9
Menschenwürde Menschenrechte Erstellen Sie anhand der folgenden Aufgaben zum Text „Die Würde ist antastbar“ (Ferdinand von Schirach) bis zum 12. Jänner 2017 ein Portfolio (Semesterarbeit)! 1 Fassen Sie den Text von Ferdinand von Schirach in seinen wesentlichen Aussagen zusammen. R 2 Von Schirach nennt verschiedene historische sowie aktuelle Beispiele, bei denen die Achtung der Menschenwürde in Gefahr stand bzw. steht. Erläutern Sie ein Beispiel Von Schirachs (ggf. nach Recherche) ausführlich. T 3 Recherchieren Sie folgende Punkte (im Internet). Stellen Sie die Ergebnisse im Portfolio zusammen! Wie werden die Begriffe Menschenwürde und Menschenrechte definiert? Welche Geschichte haben Menschenwürde und Menschenrechte? Welche Menschenrechte gelten in Österreich? Welche Normen und Gesetze garantieren diese? Wo werden Menschenrechte verletzt? Wer setzt sich gegen Menschenrechtsverletzungen ein? R T 4 Der ehemalige Richter am deutschen Bundesgerichtshof, Thomas Fischer, kritisiert die im Film/Theaterstück „Terror“ (ebenfalls Ferdinand von Schirach) vorkommende Vermischung von Rechtswidrigkeit einer Handlung und Schuld eines Handelnden („Täters“). Arbeiten Sie aus dem Text heraus, inwiefern diese Trennung für ein rechtsstaatliches Verfahren unter dem Aspekt der Menschenwürde wichtig ist. T Nehmen Sie Stellung, weshalb es wichtig ist, gerade in schwierigen „Fällen“, wie aus diesem Film, sowohl die faktische als auch die „innere“ Sichtweise des Angeklagten zu berücksichtigen. R 5 Erörtern Sie mithilfe des Textes sowie Ihrer gewonnenen Einsichten die zentrale Frage des Essays Ferdinand von Schirachs: „Darf ein einzelner Mann oder eine Regierung wirklich als Ankläger, Verteidiger und Richter in einer Person entscheiden, wer lebt und wer stirbt?“ Gehen Sie in Ihrer Erörterung auf die Thesen, Beispiele und Argumente des Autors ein und nehmen Sie zu seiner Meinung kritisch Stellung. X R…Reproduktion – T…Transformation – X…Reflexion Bearbeiten Sie die Aufgaben und stellen Sie die Lösungen in einer Portfoliomappe zusammen. Das Portfolio besteht aus einem Deckblatt, der Angabe, den einzelnen Lern- und Arbeitsergebnissen sowie einem Quellenverzeichnis. Beginnen Sie zu jeder Aufgabe des Portfolios eine neue A4-Seite. Der Umfang Ihrer Arbeit sollte 10-12 Seiten betragen. Formatieren Sie das Portfolio folgendermaßen: Schriftgröße 12; 1,5-Zeilig; Ränder jeweils 2cm; Seitenzahlen.

Menschenwürde Menschenrechte · PDF fileMenschenwürde Menschenrechte Erstellen Sie anhand der folgenden Aufgaben zum Text „Die Würde ist antastbar“ (Ferdinand von Schirach)

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Menschenwürde Menschenrechte · PDF fileMenschenwürde Menschenrechte Erstellen Sie anhand der folgenden Aufgaben zum Text „Die Würde ist antastbar“ (Ferdinand von Schirach)

Menschenwürde Menschenrechte

Erstellen Sie anhand der folgenden Aufgaben zum Text „Die Würde ist antastbar“ (Ferdinand von Schirach) bis zum 12. Jänner 2017 ein Portfolio (Semesterarbeit)!

1 Fassen Sie den Text von Ferdinand von Schirach in seinen wesentlichen Aussagen zusammen.

R

2

Von Schirach nennt verschiedene historische sowie aktuelle Beispiele, bei denen die Achtung der Menschenwürde in Gefahr stand bzw. steht. Erläutern Sie ein Beispiel Von Schirachs (ggf. nach Recherche) ausführlich.

T

3

Recherchieren Sie folgende Punkte (im Internet). Stellen Sie die Ergebnisse im Portfolio zusammen!

Wie werden die Begriffe Menschenwürde und Menschenrechte definiert?

Welche Geschichte haben Menschenwürde und Menschenrechte?

Welche Menschenrechte gelten in Österreich? Welche Normen und Gesetze garantieren diese?

Wo werden Menschenrechte verletzt? Wer setzt sich gegen Menschenrechtsverletzungen ein?

R T

4

Der ehemalige Richter am deutschen Bundesgerichtshof, Thomas Fischer, kritisiert die im Film/Theaterstück „Terror“ (ebenfalls Ferdinand von Schirach) vorkommende Vermischung von Rechtswidrigkeit einer Handlung und Schuld eines Handelnden („Täters“).

Arbeiten Sie aus dem Text heraus, inwiefern diese Trennung für ein rechtsstaatliches Verfahren unter dem Aspekt der Menschenwürde wichtig ist.

T

Nehmen Sie Stellung, weshalb es wichtig ist, gerade in schwierigen „Fällen“, wie aus diesem Film, sowohl die faktische als auch die „innere“ Sichtweise des Angeklagten zu berücksichtigen.

R

5

Erörtern Sie mithilfe des Textes sowie Ihrer gewonnenen Einsichten die zentrale Frage des Essays Ferdinand von Schirachs:

„Darf ein einzelner Mann oder eine Regierung wirklich als Ankläger, Verteidiger und Richter in einer Person entscheiden, wer lebt und wer stirbt?“

Gehen Sie in Ihrer Erörterung auf die Thesen, Beispiele und Argumente des Autors ein und nehmen Sie zu seiner Meinung kritisch Stellung.

X

R…Reproduktion – T…Transformation – X…Reflexion

Bearbeiten Sie die Aufgaben und stellen Sie die Lösungen in einer Portfoliomappe zusammen.

Das Portfolio besteht aus einem Deckblatt, der Angabe, den einzelnen Lern- und

Arbeitsergebnissen sowie einem Quellenverzeichnis. Beginnen Sie zu jeder Aufgabe des Portfolios eine

neue A4-Seite. Der Umfang Ihrer Arbeit sollte 10-12 Seiten betragen.

Formatieren Sie das Portfolio folgendermaßen: Schriftgröße 12; 1,5-Zeilig; Ränder jeweils 2cm;

Seitenzahlen.

Page 2: Menschenwürde Menschenrechte · PDF fileMenschenwürde Menschenrechte Erstellen Sie anhand der folgenden Aufgaben zum Text „Die Würde ist antastbar“ (Ferdinand von Schirach)

"Terror" – Ferdinand von Schirach auf allen Kanälen!

Eine Kolumne von Thomas Fischer

Darf das Fernsehen elementare Rechtsfragen so lange verdrehen, bis ein Film daraus wird? Ein

Lehrstück über den Missbrauch des lieben Zuschauers.

[…]

Das Stück

Terror ist ein Theaterstück, das, soviel muss man wohl vorausschicken, mit Terror denkbar wenig zu

tun hat. Der Titel ist vielmehr ein heiserer, populistischer Schrei nach Aufmerksamkeit. Das in dem

Stück behandelte Rechtsproblem kann man am Beispiel eines "Terror"-Anschlags genauso gut oder

schlecht verdeutlichen wie an zahlreichen anderen fiktiven – oder sogar historisch bewiesenen –

Sachverhalten. Der Einstieg über den Begriff des „Terrors“, verbunden mit einer naturalistisch

imitierten Gerichtsverhandlung mit Anklage, Beweiserhebung, Urteil und vor allem der Aufforderung

an den Zuschauer, an letzterem aktiv – als eine Art Geschworener, durch „Entscheidung über das

Schicksal eines Menschen“ – mitzuwirken (!), ist eine unverschämte, schwer erträgliche Manipulation

der Öffentlichkeit im Namen eines quasistaatlichen Anliegens, ohne dem auch nur die mindesten

staatlichen Garantien an Wahrhaftigkeit und Unvoreingenommenheit zugrunde zu legen. Das ist ein

starkes Stück.

Das Problem

Der Film sagt uns: Wir müssen uns entscheiden, ob der Pilot „wegen 164-fachen Mordes“ zu

lebenslanger Freiheitsstrafe zu verurteilen („schuldig“) oder ob er freizusprechen ist („unschuldig“).

Dafür werden von Kant bis Kanther alle möglichen Argumente aufgeboten, die sich mit allen möglichen

Fragen beschäftigen, vor allem aber derjenigen, ob der Staat dazu berechtigt sei, 164 unschuldige

Menschen zu töten, um 70.000 unschuldige Menschen zu retten.

Eine vermeintliche Staatsanwältin […] sagt Ja, ein vermeintlicher Verteidiger sagt Nein, eine

vermeintliche Nebenklägerin darf ein bisschen auf die Drüsen des Augenwassers drücken […].

Staatsanwältin und Verteidiger haben Kant gelesen, der Angeklagte sowieso. Hei, da fliegen die

Argumente und die Menschenwürden nur so hin und her. „Unerträglich“, meint der Verteidiger, sei es,

„um eines Prinzips willen“ (gemeint: Menschenwürde) das wahrhaft Ungerechte zu tun und gegen die

Regel vom „kleineren Übel“ zu verstoßen. Leider haben er und der Autor dabei übersehen, dass die

Regel vom kleineren Übel ja nun auch ein Prinzip ist, noch dazu ein besonders schlichtes.

„Moral und Recht“, so wird der Zuschauer ein ums andere Mal belehrt, sind „strikt zu trennen“. Das

soll sich angeblich irgendwie aus Kant ergeben. Leider ist diese holzschnittartige Behauptung so falsch,

dass man sich schämen sollte, sie Herrn Kant nachzurufen. Denn die Behauptung, wie sie Schirach und

seine Drehbuch-Künstler vortragen, desavouiert1 ja gerade das, was Kant am Wichtigsten war. Das

Recht, so Schirach, liefert bestenfalls irgendwelche Argumente: Manche sagen so, manche sagen so.

Man kann es drehen und wenden, wie man will. Spitzfindigkeiten, „irgendwelche Absätze von

Paragrafen“. Die Wahrheit liegt jenseits des Rechts – so fantasiert das Stück daher, ohne sich dem Recht

überhaupt angenähert zu haben.

Wo liegt die Lösung des Falls?

1 Bloßstellen, verleugnen, nicht anerkennen, in Abrede stellen.

Page 3: Menschenwürde Menschenrechte · PDF fileMenschenwürde Menschenrechte Erstellen Sie anhand der folgenden Aufgaben zum Text „Die Würde ist antastbar“ (Ferdinand von Schirach)

Die Lösung

Der Angeklagte K hat 164 Passagiere, eine unbekannte Anzahl von Crew-Mitgliedern sowie einen

Entführer, also eine nicht mitgeteilte Zahl von Menschen vorsätzlich (wissentlich) getötet. Die Anklage

wegen „164-fachen Mordes“ ist daher ein bisschen schräg. Erstens wurden mehr als 164 Menschen

getötet; man wüsste gern, wie die Staatsanwaltschaft den „Rest“ erledigt hat. Zweitens ist eine

Lenkrakete in 30.000 Fuß Höhe vielleicht kein „gemeingefährliches Mittel“, sondern einfach das Mittel

der Wahl, um dieses Flugzeug abzuschießen. Mit dem Mordmerkmal ist es also nicht so weit her. Bliebe

der Tatbestand des Totschlags (Paragraf 212 StGB). Da gibt es „minder schwere Fälle“ und geminderte

Strafrahmen (Paragraf 213 StGB). Aber dies nur am Rande.

Der Tatbestand ist objektiv und subjektiv erfüllt. Fragt sich: Rechtswidrig? Um diese Frage dreht sich

das ganze Stück und damit auch der Film. Sie lautet, umformuliert: DARF der Pilot K, als Organ des

Staats, unschuldige Staatsbürger (Menschen) töten, um a) eine größere Anzahl zu retten, b) ein Zeichen

zu setzen, c) die Gerechtigkeit zu verwirklichen?

Diese Frage ist entschieden: Das Bundesverfassungsgericht hat mit Gesetzeskraft (!) entschieden, dass

Paragraf 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes (alter Fassung) wegen Verstoßes gegen die

Menschenwürde verfassungswidrig und nichtig sei. Das war am 15. Februar 2005 im Verfahren 1 BvR

357/05. Nichts (!) an Argumenten ist seither hinzugekommen.

[…]

Wo liegt die Lösung des Falls? Wir finden sie dort, wo uns

weder der Autor Schirach noch der Film auch nur ansatzweise

hinführen: Im (Straf)Recht und in der Unterscheidung

zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld. „Ist Pilot K.

schuldig?“, fragt das Stück Terror ein ums andere Mal, befasst

sich dann aber, zur angeblichen Klärung dieser Frage,

überhaupt kein bisschen mit der Schuld des Angeklagten, also

der Frage, ob er PERSÖNLICH, in seiner Situation und Lage,

mit seinen Kenntnissen, Irrtümern und Voraussetzungen, die

rechtswidrige Handlung hätte vermeiden können.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum

Luftsicherheitsgesetz klargestellt, dass es sich überhaupt nur

mit der Frage der Rechtswidrigkeit befassen musste und

wollte, also der Frage, ob staatliches Recht anordnen darf,

unschuldige Menschen um eines (vermeintlich) höheren Ziels

willen vorsätzlich zu töten. Es ging also um die Frage des

„Dürfens“ auf der Ebene des staatlichen Rechts: Darf ein Minister anordnen (!), fremde Unschuldige zu

erschießen? Darf ein Polizeipräsident den Befehl erteilen, einen Gefangenen zu foltern? Sind diejenigen,

denen solche Befehle erteilt werden, von Rechts wegen und dienstlich verpflichtet, sie auszuführen?

Und sind daher umgekehrt die Opfer solcher Anordnungen von Rechts wegen „verpflichtet“, sich

widerstandslos erschießen oder foltern zu lassen? Oder dürften sie gegen ihre eigene Tötung Notwehr

üben? Muss der Seemann, wenn der Kapitän des sinkenden Schiffs „Schotten dicht“ befiehlt, im

Maschinenraum strammstehen und freudig ertrinken? All das sind Fragen der Rechtmäßigkeit und

Rechtswidrigkeit. Sie haben mit Schuld und Unschuld zunächst einmal nichts zu tun. […]

Die Tötung ist selbstverständlich rechtswidrig

Die Lösung des Falles aber, und die „Gerechtigkeit“ gegenüber dem fiktiven Angeklagten, liegt auf

einer ganz anderen Ebene, nämlich derjenigen der persönlichen Zumutbarkeit. Über diese Frage muss

von Strafgerichten entschieden werden; sie stellte sich dem Bundesverfassungsgericht gar nicht.

Prof. Dr. Thomas Fischer (*1953) war

Vorsitzender Richter des 2. Strafsenats des

Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

Page 4: Menschenwürde Menschenrechte · PDF fileMenschenwürde Menschenrechte Erstellen Sie anhand der folgenden Aufgaben zum Text „Die Würde ist antastbar“ (Ferdinand von Schirach)

Theaterstück und Film unterschlagen diesen – entscheidenden! – Unterschied nicht nur, sondern

leugnen ihn obendrein ausdrücklich: „Der Richter“ (Vorsitzender) belehrt den Angeklagten

nachdrücklich, auf seine „innere Sicht“, seine subjektiven Meinungen und Motive komme es im

Strafverfahren überhaupt nicht an; hier gehe es „allein um die Feststellung der Tatsachen“. Dieses ist

eklatant falsch und geradezu die Umkehrung des rechtsstaatlichen Ansatzes. Es ist komplett falsch, wenn

Schirach durch Weglassen suggeriert, für die Entscheidungen zwischen Rechtmäßigkeit und

„Gewissen“ halte das Recht keinerlei Maßstäbe bereit. Die Zuschauer werden durch diesen Unsinn

gezielt und von vornherein desinformiert und auf eine Fährte gelockt, die es dem Autor zuletzt

gestattet, seine alberne „Abstimmungs“-Dramaturgie durchzuführen. Das ist schäbig.

Die Unterscheidung zwischen Rechtswidrigkeit/Rechtmäßigkeit einerseits und Schuld/Unschuld

andererseits ist eine der grundlegenden Errungenschaften unserer Rechtskultur. […]

Der Film faselt zwar über „Schuld“ und „Unschuld“, meint und erklärt aber etwas anderes. Dass er die

grundlegende Kategorie der (strafrechtlichen) Schuld nicht kennt, ist ein fachlicher und ein

künstlerischer Skandal zugleich. Entweder weil der Autor sie selbst nicht verstanden hat (was schlimm

genug wäre), oder weil er sie vorsätzlich verschweigen will (was noch schlimmer wäre). […] Das ist die

größtmögliche Verarschung des Publikums. Wer Unrecht und Schuld in eins setzt, fällt um

Jahrhunderte (!) hinter unsere Rechtskultur zurück und benutzt seine Zuschauer als Gaudi-Gäste für

eine Rechtsshow der billigen Sorte.

Tatsächlich könnte die Lösung des Falls wie folgt gehen: Die Tötung ist selbstverständlich rechtswidrig

(außer der des Terroristen; die ist durch Nothilfe gerechtfertigt). Wer über die Begründung von

„Menschenwürde“ nachgedacht hat, und über den Zusammenhang von Würde und Gerechtigkeit,

weiß das. Das soll hier nicht ausgeführt werden, denn das Bundesverfassungsgericht hat dazu das

Gültige gesagt, und wer zu faul ist, das nachzulesen, sollte sich nicht aufplustern mit der Behauptung,

er stimme dem nicht zu.

Kein Minister oder General kann aus der Tiefe seines Fernsehsessels einem Soldaten „befehlen“,

unschuldige Menschen umzulegen. Kein Unschuldiger hat – das wäre die zwingende Konsequenz! –

die Rechtspflicht, sich töten zu lassen. Sondern jeder hätte selbstverständlich das Recht auf Notwehr

gegen die eigene Tötung! Und genauso hätte jeder Angehörige eines Opfers das Recht auf Nothilfe, um

die Tötung zu verhindern.

Was für Herrn Piloten Koch „gerecht“ ist, finden wir ebenfalls im Recht: Es könnte ein

„Entschuldigungsgrund“ vorliegen, der sich in einer entsprechenden Anwendung des Paragrafen 35

Strafgesetzbuch findet:

"Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit eine rechtswidrige

(!) Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer ihm nahestehenden Person abzuwenden,

handelt ohne Schuld. (…)"

Schuldlosigkeit des einzelnen trotz Rechtswidrigkeit seiner Tat, auf der Grundlage einer umfassenden

Bewertung seiner individuellen (!), persönlichen (!) Lage und der Zumutbarkeit (!) rechtmäßigen

Verhaltens. Das ist die Möglichkeit, die das Recht (!) bietet und nahelegt. In der Strafrechtswissenschaft

heißt die Lösung „übergesetzlicher Notstand“. Er ist an enge rechtliche (!) Voraussetzungen gebunden

und entschuldigt den konkreten Täter, obwohl seine Handlung rechtswidrig ist. Pilot Koch könnte also,

wenn die Voraussetzungen vorliegen, ohne weiteres freigesprochen werden. Er könnte auch verurteilt

werden, zum Beispiel wenn sich herausstellte, dass er die Maschine nur deshalb abschießt, weil darin

sein steinreicher Erbonkel sitzt, dass er die Lage also nur für persönliche Zwecke ausnutzt.

Ein klarer Fall von "Kaisers neuen Kleidern"

Über die Schuld und Verantwortung des Piloten Koch kann man also nach rechtlichen Maßstäben

entscheiden, ganz ohne dass man deshalb anordnen müsste, der Staat dürfe die Tötung seiner Bürger

Page 5: Menschenwürde Menschenrechte · PDF fileMenschenwürde Menschenrechte Erstellen Sie anhand der folgenden Aufgaben zum Text „Die Würde ist antastbar“ (Ferdinand von Schirach)

anordnen, wenn das „Prinzip des geringen Übels“ es gebietet, oder das „Gewissen“ des Herrn

Ministers. Genau darum geht es nämlich. Frappierenderweise trug der „freisprechende“ Vorsitzende,

nach dem Ratschluss seiner Fernsehschöffen, am Ende eine Urteilsbegründung vor, die dieser Lösung

irgendwie recht nahekam. Allerdings beruhte diese Lösung überhaupt nicht auf dem im „Prozess“

erörterten Stoff: Dort war von Schuldausschließungsgründen oder Verbotsirrtümern keine Rede. Die

Begründung, welche das Gericht aus dem Fernsehzylinder zaubert, geht also an den Argumenten des

Stücks und am Verständnis der Zuschauer komplett vorbei. Und bis zum Schluss bleibt unklar (und ist

zweifelhaft), ob Autor und Inszenierung das selbst überhaupt gemerkt haben. Großes Durcheinander

bis zur Zielgeraden.

Das ist das Infame an der Schirach’schen „Ungenauigkeit“: Indem er den Staat gleichsetzt mit dem

armen moralischen Würstchen auf der Anklagebank, verniedlicht er den Leviathan der Gewalt2 und

macht zugleich den Menschen und Bürger Koch zum Objekt staatlicher Gewalt: Weil das Prinzip der

Menschenwürde gilt, […] deshalb „muss Herr Koch die Konsequenzen tragen“. Meint: Lebenslang in

den Knast. Das soll angeblich die Botschaft sein, die das „formale Recht“ zu diesem Fall hat: Der

Einzelne muss sich um des staatlichen Prinzips willen opfern lassen.

Das alles ist so dermaßen falsch und verquast und verdreht, dass einem übel wird. Das Recht unseres

Staates sagt nämlich genau das Gegenteil: Aus dem Grundsatz der Menschenwürde, der

gleichbedeutend ist mit der Idee des Rechts, folgt gerade eben nicht, dass der einzelne Bürger vom Staat

wie ein Objekt, eine Sache, ein Beispielsfall für irgendein Großes & Ganzes behandelt werden darf. Der

Beschuldigte im Strafverfahren, so sagt es das Bundesverfassungsgericht seit Jahrzehnten immer

wieder, darf niemals bloßes Objekt des Verfahrens oder einer generalpräventiven „Demonstration“ von

Rechtsprinzipien sein.

Damit ist aber die abwegige und rechtsfeindliche These widerlegt, die dem ganzen Schirach’schen

Spektakel zugrunde liegt: Es gehe um eine Entscheidung zwischen Recht und Moral, Recht und

Gerechtigkeit. "Notwehr, Schuld, Gerechtigkeit, Naturrecht, Gewissen", und all das Gefasel der

Protagonisten auf der Bühne, sind – nach ihrem eigenen Eingeständnis! – nur leere Worte. Ihnen geht

es nicht um Begründungen, nicht ums Recht – es geht um das "Richtige", also ums "Ergebnis". Und das,

so Schirach, lässt sich mit rechtlichen Mitteln nicht erreichen.

Quelle: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-10/ard-fernsehen-terror-ferdinand-von-schirach-fischer-im-recht/

2 In Anlehnung an Thomas Hobbes: In seinem Hauptwerk „Leviathan“ lehnt er sich an das gleichnamige biblisch-mystische Ungeheuer an und vergleicht die (absolutistische) Staatsmacht mit dessen Allmacht. Die Hauptforderung Hobbes‘ zur Eindämmung des staatlichen „Ungeheuer“ ist der Abschluss eines Gesellschaftsvertrags, welcher jede Herrschaft und Macht sowie das Recht im (demokratischen) Staat legitimiert.

Page 6: Menschenwürde Menschenrechte · PDF fileMenschenwürde Menschenrechte Erstellen Sie anhand der folgenden Aufgaben zum Text „Die Würde ist antastbar“ (Ferdinand von Schirach)

haben Sie das „Kanzlerduell“ ge-sehen, das auf allen Kanälen zumhöhepunkt des Wahlkampfs er-

klärt wurde? Stefan raab fragte PeerSteinbrück dort immer wieder, ob dieKanzlerin ihren Amtseid verletze, weilsie zu wenig gegen die Abhörangriffe derNSA unternehme. Versäumte sie es, Scha-den vom deutschen Volk abzuwenden?Steinbrücks Antwort blieb merkwürdigschwammig: „Frau Merkel hat ihrenAmtseid wahrzunehmen.“ es war richtig,die Frage zu stellen, sie streift die Ober-fläche eines grundsätzlichen Problems:des rechtsbruchs unserer eigenen regie-rungen. Unsere Freiheit wird im Namender Sicherheit geopfert. Aber wir lebenin einer Demokratie, wir können das än-dern. Die Frage ist, ob wir das wollen.

In der Nacht zum 2. Mai 2011 erschos-sen amerikanische Soldaten den terroris-ten Osama Bin Laden. Den Befehl dazugab der Präsident der Vereinigten Staaten.Als der tod des terroristen verkündetwurde, brach in Amerika Jubel aus, inNew York tanzten Menschen auf der Stra-ße. Barack Obama verkündete stolz:„Der gerechtigkeit ist genüge getan.“Kurz darauf sagte die deutsche Bundes-kanzlerin: „Ich freue mich darüber, dasses gelungen ist, Bin Laden zu töten.“ Unddamit wir uns nicht über Merkels Freudewundern, erklärte Volker Kauder, dieKanzlerin habe sich natürlich ganz christ-lich gefreut: „Als christ gibt es für michdas Böse in der Welt. Osama war böse.Und man darf sich als christ freuen,wenn es weniger Böses auf der Welt gibt.“

Aber vielleicht ist es doch nicht soleicht. Darf ein einzelner Mann oder eineregierung wirklich als Ankläger, Vertei-diger und richter in einer Person ent-scheiden, wer lebt und wer stirbt? es gabeine Fülle von rechtfertigungsversuchen,aber die meisten Völkerrechtler verwar-fen sie. Und wenn wir genau hinsehen,sind all die gesetze und völkerrechtlichenregelungen, die wir gegen unser Bedürf-nis nach rache errichtet haben, Ausdruckfür etwas anderes, etwas, was hinter ih-nen steht und was größer ist als sie.

Am 5. Juli 1884 geriet die „Mignonette“,ein kleiner englischer Frachter, in einenSturm. Das Schiff wurde auf das offene

Meer abgetrieben. etwa 1600 Meilen vordem Kap der guten hoffnung kenterte esund sank. Die Mannschaft bestand aus vierPersonen: dem Kapitän, zwei kräftigen Ma-trosen und einem 17-jährigen magerenSchiffsjungen. Sie konnten sich auf ein Bei-boot retten. Als das Meer sich beruhigt hat-te, überprüften sie ihre Vorräte. es sahschlecht aus: An Bord waren lediglich zweiDosen mit rüben. Sie überlebten damitdrei tage. Am vierten tag fingen sie einekleine Schildkröte, sie aßen davon bis zumzwölften tag. Wasser gab es nicht, nurmanchmal konnten sie ein paar tropfenregen mit ihren Jacken auffangen. Am 18.tag nach dem Sturm – inzwischen hattensie sieben tage lang nichts gegessen undfünf tage lang nichts getrunken – schlugder Kapitän vor, einen aus ihrem Kreis zutöten, um die anderen zu retten. Drei tagespäter hatte der Kapitän die Idee, Lose zuziehen – wer verliere, solle getötet werden.

Aber dann fiel ihnen ein, dass sie selbstFamilien hatten, der Junge aber nur einWaisenkind sei. Sie verwarfen die Idee mitden Losen wieder. Der Kapitän war derAnsicht, dass es besser sei, einfach nur denJungen zu töten. Am nächsten Morgen –noch immer war keine rettung in Sicht –ging der Kapitän zu dem Jungen. er laghalb verrückt vor Durst in einer ecke desBootes, er hatte Meerwasser getrunken,sein Körper war dehydriert. es war klar,dass er in den nächsten Stunden sterbenwürde. Der Kapitän sagte zu ihm, seineZeit sei gekommen. Dann stach er ein Mes-ser in seinen hals.

In den folgenden tagen aßen die See-leute teile des Körpers des Jungen undtranken sein Blut. Am zweiten tag nachder tat entdeckten Passagiere eines vor-beifahrenden Schiffes das Boot. Die dreiüberlebenden wurden gerettet und nachengland gebracht. Jede Zeitung des Landesund fast jede europas brachte die geschich-

te. es gab Zeichnungen der furchtbarenereignisse auf den titel seiten, alle einzel-heiten wurde vor dem Publikum ausgebrei-tet. Die Stimmung in der Bevölkerung warfür die Seeleute, sie hätten schon genugdurch gemacht. Die Staatsanwaltschaft ließsie trotzdem verhaften und stellte sie vorgericht. einer der beiden Matrosen hattesich als Zeuge zur Verfügung gestellt, erselbst wurde nicht angeklagt. Der Fall gingunter dem Namen „Die Königin gegenDudley und Stephens“, das waren die Na-men der beiden Seeleute, in die rechts -geschichte ein. Die einzige Frage des Pro-zesses lautete: Durften die Seeleute denSchiffsjungen töten, um ihr eigenes Lebenzu retten? Drei Leben gegen eines. Dasgericht sollte darüber urteilen, ob eine sol-che rechnung erlaubt ist.

Ich vermute, die meisten Menschen hät-ten bei einem Freispruch ein schlechtesgefühl. Aber denken Sie einfach an ande-re Zahlen. Was wäre, wenn durch den toddes Jungen nicht 3 Seeleute überlebt hät-ten, sondern 300? Ändert sich etwas, wennes 30000 oder 300000 wären? Ist es tat-sächlich eine Frage der Zahl? Das ist keintheoretisches, sondern ein sehr aktuellesProblem: Stellen Sie sich vor, auf demFlughafen Köln/Bonn ist eine Maschinegestartet. ein Mann verschafft sich Zugangzum cockpit, er tötet Pilot und co-Pilot.Der Mann erklärt über Funk, er fliege dievollgetankte Maschine nach Berlin undlasse sie auf den Potsdamer Platz abstür-zen. Vier Abfangjäger der Bundeswehrsind aufgestiegen. Sie fliegen dicht nebender entführten Maschine. Die Bundeskanz-lerin ist evakuiert worden. Lässt dieBundes regierung die Maschine abschießen,rettet sie tausende unschuldige Menschen.Sie hat sich die Passagierliste geben lassen.164 reisende, geschäftsleute auf dem Wegnach Berlin, zwei schwangere Frauen,sechs Kinder, ein hund. Die regierungmuss entscheiden: Was sind 164 gegen tau-sende? Und wenn das Flugzeug abstürzt,würden den reisenden doch sowieso nurwenige Minuten bis zum sicheren tod blei-ben. Was würden Sie selbst tun?

Unser grundgesetz beginnt mit demSatz: „Die Würde des Menschen ist un-antastbar.“ Das ist natürlich falsch, denndie Würde wird dauernd angetastet. es

Kultur

d e r s p i e g e l 3 8 / 2 0 1 3138

B ü r g e r r e c h t e

Die Würde ist antastbarWarum der terrorismus über die Demokratie entscheidet

Von Ferdinand von Schirach

Darf ein einzelner Menschals Ankläger, Verteidiger und

Richter entscheiden,wer lebt und wer stirbt?

Page 7: Menschenwürde Menschenrechte · PDF fileMenschenwürde Menschenrechte Erstellen Sie anhand der folgenden Aufgaben zum Text „Die Würde ist antastbar“ (Ferdinand von Schirach)

d e r s p i e g e l 3 8 / 2 0 1 3 139

Unsere Freiheit wird im Namen der Sicherheit geopfert. Aber wir leben ineiner Demokratie, wir können das ändern, wenn wir wollen.

RIC

CA

RD

O V

EC

CH

IO /

DE

R S

PIE

GE

L

Page 8: Menschenwürde Menschenrechte · PDF fileMenschenwürde Menschenrechte Erstellen Sie anhand der folgenden Aufgaben zum Text „Die Würde ist antastbar“ (Ferdinand von Schirach)

soll heißen, dass die Würde nicht ange-tastet werden darf. Der Satz steht nichtzufällig am Anfang unserer Verfassung.er ist ihre wichtigste Aussage. Dieser ers-te Artikel besitzt eine „ewigkeitsgaran-tie“, das heißt, er kann nicht geändertwerden, solange das grundgesetz gilt.Aber was ist diese Würde, von der auchdie Politiker gern reden, eigentlich? DasBundesverfassungsgericht sagt, Würde be-deute, ein Mensch dürfe niemals zum blo-ßen Objekt staatlichen handelns gemachtwerden. Aber was soll das sein: „ein blo-ßes Objekt staatlichen handelns“?

Die Idee geht auf Kant zurück. DerMensch, sagte Kant, könne sichseine eigenen moralischen geset-

ze geben und nach ihnen handeln, dasunterscheide ihn von allen anderen We-sen. er erkenne die Welt, er könne übersich selbst nachdenken. Deshalb sei erSubjekt und nicht, wie ein tier oder einStein, bloßes Objekt. Kant nennt ihn, denvernünftigen Menschen, „Person“, demallein Würde zukomme.

Schopenhauer warf Kant vor, er habeden Begriff nicht hinreichend bestimmt.ganz unrecht hat er damit wohl nicht:Weshalb ein Wesen, das sich seiner selbstbewusst ist, „Person“ sein soll und alle an-deren Lebewesen nicht, erklärt Kant nicht.Ich glaube, er brauchte keine weitere Be-gründung. Denn ob wir es wollen odernicht: Unser gesamtes Denken ist tief undin jedem Bereich vom christentum beein-flusst. Dabei ist es ganz gleichgültig, obwir an einen gott glauben oder nicht. DasNeue dieser religion war ja nicht die er-schaffung eines neuen gottes. Das Neuewar die kompromisslose Achtung des Mit-menschen. Unsere Philosophie, unsereKunst, unsere Kultur sind ohne diese Ach-tung nicht vorstellbar. Die Achtung vordem anderen Menschen bedeutet nichtsanderes, als ihn zum Subjekt zu machen.Die Verfassung geht daher auch weiter,als Kant das tat: Bei Kant können nur ver-nünftige Menschen Personen sein – einKind oder ein geistig Behinderter fälltnicht darunter. Der Verfassung reicht eshingegen, wenn der Mensch ein Menschist. Schon dadurch ist er Subjekt und be-sitzt Würde. Wenn nun über einen Men-schen bestimmt wird, ohne dass er daraufeinfluss nehmen kann, wenn also überseinen Kopf hinweg entschieden wird,wird er zum Objekt. Und damit ist klar:Der Staat kann ein Leben niemals gegenein anderes Leben aufwiegen. Keinerkann wertvoller sein als ein anderer, ebenweil Menschen keine gegenstände sind.Und das gilt auch für große Zahlen.

Ist das nur eine Idee der Professoren undder Philosophen? eine Forderung der Ver-fassungsrichter, die weit weg von den An-strengungen unseres normalen Lebens ent-scheiden? Nein, im gegenteil: Stellen Siesich nur einmal vor, was passieren würde,

wenn wir ein Leben gegen ein anderes auf-rechnen dürften: Drei Patienten sind ster-benskrank. Dem einen fehlt eine Niere, dasherz des zweiten bleibt gleich stehen, derdritte hat so viel Blut verloren, dass aucher sterben wird. ein völlig gesunder Mann,nur mit Schnupfen, sitzt im Wartezimmerund liest Zeitung. Wenn wir Leben gegenLeben rechnen, muss der Arzt den gesun-den ausnehmen, um die anderen drei zuretten. eins zu drei eben. In einer solchenWelt wäre es noch gefährlicher, zum Arztzu gehen, als es ohnehin schon ist.

„Im echten Leben“, im Fall des Flug-zeugentführers, zweifeln wir trotzdem, obdie Wertung der Verfassung richtig ist.Wenn es gar nicht anders geht, dürfen undmüssen wir den Mann töten, der kurz da-vor ist, eine Bombe zu zünden. Niemand,der vernünftig ist, kann das bestreiten.Aber wir dürfen niemals einen Unschuldi-gen für unser eigenes überleben opfern,wir können Leben nicht gegen Leben ab-wägen – auch wenn das andere Leben„nur“ ein magerer, halbtoter Schiffsjungeist oder wenn es „nur“ 164 reisende in einem Flugzeug sind. Der richter in demFall „Die Königin gegen Dudley und Ste-

phens“ brachte es auf den Punkt:  „Wieschrecklich die Versuchung war, wieschrecklich das Leiden (der Seeleute) …Aber wie soll der Wert von Leben vergli-chen werden?“ Dann heißt es weiter: „Solles Kraft sein oder Intellekt oder etwas an-deres? … In dem Fall wurde das schwächs-te, das jüngste, das widerstandsloseste Leben gewählt. War es richtiger, ihn zutöten, als einen der erwachsenen Männer?Die Antwort muss lauten: ‚Nein.‘“

Die regierungen haben längst damitbegonnen, diese grundsätze in Frage zustellen. Mit immer komplizierteren Kon-struktionen wird heute versucht, diesevollkommen klare entscheidung für diegleichwertigkeit der Menschen zu umge-hen. es gibt zahlreiche Beispiele: BarackObama erklärte kurz nach seinem Amts-antritt, die USA würden den Kampf gegengewalt und terrorismus weiter verfolgen,aber auf eine Weise, „die unsere Werteund unsere Ideale achtet“. er sagte, erwerde das Lager in guantanamo schlie-ßen, und bekam den Friedensnobelpreis.endlich schien Amerika – dieses im letz-ten Jahrhundert so strahlende Land, derBürge der Welt für Freiheit, Fairness undAnständigkeit – sich wieder auf seine Idea-le zu besinnen. es war ein glücklicher Mo-ment. Die erklärung des Präsidenten istnun vier Jahre her. Seitdem werden in

guantanamo weiter rechtlose Menschenfestgehalten, erniedrigt und gequält.

Auch in der Bundesrepublik gibt es seitJahren eine solche Bewegung. Derrechtswissenschaftler günther Jakobs unterschied in einem Aufsatz 1985 zumersten Mal zwischen Feindstrafrechtund Bürgerstrafrecht. er berief sich dabeiauf die Vertragstheorie von thomas hobbes: ein Mensch, der die gesellschaftverlasse, begebe sich in einen gesetzlosenNaturzustand und werde zum Feind. Undals Feind müsse er bekämpft werden. ter-roristen, die den Staat und die Verfassungselbst  angreifen, sind danach vogelfrei,sie werden zu rechtlosen. Nach diesertheorie dürfen sie gefoltert oder getötetwerden, wenn sie unsere gesellschaft zer-stören wollen – ein Lager wie in guanta-namo wäre auch in Deutschland legal.Das ist nicht bloß eine abstrakte Diskus-sion – sie wird erbittert geführt, und esgibt ernsthafte Leute, die einem sol -chen Feindstrafrecht zugeneigt sind. Nachdem 11. September 2001 fragte Jakobs,ob die Bindungen, die sich der rechts-staat gegenüber seinen Bürgern auferlegt,gegenüber terroristen nicht vielleicht„schlechthin unangemessen“ seien.

Während aber Jakobs nur terroristenund Mafia-Mitglieder nach  Feindstraf-recht bekämpfen wollte, wurde bei demFall Magnus gäfgen diskutiert, ob beson-ders abscheuliche Verbrechen nicht auchdurch Folter aufgeklärt werden dürfen –zumindest, wenn ein anderes Leben dadurch vielleicht gerettet werden kann.Das Wort von der rettungsfolter machtedie runde. Bei gäfgen handelte es sichweder um einen terroristen noch um einen Mafioso. Viele waren und sind den-noch sofort bereit, ihm die Menschenwür-de abzusprechen. Sogar der damalige Vor-sitzende des Deutschen richterbundeshielt Folter nicht für ausgeschlossen, undes gab Professoren, die dem zustimmten.

Vielleicht glauben Sie ja, in diesemLand wären zumindest die bürger-lichen Politiker zu vernünftig, um

grundrechte wegen einer terroristischengefahr tatsächlich zu beschneiden. Dasgegenteil ist der Fall: erst 2007 stimmtencDU, cSU und SPD für die Vorratsdaten -speicherung. Jeder Bürger konnte damitüberwacht werden. Das gesetz folgte aufdie Anschläge in Madrid und London,nur so sei der Kampf gegen den terrorzu gewinnen. Später stellte das Bundes -kriminalamt fest, dass sich die Aufklä-rung durch die Vorratsdatenspeicherungim besten Fall um 0,006 Prozentpunkte erhöhen würde. So wenig reichte alsoaus, um unsere grundrechte zu verlet-zen. es ist unwahrscheinlich, dass dieZahlen bei der NSA wesentlich höhersind. Das Bundesverfassungsgericht hobdas gesetz wieder auf. Und die Politiker?Sie traten nicht zurück, sie entschuldig-

Kultur

d e r s p i e g e l 3 8 / 2 0 1 3140

Auch nach dem Friedens -nobelpreis für Obama

werden in Guantanamo Men-schen gefangen gehalten.

Page 9: Menschenwürde Menschenrechte · PDF fileMenschenwürde Menschenrechte Erstellen Sie anhand der folgenden Aufgaben zum Text „Die Würde ist antastbar“ (Ferdinand von Schirach)

ten sich nicht, sie schämten sich nochnicht einmal. 

Die Anhänger des Feindstrafrechts, derPolizist, der Folter androht, Barack Obamamit seinem tötungsbefehl und Angela Mer-kel in ihrer Freude – sie alle irren sich. Mitden rechten des Menschen ist es nämlichin Wirklichkeit wie mit der Freundschaft.Sie taugt nichts, wenn sie sich nicht auchund gerade in den dunklen, in den schwie-rigen tagen bewährt. Unser Konsens, dassunsere regierungen niemals bewusst einenrechtsbruch begehen dürfen, die grund -lage unserer Verfassungen also, wird jetztdauernd verletzt: Kriegsdrohnen töten Zi-vilisten, terroristen werden gefoltert undrechtlos gestellt, unsere e-Mails und SMSwerden von den geheimdiensten gelesen,weil wir unter generalverdacht stehen. Dasalles geht zwar nicht von unserer regierung

aus, und das recht verlangt von niemandenetwas, was er nicht leisten kann. Natürlichkann die Kanzlerin guantanamo nicht auf-lösen oder die NSA abschaffen – ihren eidhat sie also nicht gebrochen. Aber das alleinreicht nicht, die Aufgabe der regierunggeht viel weiter. Wenn Politiker nicht mehralles tun, um die Verfassung zu schützen,wenn sie den fremden rechtsbruch mittra-gen und wenn er manchmal sogar Freudein ihnen auslöst, stellt das uns selbst in Fra-ge. Die westliche Welt, ihre Freiheit undihr Selbstverständnis, wird nicht an Auto-bahnmaut, Steuererhöhung oder Pflegever-sicherung entschieden – sie entscheidet sicham Umgang mit dem recht. 

Der alte englische richter verurteilte dieSeeleute wegen Mordes zum tode, emp-fahl aber ihre Begnadigung. Nach sechsMonaten wurden sie von der Krone wieder

auf freien Fuß gesetzt. In der Urteilsbe-gründung stehen die großartigen Sätze, andie wir uns heute – 130 Jahre später – nochhalten sollten: „Wir werden häufig dazugezwungen, Standards aufzustellen, diewir selbst nicht erreichen, und regeln fest-zulegen, die wir nicht selbst befriedigenkönnen … es ist nicht notwendig, auf dieschreckliche gefahr hinzuweisen, die esbedeutet, diese grundsätze aufzugeben.“

Schirach, 1964 in München geboren, istStrafverteidiger und Schriftsteller. Geradeist sein neuer Roman „Tabu“ im Piper Ver-lag erschienen.

Riccardo Vecchio, 1970 in Mailand geboren,ist Künstler und lebt in New York. Zuletzthat er im SPIEGEL Botho Strauß’ Essay„Der Plurimi-Faktor“ (31/2013) illustriert.

d e r s p i e g e l 3 8 / 2 0 1 3 141

RIC

CA

RD

O V

EC

CH

IO /

DE

R S

PIE

GE

LSchiffbrüchige töteten im Jahr 1884 einen Schiffsjungen,

um zu überleben. Ein berühmter Fall. Sie wurden verurteilt. Zu Recht.