

]a

0=

c

2a(a2 − 0) =

1

2ac.

Fur die Flache unter der Parabel f : [0, a] → IR mit f(x) := x2 ergibt sich

M(f) :=

∫ a

0x2 dx =

[x3

3

]a

0=

1

3(a3 − 0) =

1

3a3.

(2) Die Funktion f : IR → IR mit f(x) := (x+1)2(x−1) = x3+x2−x−1 hat in x1 = −1 undx2 = 1 Nullstellen und ihre Funktionswerte sind in (−∞, 1] nichtpositiv und in [1,∞) nichtnegativ.Der vom Graph und der x-Achse z.B. uber dem Intervall [−2, 3] eingeschlossene Flacheninhalt ist

M(f) =∣

∫ 1

−2f(x) dx

∣+

∫ 3

1f(x) dx =

[x4

4+

x3

3− x2

2− x]1

−2

∣+[x4

4+

x3

3− x2

2− x]3

1

=∣

∣−9

4

∣+68

3=

299

12.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 38

(3) Um den Inhalt der von zwei uber dem Intervall [a, b] Riemann-integrierbaren Funktionen f undg eingeschlossenen Flache zwischen a und b zu bestimmen, mussen analog zum vorigen Beispieldie Schnittpunkte der Graphen bestimmt werden und die Betrage der Riemann-Integrale derDifferenzfunktion uber den entstehenden Teilintervallen addiert werden.

Um den Inhalt der von den Funktionen f(x) =1

3x2 und g(x) = x− 1

12x3 eingeschlossenen Flache

zu berechnen, bestimmt man die Schnittpunkte x1 = −6, x2 = 0 und x3 = 2 der Funktionen underhalt

F =∣

∫ 0

−6

(

f(x)− g(x))

dx∣

∣+∣

∫ 2

0

(

f(x)− g(x))

dx∣

=∣

[x3

9− x2

2+

x4

48

]0

−6

∣+∣

[x3

9− x2

2+

x4

48

]2

0

∣ = 15 +7

9=

142

9.

1.9 Integrationsmethoden

Mit einer Tabelle aller differenzierbaren Funktionen und ihrer Ableitungsfunktionen hat man gleichzeitigzu jeder moglichen Ableitungsfunktion eine zugehorige Stammfunktion. Allerdings ware eine solcheTabelle zu groß, und man beschrankt sich wie bei der Differentiation auf eine Tabelle der wichtigstenStammfunktionen und versucht, mit Hilfe von Rechenregeln Stammfunktionen der anderen Funktionenzu bestimmen. Aus der Definition der Stammfunktion ergibt sich, daß sich solche Rechenregeln aus denRechenregeln der Differentiation ableiten lassen.

Unabhangig kann man eine Stammfunktion auch durch ein”Versuch und Irrtum“-Verfahren bestimmen:

Man differenziert eine Funktion, die man fur eine mogliche Stammfunktion halt. Ist die Ableitunggleich dem Integranden, dann ist man fertig. Wenn nicht, startet man einen weiteren Versuch mit einer

”verbesserten“ Funktion.

Die Funktion f(x) ≡ 0 hat jede konstante Funktion als Stammfunktion. Integration ist also (im Gegen-satz zur Differentiation) keine Operation, die zu einem eindeutigen Ergebnis fuhrt. Aus dem Mittelwert-satz der Differentialrechnung (s. Folgerung zu Satz 1.6.8) folgt aber, daß man aus einer Stammfunktioneiner festen Funktion f durch Addition einer beliebigen Konstanten alle anderen Stammfunktionen vonf konstruieren kann. Ist F (x) eine spezielle Stammfunktion von f , dann beschreibt man die Gesamtheit

aller Stammfunktionen durch

f(x) dx = F (x) + C. C steht fur eine beliebige reelle Konstante.

Aus der Summen-, Produkt- und Kettenregel der Differentiation folgt

Satz 1.9.1 Sei I ⊂ IR ein Intervall, α1, α2 ∈ IR, f, f1, f2 auf I stetig, g1, g2 auf I stetig differenzierbar,h auf einem Intervall J stetig differenzierbar und umkehrbar mit h(J) = I.

(a)

(

α1f1 + α2f2)

dx = α1

f1 dx+ α2

f2 dx. (Linearitat)

(b)

g′1(x)g2(x) dx = g1(x)g2(x)−∫

g1(x)g′2(x) dx. (partielle Integration)

(c) Die Funktion f(

h(t))

· h′(t) ist auf I ′ integrierbar.Mit x = h(t), dx = h′(t) dt und t = h−1(x) gilt∫

f(x) dx =

f(

h(t))

h′(t) dt. (Substitutionsregel)

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 39

Bemerkungen 1.9.2

(1) Die Regel aus (b) heißt auch Produktintegration. Sie fuhrt naturlich nur weiter, wenn man dasIntegral

g1(x)g′2(x) dx, also die Stammfunktion zu g1g

′2, bestimmen kann.

(2) Bei der Anwendung der Substitutionsregel versucht man, eine umkehrbare Funktion h(t) zu fin-den, fur die das Integral

f(

h(t))

h′(t) dt bestimmt werden kann. Man ersetzt (substituiert) dieursprungliche Variable x im Integranden durch h(t) und dx durch h′(t) dt. Anschließend ersetztman in der gefundenen Stammfunktion Φ(t) die Variable t durch h−1(x) und erhalt unter bestimm-ten Voraussetzungen mit F (x) := Φ

(

h−1(x))

eine Stammfunktion des ursprunglichen Integranden.

(3) Es gibt Integrale, die nicht durch elementare Funktionen ausgedruckt werden konnen. Man nenntdie zugehorigen Funktionen

”nicht geschlossen integrierbar“. Beispiele solcher Integrale sind

der Integralsinus Si(x) :=

∫ x

0

sin t

tdt,

der Integrallogarithmus Li(x) :=

∫ x

0

dt

ln t

sowie das Gaußsche Fehlerintegral F (x) :=1√2π

∫ x

−∞e−t2

2 dt.

Mit Hilfe der Tabelle der Ableitungen der elementaren Funktionen und der Rechengesetze ergeben sichdann folgende

Beispiele fur Summenregel und Produktintegration 1.9.3

(1) Integration eines beliebigen Polynoms:∫

(a0 + a1x+ . . . + anxn) dx = a0x+

a1

2x2 + . . . +

an

n+ 1xn+1.

(2)

x · 3√x

x1/2dx =

6

11

6√x11 +C,

x2 − 2

6xdx =

1

12x2 − 1

3ln |x|+ C,

3x2 + 2

1 + x2dx = 3x− arctan x+ C,

(8 + tan2 x) dx = 7x+ tan x+ C.

(3) Fur α, β ∈ IR mit |α| 6= |β|, γ 6= 0 folgt aus den Additionstheoremen der trigonometrischenFunktionen

cosαx · cos βx dx =sin(α+ β)x

2(α+ β)+

sin(α− β)x

2(α− β)+ C,

cos2 γx dx =sin(2γx) + 2γx

4γ+ C,

sinαx · sin βx dx = −sin(α+ β)x

2(α + β)+

sin(α− β)x

2(α − β)+ C,

sin2 γx dx = −sin(2γx)− 2γx

4γ+C,

sinαx · cos βx dx = −cos(α+ β)x

2(α + β)− cos(α− β)x

2(α− β)+ C,

sin γx · cos γx dx =sin2 γx

2γ+ C.

(4) Fur n ∈ IN, a 6= 0, gilt∫

xneax dx =1

axneax − n

a

xn−1eax dx,

xn cos ax dx =1

axn sin ax− n

a

xn−1 sin ax dx,∫

xn sin ax dx = − 1

axn cos x+

n

a

xn−1 cos ax dx.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 40

(5)∫

lnx dx =∫

1 · lnx dx = x lnx− x+C,

arctan x dx = x arctan x− 1

2ln(1 + x2) + C,

arcsin x dx = x arcsin x+√1− x2 + C.

(6)

ex sinx dx =1

2ex(sinx− cos x) + C,

ex cos x dx =1

2ex(sinx+ cosx) + C.

Beispiele fur Substitution 1.9.4

(1) Integrale der Form∫

f(ax+ b) dx, a 6= 0, lost man mit Hilfe der linearen Substitution t := ax+ b:

sin(ωt+ φ) dt = − 1

ωcos(ωt+ φ) +C,

(x− a)n dx =

1

n+ 1(x+ a)n+1 + C fur n 6= −1

ln |x+ a|+ C fur n = −1

.

(2) Ist der Integrand Produkt einer zusammengesetzten Funktion f(

h(t))

und der inneren Ableitungh′(t), dann wahlt man die Substitution u := h(t). Besonders einfache Falle sind Integranden der

Form h(t) · h′(t) oder h′(t)h(t)

.

lnx

xdx =

1

2(ln |x|)2 + C,

ln(ln x)

x lnxdx =

1

2

(

ln∣

∣ ln |x|∣

)2+ C,

tan x dx = − ln | cos x|+ C,

tanx · ln | cos x| dx = − 1

2ln2 | cos x|+ C,

xe1+x2dx =

1

2e1+x2

+ C,

cos(6x3 − 8x2 + 2x) · (9x2 − 8x+ 1) dx =1

2sin(6x3 − 8x2 + 2x) + C.

(3) Integranden, die ein Produkt aus einem Polynom und einer Wurzel der Formn√ax+ b sind, wandelt

man durch die Substitution u =n√ax+ b in ein Polynom in u um:

x ·√x+ 1 dx =

2

5(x+ 1)5/2 − 2

3(x+ 1)3/2 + C.

(4) Zur Bestimmung von∫ √

r2 − x2 dx fur r > 0 setzen wir

x = r sin t, t ∈ (−π

2,π

2), also dx = r cos t dt. Damit ergibt sich

r2 − x2 dx = r2∫

cos2 t dt =1

2x√

r2 − x2 +1

2r2 arcsin

x

r+ C.

Analog verfahrt man bei Wurzeln der Form√x2 − r2 und

√x2 + r2.

(5) Integranden, die gebrochen rationale Funktionen von sinx und cos x sind, lassen sich durch die

”Standardsubstitution“ x = 2 arctan t zu einer gebrochen rationalen Funktion in t umwandeln. Esist dann

t = tanx

2, dx =

2 dt

1 + t2, sinx =

2t

1 + t2, cos x =

1− t2

1 + t2.

Anwendung der Substitution ergibt z.B.

dx

sinx=

dt

t= ln |t|+ C = ln

∣tanx

2

∣+C.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 41

Gebrochen rationale Funktionen werden integriert, indem man sie in Partialbruche zerlegt und die-se anschließend integriert. Da man jede gebrochen rationale Funktion mittels Polynomdivision in eineSumme aus einem Polynom und einer echt gebrochen rationalen Funktion zerlegen kann und die In-tegration des Polynoms keine Schwierigkeiten macht, beschranken wir uns auf die Untersuchung echtgebrochen rationaler Funktionen, bei denen also das Nennerpolynom q(x) einen großeren Grad als dasZahlerpolynom p(x) hat.Der Fundamentalsatz der Algebra besagt, daß man q(x) (als Polynom vom Grad nmit reellen Koeffizien-ten) als Produkt von Linearformen und quadratischen Formen schreiben kann, d.h. es gibt x1, x2, . . . , xk,α1, α2, . . . , αl, β1, β2, . . . , βl ∈ IR, r1, . . . , rk, s1, . . . , sl ∈ IN0 mit

q(x) =

n∑

i=0

aixi = an

k∏

i=1

(x− xi)ri ·

l∏

i=1

(x2 + αix+ βi)si .

Die x1, . . . , xk sind die verschiedenen reellen Nullstellen von q(x) und die quadratischen Formen haben

keine reelle Nullstelle, d.h. es gilt jeweils α2i < 4βi. Weiter gilt

k∑

i=1

ri + 2 ·l∑

i=1

si = n.

Fur eine reelle echt gebrochen rationale Funktion f(x) mit Nenner q(x) gibt es dann reelle Zahlen Aij ,1 ≤ i ≤ k, 1 ≤ j ≤ ri, und Bij, Cij, 1 ≤ i ≤ l, 1 ≤ j ≤ si, mit

f(x) =

r1∑

j=1

A1j

(x− x1)j+ . . . . . . +

rk∑

j=1

Akj

(x− xk)j+

+

s1∑

j=1

B1jx+ C1j

(x2 + α1x+ β1)j+ . . . · · ·+

sl∑

j=1

Bljx+ Clj

(x2 + αlx+ βl)j.

Bei dem Ansatz der Partialbruchzerlegung ist die Anzahl der fur Nullstelle xi zu bestimmendenKonstanten Aij so groß, wie die Ordnung der Nullstelle in q(x). Fur die quadratischen Formen gilt dasanalog.

Beispiele 1.9.5

(1) q(x) = x4 − x hat die reelle Produktdarstellung q(x) = x(x− 1)(x2 + x+ 1).

Fur f(x) =x+ 1

x4 − xergibt sich der Ansatz f(x) =

A11

x+

A21

x− 1+

B11x+ C11

x2 + x+ 1.

Die Koeffizienten bestimmt man mit Hilfe der Grenzwertmethode, durch Einsetzen spezieller Wertefur x oder durch Koeffizientenvergleich nach Durchmultiplizieren mit dem Hauptnenner. Es ergibt

sich f(x) = −1

x+

2

3· 1

x− 1+

1

3· x− 1

x2 + x+ 1.

(2) Analog ergibt sich2x3 + x2 + x+ 1

x3(x+ 1)=

1

x3+

1

x+

1

x+ 1und

x4 + 3x3 + 3x2 + 2x+ 1

x(x2 + x+ 1)2=

1

x+

x− 1

x2 + x+ 1+

1

(x2 + x+ 1)2.

Aus den Grundintegralen und den Integrationsregeln erhalt man die Integrale der verschiedenen Sum-manden (mit m > 1):

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 42

dx

x− x1= ln |x− x1| und

dx

(x− x1)m= − 1

m− 1

1

(x− x1)m−1,

Bx+ C

x2 + αx+ βdx =

B

2ln(x2 + αx+ β) +

2C −Bα√

4β − α2arctan

2x+ α√

4β − α2und

Bx+ C

(x2 + αx+ β)mdx =

=(2C −Bα)x− 2Bβ + Cα

(m− 1)(4β − α2)(x2 + αx+ β)m−1+

(2m− 3)(2C −Bα)

(m− 1)(4β − α2)

dx

(x2 + αx+ β)m−1.

Fur die vorher betrachteten Beispiele zur Partialbruchzerlegung erhalt man∫

x+ 1

x4 − xdx = − ln |x|+ 2

3ln |x− 1|+ 1

6ln(x2 + 2x+ 1)− 1√

3arctan

2x+ 1√3

,

2x3 + x2 + x+ 1

x3(x+ 1)dx = − 1

2x2+ ln |x|+ ln |x+ 1|

und

x4 + 3x3 + 3x2 + 2x+ 1

x(x2 + x+ 1)2dx = ln |x|+ 1

2ln(x2 + x+ 1) +

2x+ 1

3(x2 + x+ 1)− 5

9

√3 arctan

2x+ 1√3

.

Tabelle der gangigsten Grundintegrale

Integrand Stammfunktion Bedingungen Integrand Stammfunktion Bedingungen

a ax a ∈ IR 11+x2 arctanx

xα 1α+1x

α+1 α 6= −1 11−x2 artanhx |x| < 1

1x ln |x| x 6= 0 1

1−x2 arcothx |x| > 1

ex ex 1√1−x2

arcsinx |x| < 1

ax 1ln aa

x a > 0, a 6= 1 1√1+x2

arsinhx

ln |x| x(ln x− 1) x > 0 1±√1−x2

arcosh |x| |x| > 1

loga xx

ln a (lnx− 1) a > 0, x > 0 sinhx coshx

sinx − cos x cosh x sinhx

cos x sinx tanhx ln(cosh x)

tan x − ln | cos x| x 6= (2k + 1)π2 coth x ln | sinhx|

cot x ln | sinx| x 6= kπ 1sinh2 x

− cothx x 6= 0

1sin2 x

− cot x x 6= kπ 1cosh2 x

tanhx

1cos2 x

tan x x 6= (2k + 1)π2

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 43

1.10 Uneigentliche Integrale

Die Arbeit, die notig ist, um eine Rakete der Masse m von der Erdoberflache gegen die Anziehungskraftder Erde (mit Masse M) auf die Hohe h uber dem Erdmittelpunkt zu bringen, ist

A(h) =

∫ h

RγmM

x2dx = γmM

[

−1

x

]h

R= γmM

[ 1

R− 1

h

]

.

Dabei ist R der Erdradius, γ die Gravitationskonstante, und wir nehmen an, daß die Raketenmassetrotz der Treibstoffverbrennung konstant bleibt. Will man nun die Rakete aus dem Schwerefeld derErde bringen, dann mußte man als Arbeit den Grenzwert

A∞ := limh→∞

A(h) =γmM

R

aufwenden. Damit ergibt sich als naturliche Erweiterung des bestimmten Integrals

Definition 1.10.1 Die Funktion f : [a,∞) → IR sei fur jedes t > a in [a, t] integrierbar. Strebt die Folge

der Integrale

∫ t

af(x) dx fur t → ∞ gegen einen Grenzwert I∞, dann heißt das uneigentliche Integral

a

f(x) dx konvergent und hat den Wert I∞. Sonst heißt das uneigentliche Integral divergent.

Beispiele 1.10.2

(1)

∫ ∞

0e−x dx konvergiert und hat den Wert 1,

∫ ∞

0cosx dx divergiert.

(2)

∫ ∞

1

1

xαdx konvergiert genau dann, wenn α > 1, und hat dann den Wert

1

α− 1.

Aus den Konvergenzkriterien fur Folgen folgt sofort

Satz 1.10.3 Die Funktionen f, g : [a,∞) → IR seien fur jedes t > a in [a, t] integrierbar.

(a) Sei f(x) ≥ 0 in [a,∞).

∫ ∞

af(x) dx konvergiert genau dann, wenn es ein K > 0 gibt mit

∫ t

af(x) dx ≤ K fur alle t > a. (Monotoniekriterium)

(b) Konvergiert

∫ ∞

a

∣f(x)∣

∣ dx, dann auch

∫ ∞

af(x) dx.

(c) Gilt∣

∣f(x)∣

∣ ≤ g(x) fur alle x ∈ [a,∞) und konvergiert

∫ ∞

ag(x) dx, dann auch

∫ ∞

af(x) dx.

(Majorantenkriterium)

(d) Gilt 0 ≤ g(x) ≤ f(x) fur alle x ∈ [a,∞) und divergiert

∫ ∞

ag(x) dx, dann auch

∫ ∞

af(x) dx.

(Minorantenkriterium)

Beispiele 1.10.4

(1)

∫ ∞

1

sinx cos2 x

x2dx und

∫ ∞

2

dx

x2 + exsind konvergent,

∫ ∞

0

dx

x+ 1ist divergent.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 44

(2)

∫ ∞

0

sinx

xdx ist konvergent, aber

∫ ∞

0

sinx

x

∣dx ist divergent.

Aus dem Minorantenkriterium folgt als einfache notwendige Bedingung fur die Konvergenz

Satz 1.10.5 Konvergiert

∫ ∞

af(x) dx und existiert der Grenzwert g := lim

x→∞f(x), dann ist g = 0.

Uneigentliche Integrale positiver und monoton fallender Funktionen uber unbeschrankte Intervalle habeneine enge Beziehung bezuglich ihres Konvergenzverhaltens zu Reihen:

Satz 1.10.6 (Integralkriterium fur Reihen) Sei m ∈ IN und die Funktion f : [m,∞) → IR in[m,∞) positiv und monoton fallend. Dann haben

die Reihe

∞∑

k=m

f(k) und das Integral

∫ ∞

mf(x) dx

dasselbe Konvergenzverhalten.

Beispiel 1.10.7 f : [1,∞) → IR mit f(x) = xα ist fur α < 0 positiv und monoton fallend. Das

uneigentliche Integral

∫ ∞

1xα dx divergiert fur −1 ≤ α und konvergiert fur α < −1 und damit auch die

entsprechende harmonische Reihe

∞∑

k=1

kα.

Bemerkung 1.10.8 Analog zum uneigentlichen Integral

∫ ∞

af(x) dx definiert man fur auf (−∞, b]

integrierbare Funktionen f(x) das uneigentliche Integral

∫ b

−∞f(x) dx. Ist f in IR integrierbar und exi-

stieren beide uneigentlichen Integrale I− =

∫ b

−∞f(x) dx und I+ =

∫ ∞

af(x) dx, dann heißt I− + I+

uneigentliches Integral von f uber IR. Schreibweise:

∫ ∞

−∞f(x) dx.

Wir haben das bestimmte Integral erweitert auf unbeschrankte Integrationsintervalle. Die betrachtetenFunktionen mussen aber in allen abgeschlossenen Teilintervallen integrierbar sein. Spiegelt man den

Graph der Funktion f(x) =1

x2, 1 ≤ x < ∞, an der 1. Winkelhalbierenden, dann erhalt man den Graph

der Umkehrfunktion f−1(x) =1√x, 0 < x ≤ 1. Der Flache zwischen f und der x-Achse im Intervall [1,∞)

entspricht die Flache zwischen f−1 und der Geraden y ≡ 1 im Intervall (0, 1]. Die Inhalte der Flachenzwischen der x-Achse und dem Graph von f im Intervall [1,∞) bzw. dem Graph von f−1 im Intervall

(0, 1] unterscheiden sich offensichtlich um 1. Die Funktion f−1(x) =1√x

ist aber nicht integrierbar, da

das bestimmte Integral nur fur beschrankte Funktionen erklart ist.

Definition 1.10.9 Die Funktion f : [a, b) → IR sei fur jedes a < t < b in [a, t] integrierbar.∫

b

a

f(x)dx = limt→b

∫ t

af(x) dx heißt uneigentliches Integral. Existiert der Grenzwert Ib, dann heißt

das uneigentliche Integral konvergent mit Wert Ib. Sonst heißt das uneigentliche Integral divergent.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 45

Bemerkung 1.10.10 Analog definiert man die uneigentlichen Integrale fur Definitionslucken a bzw.x0 ∈ (a, b)

∫ b

af(x) dx = lim

t→a

∫ t

af(x) dx und

∫ b

af(x) dx = lim

t→x0t<x0

∫ t

af(x) dx+ lim

t→x0t>x0

∫ b

tf(x) dx.

Beispiele 1.10.11

(1)

∫ 1

0

dx√1− x2

konvergiert mit Wertπ

2,

∫ 1

0lnx dx konvergiert mit Wert −1.

(2) Das uneigentliche Integral

∫ 1

0

1

xαdx konvergiert genau dann, wenn α < 1, und hat dann den

Wert1

1− α.

Bemerkungen 1.10.12

(1) Im Gegensatz zu den uneigentlichen Integralen uber unbeschrankte Intervalle kann man ein un-eigentliches Integral mit unbeschrankter Funktion nicht sofort formal erkennen. Die Integrati-onsmethoden fur unbestimmte Integrale und der Hauptsatz sind aber nur anwendbar, wenn derIntegrand keine Definitionslucken im Integrationsintervall besitzt. Rein formale Anwendung dieser

Methoden wurden das falsche Ergebnis

∫ 1

−1

dx

x2= −2 ergeben. Das Integral ist aber divergent.

(2) Fur die uneigentlichen Integrale unbeschrankter Funktionen gelten entsprechende Konvergenzkri-terien wie in Satz 1.10.3 .

1.11 Anwendungen von Differential- und Integralrechnung

1.11.1 Bogenlange ebener Kurven

Die Lange einer Strecke kann man elementar bestimmen (z.B. im kartesischen Koordinatensystem mitHilfe des Satzes von Pythagoras). Um analog gekrummten Kurven eine Lange zuzuweisen, approximierenwir die Kurve durch Polygonzuge.

Wir betrachten hier zunachst Kurven, die sich als Graph einer Funktion f(x) darstellen lassen undsuchen die Lange L(Cf ) der Kurve (im Intervall [a, b])

Cf := {(x, y); y = f(x), x ∈ [a, b]}, a, b ∈ IR, a < b, f : [a, b] → IR.

Ist die Kurve eine Strecke, d.h. die Funktion linear (f(x) = mx+ β), dann gilt

L(Cf ) =√

(b− a)2 +(

f(b)− f(a))2.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 46

Fur eine beliebige Funktion betrachtet man eine Zerlegung Z von[a, b] und den durch die Punkte

(

xk, f(xk))

, 0 ≤ k ≤ n, erzeugtenPolygonzug mit der Lange

LZ(Cf ) =n∑

k=1

(xk − xk−1)2 +(

f(xk)− f(xk−1))2.

Fugt man weitere Zwischenpunkte ein, dann gilt fur die feinereZerlegung Z ′ von [a, b]: LZ(Cf ) ≤ LZ′(Cf ). Die Langen der ein-beschriebenen Polygonzuge mussen aber nicht beschrankt sein wie

✻y

xx1 x2 xnx3 x4x′

1

das Beispiel der stetigen Funktion f(x) :=

{

x2 cosπ

x2fur x 6= 0

0 fur x = 0im Intervall [−π, π] zeigt. Wenn es

eine obere Schranke gibt, dann heißt das Supremum Bogenlange der entsprechenden Kurve.

Satz 1.11.1 Ist f : [a, b] → IR in [a, b] stetig differenzierbar auf [a, b], dann existiert die Bogenlange der

zugehorigen Kurve Cf und es gilt L(Cf ) =∫ b

a

1 +(

f ′(x))2

dx.

Beispiele 1.11.2

(1) Der Verlauf einer Freileitung (Hochspannungskabel) auf ebenem Gelande zwischen zwei gleich

hohen Masten wird durch die Funktion f(x) := b + a coshx

abeschrieben. Dabei hangen a und b

von der Spannweite A, dem Durchhang D und der Masthohe H ab. Die Lange zwischen −A

2und

A

2ist L(Cf ) = 2a sinh

A

2a.

(2) Fur die Lange des Graphen der Funktion f : IR → IR mit f(x) :=1

2x2 zwischen 0 und A erhalt

man L(Cf ) =1

2

(

A√

1 +A2 + ln(A+√

1 +A2))

.

(3) Fur die Lange des Kreisbogens des Kreises mit Radius 1 und Mittelpunkt (0|0) zwischen den

Punkten (1|0) und (x|√1− x2) erhalt man L(Cf ) =

∫ x

1

dt√1− t2

= arccos x.

Speziell fur den Halbkreis ergibt sich arccos(−1) = π.

Der vorige Satz gibt nur Auskunft uber die Bogenlange einer Kurve, die Graph einer Funktion ist.Hierbei durfen aber keine zwei Kurvenpunkte

”ubereinander“ liegen, d.h. verschiedene x-Werte und

gleichen y-Wert haben.

Allgemeiner kann man Kurven beschreiben, indem man x- und y-Koordinate durch Funktionen einergemeinsamen Variablen beschreibt. Als solche Variable konnte man z.B. die Zeit t wahlen. Durchlauftman dann eine Kurve, dann ist

(

x(t), y(t))

der Kurvenpunkt, der zur Zeit t durchfahren wird.

Definition 1.11.3 Seien I ein Intervall, x(t), y(t) auf I stetige Funktionen. Dann heißt die Punktmenge

{(

x(t), y(t))

; t ∈ I} stetige Kurve

mit der Parameterdarstellung x = x(t), y = y(t), t ∈ I.

Ist I = [a, b] und(

x(a), y(a))

=(

x(b), y(b))

, dann heißt die Kurve geschlossen.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 47

Die Parameterdarstellung heißt differenzierbar, wenn beide Funktionen differenzierbar sind. Zur Ab-

grenzung von der Ableitung y′ =dy

dxbezeichnet man die Ableitung nach dem Parameter t durch einen

Punkt, d.h. x :=dx

dt, y =

dy

dt.

Fur die Bogenlange einer Kurve mit differenzierbarer Parameterdarstellung gilt

Satz 1.11.4 Sei(

x(t), y(t))

, t0 ≤ t ≤ t1, die differenzierbare Parameterdarstellung einer Kurve C.Dann gilt fur die Bogenlange

L(C) =∫ t1

t0

x2(t) + y2(t) dt.

Beispiele 1.11.5 Der Halbkreis um (0|0) mit Radius r in der oberen Halbebene wird durch die Parame-terdarstellung x = r cos t, y = r sin t, 0 ≤ t ≤ π, (mit dem Winkel zur positiven x-Achse als Parameter)

beschrieben. Die Bogenlange ergibt sich aus L =

∫ π

0

r2 sin2 t+ r2 cos2 t dt = rπ.

1.11.2 Volumen und Mantelflache von Rotationskorpern

Einen Rotationskorper kann man sich entstanden denken durch Rotation des Graphen einer im Intervall[a, b] positiven, stuckweise stetigen Funktion f um die x-Achse.

Ist f konstant, dann entsteht bei Rotation ein Zylinder mit Radius f(x) und Hohe b − a, also mit

Volumen π ·(

f(x))2 · (b − a). Ist f eine andere lineare Funktion, dann entsteht ein Kreiskegel oder

Kreiskegelstumpf und bei der Funktion f(x) =√r2 − x2, r ∈ [−r, r], eine Kugel.

Um fur eine allgemeine in [a, b] positive und stuckweise stetige Funktion f(x) das Volumen des zu-gehorigen Rotationskorpers zu bestimmen, zerlegen wir das Intervall in n gleichlange Teilintervalleder Lange ∆x und approximieren wie bei der Definition des bestimmten Integrals den Korper durchkreisformige Scheiben der Dicke ∆x und Hohe f(xi), wobei als xi ein beliebiger Wert aus dem i-ten

Intervall gewahlt wird. Das Volumen der Kreisscheiben ist

n∑

i=1

πf2(xi)∆x. Der Grenzubergang n → ∞

ergibt

Satz 1.11.6 Seien a, b ∈ IR mit a < b, f : [a, b] → IR eine nichtnegative stuckweise stetige Funktion.Dann ist das Volumen des Korpers, der durch Rotation des Graphen von f um die x-Achse entsteht,

gegeben durch V = π

∫ b

af2(x) dx.

Beispiele 1.11.7

(1) Fur eine Kugel mit Radius r ergibt sich V =4

3πr3.

Ein gerader Kreiskegel mit Grundkreisradius r und Hohe h hat Volumen V =1

3πr2h.

(2) Ein Rotationsparaboloid der Lange h kann man durch Rotation der Wurzel-Funktion f(x) = c√x

(mit c > 0) erzeugen. Sein Volumen ist V =π

2c2h2.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 48

(3) Durch Rotation der Ellipsex2

a2+

y2

b2= 1 um die x-Achse entsteht ein Ellipsoid mit Volumen

V =4π

3ab2.

Man kann die Volumformel fur Rotationskorper auch folgendermaßen interpretieren: Fur jedes x ∈ [a, b]schneidet man den Rotationskorper mit einer Ebene senkrecht zur x-Achse. g : [a, b] → IR sei die Funk-tion, die an der Stelle x den Flacheninhalt des Schnittes als Funktionswert hat, also g(x) = πf2(x).Dann ist das Volumen gleich dem bestimmten Integral von g uber [a, b]. Anschaulich betrachtet

”sum-

miert“ man alle Flacheninhalte der Schnitte zwischen a und b. Diese”Summe“ hat aber genauso viele

Summanden wie es reelle Zahlen zwischen a und b gibt, also uberabzahlbar viele.

Diese Betrachtung gilt nicht nur fur Rotationskorper, denn es gilt

Satz 1.11.8 (Prinzip von Cavalieri, 1598-1647) Stehen zwei Korper auf derselben Ebene und wer-den sie von jeder zu ihr parallelen Ebene in inhaltsgleichen Flachen geschnitten, dann haben sie dasgleiche Volumen.

Wir haben hier naturlich nicht uberlegt, wann man einer dreidimensionalen Punktmenge uberhaupt einVolumen zuordnen kann.

Beispiel 1.11.9 Zwei Pyramiden mit inhaltsgleichen Grundflachen und gleicher Hohe haben gleichesVolumen.

Zur Berechnung des Mantelflacheninhaltes eines Rotationskorpers approximieren wir die erzeugendeKurve wie bei der Bogenlange durch einen Polygonzug, dessen Punkte den gleichgroßen x-Abstand

∆x haben. Die Einzelstrecken des Polygonzugs haben jeweils Lange√

(

∆x)2

+(

f(xi)− f(xi−1))2

bzw. nach dem Mittelwertsatz ∆x ·√

1 +(

f ′(x(n)i

)2mit einem x

(n)i aus dem i-ten Intervall. Fur den

Rotationskorper ergibt sich durch Grenzubergang n → ∞

Satz 1.11.10 Seien a, b ∈ IR mit a < b, f : [a, b] → IR eine nichtnegative stuckweise stetige Funktion.Dann ist der Mantelflacheninhalt des Korpers, der durch Rotation des Graphen von f um die x-Achse

entsteht, gegeben durch O = 2π

∫ b

af(x) ·

1 +(

f ′(x))2

dx.

Beispiele 1.11.11

(1) Eine Kugel mit Radius r hat den Mantelflacheninhalt 4πr2.

(2) Die Mantelflache des Rotationsparaboloids, das durch Drehung der Kurve y = x2, 0 ≤ x ≤ 2, um

die y-Achse entsteht, istπ

6(17

√17− 1).

1.12 Numerische Mathematik

1.12.1 Horner-Schema

Mit Hilfe des Horner-Schemas kann man relativ einfach einerseits Funktionswerte eines Polynoms be-rechnen, andererseits Linearfaktoren abspalten bzw. einfache Polynomdivisionen durchfuhren. Wir be-trachten ein Polynom

f(x) = a0 + a1x+ . . . + an−1xn−1 + anx

n

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 49

und ein beliebiges x0 ∈ IR. Division von f(x) mit Rest durch x− x0 ergibt ein Polynom

g(x) = b0 + b1x+ b2x2 + . . .+ bn−1x

n−1

und ein c ∈ IR mitf(x) = (x− x0) · g(x) + c.

Koeffizientenvergleich ergibt

bn−1 = an, bi−1 = ai + bix0 fur 1 ≤ i ≤ n− 1 und c = a0 + b0x0.

Einsetzen von x0 ergibt c = f(x0). Die Berechnung eines Funktionswertes erhalt man durch diesesSchema:

an an−1 an−2 . . . a1 a0x0an x0bn−2 . . . x0b1 x0b0

x0 an bn−2 bn−3 . . . b0 f(x0)

In der 1. Zeile stehen die Koeffizienten des Ausgangspolynoms f(x), in der 3. Zeile steht die Summe derAusdrucke in den Zeilen daruber, und in der 2. Zeile jeweils das Produkt von x0 mit dem Ausdruck, derin der 3. Zeile in der vorherigen Spalte steht. Der Funktionswert ergibt sich als letzter Ausdruck in der3. Zeile.

Beispiel 1.12.1 f(x) = 2x3 + 11x− 7, x0 = 2. 2 0 11 −74 8 38

2 2 4 19 31

, d.h. f(2) = 31.

Ist x0 Nullstelle, dann ist g(x) Teiler von f(x), d.h. f(x) = (x− x0) · g(x).

Beispiel 1.12.2 f(x) = x3 − 2x2 − x+ 2, x0 = 2. 1 −2 −1 22 0 −2

2 1 0 −1 0

,

d.h. g(x) = x2 + 0 · x− 1 = x2 − 1.

1.12.2 Interpolation

Oft sind von einer Funktion nur die Funktionswerte y0, y1, . . . , yn an n + 1 paarweise verschiedenenStutzstellen x0, x1, . . . , xn bekannt. Man ersetzt dann die unbekannte Funktion durch ein Interpolati-onspolynom p(x), das an den Stutzstellen genau diese Werte hat. Da nach dem Hauptsatz der Algebraein Polynom vom Grad n durch n+ 1 Funktionswerte festgelegt wird, sucht man ein Interpolationspo-lynom vom Grad hochstens n.

Mit dem Ansatzpn(x) = a0 + a1x+ a2x

2 + . . . + anxn

erhalt man durch Einsetzen der Werte ein Gleichungssystem mit n + 1 Gleichungen fur die n + 1unbekannten Koeffizienten. Die Berechnung wird vereinfacht durch spezielle Ansatze:

Definition 1.12.3 Ein Polynom der Form

pn(x) = c0 + c1(x− x0) + c2(x− x0)(x− x1) + . . .+ cn(x− x0)(x− x1) · . . . · (x− xn−1)

heißt Newtonsches Interpolationspolynom.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 50

Durch schrittweises Einsetzen der Funktionswerte und Auflosen der Gleichungen bestimmt man dieKoeffizienten:x = x0: y0 = c0,x = x1: y1 = c0 + c1(x1 − x0),x = x2: y2 = c0 + c1(x2 − x0) + c2(x2 − x0)(x2 − x1),...

Beispiel 1.12.4 Von der Funktion f(x) seien folgende Werte bekannt:x 1 3 5 9 12

y 4 6 88 588 1559.

Gesucht sind die Interpolationspolynome pn(x) unter Berucksichtigung der ersten n + 1 Stutzstellen,0 ≤ n ≤ 4. Das Gleichungssystem ergibtp0(x) ≡ 4, p1(x) = x+ 3, p2(x) = 10x2 − 39x+ 33,

p3(x) =1

2(x3 + 11x2 − 55x+ 51),

p4(x) = p3(x) +415

4158(x4 − 18x3 + 104x2 − 222x+ 135).

Bemerkungen 1.12.5

(1) Bei Hinzunahme eines weiteren Stutzpunktes konnen die vorher ermittelten Ergebnisse genutzt

werden, denn es gilt pn+1(x) = pn(x) + cn+1 ·n∏

i=0

(x− xi).

(2) Ein anderer Ansatz ist das Lagrangesche Interpolationspolynom

pn(x) = L0(x)y0 + L1(x)y1 + . . .+ Ln(x)yn mit Li(x) =

0≤j≤n, j 6=i

(x− xj)

0≤j≤n, j 6=i

(xi − xj), 0 ≤ i ≤ n.

Es eignet sich besonders fur eine Tabellierung der Funktionswerte. Bei Hinzunahme einer weiterenStutzstelle muß man aber alle Werte neu berechnen.

(3) Ein Nachteil der Interpolation durch ein Polynom n-ten Grades ist, daß i.a. die Zahl der Nullstellenmit dem Grad steigt und man daher bei großem n stark oszillierende Polynome erhalt. Bei derSpline-Interpolation sucht man eine zusammengesetzte Funktion mit folgenden Eigenschaften:In jedem Intervall [xi−1, xi] stimmt sie mit einem Polynom 3. Grades uberein, das durch die beidenStutzstellen geht. Weiter werden die Polynome so gewahlt, daß die zusammengesetzte Funktionan den Stutzstellen zweimal stetig differenzierbar ist.

1.12.3 Numerische Losung von Gleichungen

Oft sind Gleichungen zu losen, die entweder mit den ublichen algebraischen Methoden nicht zu losensind, oder fur die die notwendigen Umformungen zu aufwendig sind. Da man jede Gleichung in der Formf(x) = 0 schreiben kann, ist die Aufgabe aquivalent zur Bestimmung der Nullstellen der Funktion f(x).

Fur stetige Funktionen, deren Werte in einem Intervall verschiedene Vorzeichen annehmen, ergibt sichaus dem Zwischenwertsatz als einfachstes Verfahren die Intervallschachtelung:

Ausgehend von x0, y0 mit f(x0) · f(y0) < 0 betrachtet man den Mittelpunkt z0 =x0 + y0

2.

Ist f(z0) = 0, dann hat man eine Nullstelle gefunden.Ist f(z0) · f(x0) < 0, dann setzt man x1 := x0, y1 := z0 und sonst x1 := z0, y1 := y0 und betrachtet das

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 51

Intervall [x1, y1].Wiederholte Anwendung fuhrt nach endlich vielen Schritten auf eine Nullstelle oder zu konvergentenFolgen (xn) und (yn), deren gemeinsamer Grenzwert Nullstelle von f(x) ist.

Ein i.a. schneller konvergierendes Verfahren ist die Regula falsi, bei der die Funktion bei jedem Schritt(mit f(xn) · f(yn) < 0) durch die lineare Funktion durch

(

xn|f(xn))

und(

yn|f(yn))

ersetzt wird undderen Nullstelle

zn := xn − yn − xn

f(yn)− f(xn)· f(xn)

in (xn, yn) berechnet wird.

Im Newton-Verfahren ersetzt man die Funktion wieder durch eine lineare Funktion, aber nicht wiebei der Regula Falsi durch eine Sekante, sondern durch die Tangente in

(

xn|f(xn))

.Ausgehend von einem Startwert x0 erhalt man eine Folge

xn+1 := xn − f(xn)

f ′(xn).

Ist f zweimal stetig differenzierbar mit f(a) · f(b) < 0, f ′(x) 6= 0 und f ′′(x) · f(x) ≥ 0 in [a, b], dannexistiert in (a, b) genau eine Nullstelle x∗ und die Folge (xn) konvergiert monoton gegen x∗.Gibt es zusatzlich m,M ∈ IR mit m ≤ |f ′′(x)| ≤ M , dann gilt fur alle n

|x− x∗| ≤ |x− x0| ·(

M

m+M

)n

,

d.h. man kann ohne Kenntnis der Nullstelle den Fehler fur das n-te Folgenglied abschatzen.

1.12.4 Numerische Integration

Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung legt nahe, daß das Problem der Integration furdie meisten Funktionen gelost ist. Es gibt aber wichtige Funktionen, die stetig (und damit integrierbar)sind, und deren Stammfunktion man nicht durch elementare Funktionen ausdrucken kann (z.B. derIntegralsinus). Manchmal ist auch der Integrand nur tabellarisch bekannt oder die Bestimmung derStammfunktion zu aufwendig.

Man versucht in diesen Fallen, fur die Integralfunktion F (x) =

∫ x

af(t) dt hinreichend viele Tabel-

lenwerte durch numerische (und naherungsweise) Bestimmung der zugehorigen bestimmten Integrale

F (xn) =

∫ xn

af(t) dt zu bestimmen.

Eine Methode ergibt sich aus der Definition des bestimmten Integrals, indem man das Integrationsin-tervall fur n ∈ IN z.B. in aquidistante Teilintervalle zerlegt und die Folge zugehoriger Riemann-Summenuntersucht.Allgemein ist es sinnvoller, den Integranden durch (nichtkonstante) lineare oder quadratische Funktio-nen anzunahern. Wir teilen dazu zunachst fur ein n ∈ IN das Intervall [a, b] in 2n Teilintervalle undbetrachten entsprechende Naherungen in [x2k, x2k+2], 1 ≤ k ≤ n. Dann ersetzen wir den Graph indiesem Intervall durch

(a) die Sehnen zwischen den Punkten(

x2k|f(x2k))

und(

x2k+1|f(x2k+1))

,

(b) die Tangente in(

x2k+1|f(x2k+1))

bzw.

(c) die Parabel (2. Grades) durch die drei Punkte(

x2k|f(x2k))

,(

x2k+1|f(x2k+1))

und(

x2k+2|f(x2k+2))

.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 52

Fur die Inhalte der entsprechenden Flachen gilt:

Satz 1.12.6 Fur n ∈ IN, h :=b− a

2n, xk := a+k ·h, 0 ≤ k ≤ 2n, ergeben sich fur das Integral

∫ b

af(x) dx

folgende Naherungen: Im Fall der Approximation von f(x) durch

(a) Sehnen S2n =h

2

(

f(x0) + 2f(x1) + 2f(x2) + . . .+ 2f(x2n−1) + f(x2n))

, (Trapezformel)

(b) Tangenten T2n = 2h(

f(x1)+ f(x3)+ f(x5)+ . . .+ f(x2n−3)+ f(x2n−1))

, (Tangentenformel)

(c) Parabeln P2n =h

3

(

f(x0) + 4f(x1) + 2f(x2) + 4f(x3) + . . .+ 2f(x2n−2) + 4f(x2n−1) + f(x2n))

.

(Simpsonformel)

Eine Naherung eines unbekannten Wertes ist nutzlos, wenn man nicht den moglichen Fehler abschatzenkann. Exemplarisch seien hier fur die Trapez- und die Simpsonformel Fehlerabschatzungen angegeben:

Satz 1.12.7 (a) Ist f : [a, b] → IR zweimal differenzierbar und gibt es ein M2 mit |f ′′(x)| ≤ M2 in[a, b], dann gilt fur den Fehler bei der Trapezformel

∫ b

af(x) dx− S2n

∣ ≤ (b− a)3

12(2n)2M2.

(b) Ist f : [a, b] → IR viermal differenzierbar und gibt es ein M4 mit |f (4)(x)| ≤ M4 in [a, b], dann giltfur den Fehler bei der Simpsonformel

∫ b

af(x) dx− P2n

∣≤ (b− a)5

2880n4M4.

Insbesondere ist die Simpsonformel fur Polynome bis zum 3. Grad genau.

Beispiel 1.12.8 Das Integral 4 ·∫ 1

0

dx

1 + x2kann man mit Hilfe des Hauptsatzes und der Stamm-

funktion F (x) = 4 arctan x losen. Es hat den genauen Wert π.Zerlegt man [0, 1] in 4 gleichlange Intervalle, dann ergeben sich die Naherungen

S4 =5323

1700≈ 3, 131

T4 =1344

425≈ 3, 162

P4 =8011

2550≈ 3, 141568.

Die Genauigkeit der Simpsonformel ist also erheblich großer als bei den anderen Formeln.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 53

1.13 Potenzreihen und Fourierreihen

Wir haben im Abschnitt 1.3 Zahlenreihen kennengelernt und im Satz 1.6.12 mit den Taylor-ReihenReihen, deren Glieder und damit deren Reihenwert zusatzlich von einer Variablen x abhangen.

Wir betrachten nun allgemeinere Reihen:

Definition 1.13.1 Sei M ⊂ IR nichtleer, (fn(x))n∈IN eine Folge von reellwertigen Funktionen, die min-destens auf M definiert sind.

K := {x ∈ M ;∞∑

n=1

fn(x) konvergiert }

heißt Konvergenzmenge der Funktionenreihe.

Ist K 6= ∅, dann heißt die Funktionenreihe punktweise konvergent auf K und

f : K → IR mit f(x) :=

∞∑

n=1

fn(x) Grenzfunktion .

1.13.1 Potenzreihen

Definition 1.13.2 Eine Funktionenreihe der Form

∞∑

n=0

an(x− x0)n mit an, x, x0 ∈ IR

heißt Potenzreihe um x0.

Bemerkung 1.13.3 Fur die folgenden Konvergenzbetrachtungen hat der spezielle Wert von x0 keineBedeutung. Wir setzen daher x0 = 0.

Die Konvergenzmenge einer Potenzreihe hat eine spezielle Struktur:

Satz 1.13.4 Eine Potenzreihe

∞∑

n=0

anxn konvergiert fur alle x oder es gibt eine Zahl r ≥ 0, so daß die

Reihe

� fur |x| < r absolut konvergiert,

� fur |x| > r divergiert.

� In den Punkten r bzw. −r kann die Reihe konvergieren oder divergieren.

Definition 1.13.5 Die Zahl r aus dem obigen Satz heißt Konvergenzradius der Potenzreihe,die Konvergenzmenge {x; |x| < r} heißt Konvergenzkreis.

Bemerkungen 1.13.6

(1) r = 0 bedeutet also, daß die Potenzreihe nur fur x = 0 konvergiert.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 54

(2) Konvergiert die Potenzreihe fur alle x ∈ IR, dann setzt man r := ∞.

(3)∞∑

n=0

an(x− x0)n (mit x0 6= 0) hat den Konvergenzkreis (x0 − r, x0 + r).

Aus dem Quotienten- bzw. Wurzelkriterium fur Zahlenreihen folgt

Satz 1.13.7 Sei∞∑

n=0

anxn eine Potenzreihe mit Konvergenzradius r. Dann gilt:

(a) Konvergiert limn→∞

n√

|an| (uneigentlich) gegen a, dann gilt r =

1

limn→∞

n√

|an|fur a 6= 0

∞ fur a = 00 fur a = ∞

(b) Konvergiert limn→∞

an

an+1

(uneigentlich) gegen a, dann gilt r = a.

Bemerkung 1.13.8 Allgemein gilt der Satz von Cauchy-Hadamard: r =1

limsupn→∞n√

|an|.

Beispiele 1.13.9

(1) Die geometrische Reihe∞∑

n=0

xn hat Konvergenzradius r = 1. Die Reihe divergiert fur x = ±1.

(2) Fur ein α ∈ IR \ IN setzen wir

(

α

n

)

:=α(α− 1) · ... · (α− n+ 1)

n!.

Die Funktion f(x) = (1 + x)α hat als Taylor-Reihe die binomische Reihe

∞∑

n=0

(

α

n

)

xn

mit Konvergenzradius r = 1.

(3)

∞∑

n=0

nanxn und

∞∑

n=0

an

n+ 1xn haben denselben Konvergenzradius wie

∞∑

n=0

anxn.

Speziell hat

∞∑

n=1

xn

nKonvergenzradius r = 1. Sie konvergiert fur x = −1 und divergiert fur

x = 1.

(4) Die Taylor-Reihe der Exponentialfunktion ex =

∞∑

n=0

xn

n!hat Konvergenzradius ∞, konvergiert

also fur alle x ∈ IR.

Dasselbe gilt fur die Taylor-Reihen

sinx =∞∑

n=0

(−1)nx2n+1

(2n + 1)!, cos x =

∞∑

n=0

(−1)nx2n

(2n)!,

sinhx =

∞∑

n=0

x2n+1

(2n + 1)!, coshx =

∞∑

n=0

x2n

(2n)!.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 55

Satz 1.13.10 (Rechenregeln fur Potenzreihen) Seien f(x) :=∞∑

n=0

anxn, g(x) :=

∞∑

n=0

bnxn

Potenzreihen mit Konvergenzradius rf bzw. rg, c ∈ IR. Dann gilt:

(a) f(x) + g(x) =∞∑

n=0

(an + bn)xn fur alle |x| < min{rf , rg},

(b) c · f(x) =∞∑

n=0

c · anxn fur alle |x| < rf ,

(c) f(x) · g(x) =∞∑

n=0

(

n∑

k=0

ak · bn−k

)

xn fur alle |x| < min{rf , rg}.

Ist der Grad zweier Polynome jeweils hochstens k und haben sie an mindestens k + 1 verschiedenen x-Werten gleiche Funktionswerte, dann sind sie identisch, haben also auch jeweils dieselben Koeffizienten.Das nutzt man z.B. beim Koeffizientenvergleich aus. Fur Potenzreihen gilt analog:

Satz 1.13.11 (Identitatssatz fur Potenzreihen) Seien f(x) :=

∞∑

n=0

anxn, g(x) :=

∞∑

n=0

bnxn

Potenzreihen mit Konvergenzradius rf bzw. rg. Gibt es eine Folge (xk)k∈IN mit

0 < |xk| < min{rf , rg} fur alle k ∈ IN, limk→∞

xk = 0 und f(xk) = g(xk) fur alle k ∈ IN,

dann gilt an = bn fur alle n ∈ IN ∪ {0}.

Die einzelnen Glieder einer Potenzreihe sind stetig und beliebig oft differenzierbar und integrierbar. Dasgilt auch fur die Grenzfunktion einer Potenzreihe:

Satz 1.13.12 Eine Potenzreihe∞∑

n=0

anxn darf innerhalb ihres Konvergenzkreises gliedweise differen-

ziert und integriert werden, d.h. die Grenzfunktion f(x) ist differenzierbar und integrierbar mit

f ′(x) =∞∑

n=1

n · anxn−1,

f(x) dx =∞∑

n=0

an

n+ 1· xn+1 .

Die neuen Reihen haben denselben Konvergenzradius wie die Ausgangsreihe.

Beispiel 1.13.13 Fur die geometrische Reihe f(x) =1

1− x=

∞∑

n=0

xn ergibt sich

f ′(x) =∞∑

n=1

n · xn−1 =

∞∑

m=0

(m+ 1) · xm =(

∞∑

k=0

xk)

·(

∞∑

n=0

xn)

=1

(1− x)2

und∫

f(x) dx =∞∑

n=0

xn+1

n+ 1= − ln(1− x).

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 56

1.13.2 Fourier–Reihen

Bei Anwendungen wie Schwingungsproblemen hat man es mit periodischen Funktionen zu tun. Diesekonnen zwar auch als Potenzreihen darstellbar sein wie z.B. die trigonometrischen Funktionen, aberdie wesentliche Eigenschaft der Periodizitat findet sich nicht in den approximierenden Funktionen, d.h.im Fall der Potenzreihen bei den Polynomen, wieder. Der Ansatz bei der Theorie der Fourier–Reihenist, periodische Funktionen durch periodische Funktionen zu approximieren, und hier bieten sich alsmoglichst einfache Summanden Funktionen der Form sinnx und cosnx an.

Definition 1.13.14 (a) Eine Funktion f : IR → IR heißt periodisch mit der Periode T , wenn T > 0und

f(x+ T ) = f(x) fur alle x ∈ IR.

(b) Seien N ∈ IN, an, bn ∈ IR, 0 ≤ n ≤ N , ω > 0. Die Funktion

g(x) =a0

2+

N∑

n=1

(an cosnωx+ bn sinnωx)

heißt trigonometrisches Polynom.

(c) Seien a0, an, bn ∈ IR, n ∈ IN, ω > 0. Dann heißt

a0

2+

∞∑

n=1

(an cosnωx+ bn sinnωx)

trigonometrische Reihe.

Bemerkung 1.13.15 Die Grenzfunktion einer trigonometrischen Reihe (falls sie existiert) setzt sichzusammen aus den harmonischen Schwingungen sinnωx und cosnωx - sie entsteht durch ungestorteUberlagerung unendlich vieler harmonischer Schwingungen.

ω heißt Grund-Kreisfrequenz. Die anderen Kreisfrequenzen (die Faktoren von x) sind also ganzzah-lige Vielfache der Grund-Kreisfrequenz.

Die Teilschwingung mit Kreisfrequenz ω heißt Grundschwingung, die anderen TeilschwingungenOberschwingungen.

Beispiele 1.13.16

(1) Jede konstante Funktion ist periodisch. Als Periode kann jede positive Zahl gewahlt werden.

(2) Sei n ∈ IN, ω > 0. Die trigonometrischen Funktionen cosnωx und sinnωx sind periodisch mit der

Periode2π

nω.

(3) Eine Funktion der Art f : IR → IR mit

f(x) := x− nπ fur (2n− 1)π

2< x ≤ (2n + 1)

π

2, n ∈ ZZ

heißt Sagezahn–Funktion und ist periodisch mit Periode π.

(4) Eine Funktion wie f : IR → IR mit f(x) :=

1 fur 2n < x < 2n+ 1−1 fur 2n− 1 < x < 2n0 fur x = n

, n ∈ ZZ, heißt

Rechteck–Schwingung und ist periodisch mit Periode 2.

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 57

(5) Die Funktion f : IR → IR mit f(x) := | sinx| heißt gleichgerichtete Sinus–Schwingung und istperiodisch mit Periode π.

(6) Jede in einem Intervall I ⊂ IR gegebene Funktion f laßt sich (i.a. auf verschiedene Weise) periodischfortsetzen. Sei oBdA I = [0, T ). Dann sind

f1(x) := f(x− nT ) fur nT ≤ x < (n+ 1)T , n ∈ ZZ,

f2(x) := f(−x) fur −T ≤ x < 0 und f2(x) := f(x− 2nT ) fur (2n − 1)T ≤ x < (2n + 1)T , n ∈ ZZ

und

f3(x) := −f(−x) fur −T ≤ x < 0 und f3(x) := f(x− 2nT ) fur (2n− 1)T ≤ x < (2n+1)T , n ∈ ZZ

solche periodischen Fortsetzungen.

Bemerkungen 1.13.17

(1) Mit Hilfe der Substitution x :=2π

Tt =: ωt kann man jede T–periodische Funktion f(t) in eine

2π–periodische Funktion g(x) = f(t) umwandeln. Wir betrachten daher im folgenden in der Regel2π–periodische Funktionen.

(2) Eine T–periodische Funktion f ist fur jedes n ∈ IN auch nT–periodisch. Sei umgekehrt f stetigund T0 := inf{T > 0; f ist T–periodisch }. Dann ist entweder T0 = 0 und f konstant oder jedePeriode von f laßt sich in der Form nT0, n ∈ IN, darstellen.

(3) Ist f T–periodisch und in einem Intervall der Lange T integrierbar, dann ist f in IR integrierbar,und fur beliebiges a ∈ IR gilt

∫ a+T

af(x) dx =

∫ T

0f(x) dx.

Fur die Glieder der trigonometrischen Polynome und Reihen gelten die Orthogonalitatsrelationen

∫ π

−π

(

1

πsinnx

)(

1

πsinmx

)

dx =

∫ π

−π

(

1

πcosnx

)(

1

πcosmx

)

dx

=

{

1 fur n = m

0 fur n 6= m∫ π

−π

(

1

πsinnx

)(

1

πcosmx

)

dx =

∫ π

−π

(

1

)(

1

πcosmx

)

dx

=

∫ π

−π

(

1

)(

1

πsinmx

)

dx = 0.

Wir betrachten nun zunachst eine im Intervall [−π, π] gleichmaßig konvergente trigonometrische Reihemit Grenzfunktion

f(x) =a0

2+

∞∑

n=1

(an cosnx+ bn sinnx) .

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 58

Wegen der gleichmaßigen Konvergenz ist die Reihe gliedweise integrierbar, und aus den Orthogona-litatsrelationen folgt fur k ∈ IN

∫ π

−πf(x) dx =

a0

2

∫ π

−πdx = a0π,

∫ π

−πf(x) cos kx dx = ak

∫ π

−πcos2 kx dx = akπ und

∫ π

−πf(x) sin kx dx = bk

∫ π

−πsin2 kx dx = bkπ,

d.h. man kann die Koeffizienten der trigonometrischen Funktionen aus der Grenzfunktion bestimmen.Analog definiert man fur beliebige in [−π, π] integrierbare Funktionen

Definition 1.13.18 Sei f : IR → IR 2π–periodisch und integrierbar. Dann heißen

an :=1

π

∫ π

−πf(x) cosnx dx, n ∈ IN0

bn :=1

π

∫ π

−πf(x) sinnx dx, n ∈ IN

Fourier–Koeffizienten der Funktion f und

a0

2+

∞∑

n=1

(an cosnx+ bn sinnx)

Fourier–Reihe von f .

Bemerkungen 1.13.19

(1) Die Fourier–Reihe einer Funktion muß nicht konvergieren. Konvergiert sie fur ein x punktweise,dann muß die Summe nicht gleich f(x) sein. Ein wichtiges Problem der Theorie der Fourier–Reihen besteht also darin, Bedingungen zu finden, unter denen die Reihe konvergiert und gleichder zugeordneten Funktion ist.

(2) Fur gerades f gilt

an =2

π

∫ π

0f(x) cosnx dx, bn = 0,

d.h. die Fourier–Reihe besteht nur aus Kosinusgliedern, und fur ungerades f gilt

bn :=2

π

∫ π

0f(x) sinnx dx, an = 0,

d.h. die Fourier–Reihe besteht nur aus Sinusgliedern.

(3) Man kann zeigen, daß fur eine integrierbare Funktion f unter allen trigonometrischen Polynomendie zugehorigen Fourier–Polynome f am besten approximieren.

(4) Ist f integrierbar und sind a0, an, bn die zugehorigen Fourier–Koeffizienten, dann gilt fur jedesm ∈ IN

1

2a20 +

m∑

n=1

(

a2n + b2n)

≤ 1

π

∫ π

−πf2(x) dx. (Besselsche Ungleichung)

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 59

Damit folgt insbesondere die Konvergenz der Reihe1

2a20 +

∞∑

n=1

(

a2n + b2n)

und

∫ π

−πf(x) cosnx dx

n→∞−→ 0 und

∫ π

−πf(x) sinnx dx

n→∞−→ 0.

(5) Stimmen die Funktion f und ihre Fourier–Reihe uberein, dann ist ihr Abstand 0 und es ergibtsich als Verallgemeinerung des Satzes von Pythagoras

1

2a20 +

∞∑

n=1

(

a2n + b2n)

=1

π

∫ π

−πf2(x) dx. (Parsevalsche Gleichung)

Mit Hilfe der Parsevalschen Gleichung kann man die Summen gewisser Reihen ausrechnen.

Beispiele 1.13.20

(1) Die Funktion f(x) := x, x ∈ (−π, π], f(x+ 2π) = f(x), hat die Fourier–Koeffizienten

a0 = 0, an = 0 und bn =2

n(−1)n+1, n ∈ IN.

Die Parsevalsche Gleichung ergibt

2π2

3=

1

π

∫ π

−πx2 dx =

∞∑

n=1

4

n2

und damit ∞∑

n=1

1

n2=

π2

6.

(2) Zu f(x) := x2, x ∈ (−π, π]), f(x+ 2π) = f(x), erhalt man mit den Fourier–Koeffizienten

bn = 0, a0 =2π2

3und an =

4

n2(−1)n, n ∈ IN,

die Reihe

∞∑

n=1

1

n4=

π4

90.

(3) Zu f(x) :=

−1 fur x ∈ (−π, 0)0 fur x = 01 fur x ∈ (0, π])

, f(x+2π) = f(x), erhalt man mit den Fourier–Koeffizienten

a0 = 0, an = 0 und bn =2

π

1− (−1)n

n, n ∈ IN, die Reihe

∞∑

n=1

1

(2n− 1)2=

π2

8.

Es gibt einige Konvergenzkriterien fur Fourier–Reihen. Der folgende Satz gibt ein hinreichendes Krite-rium an, das fur die meisten Falle in der Praxis ausreicht.

Satz 1.13.21 f(x) sei in [−π, π] stuckweise stetig, stuckweise monoton und habe nur Sprungstellen alsUnstetigkeitsstellen.

Dann konvergiert die Fourier-Reihe fur alle x ∈ [−π, π].

(a) Ist f in x0 stetig, dann konvergiert die f zugeordnete Fourier–Reihe in x0 gegen f(x).

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1. Differential- und Integralrechnung bei Funktionen einer unabhangigen Variablen 60

(b) Hat f in x0 eine Sprungstelle, dann konvergiert die f zugeordnete Fourier–Reihe in x0 gegen

f(x0 + 0)− f(x0 − 0)

2.

Dabei sei f(x− 0) der links- und f(x+ 0) der rechtsseitige Grenzwert von f(x) an der Stelle x0.

Beispiel 1.13.22 Die Sagezahnfunktion f(x) :=

0 fur x = 0

π − x

2fur 0 < x < 2π

, f(x + 2π) = f(x), ist

ungerade, hat also die Fourier–Koeffizienten a0 = an = 0 und bn =1

n.

Die zugeordnete Fourier–Reihe ist∞∑

n=1

sinnx

n.

f erfullt die Bedingungen des Satzes. Sie ist stetig und monoton in den Intervallen(

2kπ, 2(k + 1)π)

,k ∈ ZZ, und hat an den Stellen . . . ,−4π,−2π, 0, 2π, 4π, . . . Sprungstellen. Da in den Sprungstellen derFunktionswert als arithmetisches Mittel von links- und rechtsseitigem Funktionswert festgelegt ist, kon-vergiert die Fourier-Reihe in IR punktweise gegen f(x).

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61

2 Lineare Algebra

2.1 Lineare Gleichungssysteme und Matrizen

Lineare Gleichungssysteme sind schon aus der Schulmathematik und dem Vorkurs bekannt. Sie sollenhier etwas systematischer untersucht werden.

Definition 2.1.1 1. Ein System von m Gleichungen mit n Unbekannten (m,n ∈ IN) der Form

a11x1 + a12x2 + . . . + a1nxn = b1a21x1 + a22x2 + . . . + a2nxn = b2

......

...am1x1 + am2x2 + . . . + amnxn = bm

mit reellen Koeffizienten aik, 1 ≤ i ≤ m, 1 ≤ k ≤ n, und absoluten Gliedern bi, 1 ≤ i ≤m, heißt lineares Gleichungssystem. Sind alle absoluten Glieder Null, dann heißt das lineareGleichungssystem homogen und sonst inhomogen.

2. Ein n-Tupel reeller Zahlen (x1, x2, . . . , xn) heißt Losung des linearen Gleichungssystem aus (a),wenn fur xi = xi, 1 ≤ i ≤ n, die Gleichungen alle erfullt sind. Unter der Losungsmenge desGleichungssystems versteht man die Menge aller Losungen.

3. Zwei Gleichungssysteme heißen aquivalent, wenn sie dieselbe Losungsmenge besitzen.

Die wesentliche Information uber das lineare Gleichungssystem steckt naturlich in den Koeffizienten aikund den Absolutgliedern bi. Schon allein aus schreibtechnischen Grunden versucht man die Darstellungzu vereinfachen. Dazu fuhren wir Matrizen ein:

Definition 2.1.2 1. Ein rechteckiges Schema mit m Zeilen und n Spalten (und m · n Elementenaik, 1 ≤ i ≤ m, 1 ≤ k ≤ n,) heißt (m,n)-Matrix:

A =

a11 a12 . . . a1na21 a22 . . . a2n...

...am1 am2 . . . amn

Man bezeichnet A auch oft durch(

aik)

(m,n).

2. Fur m = n heißt die Matrix A quadratisch, fur n = 1 Spaltenvektor und fur m = 1 Zeilen-vektor.

Bemerkungen 2.1.3

(1) Zwei Matrizen(

aik)

(m,n)und

(

bik)

(m,n)betrachten wir als gleich, wenn sie an jeder Stelle uber-

einstimmen, d.h. wenn

aik = bik fur alle 1 ≤ i ≤ m, 1 ≤ k ≤ n

gilt. Naturlich konnen Matrizen hochstens dann gleich sein, wenn sie gleiche Zeilen- bzw. Spalten-zahl haben, d.h. vom gleichen Typ sind.

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2. Lineare Algebra 62

(2) Wir bezeichnen in Zukunft Spaltenvektoren (wie fruher die Vektoren) durch ~x und die Zeilenvek-toren durch das Symbol ~xT .Da man die Zeilen einer (m,n)-Matrix als Zeilenvektoren und die Spalten als Spaltenvektorenauffassen kann, kann man eine Matrix A =

(

aik)

(m,n)auch in der Form

A =(

~b1, . . . ,~bn)

bzw. A =

~c1T

...~cm

T

mit ~bk =

a1k...

amk

, 1 ≤ k ≤ n, und ~ci

T =(

ai1 . . . ain)

, 1 ≤ i ≤ m, schreiben.

Wir fuhren fur die Menge aller Matrizen gleichen Typs die Rechenoperationen Addition und Skalar-multiplikation ein:

Definition 2.1.4 Seien A =(

aik)

und B =(

bik)

(m,n)-Matrizen, α ∈ IR. Dann heißt die (m,n)-Matrix

C =(

cik)

mit cik = aik + bik, 1 ≤ i ≤ m, 1 ≤ k ≤ n, Summe von A und B

(Schreibweise C = A+B), und die (m,n)-Matrix

D =(

dik)

mit dik = αaik, 1 ≤ i ≤ m, 1 ≤ k ≤ n, Vielfaches von A

(Schreibweise D = αA).

Weiter fuhren wir auf der Menge”geeigneter“ Paare von Matrizen eine (Matrizen-) Multiplikation

ein:

Definition 2.1.5 Sei A =(

aij)

eine (m,n)-Matrix und B =(

bjk)

eine (n, p)-Matrix. Dann heißt die(m, p)-Matrix

C =(

cik)

mit cik =n∑

j=1

aij · bjk, 1 ≤ i ≤ m, 1 ≤ k ≤ p, Produkt von A und B

(Schreibweise C = A · B = AB).

Entscheidend dafur, daß man zwei Matrizen multiplizieren kann, ist also, daß die Spaltenzahl der erstenmit der Zeilenzahl der zweiten ubereinstimmt.

Beispiele 2.1.6

(1)

(

1 2 34 5 6

)

+

(

2 −4 12 0 1

)

=

(

3 −2 46 5 7

)

.

(2) 3 ·(

1 2 34 5 6

)

=

(

3 6 912 15 18

)

.

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2. Lineare Algebra 63

(3)

(

1 2 32 1 3

)

·

1 0 1 22 1 0 −11 1 1 1

=

(

8 5 4 37 4 5 6

)

.

Bemerkung 2.1.7 Das lineare Gleichungssystem am Anfang unseres Kapitels laßt sich damit in derForm A·~x = ~b schreiben mit derKoeffizientenmatrix A =

(

aik)

(m,n)und den Spaltenvektoren

~x =

x1x2...xn

und ~b =

b1b2...bm

.

Fur die Rechenoperationen mit Matrizen gelten fast dieselben Regeln wie bei Addition und Multiplika-tion mit reellen Zahlen:

Satz 2.1.8 (a) Seien A, B und C (m,n)-Matrizen, α ∈ IR. Dann gilt

(I) A+B = B +A (II) A+ (B + C) = (A+B) + C

(III) α(A +B) = αA+ αB (IV) (α+ β)A = αA+ βA

(V) aus A = B folgt αA = αB.

(b) Sei A eine Matrix vom Typ (m,n), B und C vom Typ (n, p), D vom Typ (p, q). Dann gilt

(I) A · (B ·D) = (A ·B) ·D (II) A · (B + C) = A ·B +A · C

(III) (B + C) ·D = B ·D + C ·D (IV) aus B = C folgt A ·B = A · C und B ·D = C ·D.

Bemerkungen 2.1.9

(1) Bei den Rechenregeln fur die Multiplikation fehlt das Kommutativgesetz, d.h. die Vertauschbarkeitvon A · B. Im Gegensatz zu den bekannten Zahlenmengen gilt dies bei Matrizen nicht, wie das

Beispiel mit A =

(

1 10 1

)

und B =

(

1 11 2

)

zeigt.

(2) Die (quadratische) (n, n)-Matrix O, deren Elemente alle Null sind, heißt Nullmatrix. Fur jede(n, n)-Matrix A gilt A + O = A, d.h. O hat in der Menge der Matrizen vom Typ (n, n) dieselbeRolle wie die Null beim Addieren mit Zahlen.

(3) Die (quadratische) (n, n)-Matrix E, deren Elemente auf der Hauptdiagonalen alle 1 und dieanderen Matrixelemente alle Null sind, heißt Einheitsmatrix. Fur jede (n, n)-Matrix A giltA · E = E · A = A, d.h. E hat in der Menge der Matrizen vom Typ (n, n) dieselbe Rolle wie dieEins beim Multiplizieren mit Zahlen.

2.2 Das Gaußsche Eliminationsverfahren

Schon bei linearen Gleichungssystemen mit zwei Gleichungen und zwei Variablen kann man erkennen,daß es gar keine Losungen zu geben braucht, es eine eindeutig bestimmte Losung geben kann, aber auchunendlich viele Losungen.Da eine lineare Gleichung mit zwei Variablen die Punkte einer Geraden in der Ebene beschreibt, ent-spricht die Losungsmenge eines Systems von zwei solcher Gleichungen dem Schnitt zweier Geraden. Sind

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2. Lineare Algebra 64

die Geraden nun parallel, dann gibt es keine gemeinsamen Punkte, also auch keine Losungen. Schneidensich die Geraden in einem Punkt, dann sind seine Koordinaten die eindeutig bestimmte Losung. Anson-sten stellen beide Gleichungen dieselbe Gerade dar, d.h. alle Punkte auf dieser Geraden sind Losungen.Analoges gilt fur lineare Gleichungssysteme mit drei Variablen.

Die Losungsmenge eines linearen Gleichungssystems A · ~x = ~b andert sich nicht, wenn man

1. zwei der Gleichungen miteinander vertauscht,

2. eine der Gleichungen mit einer Zahl ungleich Null multipliziert oder

3. zu einer Gleichung das Vielfache einer anderen der Gleichungen addiert.

Umformungen des linearen Gleichungssystems heißen daher Aquivalenzumformungen. Diesen Ver-anderungen entsprechen die elementaren Zeilenumformungen der erweiterten Koeffizientenma-trix C :=

(

A,~b)

:

1. Vertauschung zweier Zeilen ~ciT und ~cj

T ,

2. Ersetzen einer Zeile ~ciT durch ihr Vielfaches α · ~ciT mit α 6= 0 und

3. Ersetzen einer Zeile ~ciT durch die Summe dieser Zeile mit dem Vielfachen einer anderen Zeile, also

durch ~ciT + β · ~cjT .

Zwei Matrizen nennen wir dann aquivalent, wenn sie durch eine endliche Anzahl von elementarenZeilenumformungen auseinander hervorgehen.

Satz 2.2.1 (Gaußsches Eliminationsverfahren) Gegeben sei das lineare Gleichungssystem A·~x = ~b

mit Koeffizienten-(m,n)-Matrix A und Absolut-Vektor ~b. Dann ist die erweiterte Koeffizientenmatrix(

A,~b)

aquivalent zu einer Matrix der Form

(

B(r,r) C(r,n−r) ~c

O(m−r,r) O(m−r,n−r)~d

)

.

Dabei ist B(r,r) eine obere Dreiecksmatrix, d.h. alle Elemente bik von B unterhalb der Hauptdia-gonale, also mit i > k, sind Null, und alle Diagonalelemente von B sind ungleich Null, O(m−r,r) und

O(m−r,n−r) sind Nullmatrizen, ~c ist ein r-Spaltenvektor, ~d ein (m− r)-Spaltenvektor und es gilt r < m

und r < n.

Bemerkungen 2.2.2

(1) Das Gleichungssystem ist genau dann losbar, wenn ~d der Nullvektor ist.Das ist immer erfullt, wenn das Gleichungssystem homogen ist, und dann ist ~0 eine Losung.

(2) Ist ~d = ~0 und r = n, dann hat das Gleichungssystem genau eine Losung. Man kann sie aus demGleichungssystem B(r,r) · ~x = ~c sukzessive durch Auflosen der letzten Gleichung, der vorletztenGleichung usw. bestimmen.

(3) Ansonsten ist das Gleichungssystem(

B(r,r) C(r,n−r)

)

·~x = ~c mehrdeutig losbar. Dabei sind Wertefur die Variablen xr+1, . . . , xn frei wahlbar und die zugehorigen Werte von x1, . . . , xr lassen sichdamit sukzessive bestimmen.

(4) r heißt Rang von A.

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2. Lineare Algebra 65

Beispiele 2.2.3

(1) A · ~x = ~b mit A =

4 2 −2−3 1 01 −4 2−2 −3 2

und ~b =

−26−9−3

hat die eindeutige Losung ~x =

−132

.

(2) A · ~x = ~b mit A =

1 −3 52 −2 1−3 5 −6

und ~b =

26122

hat keine Losung.

(3) A ·~x = ~b mit A =

3 1 −224 10 −13−6 −4 1

und ~b =

325−7

hat die Losungen {~x =1

5 + 7t

3− 9t

6t

| t ∈ IR}.

2.3 Die inverse Matrix

Eine lineare Gleichung mit einer Unbekannten ax = b mit a 6= 0 lost man, indem man die Gleichungdurch a dividiert. Analog ware es fur ein lineares Gleichungssystem

A · ~x = ~b

mit Koeffizientenmatrix A und rechter Seite ~b wunschenswert, wenn man eine Matrix B finden wurdemit B ·A = E, denn dann ware ~x = B ·~b die Losung. (Man beachte die Reihenfolge bei der Multiplikationvon Matrizen!) Ist A eine (m,n)-Matrix, dann muß B eine (n,m)-Matrix sein. Wir beschranken unshier auf quadratische Matrizen, also auf den Fall m = n.

Definition 2.3.1 Sei A eine (quadratische) (n, n)-Matrix. Gilt fur die (n, n)-Matrix B

A ·B = B ·A = E,

dann heißt B die zu A inverse Matrix und wird mit A−1 bezeichnet.

Bemerkungen 2.3.2

(1) Ist B die zu A inverse Matrix, dann ist A zu B invers, d.h. es gilt(

A−1)−1

= A.

(2) Hat A eine Inverse, dann gilt fur alle λ 6= 0(

λA)−1

=1

λA−1.

(3) Die Multiplikation von (n, n)-Matrizen ist nicht nullteilerfrei, d.h. es gibt Matrizen A 6= O undB 6= O mit A ·B = O. Diese Nullteiler konnen kein Inverses besitzen.

(4) Zu jeder quadratischen Matrix gibt es hochstens eine inverse Matrix.

(5) Haben die (n, n)-Matrizen A und B jeweils eine Inverse, dann auch A · B und es gilt

(

A ·B)−1

= B−1 · A−1.

(6) Wie beim Rechnen mit Zahlen gibt es keine Regel, um(

A + B)−1

zu berechnen. Auch wenn A

und B jeweils eine Inverse haben, kann es sein, daß A+B keine Inverse hat.

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2. Lineare Algebra 66

Bezeichnen wir die k-te Spalte der Einheitsmatrix E mit ~ek, dann ist die k-te Spalte der inversen Matrixvon A (wenn sie existiert) die Losung des linearen Gleichungssystems A · ~x = ~ek.Man erhalt daher die Inverse B zu A, indem mit Hilfe des Gaußschen Eliminationsverfahrens die Matrix

(

A E)

in die Form(

E B)

bringt. Dann ist B die gesuchte Inverse. Ergeben sich bei dem Verfahren Zeilen, in denen die ersten n

Glieder Null sind, dann hat A keine Inverse.

Beispiele 2.3.3

1. A =

(

2 −41 8

)

hat die Inverse1

20

(

8 4−1 2

)

,

2. B =

(

5 −310 −6

)

hat keine Inverse,

3. C =

3 0 11 0 10 1 0

hat die Inverse −1

2

−1 1 00 0 −21 −3 0

,

4. D =

3 0 16 0 20 1 0

hat keine Inverse.

2.4 Determinanten

Die Inverse einer (2, 2)-Matrix A =

(

a11 a12a21 a22

)

existiert, wenn D := a11a22−a12a21 6= 0 ist. Man nennt

D Determinante von A und bezeichnet sie durch |A| =∣

a11 a12a21 a22

.

Analog ergibt sich die Existenz der Inversen einer (3, 3)-Matrix A =

a11 a12 a13a21 a22 a23a31 a32 a33

, wenn

D := a11(a22a33 − a23a32)− a12(a21a33 − a23a31) + a13(a21a32 − a22a31) 6= 0.

D nennt man wieder Determinante der Matrix A, also D = |A| =

a11 a12 a13a21 a22 a23a31 a32 a33

. Es gilt nun

a11 a12 a13a21 a22 a23a31 a32 a33

= a11 ·∣

a22 a23a32 a33

− a12 ·∣

a21 a23a31 a33

+ a13 ·∣

a21 a22a31 a32

,

d.h. die Determinante einer (3, 3)-Matrix kann man auf die Berechnung von Determinanten von (2, 2)-Determinanten zuruckfuhren. Dabei wird jeweils ein Matrix-Element a1k der ersten Reihe mit der De-terminante der (2, 2)-Matrix U1k multipliziert, die aus A entsteht, wenn man in A die erste Zeile unddie k-te Spalte streicht, und die Ergebnisse werden abwechselnd addiert und subtrahiert.

Beispiel 2.4.1

1 −2 34 0 21 5 6

= 94.

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2. Lineare Algebra 67

Definition 2.4.2 Sei n ≥ 2, A =(

aik)

eine (n, n)-Matrix und U1k die (n− 1, n− 1)-Matrix, die aus Adurch Streichen der 1. Zeile und k-ten Spalte entsteht. Dann heißt die reelle Zahl

D :=

n∑

k=1

(−1)1+ka1k · |U1k| Determinante von A.

Schreibweise: D = |A| = detA =

a11 a12 . . . a1na21 a22 . . . a2n...

...an1 an2 . . . ann

.

Die Determinante einer (3, 3)-Matrix A =(

aik)

kann man auch mit Hilfe der Regel von Sarrus be-rechnen:Man addiert alle Produkte von Elementen, die in der Hauptdiagonalen oder dazu parallelen Diagona-len stehen, und subtrahiert die Produkte der Elemente in der Nebendiagonalen bzw. dazu parallelenDiagonalen.

Beispiel 2.4.3

A =

3 1 0 4−4 2 1 62 1 0 34 0 2 −1

= 3 ·

2 1 61 0 30 2 −1

− 1 ·

−4 1 62 0 34 2 −1

+ 0 ·

−4 2 62 1 34 0 −1

− 4 ·

−4 2 12 1 04 0 2

= 3 · 1− 1 · 62− 4 · (−20) = 21.

Bemerkungen 2.4.4

(1) Determinanten sind nur fur quadratische Matrizen definiert. Wir fassen reelle Zahlen α als (1, 1)-Matrix auf und setzen det

(

α)

= α.

(2) Man darf die Bezeichnung der Determinante nicht mit dem Betrag-Zeichen verwechseln.

(3) Ist A =(

aik)

eine (n, n)-Matrix, Ujl die Matrix, die aus A durch Streichen der j-ten Zeile undl-ten Spalte entsteht, dann heißt Ajl := (−1)j+l|Ujl| Adjunkte von A zum Element ajl. Es gilt

dann |A| =n∑

j=1

a1jA1j .

(4) Verschiedene Matrizen konnen durchaus dieselbe Determinante haben.

In der Definition der Determinante spielt die 1. Zeile eine besondere Rolle. Man kann die Determinanteeiner Matrix aber auch durch Entwicklung nach einer anderen Zeile oder einer Spalte berechnen:

Satz 2.4.5 (Entwicklungssatz von Laplace) Fur die Determinante der (n, n)-Matrix A =(

aik)

und j mit 1 ≤ j ≤ n bzw. l mit 1 ≤ l ≤ n gilt

|A| =n∑

k=1

ajk (−1)j+k|Ujk| =n∑

k=1

ajkAjk,

|A| =n∑

i=1

ail (−1)i+l|Uil| =

n∑

i=1

ailAil.

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2. Lineare Algebra 68

Besonders einfach laßt sich die Determinante einer Dreiecksmatrix berechnen:

Satz 2.4.6 Ist A eine Dreiecksmatrix, dann gilt

|A| = a11a22 · . . . · ann =n∏

i=1

aii.

Fur eine (m,n)-Matrix A =(

aik)

heißt die (n,m)-Matrix

B :=(

bik)

mit bik := aki, 1 ≤ i ≤ n, 1 ≤ k ≤ m, transponierte Matrix zu A.

Bezeichnung: AT .

Ist A quadratisch, dann erhalt man AT durch Spiegelung der Matrixelemente von A an der Hauptdia-gonalen.

Beispiele 2.4.7

1. Fur A =

(

1 2 34 5 6

)

ist AT =

1 42 53 6

,

2. fur A =

1 2 3 45 6 7 89 10 11 1213 14 15 16

ist AT =

1 5 9 132 6 10 143 7 11 154 8 12 16

.

Bemerkung 2.4.8 Es gilt

(

AT)T

= A,(

A+B)T

= AT +BT ,(

A · B)T

= BT ·AT und∣

∣AT∣

∣ = |A|.

Der nachste Satz gibt an, wie sich elementare Zeilenumformungen einer Matrix auf die Determinanteauswirken:

Satz 2.4.9 Sei A eine (n, n)-Matrix, λ ∈ IR.

(a) Sei B die Matrix, die aus A durch Vertauschung zweier Zeilen entsteht. Dann gilt |B| = −|A|.

(b) Sei B die Matrix, die aus A durch entsteht, wenn man alle Elemente einer Zeile von A mit λ

multipliziert. Dann gilt |B| = λ · |A|.

(c) Sei B die Matrix, die aus A entsteht, wenn man zu den Elementen einer Zeile das λ-fache derentsprechenden Elemente einer anderen Zeile addiert. Dann gilt |B| = |A|.

Bemerkung 2.4.10 Vertauschungen zweier Spalten, Multiplikationen einer Spalte mit einer reellenZahl Λ und Additionen des Vielfachen einer Spalte zu einer anderen Spalte nennt man elementareSpaltenumformungen.Sie entsprechen den elementaren Zeilenumformungen der zugehorigen transponierten Matrix. Wegen∣

∣AT∣

∣ = |A| gilt Satz 2.4.9 auch fur elementare Spaltenumformungen.

Man kann nun eine Matrix durch elementare Zeilen- bzw. Spaltenumformungen in eine Dreiecksma-trix umformen und dann leicht die Determinante berechnen oder zumindest in einer Zeile oder Spaltemoglichst viele Nullen erzeugen und dann nach dieser Zeile bzw. Spalte entwickeln.

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2. Lineare Algebra 69

Beispiele 2.4.11

(1) |A| =

2 −6 4 04 −12 −1 21 7 2 10 10 3 9

= 2 ·

1 −3 2 00 0 −9 20 10 0 10 10 3 9

= 1560.

(2)

|A| =

1 −4 2 0 −3−2 6 −1 1 3−4 10 3 2 53 −10 1 −2 42 −3 1 0 −4

=

1 −4 2 0 −3−2 6 −1 1 30 −2 5 0 −1−1 2 −1 0 102 −3 1 0 −4

=

1 −4 2 −30 −2 5 −1−1 2 −1 102 −3 1 −4

=

1 −4 2 −30 −2 5 −10 −2 1 70 5 −3 2

=

−2 5 −1−2 1 75 −3 2

=

8 0 −36−2 1 7−1 0 23

=

8 −36−1 23

= 148.

(3) Sind die Elemente einer Matrix alle rational, dann kann man aus jeder Zeile den gemeinsamenHauptnenner herausziehen. Es bleibt dann die Berechnung der Determinante einer Matrix mitganzzahligen Elementen. Sind die Elemente einer Spalte oder Zeile ganzzahlig und haben gemein-same Teiler, dann kann man diese ebenfalls herausziehen.∣

34 2 −1

2 −5

1 −2 32 8

56 −4

343

143

25 −4

512

125

=1

4 · 2 · 6 · 10 ·

3 8 −2 −202 −4 3 165 −8 8 284 −8 5 24

=4 · 4

4 · 2 · 6 · 10

3 2 −2 −52 −1 3 45 −2 8 74 −2 5 6

= 1.

Damit ergibt sich als Folgerung

Satz 2.4.12 Sei A eine (n, n)-Matrix. Dann gilt:

(a) Sind zwei Zeilen oder zwei Spalten von A gleich, dann ist |A| = 0.

(b) Sind alle Elemente einer Zeile oder alle Elemente einer Spalte Null, dann ist |A| = 0.

(c) Ist eine Zeile von A die Summe von Vielfachen anderer Zeilen, oder eine Spalte von A die Summevon Vielfachen anderer Spalten, dann ist |A| = 0.

(d) Fur λ ∈ IR gilt |λA| = λn|A|.

Uber die Determinante einer Summe A+B kann man i.a. nichts sagen. Aber es gilt

Satz 2.4.13 Sind A und B (n, n)-Matrizen, dann ist |A · B| = |A| · |B|.

Zu einer festen (n, n)-Matrix A =(

aik)

ist zu jedem Element aik die Adjunkte Aik definiert. Die Matrix

B =(

Aik

)Theißt die zu A adjungierte Matrix. Bezeichnung: Aadj .

Beispiel 2.4.14 Die Adjungierte zu A =

3 −2 46 0 12 5 −3

ist Aadj =

−5 14 −220 −17 2130 −19 12

.

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2. Lineare Algebra 70

Satz 2.4.15 Sei A eine (n, n)-Matrix, Aadj die zugehorige Adjungierte. Dann gilt

Aadj · A = A · Aadj = |A| ·E.

Bemerkung 2.4.16 Das Produkt einer Matrix mit ihrer Adjungierten ist also eine Diagonalmatrix mitgleichen Diagonalelementen. Mit Hilfe des Satzes 2.4.15 erhalt man ein Kriterium fur die Existenz derInversen einer Matrix und eine Beziehung zwischen Adjungierten und Inversen (falls sie existiert):

Satz 2.4.17 Sei A eine (n, n)-Matrix.

(a) A hat genau dann eine Inverse, wenn |A| 6= 0.

(b) Hat A eine Inverse, dann gilt A−1 =1

|A| ·Aadj .

Wir betrachten nun lineare Gleichungssysteme mit quadratischer Koeffizientenmatrix, d.h. die Zahl derGleichungen und der Unbekannten ist gleich.

Satz 2.4.18 Sei A eine (n, n)-Matrix, die eine Inverse besitzt. Dann hat fur beliebiges ~b ∈ IRn daslineare Gleichungssystem A · ~x = ~b genau eine Losung, namlich ~x = A−1 ·~b.

Bemerkungen 2.4.19

(1) Ist die Koeffizientenmatrix A eines linearen Gleichungssystem quadratisch und hat Determinantegleich Null, dann hat das Gleichungssystem entweder keine oder unendlich viele Losungen.

(2) Ein homogenes quadratisches lineares Gleichungssystem A ·~x = ~0 mit |A| 6= 0 hat nur die”triviale

Losung“ ~x = ~0.Gilt |A| = 0, dann hat das System unendlich viele Losungen.

(3) Muß man verschiedene lineare Gleichungssysteme mit derselben Koeffizientenmatrix A, aber mitverschiedenen rechten Seiten, berechnen, und ist |A| 6= 0, dann ist die Berechnung der Losungenuber die Inverse von A sinnvoll.

Beispiele 2.4.20

(1) Fur welche a ∈ IR ist das lineare Gleichungssystem A · ~x = ~b mit A =

1 2 31 −1 a

2 1 3

eindeutig

losbar?

(2) Zu bestimmen sind die jeweiligen Losungen der linearen Gleichungssysteme A · ~x = ~b mit

A =

1 2 32 3 41 5 7

und ~b1 =

5−10

, ~b2 =

−2103

bzw. ~b3 =

−5011

.

Man kann die Losung eines linearen Gleichungssystems A·~x = ~bmit |A| 6= 0 auch direkt ohne Berechnungder Inversen A−1 berechnen:

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2. Lineare Algebra 71

Satz 2.4.21 (Cramersche Regel) Sei A · ~x = ~b ein lineares Gleichungssystem mit |A| 6= 0, und furjedes j mit 1 ≤ j ≤ n sei ∆j die Matrix, die entsteht, wenn man die j-te Spalte von A durch ~b ersetzt,d.h.

∆j =(

~a1, ~a2, . . . , ~aj−1,~b, ~aj+1, . . . , ~an)

.

Dann gilt fur die j-te Komponente xj der Losung ~x

xj =|∆j||A| .

Bemerkung 2.4.22 Fur lineare Gleichungssysteme mit vielen Gleichungen und Unbekannten ist dieLosung mit Hilfe des Gauß-Verfahrens okonomischer, da man bei Anwendung der Cramerschen Regeln+ 1 Determinanten zu bestimmen hat.

Beispiel 2.4.23 Fur das lineare Gleichungssystem A · ~x = ~b mit A =

2 1 −23 2 25 4 3

und ~b =

1014

ergibt sich

|A| = −7, |∆1| =

10 1 −21 2 24 4 3

= −7, |∆2| =

2 10 −23 1 25 4 3

= −14, |∆3| =

2 1 103 2 15 4 4

= 21,

d.h. die Losung x1 = 1, x2 = 2 und x3 = −3.

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72

3 Darstellende Geometrie

3.1 Aufgabenstellung, Projektionsarten

Die Aufgabe der Darstellenden Geometrie ist, raumliche Gebilde auf einem Zeichenblatt darzustellen.Dabei soll das Bild einerseits moglichst dem Eindruck entsprechen, den wir uber unsere Augen gewinnenwurden, andererseits sollen moglichst viele geometrische Eigenschaften wie Große, Form usw. erkennbarsein. Da man durch die zweidimensionale Darstellung dreidimensionaler Objekte Informationen verliert,gibt es keine Darstellungsart, die beide Ziele realisiert.

Als Hilfsmittel benutzt man i.a. Projektionen des (dreidimensionalen) Raumes auf die (zweidimensio-nale) Zeichenebene. Dabei werden Projektionsgeraden festgelegt, und jedem Punkt des abzubildendenObjekts wird der Schnittpunkt

”seiner“ Projektionsgeraden mit der Zeichenebene als Bildpunkt zuge-

ordnet.Wir werden fur spezielle Projektionsarten untersuchen, ob jeder Punkt des Raums einen Bildpunkthat, wie die Bilder von Geraden und Ebenen aussehen, ob parallele Geraden auch parallele Bildgeradenhaben und ob die Abmessungen des Objekts aus seinem Bild erkennbar bzw. reproduzierbar sind.

Bei der senkrechten Parallelprojektion wahlt man die Projektionsgeraden senkrecht zur Zeichene-bene. Es entsteht i.a. ein Bild, das die realen Großen des abgebildeten Objektes recht gut wiedergibt,andererseits wenig anschaulich ist.Bei der Zentralprojektion wahlt man einen festen Punkt, das Projektionszentrum, und als Projek-tionsgeraden die Geraden durch diesen Punkt. Man ahmt dadurch den naturlichen Sehvorgang (durchein Auge) nach und erhalt ein sehr anschauliches Bild, bei dem aber viele geometrische Eigenschaftendes Objektes nicht mehr direkt abzulesen sind. Das Bild unter der Zentralprojektion entspricht einerFotografie.Als Kompromiß wahlt man oft die schiefe Parallelprojektion mit parallelen Projektionsgeraden, dienicht senkrecht zur Zeichenebene sind. Das entsprechende Bild entspricht dem Schatten, den das Objektbei einem bestimmten Sonnenstand wirft.

3.2 Zweitafelprojektion

Man wahlt eine horizontale Ebene, dieGrundrißebene ΠG, und eine vertikale Ebene, dieAufrißebeneΠA. Dann projeziert man das abzubildende Objekt jeweils senkrecht auf diese beiden Ebenen. Klapptman anschließend die Aufrißebene um die Schnittgerade von ΠG und ΠA, die Rißachse x12, in dieGrundrißebene, dann liegen beide Bilder in einer gemeinsamen Bildebene.

Darstellung eines Punktes

Projeziert man einen Punkt P in Grund- und Aufrißebene, dann erhalt man als Bilder den GrundrißP ′ und den Aufriß P ′′. Betrachtet man ΠG als (x, y)-Ebene, ΠA als (y, z)-Ebene (d.h. x12 als y-Achse)und hat P die Koordinaten (x0, y0, z0), dann hat P ′ die Koordinaten (x0, y0, 0) und P ′′ die Koordinaten(0, y0, z0).Den Schnittpunkt der Ebene durch P , P ′ und P ′′ mit der Rißachse nennen wir P0.

Man sieht sofort, daß beim Umklappen der Aufrißebene die Strecke P0P ′′ in die Verlangerung von P ′P0

fallt, d.h. P ′, P0 und P ′′ liegen auf einer Senkrechten zur Rißachse.

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3. Darstellende Geometrie 73

��✠

z

y

x

ΠG

x12

ΠA

P

P ′

P ′′

P ′′

P0✲

z

x

x12 = y

P ′

P0

P ′′

Aus den Koordinaten der Bilder P ′ und P ′′ kann man P rekonstruieren. Dabei muß man berucksichtigen,daß die positive z-Achse mit der negativen x-Achse zusammenfallt.Liegt also z.B. P ′′ unterhalb der Rißachse, dann liegt P unter der Grundrißebene. Liegt Q′ oberhalbder Rißachse, dann liegt Q hinter der Aufrißebene. R liegt genau dann in der Grundrißebene, wennR′′ ∈ x12, und S genau dann in der Aufrißebene, wenn S′ ∈ x12.Fallen Grund- und Aufriß eines Punktes zusammen, dann liegt der Punkt in der

”Koinzidenzebene“, die

den 2. bzw. den 4. Quadranten halbiert (mit der Gleichung x = −z).

��✠

✻z

y = x12

x ΠG

ΠA

❜❜

P

P ′

P ′′P ′′

P0

Q

Q′

Q′′

Q′′

Q0

R = R′

R0 = R′′

S0 = S′

S = S′′

S′′

z

x

x12 = y

P ′

P0

P ′′

Q′

Q0

Q′′

R′

R′′

❜S′′

S′

Darstellung einer Geraden

Wir betrachten zuerst allgemein das Bild einer beliebigen Geraden g unter einer senkrechten Parallel-projektion. Verlauft g in Projektionsrichtung, dann erhalt man als Bild einen Punkt. Ansonsten bildendie Projektionsgeraden durch alle Punkte von g eine Ebene, die die Bildebene in einer Geraden g′, demBild von g, schneidet.

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3. Darstellende Geometrie 74

Fur spezielle Lagen der Geraden und ihren Grund- und Aufriß gilt:

� Ist g1 ist senkrecht zu ΠA, dann ist g′′1 ein Punkt und g′1 senkrecht zu x12.

� Bildet g2 mit den zugehorigen Projektionsgeraden eine Ebene senkrecht zu ΠG und ΠA, dann sindg′2 und g′′2 senkrecht zu x12. In diesem Fall kann man g2 nicht eindeutig aus dem Grund- undAufriß rekonstruieren.

� Ist g3 ist senkrecht zu ΠG, dann ist g′3 ein Punkt und g′′3 senkrecht zu x12.

��✠

z

x12 = y

x

ΠG

ΠA

g1

g′1

g2 g′′2

g′2

g3

g′′3

z

x

x12 = y

g′1

g′′1

g′2

g′′2 g′′3

g′3

� Ist g4 parallel zu Π1, also Hohenlinie, dann ist g′′4 parallel zu x12.

� Ist g5 parallel zu Π2, also Frontlinie, dann ist g′5 parallel zu x12.

z

x

x12 = y

g′′4

g′4

DA

z

x

x12 = y

g′′5

g′5DG

Fallen g′ und g′′ punktweise zusammen, dann mussen alle Punkte von g und damit g in der Koinziden-zebene liegen.Schneiden sich g′ und g′′, dann liegt der Schnittpunkt H ebenfalls in der Koinzidenzebene.Die Durchstoßpunkte der Geraden mit Grund- und Aufrißebene nennt man die Spurpunkte DG undDA. Wegen DG ∈ ΠG ist D′′

G ∈ x12, also ist D′′G der Schnittpunkt von g′′ mit der Rißachse, undD′

G = DG

der Schnittpunkt der Senkrechten zu x12 durch D′′G mit g′.

Analog erhalt man D′A als Schnittpunkt von g′ mit der Rißachse und D′′

A = DA als Schnittpunkt derSenkrechten zu x12 durch D′

A mit g′′.

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3. Darstellende Geometrie 75

Darstellung einer Ebene

Eine im Raum liegende Ebene kann nicht durch ihre Projektionen auf die Grund- bzw. Aufrißebenedargestellt werden, denn das Bild ist i.a. jeweils die ganze Bildebene. Man stellt daher eine Ebenedurch ihre Schnittgerade mit der Grundrißebene, der Grundrißspur eG, und mit der Aufrißebene, derAufrißspur eA, dar. Der Schnittpunkt von Grund- und Aufrißspur liegt sowohl in ΠG als auch in ΠA,also auf x12, d.h. Grund- und Aufrißspur einer Ebene schneiden sich immer auf der Rißachse.

Wir betrachten wieder spezielle Lagen der Ebene:

� Steht die Ebene E1 senkrecht auf ΠG, dann ist eA senkrecht zu x12.

� Steht die Ebene E2 senkrecht auf ΠA, dann ist eG senkrecht zu x12.

� Eine Hohenebene E3 parallel zu ΠG hat keine Grundrißspur, und eA ist parallel zu x12.

� Eine Frontebene E4 parallel zu ΠA hat keine Aufrißspur, und eG ist parallel zu x12.

� Bei jeder Ebene durch die Rißachse fallen beide Spuren mit der Rißachse zusammen. Man gibtdann einen zusatzlichen Punkt der Ebene (mit Grund- und Aufriß) an.

z

x

x12 = y

eA

eG

E1

eG

eA

E2

z

x

x12 = y

eAE3

z

x

x12 = y

eGE4

Beispiel 3.2.1 Gegeben seien Grund- und Aufriß der Punkte A, B und C. Man bestimme die Spurge-raden der Ebene durch A, B und C.Zuerst werden die Spurpunkte D1G und D1A der Geraden durch A und B bestimmt, danach die Spur-punkte D2G und D2A der Geraden durch A und C. Dann ist eG die Verbindungsgerade von D1G undD2G und eA ist die Verbindungsgerade von D1A und D2A.

✲x12

r

r

r

r

r

r

A′

C′

B′

A′′

C′′B′′

✲x12

A′

C′

B′

A′′

C′′B′′

r

r

r

r

D′′

1G

D1G

D′

1A

D1A

✲x12

A′

C′

B′

A′′

C′′B′′

D′′

1G

D1G

D′

1A

D1A

r

r

r

r

D′′

2G

D2G

D′

2A

D2A

✲x12

A′

C′

B′

A′′

C′′B′′

r

r

D′′

1G

D1G

D′

1A

D1A

r

r

D′′

2G

D2G

D′

2A

D2A

eG

eA

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3. Darstellende Geometrie 76

Lage zweier Geraden

Zwei Geraden im Raum sind entweder parallel, oder sie schneiden sich in einem Punkt, oder sie sindwindschief. Wie kann man nun aus ihrem Grund- und Aufriß erkennen, welche Lage zutrifft?

� Bei einer Parallelprojektion werden parallele Geraden auf parallele Geraden abgebildet. Damitmussen die Grundrisse und die Aufrisse zweier paralleler Geraden jeweils wieder parallel sein.Sind umgekehrt die Grundrisse g′ und h′ zweier Geraden g und h parallel, dann auch die zu-gehorigen Projektionsebenen. Dasselbe gilt fur die Projektionsebenen durch die parallelen Aufris-se. g ist Schnitt der Projektionsebene durch g′ und g′′, h entsprechend, und zwei Paare parallelerEbenen schneiden sich in parallelen Geraden, d.h. g und h mussen parallel sein.

� Schneiden sich g und h im Punkt S, dann ist die Verbindungsstrecke von S′ und S′′ senkrechtzur Rißachse. Ist umgekehrt die Verbindung der Schnittpunkte von g′ und h′ bzw. von g′′ und h′′

senkrecht zu x12, dann schneiden sich g und h.

� Im Fall windschiefer Geraden konnen sich die Grundrisse und die Aufrisse jeweils schneiden. Einsolcher scheinbarer Schnittpunkt heißt Kreuzungspunkt. Anhand der anderen Risse der Kreu-zungspunkte kann man erkennen, ob dort g vor h bzw. g uber h verlauft. In der Zeichnung verlaufth beim Kreuzungspunkt K1 (= K ′

1g = K ′1h) uber g und beim Kreuzungspunkt K2 (= K ′′

2g = K ′′2h)

vor g.

� Fallen Grundriß oder Aufriß zweier Geraden zusammen, dann liegen sie in einer zu der entspre-chenden Projektionsebene senkrechten Ebene. Man nennt sie Deckgeraden.

z

x

x12 = y

g′′

h′

E1

g′

h′′

E2

z

x

x12 = y

S′

S′′

g′′

h′′

g′

h′

z

x

x12 = y

K2

K ′

2h

K ′

2g

K1

K ′′

1h

K ′′

1g

g′′

h′′

g′

h′

Beispiel 3.2.2 Gegeben seien Grund- und Aufriß der Punkte A, B und C sowie der Grundriß von D.Man bestimme den Aufriß von D so, daß die Punkte A, B, C und D ein ebenes Viereck bilden.In dem gesuchten ebenen Viereck liegen die Diagonalen ebenfalls in der Ebene, d.h. sie schneiden sichin einem Punkt S. Der Aufriß S′′ liegt auf einer Orthogonalen zu x12 durch S′ und auf der Geradendurch A′′ und C ′′. Damit erhalt man D′′ als Schnittpunkt der Orthogonalen zu x12 durch D′ mit derGeraden durch B′′ und S′′.

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3. Darstellende Geometrie 77

✲x12

r

r

r

r

r

r

r

A′

C′

B′

D′

A′′

C′′B′′

✲x12

A′

C′

B′

D′

A′′

C′′B′′

r

r

S′

S′′

✲x12

A′

C′

B′

D′

A′′

C′′

B′′

S′

S′′rD′′

✲x12

A′

C′

B′

D′

A′′

C′′

B′′

S′

S′′❜D′′

Lage Punkt und Ebene

Die Ebene E sei durch ihre Spurgeraden eG und eA gegeben. Weiter sei P ein Punkt mit Grundriß P ′

und Aufriß P ′′. Wie kann man feststellen, ob P oberhalb, unterhalb oder auf der Ebene liegt?

Wir betrachten die Hohenlinie h von E, deren Grundriß h′ durch P ′ geht. P liegt oberhalb der Ebene,wenn P ′′ uber h′′ liegt.Da h′ parallel zu eG und h′′ parallel zu x12 ist und der Spurpunkt von h auf eA liegt, kann man h′ undh′′ leicht konstruieren. In folgender Skizze liegt P1 oberhalb, P2 auf und P3 unterhalb der Ebene.

z

x

x12 = y

eA

eG

P ′

1

h′

h′′

P ′′

1

z

x

x12 = y

eA

eG

P ′

2

h′

h′′P ′′

2

z

x

x12 = y

eA

eG

P ′

3

h′

h′′

P ′′

3

Analog kann man mit Hilfe der entsprechenden Frontlinie untersuchen, ob P vor, auf oder hinter derEbene liegt.

z

x

x12 = y

eA

eG

P ′

1

f ′

f ′′

P ′′

1

z

x

x12 = y

eA

eG

P ′

2

f ′

f ′′

P ′′

2

z

x

x12 = y

eA

eG

P ′

3f ′

f ′′

P ′′

3

Beispiel 3.2.3 In eine durch ihre Spuren eG und eA gegebene Ebene soll ein Punkt P gelegt werden,der 2 cm uber ΠG und 2,4 cm vor ΠA liegt.Zuerst zeichnen wir die Frontlinie f der Ebene im Abstand 2, 4 cm zur Aufrißebene ein: f ′ ist parallelzu x12, der Spurpunkt DG liegt auf eG (und f ′) und f ′′ ist parallel zu eA.Entsprechend gilt fur die Hohenlinie h im Abstand 2 cm zur Grundrißebene: h′′ ist parallel zu x12 und

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3. Darstellende Geometrie 78

h′ zu eG.Dann ist P ′ der Schnittpunkt von f ′ und h′ und P ′′ der Schnittpunkt von f ′′ und h′′.

✲x12

eA

eG

❄2, 4 cm

2 cm

✲x12

eA

eG

❄2, 4 cm

2 cm

r

r

f ′

f ′′

DG

D′′

G ✲x12

eA

eG

❄2, 4 cm

2 cm

r

r

f ′

f ′′

DG

D′′

G

r

r

h′′

h′

DA

D′

A

r

r

P ′

P ′′

Schnitt zweier Ebenen

Zwei Ebenen sind parallel oder sie schneiden sich in einer Geraden. Bei parallelen Ebenen sind diejeweiligen Grund- und Aufrißspuren parallel.Schneiden sich die Ebenen, dann liegt sowohl der Schnittpunkt D1 der Grundrißspuren als auch derSchnittpunkt D2 der Aufrißspuren in beiden Ebenen, also auch auf der Schnittgerade s (die beidenPunkte sind die Spurpunkte der Schnittgeraden).

✲x12

e1A

e1G

e2A

e2G

✲❜

x12

e1A

e1G

e2A

e2G

D′′

1

D1

D′

2

D2

s′

s′′

Liegt einer der Schnittpunkte oder beide nicht in der Zeichenebene, dann kann man die Schnittgerademit Hilfe zweier Hilfs-Hohenebenen bestimmen:Die Aufrißspuren e1A und e2A schneiden sich nicht in der Zeichenebene:Eine (zur Grundrißebene parallele) Hohenebene schneidet die beiden Ebenen in zwei Geraden h1 undh2, deren Aufrisse h′′1 und h′′2 aufeinanderfallen und deren Grundrisse h′1 und h′2 jeweils parallel zuder jeweiligen Grundrißspur e1G bzw. e2G sind. Der Schnitt S′ dieser Grundrisse liegt wieder auf demGrundriß s′ der Schnittgeraden s.

Weder die Grundrißspuren noch die Aufrißspuren schneiden sich in der Zeichenebene:Mit Hilfe von zwei geeignet gewahlten Hohenebenen erhalt man zwei Punkte S1 bzw. S2 der Schnittge-raden in Grund- und Aufriß und damit die Schnittgerade.

✲❜

x12

e1A

e1G

e2A

e2G

D′′

1

D1

S′

1

S′′

1

s′′

s′

h′′

1 = h′′

2

h′

1 h′

2

x12

e1A

e1G

e2A

e2G

S′′

1

S′

1

S′

2

S′′

2

s′

s′′

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3. Darstellende Geometrie 79

Beispiele 3.2.4

1. Gegeben sei eine Ebene E1 durch ihre Spurgeraden und ein Punkt P durch Grund- und Aufriß.Zu konstruieren ist die zu E1 parallele Ebene E2 durch P .Die Spuren e2A und e2G der gesuchten Ebene sind zu den Spuren von E1 parallel. Damit erhaltman die Hohenlinie h in E2 durch P (h′′ parallel zu x12 durch P ′′, h′ parallel zu e2G und damitzu e1G durch P ′). Der Spurpunkt L von h liegt in E2 und in ΠA, also auf der Spurgeraden e2A,d.h. e2A ist die Parallele zu e1A durch L.Der Schnittpunkt S von e2A mit x12 liegt auf e2G, d.h. e2G ist die Parallele zu e1G durch S.

✲x12

e1A

e1G

P ′′

P ′

✲x12

e1A

e1G

P ′′

P ′

r

r

h′′

h′

L′

L

✲x12

e1A

e1G

P ′′

P ′

h′′

h′

L′

L

r

e2A

e2G

S

2. Gegeben sei eine dreiseitige Pyramide mit dem Dreieck ABC als Basis und der Spitze S durchGrund- und Aufriß ihrer 4 Ecken. Zu konstruieren ist die zur Basisebene parallele Ebene durch S.Wie man aus dem Grundriß erkennt, sind die Ecke C und die zugehorigen Kanten im Aufriß nichtsichtbar. Die Kanten werden daher gestrichelt gezeichnet.Zuerst bestimmen wir die Spur e1A der Basisebene mit Hilfe der Durchstoßpunkte D1A von AC

und D2A von BC und die Spur e1G mit Hilfe des Durchstoßpunktes D1G von AC und des Schnitt-punktes D von e1A mit x12.Dann werden wie im vorigen Beispiel die Spuren e2G und e2A der Parallelebene durch S bestimmt.

✲x12

r

r

r

r

r

r

r

r

A′

A′′

B′

B′′

S′

S′′

C′

C′′

✲x12

A′

A′′

B′

B′′

S′

S′′

C′

C′′

r

r

r

r r

r

r

e1A

e1G

D

D′′

1G

D1G

D′

2A D′

1A

D2A

D1A

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3. Darstellende Geometrie 80

✲x12

A′

A′′

B′

B′′

S′

S′′

C′

C′′

e1A

e1G

Dr

r h′′

h′

L′

L

r

e2A

e2G

3. Die Ebenen E1 und E2 seien durch jeweils 3 Punkte A, B, C und U , V ,W in Grund- und Aufrißgegeben. Zu konstruieren ist die Schnittgerade von E1 und E2.Man konnte wie in den vorigen Beispielen die Spuren der beiden Ebenen konstruieren, aus denenman die Schnittgerade erhalt.Schneller geht es durch Betrachtung zweier Hohenlinien h1 und h2 der beiden Ebenen in gleicherHohe.Z.B. die Hohenlinie h1 der ABC-Ebene durch A schneidet BC in einem Punkt X1, die Hohenlinieh2 der UVW -Ebene schneidet UV in einem Punkt X2 und V W in einem Punkt X3. h

′1 ist die

Gerade durch A′ und X ′1, h

′2 die Gerade durch X ′

2 und X ′3, und der Schnittpunkt T1 von h1 und

h2 ist ein Punkt der gesuchten Schnittgerade s.Entsprechend gewinnt man mit Hilfe eines zweiten Paares von Hohenlinien einen weiteren PunktT2 von s und damit s.

✲x12

r

r

r

r

r

r

A′

B′

C′

A′′

B′′

C′′

r

r

r

r

r

r

U ′

W ′

V ′

U ′′

W ′′

V ′′

✲x12

A′

B′

C′

A′′

B′′

C′′

U ′

W ′

V ′

U ′′

W ′′

V ′′

h′′

1 = h′′

2

r r r

r

r

r

r

r

X′

1

X′

2

X′

3

X′′

1 X′′

2 X′′

3

T ′

1

T ′′

1

h′

1

h′

2

✲x12

A′

B′

C′

A′′

B′′

C′′

U ′

W ′

V ′

U ′′

W ′′

V ′′

T ′

1

T ′′

1

h′′

3 = h′′

4

r r r

r

r r

r

r

Y ′

1Y ′

2 Y ′

3

Y ′′

1 Y ′′

2 Y ′′

3

T ′

2

T ′′

2

h′

3h′

4

✲x12

A′

B′

C′

A′′

B′′

C′′

U ′

W ′

V ′

U ′′

W ′′

V ′′

T ′

1

T ′′

1

T ′

2

T ′′

2

s′

s′′

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3. Darstellende Geometrie 81

Lage von Gerade und Ebene

Eine Gerade g liegt in einer Ebene E oder sie ist parallel zu E oder sie schneidet E in einem Punkt,dem Durchstoßpunkt oder Spurpunkt D von g in E. Liegt g in E, dann mussen die Spurpunktevon g in den entsprechenden Spurgeraden von E liegen, d.h. DG ∈ eG und DA ∈ eA.

Zur Konstruktion der Ebene, die von zwei sich in S schneidenden Geraden r und s aufgespannt wird,erhalt man die Spurgerade eG als Verbindungsgerade der Geraden-Spurpunkte RG und SG und eA alsVerbindungsgerade von RA und SA.Probe fur die Zeichengenauigkeit: eG und eA mussen sich auf x12 schneiden.

✲x12

RA

R′

A

RG

R′′

G

r′′

r′

S′′

G

SG

S′

A

SA

s′′

s′

S′

S′′

✲x12

RA

R′

A

RG

R′′

G

r′′

r′

S′′

G

SG

S′

A

SA

s′′

s′

S′

S′′

eG

eA

Zur Konstruktion der Ebene, die von einer Geraden g und einem Punkt P außerhalb der Geradenaufgespannt wird, betrachtet man eine Hohenlinie h der gesuchten Ebene durch P . h′′ ist die Parallelezu x12 durch P ′′. h und g liegen in derselben Ebene, schneiden sich also in einem Punkt S. S′′ ist derSchnittpunkt von g′′ und h′′, und S′ liegt auf g′. Damit erhalt man h′ als Verbindungsgerade von S′ undP ′.eG muß parallel zu h′ sein und geht durch den Durchstoßpunkt DG von g. eA ist die Verbindungsgeradedes Durchstoßpunktes DA von g, dem Schnittpunkt von eG mit x12 und dem Durchstoßpunkt H derHohenlinie, d.h. es ergibt sich wieder eine Probe fur die Zeichengenauigkeit.

✲x12

r

r

P ′

P ′′

r

r

r

r

g′′

g′

D′′

G

DG

D′

A

DA

✲x12

P ′

P ′′

g′′

g′

D′′

G

DG

D′

A

DA

r

r

r

r h′′

h′

H′

H

S′

S′′

✲x12

P ′

P ′′

g′′

g′

D′′

G

DG

D′

A

DA

❜ h′′

h′

H′

H

S′

S′′

r

eG

eA

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3. Darstellende Geometrie 82

Ist eine Gerade g parallel zu der Ebene E1 (mit Spurgeraden e1G und e1A), dann gibt es eine EbeneE2 mit g ⊂ E2. Die Spurpunkte DG und DA von g liegen dann auf den zu den Spurgeraden von E1

parallelen Spurgeraden e2G und e2A von E2, die sich wieder in x12 schneiden.

✲x12

r

r

r

r

g′′

g′

D′′

G

DG

D′

A

DA

e1G

e1A

✲x12

g′′

g′

D′′

G

DG

D′

A

DA

e1G

e1A

r

e2G

e2A

Um den Durchstoßpunkt D einer Geraden g durch eine Ebene E zu bestimmen, (wobei g durch Grund-und Aufriß und E durch die Spurgeraden eG und eA gegeben sind,) betrachtet man eine Hilfsebene E1

durch g senkrecht zur Grundrißebene mit Spurgeraden e1G und e1A). E1 schneidet die Grundrißebenein g′, d.h. es gilt g′ = e1G, und e1A ist senkrecht zu x12.Da g in der Hilfsebene liegt, liegt der gesuchte Punkt D auf der Schnittgeraden s von E und E1, derenGrund- und Aufriß uber die Schnittpunkte S1 von eG und e1G bzw. S2 von eA und e1A bestimmt werden.Dann ist D′′ der Schnittpunkt von g′′ und s′′ und D′ der entsprechende Punkt auf g′.Naturlich kann D auch uber eine Hilfsebene senkrecht zur Aufrißebene konstruiert werden.

✲x12

r

r

g′

g′′

D′

A

DA

eG

eA

✲x12

r

r

g′ = e1G = s′

g′′

D′

A= S′

2

eG

eA

r

r S1

S′′

1

S2

e1A

r

r

s′′

D′′

D′

Bestimmung wahrer Großen und Gestalten

Eine Strecke AB wird im Grund- bzw. Aufriß i.a. verkurzt dargestellt. Sie erscheint genau dann imGrundriß in wahrer Lange, wenn sie parallel zur Grundrißebene ist. Zur Bestimmung der wahren Langewahlt man meist eine der beiden folgenden Methoden:

1. Die Strecke bildet zusammen mit ihrem Grundriß A′B′ ein Trapez (das zu zwei Dreiecken entartenkann, wenn A und B auf verschiedenen Seiten der Grundrißebene liegen). Die Seiten AA′ und BB′

sind zu A′B′ senkrecht, und ihre Langen kann man dem Aufriß entnehmen. Klappt man also dasTrapez um A′B′ in die Grundrißebene, dann erhalt man ein Trapez A0B0B

′A′, und A0B0 hat dieLange von AB.

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3. Darstellende Geometrie 83

2. Dreht man AB um A so, daß sich B auf einem Kreis parallel zur Grundrißebene bewegt, dannbewegt sich B′ in der Grundrißebene auf einem Kreis um A′ mit Radius A′B′ und B′′ auf einerParallelen durch B′′ zu x12. Liegt die gedrehte Strecke A′B′ frontal, d.h. parallel zur Aufrißebene,dann hat A′′B′′ dieselbe Lange wie AB.

✲x12

A′′

A′

B′

B′′

a

b

A0

B0

a

b

✲x12

A′′

A′

B′

B′′

a

b

❜♣

A0

B0

ab

✲x12

A′′

A′

B′

B′′

B′

B′′

Um die wahre Große eines Winkels zu bestimmen, klappt man die Ebene, in der der Winkel liegt, ineine Ebene parallel zur Grundrißebene (oder Aufrißebene). Als Drehachse wahlt man eine Hohenlinie(bzw. Frontlinie).Beim Klappen bewegt sich ein Punkt P auf einem Kreis senkrecht zur Achse, P ′ auf einer Senkrechtenzur Achse durch P ′, und den Kreisradius erhalt man durch Umklappen des entsprechenden Projekti-onsdreiecks.Entsprechend verfahrt man bei der Bestimmung der wahren Gestalt einer ebenen Figur.

In der folgenden Zeichnung wird der Schnittwinkel der beiden in Grund- und Aufriß gegebenen Geradeng1 und g2 mit Schnittpunkt S bestimmt:

✲x12

D′

1G

D1G

g′′1

g′1

g′′2

g′2

D′

2G

D2G

S′′

S′

a

P ′

P ′′ ✲x12

D′

1G

D1G

D′

2G

D2G

g′′1

g′1

g′′2

g′2

S′′

S′

a

P ′

P ′′

S0

S0a

Dazu bestimmt man die beiden SpurpunkteD1G und D2G in der Grundrißebene und klappt das DreieckD1GD2GS um die waagrechte Strecke D1GD2G in die Grundrißebene um. Dabei bildet sich der Kreisbo-gen, auf dem S lauft, als Lot auf D1GD2G durch S′ ab. Sei P ′ der Schnittpunkt des Lotes mit D1GD2G.Umklappen des Dreiecks SS′P ′ mit Grundseite S′P ′ und Hohe SS′, (deren Lange a sich aus dem AufrißS′′ ergibt,) um die waagrechte Strecke S′P ′ ergibt den Radius P ′S0.Die Spitze S0 des umgeklappten Dreiecks D1GD2GS liegt dann auf dem Lot im Abstand P ′S0 von P ′,

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3. Darstellende Geometrie 84

und das Dreieck D1GS0D2G bildet das Dreieck in wahrer Große ab, d.h. der Winkel bei S0 ist derSchnittwinkel von g1 und g2.

3.3 Eintafelprojektion (Kotierte Projektion)

Bei der Eintafelprojektion beschrankt man sich auf den Grundriß eines Korpers. Sie entsteht also durchsenkrechte Parallelprojektion auf eine waagrechte Ebene, die gleichzeitig Bildebene ist. Um jedem Bild-punkt seinen Urbildpunkt eindeutig zuordnen zu konnen, fugt man seinem Bild den Abstand des Urbildsvon der Bildebene hinzu (in einer Zahl, die sich auf eine festgelegte Langeneinheit bezieht, wie z.B.300 m).

Darstellung von Punkten, Geraden, Ebenen

Da der Zweitafelprojektion und der Eintafelprojektion die gleiche Parallelprojektion zugrunde liegt, sindviele Abbildungseigenschaften und Konstruktionen gleich. Insbesondere kann man aus dem Bild einerEintafelprojektion den zugehorigen Aufriß konstruieren.

Dem Bild P ′ eines Punktes P wird der orientierte Abstand von der Bildebene zugefugt. Liegt P uberder Bildebene, dann ist der Abstand positiv, liegt P unter der Bildebene, ist der Abstand negativ.

Eine Gerade in Projektionsrichtung (also senkrecht zur Bildebene) wird auf einen Punkt abgebildet.Das Bild g′ einer anderen Gerade g ist eine Gerade.

Der Durchstoßpunkt durch die Bildebene heißt wieder Spurpunkt und ist Schnittpunkt von g und g′.Naturlich haben die zur Bildebene parallelen Geraden keinen Spurpunkt.

Um die Darstellung anschaulich zu machen, zeichnet man oft den Teil der Geraden unter der Bildebenegestrichelt.

Kennt man zwei Punkte der Geraden, dann kann man den Spurpunkt, die Lange der zugehorigen Streckeund den Neigungswinkel α der Geraden durch Umklappen des entsprechenden Stutzdreiecks in dieBildebene bestimmen.

Ist die Gerade parallel zur Bildebene, dann bilden sich Strecken auf ihr in wahrer Große ab.

DG(0)

g′

P ′

1(5)

P ′

2(15)

DG(0)

g′

P ′

1(5)

P ′

2(15)

P1P2

α

Da das Bild einer Ebene (mit Ausnahme der parallel zur Projektionsrichtung liegenden) die ganzeBildebene ist, beschrankt man sich auf die Projektion von wenigen Großen, die in der Ebene liegen unddie die Ebene eindeutig bestimmen, z.B. drei (nicht auf einer gemeinsamen Geraden liegende) Punkte,zwei sich schneidende oder parallele Geraden der Ebene. Meist wahlt man letzteres und bevorzugt dabeiGeraden der Ebene, die parallel zur Bildebene laufen, also Hohenlinien der Ebene. Aus Grunden derAnschaulichkeit verwendet man mehrere Hohenlinien, die untereinander den gleichen Hohenabstandbesitzen. Die Hohenlinie in Hohe 0 ist naturlich wieder die Spurgerade e der Ebene.

Weitere wichtige Geraden sind die Geraden in der Ebene, die senkrecht zu den Hohenlinien laufen, dieFallinien. Ihr Spurpunkt liegt auf der Spurgeraden der Ebene und sie sind die Geraden der Ebene mit

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3. Darstellende Geometrie 85

großtem Neigungswinkel und damit gleich dem Neigungswinkel oder Boschungswinkel der Ebene.Entsprechend nennt man das Stutzdreieck einer Fallinie Stutzdreieck der Ebene.

In folgender Skizze ist eine Ebene durch ihre Spur e und die Hohenlinien h′1, . . . , h′4 mit relativem

Hohenabstand 1 und eine Fallinie festgelegt. Die Fallinie wird oft als Doppelgerade dargestellt, die mitHohenangaben versehen ist. Durch einen Pfeil an der Fallinie wird der Anstieg der Ebene angegeben.

0

1

2

3

4

e

h′

1

h′

2

h′

3

h′

4

Beispiele 3.3.1

1. Eine Gerade g sei durch die Projektionen zweier Punkte A(10) und B(25) gegeben. Gesucht istdie Projektion des Punktes P , der auf g liegt und die Hohe d = 15 besitzt.

1. Losung: Man klappt das Stutzdreieck mit A und B um A′B′ in die Bildebene (und erhalt damitauch den Spurpunkt DG). Die Parallele zu g′ im Abstand d schneidet AB im Punkt P . Mit demLot von P auf g erhalt man P ′.

A′(10)

g′

B′(25)

A′(10)

B′(25)

g′

AB

DG(0)

d

A′(10)

B′(25)

g′

AB

DG(0)

d

❜P ′(15)

P

2.Losung: Schneller geht es mit Hilfe des Strahlensatzes. Diese Methode benutzt man auch dazu,zwischen zwei gegebenen Punkten A und B einer Geraden g alle Punkte mit ganzzahligen Hohenzu bestimmen. Man nennt dies die Graduierung der Geraden.

Im folgenden Beispiel werden die Punkte von g zwischen A(10) und B(25) mit Hohe 12, 16, 20und 24 bestimmt.Dazu tragt man an A′ im spitzen Winkel einen beliebigen Strahl s an und bestimmt auf s diePunkte P1, P2, P3, P4 und B mit Abstand 2, 6, 10, 14 und 15 von A′. Weiter verbindet man B′

mit B.Die Parallelen zu dieser Strecke B′B durch die Zwischenpunkte ergeben die gesuchten Punkte.

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3. Darstellende Geometrie 86

A′(10)

g′

B′(25)

A′(10)

B′(25)

g′

❜ ❜ ❜ ❜ ❜

P1 P2 P3 P4B

A′(10)

B′(25)

g′

❜ ❜ ❜ ❜ ❜

P1 P2 P3 P4B

P ′

1(12)

P ′

2(16)

P ′

3(20)

P ′

4(24)

2. Die Ebene E sei durch die Projektionen und Hohen der drei Punkte A(10), B(15) und C(25)gegeben. Gesucht ist eine Hohenlinie h der Ebene in Hohe d = 20.

Wie vorher bestimmt man auf zwei der Dreiecksseiten Punkte in Hohe d, z.B. D1’ auf A′C ′ und

D′2 auf B′C ′.

Dann ist h′ die Verbindungsgerade von D′1 und D′

2.

A′(10)

B′(15)

C′(25)

A′(10)

B′(15)

C′(25)❜ ❜

20

20

25 25

D′

1 D′

2

h′

3. Von einem ebenen Viereck ABCD sind die Projektionen aller Ecken und die Hohen von A, B undC bekannt. Gesucht ist die Hohe von D.

Durch Umklappen der Gerade BC um die Projektion in Hohe 10 erhalt man den Punkt H ′ aufdieser Geraden in Hohe 10. A′ hat ebenfalls Hohe 10, d.h. die Gerade h′ durch A′ und H ′

1 ist dieHohenlinie der Vierecks-Ebene in Hohe 10.Die Gerade durch C und D liegt auch in dieser Ebene, d.h. ihr Punkt in Hohe 10 liegt auf h′, istalso der Schnittpunkt H ′

2 von C ′D′ und h′.Durch Umklappen des Stutzdreiecks der Strecke H2C, die auch D enthalt, erhalt man die Hohe d

von D uber h′.

A′(10)

B′(15)

D′

C′(25)

A′(10)B′(15)

D′

C′(25)

15

5

15

d

H′

1(10)

H′

2(10)

h′

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3. Darstellende Geometrie 87

Lagebeziehungen von Punkten, Geraden, Ebenen

Schnitt zweier Geraden:

Sind zwei Geraden g1 und g2 parallel, dann auch ihre Projektionen. Sind andererseits die Projektionenparallel, dann konnen die Geraden auch windschief sein.

Schneiden sich die beiden Geraden in einem Punkt, dann auch ihre Projektionen. Schneiden sich ande-rerseits die Projektionen in einem Punkt P ′, dann konnen die Geraden auch windschief sein.

Genau dann, wenn die Geraden nicht windschief sind, also parallel sind oder sich schneiden, liegen sie ineiner gemeinsamen Ebene und die Verbindungsgeraden von Punkten gleicher Hohe auf g′1 bzw. g′2 sindHohenlinien der Ebene und damit parallel.

A′(10)

B′(15)

D′(15)

C′(10)

g′1 g′2

parallel

A′(10)

B′(15)

C′(10)

D′(15)

g′1 g′2

windschief

❜❜

A′(10)

D′(15) B′(15)

C′(10)

g′1g′2

P ′

schneidend

A′(10)

D′(15)B′(15)

C′(10)

g′1g′2

P ′

windschief

Man erhalt durch Umklappen der Stutzdreiecke von g1 und g2 die Hohen der Geraden uber P ′ und darausergibt sich, ob sich die Geraden schneiden bzw. bei windschiefen Geraden der Abstand der Punkte, dieauf P ′ abgebildet werden.

Schnitt zweier Ebenen:

Zwei nicht parallele Ebenen schneidensich in einer Geraden. Auf dieser Schnitt-geraden liegen alle Schnittpunkte derHohenlinien, die dieselbe Hohe haben.Damit erhalt i.a. die Projektion s′ derSchnittgeraden als Verbindungsgerade sol-cher Schnittpunkte.

1

2

3

4✕

1

2

3

4

s′

Sind die Hohenlinien beider Ebenen E1 und E2

parallel (was nicht bedeutet, daß die Ebenenparallel sind), dann wahlt man eine HilfsebeneE mit Hohenlinien annahernd senkrecht zu denHohenlinien von E1. E schneidet die Ebene E1

in der Geraden s1 und die Ebene E2 in der Ge-raden s2. Der Schnittpunkt S von s1 und s2 istder gemeinsame Schnittpunkt der Ebenen E1,E2 und E, liegt also auf der gesuchten Schnittge-raden s. Weiter ist s parallel zu den Hohenlinienvon E1 (und E2), d.h. s

′ ergibt sich als Parallelezu den Hohenlinien von E1 durch S′.

✲5 6 7

E1

✛ 567E2

5

6

7

E

s′1s′2❜

s′

S′

Haben beide Ebenen den gleichen Neigungswinkel, dann halbiert die Projektion der Schnittgeraden denvon den Projektionen der Hohenlinien eingeschlossenen Winkel. Zum Beispiel sollen zu dem angegebenenGrundriß eines Hauses mit Walmdach und gleich hohen Traufen die Projektionen der Schnittgeradender Dachflachen, d.h. der Firste, Grate und Kehlen, konstruiert werden, wenn alle Dachflachen gleicheNeigung haben:

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3. Darstellende Geometrie 88

Zuerst konstruiert man die Winkelhalbierenden der Traufen, von denen sich benachbarte in einem First-punkt schneiden. Danach werden die Firste eingetragen.

Bei komplizierteren Dachflachen oder Flachen mit verschiedener Neigung verwendet man besserHohen-schnitte, d.h. man schneidet die gesamte Dachflache mit einer geeigneten zur Bildebene parallelenEbene und erhalt damit Schnittgeraden der Dachflache.Im folgenden Beispiel sind 2 Dachneigungen vorgegeben, und zwar uber den Traufen e1, e2 und e3 bzw.uber e4 und e5. Hohenlinien der Hohe h werden dann auf Parallelen zu den Traufen im Abstand m1

bzw. m2 abgebildet.Durch den Schnittpunkt zweier benachbarter Traufen und den Schnittpunkt der zugehorigen Hohenliniengehen die Schnittgeraden der benachbarten Flachen.Durch den niedrigsten der Schnittpunkte der Schnittgeraden wird ein neuer Hohenschnitt gelegt unddas Verfahren fortgesetzt.In dem speziellen Beispiel ergeben sich die restlichen Dachkanten direkt.

e′1

e′2

e′3

e′4

e′5

α2

α1

m1

m2

h

❪■

✛✲✛ ✲

❄✻ e′1

e′2

e′3

e′4

e′5

❜ e′1

e′2

e′3

e′4

e′5

❜❜

Gerade und Ebene:

Ist eine Ebene E durch Hohenlinien und eine Gerade g durch zwei Punkte A′ und B′ gegeben, dannlegt man zur Bestimmung eines moglichen Schnittpunktes von g und E durch die Gerade eine schrageHilfsebene E∗ mit (parallelen) Hohenlinien durch A′ und B′. Die Schnittpunkte mit den entsprechendenHohenlinien von E ergeben das Bild s′ der Schnittgeraden von E und E∗, und der Schnittpunkt S′ vong′ und s′ ist das Bild des Durchstoßpunktes der Geraden durch die Ebene.

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3. Darstellende Geometrie 89

0

1

2

3

4

A′(4)

B′(0)

g′

0

1

2

3

4

A′(4)

B′(0)

g′

h′

1

h′

2

s′

S′

Im allgemeinen werden Winkel bei der Projektion verzerrt, auch rechte Winkel. Ist aber ein Schenkeleines rechten Winkels parallel zur Bildebene, also eine Hohenlinie, dann ist die Projektion ebenfalls einrechter Winkel. Die Projektion des Lotes auf einer Ebene fallt also mit der Projektion einer Falliniezusammen.

Boschungen:

Werden auf einer waagrechten Gelandeebene lose Erdmassen aufgeschuttet, dann durfen die Winkel derentstehenden Boschungsflachen zu der Gelandeebene einen bestimmten Wert nicht uberschreiten, dasonst der Hang abrutscht. Naturlich ist der entsprechende Neigungswinkel abhangig von der Bodenart,d.h. bei Geroll großer als bei feinem Sand, und beim Abtrag eines Gelandes wiederum großer (da mani.a.

”gewachsenen Boden“ vorliegen hat,) als beim Aufschutten. Fur die folgenden Beispiele soll fur den

Abtrag eine Steigung von 1 und fur den Auftrag (das Aufschutten) von 23 angenommen werden. Weiter

gehen wir davon aus, daß vorliegende Gelandeflachen aus Ebenen zusammengesetzt sind.

Beispiele 3.3.2

1. In einer geneigten Ebene, fur die die Hohenlinien fur die Hohen 4 bis 15 vorliegen, ist ein recht-eckiger ebener Platz in Hohe 10 anzulegen.

Die Schnittpunkte A und B mit der Hohenlinie 10 des Gelandes liegen in der Platz-Ebene, dieEcken P und S oberhalb und Q und R unterhalb. AR, RQ und QB sind die Oberkanten derAuftragsboschungen und AS, SP und PB die Unterkanten der Abtragsboschungen.

Die Platzseiten sind Hohenlinien der zu konstruierenden Boschungen (in Hohe 10), und da dieSteigungen der Boschungen bekannt sind, kann man die anderen Hohenlinien der Boschungenzeichnen.

Die Schnittpunkte entsprechender Hohenlinien ergeben die Schnittgeraden sowohl der Auftrags-boschungen als auch der Abtragsboschungen mit dem ursprunglichen Gelande.

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3. Darstellende Geometrie 90

15 14 13 12 11 10 9 8

7

6

5

4

❛ ❛

❛❛

A′

B′P ′ Q′

R′S′

15 14 13 12 11 10 9 8

7

6

5

4

❛ ❛

❛❛

A′

B′P ′ Q′

R′S′

15 14 13 12 11 10 9 8

7

6

5

4

❛ ❛

❛❛

A′

B′P ′ Q′

R′S′

2. Auf einer waagrechten Gelandeebene der Hohe 0 wurde ein waagrechter gerade verlaufender Dammvon 5 m Hohe und 6 m obere Breite aufgeschuttet. Von der Gelandeebene soll ein Weg von 3,5 mBreite und Steigung 1

6 rechtwinklig zum Damm auf die Dammkrone gefuhrt werden.

❛ ❛

❛ ❛

543210

543210

A′(0) B′(0)

C′(5) D′(5)

4

3

2

1

Um die Boschungslinien entlang des Wegeszu erhalten, mussen an die Punkte C und D

Ebenen mit der vorgegebenen Steigung gelegtwerden.

Wenn man z.B. nur den Punkt D betrachtet,dann ist die Aufgabe nicht eindeutig zu losen:Laßt man das rechtwinklige Stutzdreieck mitrechtem Winkel bei D′, Kathete DD′ undKathetenverhaltnis 2

3 um DD′ rotieren, dannergibt sich ein Kegel mit Spitze D, und jedeTangentialebene an diesen Boschungskegel isteine solche Ebene. Sie beruhrt den Kegel in einerMantellinie, die zugleich Fallinie der Ebene ist.In der Projektion erscheint der Boschungskegelals Kreis um D′ (Boschungskreis) und die Spurder Ebene als Tangente an diesen Kreis.

Eine Ebene, die 2 beliebige Punkte beruhrt, muß entsprechend gemeinsame Tangentialebene derzwei zugehorigen Boschungskegel sein. Hierfur gibt es zwei Losungen, und die Spur jeder dieserEbenen ist gemeinsame Tangente an die beiden Boschungskreise.

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3. Darstellende Geometrie 91

Fur unsere Aufgabe suchen wir die gemeinsame Boschungsebene an die Punkte B und D. B hatHohe 0, d.h. der Boschungskreis ist gleich B′. Der Boschungskreis um D′ hat Radius 5 m : 2

3 =7, 5 m. Damit ergibt sich die Spur B′E′ der Boschungsebene als Tangente von B′ an diesen Kreis,damit die zur Spur parallelen Hohenlinien der Boschungsebene und aus den Schnittpunkten mitden entsprechenden Hohenlinien der Boschungsebene des Damms wieder die Schnittgerade mitder Boschung am Damm.

Die Boschung an A′C ′ ergibt sich analog.

❛ ❛

❛ ❛

543210

543210

A′(0) B′(0)

C′(5) D′(5)

4

3

2

1

E′(0)

❛ ❛

❛ ❛

543210

543210

A′(0) B′(0)

C′(5) D′(5)

4

3

2

1

❛❛

E′(0)F ′(0)

3.4 Zentralprojektion

Bilder der Antike und des Mittelalters zeigen eine flachenhafte Darstellung. In der Renaissance ent-wickelten (ca. ab 1420 n.Chr.) Maler eine raumliche Darstellung. Albrecht Durer (1471-1528 n.Chr.)erreichte dies, indem er das abzubildende Objekt durch eine in einen Holzrahmen eingesetzte Glasschei-be betrachtete und auf der Glasscheibe malte, was er sah. Heute erzeugt man solche Bilder mit Hilfeder Fotografie oder konstruiert sie mit Hilfe der Gesetze der Darstellenden Geometrie.

Bei der Zentralprojektion werden alle Punkte des darzustellenden Objekts durch die Sehstrahlen bzw.Projektionsgeraden geradlinig mit dem Projektionszentrum, dem Augenpunkt O, verbunden. DieSchnittpunkte der Projektionsgeraden mit der Bildebene ΠA ergeben das perspektivische Bild. Wiebei der Fotografie ist es wichtig, wo der Standpunktes des Beobachters gewahlt wird, in welcher Hohedas Projektionszentrum liegt und wo sich die Bildebene befindet, damit sich ein (subjektiv) brauchbaresBild ergibt.

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3. Darstellende Geometrie 92

Wir betrachten eine Grundriß- bzw.Standebene ΠG, die die Bildebene ΠA

senkrecht in e schneidet. Der Grund-riß O′ des Projektionszentrums bzw. Au-genpunktes O heißt Standpunkt, derzur Bildebene senkrechte Projektions-strahl Hauptstrahl, sein Schnittpunktmit der Bildebene Hauptpunkt H unddie Parallele zu e durch H Horizont h.Weiter nennt man die Hohe von O uberder Standebene (bzw. den Abstand von e

und h)Augenhohe und den Abstand vonO zur Bildebene Distanz d.

❜ ❜

h

O

O′

H

ΠG

ΠA

e

d

Darstellung eines Punktes

Das Bild eines Punktes P erhalt man als Durchstoßpunkt P der zugehorigen Projektionsgeraden s durchdie Bildebene. Ein solcher Bildpunkt existiert genau dann nicht, wenn die Projektionsgerade parallelzur Bildebene ist, d.h. der abzubildende Punkt Q in einer Ebene ΠV parallel zur Bildebene ist und O

enthalt. ΠV heißt Verschwindungsebene.Liegt der abzubildende Punkt in der Bildebene, dann stimmen naturlich Punkt und Bildpunkt uberein.

Kennt man von dem Augenpunkt O und dem abzubildenden Punkt P Grund- und Aufriß, dann kannman den Bildpunkt P in der geklappten Bildebene durch Betrachtung von Grund- und Aufriß desSehstrahls konstruieren:P liegt einerseits auf s′′ (d.h. auf der Verbindungsgeraden der Aufrisse O′′ = H und P ′′) und auf derSenkrechten durch den Spurpunkt von s′ zu e .

ΠG

ΠA

❜ ❜

e

h

O′

O H

d

q

q

❯ P

P ′

P ′′

P

s′

s

s′′

ΠV

Q

Q′

R

R′

R′′

e

O′

H = O′′

h

❜P ′′

P ′

❜P

s′′

s′

❜R′′

R′

Umgekehrt kann man aus dem Bild P eines Punktes P nicht eindeutig Grund- und Aufriß konstruieren,weil alle Punkte auf demselben Projektionsstrahl dasselbe Bild haben. Zum Beispiel haben P und R

dasselbe Bild.

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3. Darstellende Geometrie 93

Darstellung einer Geraden

Liegt eine Gerade in der Verschwindungsebene, dann auch alle Projektionsstrahlen. Sie sind damitparallel zur Bildebene, und die Gerade hat kein Bild.

Eine Gerade durch den Augenpunkt O ist gleichzeitig Projektionsgerade. Liegt sie nicht in der Ver-schwindungsebene, dann ist ihr Bild ein Punkt, namlich der Durchstoßpunkt durch die Bildebene.

Fur alle anderen Geraden bilden die Projektionsstrahlen durch die Punkte der Geraden eine Ebene(die wir

”projezierende Ebene“ nennen). Sie wird von der Geraden und O aufgespannt. Das Bild der

Geraden ist die Schnittgerade der projezierenden Ebene mit der Bildebene, und jede Gerade, die indieser projezierenden Ebene liegt, hat dasselbe Bild.

Ist eine solche Gerade g parallel zur Bildebene, dann ist das Bild g, d.h. der Schnitt der projezierendenEbene mit der Bildebene, parallel zu g.

Ist eine Gerade g gegeben durch ihren Spurpunkt DG mit der Bildebene und einen weiteren Punkt P(z.B. den Spurpunkt mit der Standebene), und ist P das perspektive Bild von P , dann ist die Geradedurch DG und P das Bild g von g.

Laßt man einen Punkt auf g wandern und entfernt sich dieser Punkt immer weiter von O, dann nahernsich die zugehorigen Projektionsstrahlen der Parallelen zu g durch O und der zugehorige Bildpunkt demSchnittpunkt F dieser Parallelen mit der Bildebene. F heißt Fluchtpunkt der Geraden. Man betrachtetihn als Bildpunkt des

”unendlich fernen Punktes“ der Geraden.

ΠG

ΠA

❜ ❜

e

O′

O H

P

P ′

P ′′

P

s′

ss′′

DG

g

g

❜F

e

O′

H = O′′

h

P ′′

P ′

DG

D′

G

g′

g′′❜

❜P

s′′

s′

F

F ′

g

|| g′

Es gilt:

DG, P und F liegen auf g, FH ist parallel zu g′′ = DGP′′ und F ′O′ ist parallel zu g′ = D′

GP′.

Da der Fluchtpunkt F Schnittpunkt der zu g parallelen Geraden durch O mit ΠA ist, gilt:Alle zu g parallelen Geraden haben denselben Fluchtpunkt .

Zur Bildebene parallele Geraden haben keinen Fluchtpunkt, da die Parallele durch O die Bildebenenicht schneidet.

Der Fluchtpunkt horizontal verlaufender Geraden liegt auf dem Horizont.

Der Fluchtpunkt senkrecht zur Bildebene verlaufender Geraden ist der Hauptpunkt H.

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3. Darstellende Geometrie 94

Darstellung einer Ebene

Das Bild einer Ebene ist im allgemeinen eine Ebene.

Die Verschwindungsebene (parallel zur Bildebene durch den Augenpunkt) hat kein Bild, jede andereEbene durch den Augenpunkt wird auf die Spurgerade mit der Bildebene abgebildet.

Sei E eine Ebene, die nicht durch den Augenpunkt geht und nicht parallel zur Bildebene ist. Dann heißtdie Schnittgerade der zu E parallelen Ebene durch den Augenpunkt mit der Bildebene Fluchtgeradevon E. Es gilt:

� Parallele Ebenen haben dieselbe Fluchtgerade.

� Die Fluchtpunkte aller Geraden der Ebene liegen auf der Fluchtgeraden.

� Zur Bildebene parallele Ebenen haben keine Fluchtgerade, die Fluchtgerade der horizontalen (zurGrundrißebene parallelen) Ebene ist der Horizont.

Bestimmung wahrer Großen und Gestalten

Strecken, Winkel und ebene Figuren werden bei Zentralprojektion genau dann kongruent abgebildet,wenn sie in der Bildebene liegen. Um die wahre Gestalt von Figuren zu bestimmen, bewegt man sie daherdurch Verschiebungen oder Drehungen (Klappungen) in die Bildebene und beschreibt diese Bewegungendurch ihr perspektives Bild.

Wir betrachten zuerst eine vertikale Strecke PQ der Lange l mit perspektivem Bild PQ. Ist x derorientierte Abstand von PQ zur Bildebene, wobei x positiv sein soll, wenn PQ vor der Bildebene liegt,und negativ, wenn PQ hinter der Bildebene liegt, dann hat PQ die Lange

|PQ| = d

d− x· |PQ|,

das Bild ist also großer, wenn PQ vor der Bildebene liegt, und kleiner, wenn PQ hinter der Bildebeneliegt.

Verschiebt man nun PQ horizontal in die Bildebene nach P0Q0, dann erhalt man ein Rechteck PQP0Q0

mit den horizontalen Seiten PP0 und QQ0. In der Perspektive schneiden sich diese Parallelen in einemFluchtpunkt F auf dem Horizont. Ist nun der Spurpunkt der Geraden durch P und Q bekannt, dannergibt sich die Lange der Strecke aus der folgenden Konstruktion. Dabei ist speziell P als Punkt derStandebene gewahlt (also als Spurpunkt der Vertikalen) und der Fluchtpunkt F kann beliebig gewahltwerden.

e

h

P

Q

F1

P1

Q1

F2

P2

Q2

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3. Darstellende Geometrie 95

Liegt eine Strecke PQ in der Standebene ΠG, dann liegt der Spurpunkt Sg der zugehorigen Geraden g

auf e und das Bild g ist die Verbindungsgerade von Spurpunkt Sg und Fluchtpunkt Fg. Da g horizontalist, liegt Fg auf h.

Wir betrachten die Gerade in der Standebene, in dere und die Grundrisse O′ und H ′ von Augenpunkt undHauptpunkt eingezeichnet sind.

g schneidet e im Spurpunkt Sg, und die Parallele g∗

zu g durch O′ schneidet e im Grundriß F ′g des Flucht-

punktes von g.

Dreht man die Gerade um Sg horizontal in die Bil-debene, dann wandern P und Q nach P0 und Q0 aufe, und P0Q0 ist eine Strecke in der Bildebene mit dergleichen Lange wie PQ.

❜ e

O′

H′

Sg

P

Qg

g∗

F ′

g

❜ ❜

P0 Q0

M ′

g

Die Drehsehnen PP0 undQQ0 sind horizontal, parallel und haben daher einen gemeinsamen FluchtpunktMg auf dem Horizont, dessen Grundriß man durch Schnitt der Parallelen zu PP0 durch O′ mit e

erhalt. (Mg heißt Maßpunkt von g.) Da das Dreieck M ′gF

′gO

′ ahnlich zu SgQQ0 ist und letzteresgleichschenklig, sind M ′

gF′g und O′F ′

g gleich lang.

Wir wollen nun aus dem perspektiven Bild P Q einer Strecke PQ in der Standebene die wahre Langezu rekonstruieren.

Vorgegeben sei der Horizont h, der HauptpunktH, dieSchnittgerade e mit der Standebene, der StandpunktO′ und die Strecke PQ.

Schnitt der Geraden g mit e ergibt den Spurpunkt Sg

und mit h ergibt den Fluchtpunkt Fg.

Durch Abtragen der Strecke F ′gO

′ von F ′g aus auf e

erhalt man M ′g und damit Mg auf h.

e

h

O′

H′

H

Sg

P

Q

g

Fg

F ′

g

❜ ❜

P0 Q0

M ′

g

Mg

Die Geraden MgP und MgQ sind die perspektiven Bilder der Drehsehnen und treffen e in den Spur-punkten P0 und Q0. Mit der Lange von P0Q0 hat man die wahre Lange der Strecke PQ.

Perspektivkonstruktion

Wie man vom Fotografieren weiß, hangt die Qualitat eines Bildes wesentlich auch von der Wahl desStandpunktes des Fotografen und der Hohe der Kamera ab. Analog ist es bei der Perspektive.

Ublicherweise wahlt man den Horizont in Augenhohe, d.h. etwa 1,65 m. Fur z.B. einen stadtebaulichenEntwurf ist es besser, den Horizont uber die Hauser zu verlegen, und das Objekt in Vogelperspektivedarzustellen. In anderen Fallen kann es ratsam sein, den Horizont knapp uber die Standebene zu verlegenund die Froschperspektive zu wahlen.

Wichtig ist auch die Wahl der Bildebene. Die Entfernung zum Augenpunkt entscheidet uber die Großedes Bildes, und die Stellung der Bildebene in Bezug auf das Objekt uber den mehr oder weniger ge-lungenen raumlichen Eindruck. Die Grundrißprojektion der außersten Sehstrahlen geben den Sehwinkel

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3. Darstellende Geometrie 96

des Bildes an. Da der Mensch bei ruhiger Kopfhaltung und bewegtem Auge einen Sehwinkel von etwa54◦ in der Breite, 27◦ in der Hohe uber dem Horizont und 10◦ unter dem Horizont hat, sollte - umVerzerrungen zu vermeiden - der Sehwinkel des Bildes kleiner als 40◦ sein. Die Distanz sollte zwischendem 1, 5- und 3-fachen der großten Ausdehnung betragen, damit die perspektivische Tiefenwirkung nichtverloren geht.

Da Strecken in der Bildebene in wahrer Lange abgebildet werden, ist es sinnvoll, die Bildebene durchmindestens eine vertikale Kante des Objekts zu legen.

Im folgenden soll das perspektive Bild der beiden in Grund- und Aufriß dargestellten Wurfel konstruiertwerden. Wir wahlen den Horizont knapp unter der halben Hohe des hochsten Punktes. Beide Wurfelsollen auf der Standebene stehen. Die Bildebene soll durch eine vertikale Kante des einen Wurfels unddie Vorderseite des anderen gehen.

x12

❜H′

O′

d

Π

Die Daten aus dem Aufriß werden so selten gebraucht, daß wir hier im folgenden den Aufriß weglassen.

Zuerst bestimmen wir fur die Wurfelkanten die jeweiligen Fluchtpunkte, und zwar fur die horizontalenKanten in Richtung AB den Fluchtpunkt F1, fur BC den Fluchtpunkt F2 und fur die zur Bildebenesenkrechten Kanten in Richtung EH den Hauptpunkt H.

Die senkrechte Kante uber A liegt in der Bildebene, wird also in Originallange abgebildet.

Fur das Bild der Kante uber B wird der Projektionsstrahl im Grundriß mit der Bildebene geschnitten.Die Endpunkte der Senkrechten uber B und die Kanten uber AB ergeben sich durch Verbinden von F1

mit der Kante uber A.

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3. Darstellende Geometrie 97

Analog erhalt man durch den Grundriß des Projektionsstrahls durch C und den Fluchtpunkt F2 dieSenkrechte uber C und die Kanten uber BC.

x12

A′

D′

B′

C′

E′ F ′

G′H′

❜H′

O′

Π❜ ❜

❜ ❜❜

F ′

1

F1

F ′

2

F2H

Die nicht sichtbaren Kanten uber D ergeben sich aus dem Schnitt der Verbindungsgeraden der Flucht-punkte mit den Senkrechten uber A bzw. C.

Die Seite des kleinen Wurfels uber EF liegt in der Bildebene und wird daher in wahrer Lange abgebil-det.

Den Ort der hinteren senkrechten Kanten erhalt man wieder uber den Grundriß, und ihre Lange sowiedie zur Bildebene senkrechten Kanten uber den Fluchtpunkt H.

Die restlichen Kanten werden als Horizontale abgebildet.

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3. Darstellende Geometrie 98

x12

A′

D′

B′

C′

E′ F ′

G′J ′

❜H′

O′

Π❜ ❜

❜ ❜❜

F ′

1

F1

F ′

2

F2H

A2

A1

B2

B1

C2

C1

D2

D1

E2

E1

F 2

F 1

G2

G1

J2

J1

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Index

Ableitung, 22der Umkehrfunktion, 24linksseitige, 23rechtsseitige, 23

Additionstheoreme, 8der hyperbolischen Funktionen, 26

Adjungierte, 69Adjunkte, 67affine Funktion, 2Ankathete, 6Arcusfunktionen, 21Areafunktionen, 26, 30Argument, 1Aufriß, 72Aufrißspur, 75Augenhohe, 92Augenpunkt, 91

Boschungskegel, 90Boschungswinkel, 85Bernoulli-L’Hospital, 30Bernoullische Ungleichung, 9beschrankte Funktion, 3Betragsfunktion, 2Betragsungleichung

fur Integrale, 34Bild, 1Binomialkoeffizienten, 9Binomischer Satz, 9Bogenlange, 46Bogenmaß, 7

Cauchy-Hadamard, 54Cavalieri, Prinzip von, 48Cramersche Regel, 71

Deckgerade, 76Definitionsbereich, 1Definitionsmenge, 1Determinante, 67Differentialquotient, 22Differentiation, 22

logarithmische, 24Differenzenquotient, 22differenzierbar, 22Distanz, 92Dreiecksungleichung, 9

Durchstoßpunkt, 81

e, 12Einheitsmatrix, 63Einschnurungssatz, 15Eulersche Zahl, 12Exponentialfunktion, 5Extremum, 27

absolutes, 27relatives, 27

Faktorregelder Differentiation, 24der Integration, 34fur Folgen, 15fur stetige Funktionen, 20

Fallinien, 84Fluchtpunkt, 93Folge, 10

arithmetische, 11bestimmt divergente, 14divergente, 12geometrische, 11konvergente, 12Null-, 13Teil-, 11

Fourier–Koeffizienten, 58–Reihe, 58

Frontebene, 75Frontlinie, 74Funktion, 1

affine, 2Arcus, 21Area-, 26Argument, 1beschrankte, 3Betrags-, 2Definitionsbereich, 1differenzierbare, 22Exponential-, 5ganzrationale, 2gebrochen rational, 2gerade, 3hyperbolische, 26, 30identische, 2integrierbare, 32

99

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INDEX 100

inverse, 4konstante, 2Kosinus-, 7Kotangens-, 7lineare, 2Logarithmus-, 6monotone, 3Nullstelle, 2periodische ∼, 56Potenz-, 2quadratische, 2Sinus-, 7stetige, 19streng monotone, 3swert, 1Tangens-, 7Umkehr-, 4umkehrbar eindeutige, 4ungerade, 3Verkettung, 4Wertebereich, 1Winkel-, 7Wurzel-, 5

Gaußsches Eliminationsverfahren, 64Gaußsches Fehlerintegral, 39gebrochenrationale Funktion, 2Gegenkathete, 6gerade Funktion, 3Gleichungssystem

homogenes lineares, 61inhomogenes lineares, 61lineares, 61

Grenzfunktion, 53Grenzwert, 19

einer Folge, 12linksseitiger, 19rechtsseitiger, 19

Grundriß, 72Grundrißspur, 75

Hohenebene, 75Hohenlinie, 74Hauptpunkt, 92Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung,

36Hauptstrahl, 92Heron-Verfahren, 14Horizont, 92L’Hospital, 30

Hypothenuse, 6

Identitat, 2Identitatssatz

fur Potenzreihen, 55Infimum, 14Integral

bestimmtes, 32Riemann-, 32unbestimmtes, 37uneigentliches, 43, 44

Integralkriterium, 44Integrallogarithmus, 39Integralsinus, 39Integration, 32

durch Substitution, 38partielle, 38Produkt-, 38

Integrationsgrenzeobere, 32untere, 32

InterpolationLagrange-, 50Newton-, 49Spline-, 50

Interpolationspolynom, 49Intervallregel

der Integration, 34inverse Funktion, 4

Kettenregel, 24fur stetige Funktionen, 20

Koeffizientenmatrix, 63erweiterte, 64

konvergentpunktweise ∼, 53

Konvergenzmenge, 53Konvergenzradius, 53Kosinus hyperbolicus, 26Kosinusfunktion, 6Kosinussatz, 8Kotangens hyperbolicus, 26Kotangensfunktion, 6Kreuzungspunkt, 76

Losungsmenge eines linearen Gleichungssystems, 61Leibniz-Kriterium fur Reihen, 17lineare Funktion, 2lineares Gleichungssystem, 61

aquivalentes, 61

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INDEX 101

homogenes, 61inhomogenes, 61Koeffizientenmatrix, 63erweiterte, 64

Losungsmenge, 61Linearitat

der Differentiation, 24des Integrals, 38

Logarithmusfunktion, 6

Majorantenkriteriumfur Reihen, 16fur uneigentliche Integrale, 43

Mantelflacheninhalteines Rotationskorpers, 48

Matrix, 61adjungierte, 69Determinante, 67Einheits-, 63elementare Spaltenumformungen, 68elementare Zeilenumformungen, 64inverse, 65Null-, 63-Produkt, 62Rang einer, 64-Summe, 62transponierte, 68Vielfaches einer, 62

Maximum, 27absolutes, 27relatives, 27

Minimum, 27absolutes, 27relatives, 27

Minorantenkriteriumfur Reihen, 16fur uneigentliche Integrale, 43

Mittelwertsatz1. ∼ der Integralrechnung, 35der Differentialrechnung, 27erweiterter 1. ∼ der Integralrechnung, 36

monoton, 3Monotoniekriterium

differenzierbarer Funktionen, 29fur Folgen, 14fur uneigentliche Integrale, 43

Neigungswinkel, 84Newton-Verfahren, 51Nullfolge, 13

Nullmatrix, 63Nullpolynom, 2Nullstelle, 2Nullstellenbestimmung

durch Intervallschachtelung, 50durch Newton-Verfahren, 51durch Regula falsi, 51

Nullstellensatz, 21

Obersumme, 33Orthogonalitatsrelation, 57

Parallelprojektionschiefe, 72senkrechte, 72

Parameterdarstellungeiner Kurve, 46

Partialbruchzerlegung, 41Partielle Integration, 38Pascalsches Dreieck, 10periodisch, 56Polstelle, 20Polynom, 2

Grad, 2Koeffizienten, 2Null-, 2Teiler-, 5trigonometrisches ∼, 56Zerlegung in Linearfaktoren, 5

Polynomdivision, 5Potenzfunktion, 2Potenzreihe, 53

Identitatssatz fur ∼, 55Produkt

von Matrizen, 62Produkt-Integration, 38Produktregel

der Differentiation, 24fur Folgen, 15fur stetige Funktionen, 20

Projektionszentrum, 72

Quotientenkriterium, 17Quotientenregel

der Differentiation, 24fur Folgen, 15fur stetige Funktionen, 20

Rang einer Matrix, 64Regula falsi, 51

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INDEX 102

Reihe, 15divergente, 16Exponential-, 17Fourier–∼, 58Funktionen-∼, 53geometrische, 16harmonische, 16konvergente, 16Potenz-∼, 53Teilsumme einer, 15trigonometrische ∼, 56

Reihenglied, 15Restglied, 28Riemannsche Summe, 32Rißachse, 72Rolle

Satz von, 28Rotationskorper, 47

SarrusRegel von, 67

Schranke, 3Simpsonformel, 52Sinus hyperbolicus, 26Sinusfunktion, 6Sinussatz, 8Spaltenvektor, 61Spurgerade, 75Spurpunkt, 74, 81, 84Stutzdreieck, 84, 85Stammfunktion, 37Standebene, 92stetig, 19

linksseitig, 19rechtsseitig, 19

streng monoton, 3Substitutionsregel, 38Summe

von Matrizen, 62Summenregel

der Differentiation, 24der Integration, 34fur Folgen, 15fur stetige Funktionen, 20

Supremum, 14

Tangens hyperbolicus, 26Tangensfunktion, 6Tangentenformel, 52Taylor

-Polynom, 28-Reihe, 28sche Formel, 28

Teilerpolynom, 5Trapezformel, 52

Umgebung, 13ǫ–∼, 13

Umkehrfunktion, 4Ableitung der, 24Stetigkeit der ∼, 21

ungerade Funktion, 3Ungleichung arithm./geom. Mittel, 10Unstetigkeitsstelle

Einsiedler, 20hebbare, 20Pol, 20Sprungstelle, 21wesentliche, 21

Untersumme, 33Urbild, 1

Vergleichssatz, 15Verschwindungsebene, 92vollstandige Induktion, 9Volumen

Rotationskorper, 47

Wertebereich, 1Winkelfunktion, 6Wurzelfunktion, 5Wurzelkriterium, 17

Zeilenvektor, 61Zentralprojektion, 72, 91Zwischenwertsatz, 21