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für den Film, Neu-Edition (Hg. J.C.Gall), Frankfurt/M 2006; ders. u. M. H , »Kulturindustrie. Aufklä- rung als Massenbetrug«, in: Dialektik der Aufklärung, GS 3, 141–91; C. B , Literatur und intellektuel- ler Kitsch. Das Beispiel Stendhals. Zur Sozialneurose der Moderne, Heidelberg 1964; W. B, »Traumkitsch« (1925), GS II, 620–22; E. B, »Schreibender Kitsch«, in: ders., Erbschaft dieser Zeit (1935), GA 4; ders. u. H. E , »Avantgarde-Kunst und Volksfront« (1937), Eisler, GW 1, 397-403; H.B, »Einige Bemerkungen zum Problem des Kitsches«, in: Essays, Bd. 1, Dichten und Erkennen, Zürich 1955, 295-309; D (A.Kemény), »Kitsch als Kunstideal. Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus«, in: Der Gegen-Angriff (Prag/Paris), 1. Jg., 1933, Nr. 24, 31. Dez.; ders., »Goebbels gegen Göring. Zur Kunstpoli- tik des Nationalsozialismus«, in: ebd., 2. Jg., 1934, H. 2, 14. Jan.; H. E , »›Freizeit‹ im Kapitalismus. Die mate- rialistische Grundlage des Kitsches« (1933), GW 1, 204–08 (= »N.D.A. oder die neue Organisation der Freizeit«, GA IX.1.1, 185-88, bzw. »Einiges über das Verhalten der Arbei- tersänger«, ebd., 221-23); W.F. H, Kritik der Warenäs- thetik, Frankfurt/M 1971; J. H, Pop International, eine kritische Analyse, Frankfurt/M 1971; F. K, Der Kitsch. Eine Studie über die Entartung der Kunst , Ham- burg 1925; D. K, »Kitsch«, in: ÄG 3, 2001, 273–88; W .K , »Kitsch«, in: Metzler Lexikon Ästhetik, hgg. v. A.Trebeß, Stuttgart 2006, 194f; L. K, Gegenstand und Raum. Über die Historizität des Ästhetischen, Dres- den 1981; G. L, Die Eigenart des Ästhetischen , W 11 u. 12, 1963; L. M, »Sozialismus und Künstler« (1918), in: Formen für den Alltag. Schriften, Aufsätze, Vorträge,  hgg. v. R.May, Dresden 1982, 34–38; E.H. M , Musik im Zeitgeschehen, Berlin 1952, 161–64; P. P, »Musika- lischer Kitsch: Berührungspunkte zwischen Pop und Klas- sik«, in: Aufsätze zur populären Musik, hgg. v. G.Mayer, Berlin 1991, 187–97; O. R (Hg.), O Lust, allen alles zu sein. Modelektüre um 1800, Leipzig 1978; G. R , »Aufbrüche in den Kitsch?«, in: Musik und Gesellschaft, 40. Jg., 1990, H. 2, 80–84; ders., »Im Blick zurück nach vorn. Lebensbilder in der Wiener Operette«, in: Musik- theater im Experiment, Berlin 2004, 208–17; ders., »Grä- n Mariza . Drama turgische Notizen«, in: ebd., 218–26; J.S-S (Hg.), Literarischer Kitsch. Texte zu seiner Theorie, Geschichte und Einzelinterpretation , Tübingen 1979; K.S, »Neudeutscher Kitsch. Göring auf der Elchjagd – Horst Wessel und die Maikäfer – Wallfahrt nach Braunau«, in: Der Gegen-Angriff (Prag/Paris), 2. Jg., 1934, H. 41, 12. Okt.; G. U, Glanzvolles Elend. Über Kitsch und Kolportage, Frankfurt/M 1973; G. W, Theorie und Didaktik der T rivialliteratur . Modellanalysen, Didaktikdiskussion, literarische Wertung, München 1973; P .W, Rockmusik. Ästhetische und soziologische Aspekte eines Massenmediums, Leipzig 1987; ders ., Rockmusik und Politik. Analysen. Interviews. Dokumente, Berlin 1996; C.Z, »Kunst und Proletariat« (1911), in: dies., Theo- rie und Taktik der Kommunistischen Bewegung , Leipzig 1974, 333–47. G M, G R Alltag, Arbeiterkultur, Ästhetik, Basisästhetik, Bedürf- nis, disponible Zeit, Dummheit in der Musik, Entfrem- dung, Faschismus, Fetischcharakter der Ware, Freizeit, Gebrauchswert, Gebrauchswertversprechen, Gegenkultur, Genuss, Glück, Hoffnungslosigkeit, Hollywood, Illusion, Ironie, Jazz, Jugend, Kampied, Karikatur, Kleinb ürger, Komisches, Konsumgesellschaft, Kulinarisches, Kultur- industrie, Massenkultur, Mode, Müll, Personenkult, Pop- musik, Popularkunst, Produktästhetik, Proletkult, Resig- nation, Schlaraffenland, Schönheit, Subkultur, subversiv, Surrealismus, Tauschwert, Unterhaltung, Verdinglichung, Verdrängung, Vergegenständlichung, Versöhnung, visuelle Kultur, Volkskultur im Kapitalismus, Volkskultur (vorka- pitalistische), Volkstümlichkeit, Warenästhetik, Wertkate- gorien, Zerstreuung Klasse an s ich / für sich A: ˜abaquah bi¦°tih° / li¦atih°. E: class in itself / for itself. – F: classe en soi / po ur soi. R: klass v sebje / dlja sebja. – S: clase en sí / para sí. C: zizai jieji / ziwei jieji 自在阶级 自在阶级/ 自为阶级 自为阶级 Die Ausdrücke »Klasse an sich«, »Klasse für sich« und »Klasse an und für sich«, die M zugeschrie- ben zu werden pegen, nden sich bei diesem nicht. B etwa behauptet in seiner Theorie des his- torischen Materialismus (1922, §54), M verwende die Ausdrücke »Klasse an sich« und »Klasse für sich« in Elend. Doch dort und zumal in dem von B als Belegstelle zitierten Passus unterscheidet M  »eine Klasse gegenüber dem Kapital«, in der eine »Masse« von Besitzlosen zusammengewürfelt ist, von einer »Klasse für sich selbst«, in die sich diese Masse über Konikte, Erfahr ungen un d Orga nisa- tion verwandelt (4/181). Die objektive Lage jener Masse geht ihrer intersubjektiven Realisierung vor- aus. Daher die auf den ersten Blick paradoxe Einsicht, die E.P.T mit seinem Kontrahenten A-  teilt, dass der Klassenkampf der Klasse (im vollen Sinn) vorausgeht. Red. Als soziale Klassen werden die großen Gruppen bezeichnet, in die sich Gesellschaften teilen und die sich nach ihren ökonomischen Stellungen und Lebenslagen, nach ihren inneren Handlungsdisposi- tionen und ihren äußeren Handlungsmöglichkeiten differenzieren und ggf. einander entgegensetzen. M und E unterscheiden sie nach ihrer Stel- lung innerhalb einer historischen Produktionsweise und spezischer Her rschaft sverh ältniss e sowie nach ihrer Praxis im Feld gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen. ›Klasse‹ ist für sie zunächst ein heuristisches Konzept: Wie eine ›Klasse an sich‹ zu einer »Klasse für sich selbst« (4/181) bzw. vom Objekt zum Subjekt der Geschichte wird, ist nicht Klasse an sich / für sich 735 736

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für den Film, Neu-Edition (Hg. J.C.Gall), Frankfurt/M2006; ders. u. M.H , »Kulturindustrie. Aufklä-rung als Massenbetrug«, in: Dialektik der Aufklärung,GS 3, 141–91; C.B, Literatur und intellektuel-ler Kitsch. Das Beispiel Stendhals. Zur Sozialneurose der Moderne, Heidelberg 1964; W.B, »Traumkitsch«

(1925), GS II, 620–22; E.B, »Schreibender Kitsch«, in:ders., Erbschaft dieser Zeit (1935), GA 4; ders. u. H.E ,»Avantgarde-Kunst und Volksfront« (1937), Eisler, GW 1,397-403; H.B, »Einige Bemerkungen zum Problemdes Kitsches«, in: Essays, Bd. 1, Dichten und Erkennen,Zürich 1955, 295-309; D (A.Kemény), »Kitsch alsKunstideal. Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus«,in: Der Gegen-Angriff (Prag/Paris), 1. Jg., 1933, Nr. 24,31. Dez.; ders., »Goebbels gegen Göring. Zur Kunstpoli-tik des Nationalsozialismus«, in: ebd., 2. Jg., 1934, H. 2,14. Jan.; H.E , »›Freizeit‹ im Kapitalismus. Die mate-rialistische Grundlage des Kitsches« (1933), GW 1, 204–08(= »N.D.A. oder die neue Organisation der Freizeit«, GAIX.1.1, 185-88, bzw. »Einiges über das Verhalten der Arbei-

tersänger«, ebd., 221-23); W.F.H, Kritik der Warenäs-thetik, Frankfurt/M 1971; J.H, Pop International,eine kritische Analyse, Frankfurt/M 1971; F.K, Der Kitsch. Eine Studie über die Entartung der Kunst , Ham-burg 1925; D.K, »Kitsch«, in: ÄG 3, 2001, 273–88;W.K , »Kitsch«, in: Metzler Lexikon Ästhetik, hgg.v. A.Trebeß, Stuttgart 2006, 194f; L.K, Gegenstandund Raum. Über die Historizität des Ästhetischen, Dres-den 1981; G.L, Die Eigenart des Ästhetischen, W 11u. 12, 1963; L.M, »Sozialismus und Künstler« (1918),in: Formen für den Alltag. Schriften, Aufsätze, Vorträge, hgg. v. R.May, Dresden 1982, 34–38; E.H.M , Musikim Zeitgeschehen, Berlin 1952, 161–64; P.P, »Musika-lischer Kitsch: Berührungspunkte zwischen Pop und Klas-

sik«, in: Aufsätze zur populären Musik, hgg. v. G.Mayer,Berlin 1991, 187–97; O.R (Hg.), O Lust, allen alleszu sein. Modelektüre um 1800, Leipzig 1978; G.R ,»Aufbrüche in den Kitsch?«, in: Musik und Gesellschaft,40. Jg., 1990, H. 2, 80–84; ders., »Im Blick zurück nachvorn. Lebensbilder in der Wiener Operette«, in: Musik-theater im Experiment, Berlin 2004, 208–17; ders., »Grä-fi n Mariza. Dramaturgische Notizen«, in: ebd., 218–26;J.S-S (Hg.), Literarischer Kitsch. Texte zu seiner Theorie, Geschichte und Einzelinterpretation, Tübingen1979; K.S, »Neudeutscher Kitsch. Göring auf derElchjagd – Horst Wessel und die Maikäfer – Wallfahrtnach Braunau«, in: Der Gegen-Angriff (Prag/Paris), 2. Jg.,1934, H. 41, 12. Okt.; G.U, Glanzvolles Elend. Über 

Kitsch und Kolportage, Frankfurt/M 1973; G.W,Theorie und Didaktik der Trivialliteratur. Modellanalysen,Didaktikdiskussion, literarische Wertung, München 1973;P.W, Rockmusik. Ästhetische und soziologische Aspekteeines Massenmediums, Leipzig 1987; ders., Rockmusik undPolitik. Analysen. Interviews. Dokumente, Berlin 1996;C.Z, »Kunst und Proletariat« (1911), in: dies., Theo-rie und Taktik der Kommunistischen Bewegung, Leipzig1974, 333–47.

G M, G R 

➫ Alltag, Arbeiterkultur, Ästhetik, Basisästhetik, Bedürf-nis, disponible Zeit, Dummheit in der Musik, Entfrem-dung, Faschismus, Fetischcharakter der Ware, Freizeit,Gebrauchswert, Gebrauchswertversprechen, Gegenkultur,Genuss, Glück, Hoffnungslosigkeit, Hollywood, Illusion,Ironie, Jazz, Jugend, Kampfl ied, Karikatur, Kleinbürger,

Komisches, Konsumgesellschaft, Kulinarisches, Kultur-industrie, Massenkultur, Mode, Müll, Personenkult, Pop-musik, Popularkunst, Produktästhetik, Proletkult, Resig-nation, Schlaraffenland, Schönheit, Subkultur, subversiv,Surrealismus, Tauschwert, Unterhaltung, Verdinglichung,Verdrängung, Vergegenständlichung, Versöhnung, visuelle

Kultur, Volkskultur im Kapitalismus, Volkskultur (vorka-pitalistische), Volkstümlichkeit, Warenästhetik, Wertkate-gorien, Zerstreuung

Klasse an sich / für sich

A: ˜abaquah bi¦°tih° / li¦atih°.E: class in itself / for itself. – F: classe en soi / pour soi.R: klass v sebje / dlja sebja. – S: clase en sí / para sí.C: zizai jieji / ziwei jieji 自在阶级自在阶级 /自为阶级自为阶级

Die Ausdrücke »Klasse an sich«, »Klasse für sich«und »Klasse an und für sich«, die M zugeschrie-ben zu werden pfl egen, fi nden sich bei diesem nicht.B etwa behauptet in seiner Theorie des his-torischen Materialismus (1922, §54), M verwendedie Ausdrücke »Klasse an sich« und »Klasse für sich«in Elend. Doch dort und zumal in dem von B als Belegstelle zitierten Passus unterscheidet M  »eine Klasse gegenüber dem Kapital«, in der eine»Masse« von Besitzlosen zusammengewürfelt ist,von einer »Klasse für sich selbst«, in die sich dieseMasse über Konfl ikte, Erfahrungen und Organisa-tion verwandelt (4/181). Die objektive Lage jenerMasse geht ihrer intersubjektiven Realisierung vor-aus. Daher die auf den ersten Blick paradoxe Einsicht,die E.P.T mit seinem Kontrahenten A-

 teilt, dass der Klassenkampf der Klasse (im vollenSinn) vorausgeht. Red.

Als soziale Klassen werden die großen Gruppenbezeichnet, in die sich Gesellschaften teilen unddie sich nach ihren ökonomischen Stellungen undLebenslagen, nach ihren inneren Handlungsdisposi-tionen und ihren äußeren Handlungsmöglichkeitendifferenzieren und ggf. einander entgegensetzen.M und E unterscheiden sie nach ihrer Stel-lung innerhalb einer historischen Produktionsweiseund spezifi scher Herrschaftsverhältnisse sowie nachihrer Praxis im Feld gesellschaftlicher und politischerAuseinandersetzungen. ›Klasse‹ ist für sie zunächst

ein heuristisches Konzept: Wie eine ›Klasse an sich‹zu einer »Klasse für sich selbst« (4/181) bzw. vomObjekt zum Subjekt der Geschichte wird, ist nicht

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aus einer sozio-ökonomisch beschreibbaren Klas-senstellung allein »abzuleiten«, sondern muss anden wirklichen historischen Bewegungen »studiertwerden« (Engels an C.Schmidt; 37/436f). Gleich-wohl werden Marx und Engels zwei verschiedene

Doktrinen der Klassenentwicklung zugerechnet,von denen die erste die politische und die zweite diesoziale Umwälzung der Gesellschaft stärker betont.Es handelt sich dabei um die Verfestigung histo-rischer Diagnosen, die ursprünglich auf verschiedeneKonstellationen und Phasen des Kapitalismus im 19.Jh. bezogen waren und sich nicht notwendig gegen-seitig ausgeschlossen haben. Die erste Diagnose gehtauf die spezifi sche Zuspitzung der Klassengegensätzeim England der 1840er Jahre zurück: auf eine anhal-tende Verschlechterung der Arbeits- und Lebens-bedingungen, sinkende Qualifi kationsstandards,scheiternde Streik- und Wahlrechtsbewegungen unddie Erwartung einer diese Ohnmacht beendendengewaltsamen Revolution. Sie hat die Vorstellungeneiner ›revolutionären‹ marxistischen Klassentheorienoch im 20. Jh. dominiert. – Die zweite Diagnose ent-stand gleichzeitig, wurde aber erst nach der geschei-terten Revolution von 1848, unterm Eindruck einesanhaltenden internationalen Wachstums der Produk-tivkräfte und der organisierten Arbeiterbewegung,näher ausgearbeitet. Zusammengefasst ist sie in demTheorem, dass sich schon innerhalb der kapitalistischdominierten Ordnung der Widerspruch zwischenden institutionellen Produktionsverhältnissen undden über den Kapitalismus hinausweisenden ökono-mischen Produktivkräften entwickle. Die Arbeiter-klasse wird als die größte dieser Produktivkräfte undAusgangsbasis einer institutionellen Gegenmachtbil-dung verstanden.

Nach 1848 beobachteten M und E auf-merksam die Entstehung neuer Gegenmachtpoten-ziale in den fortgeschrittenen Ländern. Sie kritisier-ten die Verselbständigung des Staatsapparats inFrankreich und die Staatsgläubigkeit in der Arbeiter-

bewegung und unterstützten demgegenüber die Ent-stehung unabhängig von Staat und Bürgertum sichorganisierender Kräfte in Gestalt genossenschaft-licher, gemeindlicher und föderativer Selbstverwal-tung. Gleichzeitig beobachteten sie die v.a. von denFacharbeitergewerkschaften erkämpften Verbesse-rungen im Arbeits- und Wahlrecht, der Lebens- undArbeitsverhältnisse und forderten eine staatlicheArbeits-, Sozial-, Gesundheits- und Bildungspoli-tik zur Verbesserung der sozialen Lage. Diese Ver-besserungen würden allerdings das Wachstum desElends nur eindämmen, nicht aber die grundsätz-

liche »Unsicherheit der Existenz« (22/231) beenden,solange nicht auch die politische Macht übernommensei. Beide Perspektiven zielen auf die Überwindung

des Kapitalismus, deuten aber auf unterschiedlichemögliche historische Konstellationen und nationaleWege. Die Verfestigung einander ausschließenderDoktrinen war eine Folge der Enthistorisierung ihresKlassenkonzepts.

1. Das von M und E umrissene Klassen-konzept ist in dreifachem Sinn ein historisches: in derFragestellung, in der Theoriebildung und in der Zeit-gebundenheit. Diese Bedingtheit wurde in der Wir-kungsgeschichte häufi g ausgeblendet. Die Ausgangs-frage war nicht, ob es überhaupt soziale Klassen gebe.Im 19. Jh. war es eine Selbstverständlichkeit, dass derhistorische Sieg des Bürgertums über die alten herr-schenden Klassen in England und Frankreich keinEnde der Klassenunterschiede, sondern einen zusätz-lichen Gegensatz – zur neu entstehenden Klasse derindustriellen Lohnarbeiter – gebracht hatte. Ebensoselbstverständlich war es von David R (1817)bis zu Max W (1895), die fortgeschrittenenGesellschaften nach der ökonomischen Stellungihrer hauptsächlichen Glieder in die drei Klassen desgroßen Grundbesitzes, des Industriekapitals und derLohnarbeit einzuteilen, zumal diese auch die sozialenund politischen Auseinandersetzungen des Jahrhun-derts beherrschten. Strittig war demgegenüber diebis zu W leitende Frage, welche dieser Klassenzur selbständigen Gestaltung der Staats- und Gesell-schaftsordnung befähigt sei (GPS, 23), bzw. ob dieArbeiterklasse, wie vor ihr die Bourgeoisie, eine neueGesellschaftsordnung hervorbringen könne und obdiese den Anspruch der Klassenlosigkeit und Eman-zipation besser verwirklichen werde als die Bour-geoisie.

Eine auf Umgestaltung einer ganzen Gesellschafts-ordnung zielende Frage kann nicht ohne eine umfas-sende Theorie der gesellschaftlichen Entwicklungbeantwortet werden. Durch ihren kritischen Rück-griff auf die politische Ökonomie von S undR konnten M und E die sozialen

Klassen auch als ökonomische Faktoren analysie-ren. Anstatt die sozialen Kämpfe allein auf Ideenoder Machtkämpfe zurückzuführen, untersuchtensie diese »nach den existierenden empirischenDaten« (DI, 3/29) und an der »wirklichen Bewe-gung« (35) historischer Strukturen und Akteure.Ihre Untersuchungen mündeten im Theorem desWiderspruchs zwischen der Dynamik der ökono-mischen Produktivkräfte und der Beharrungskraftder in Verkehrsformen und Institutionen wirksamenProduktionsverhältnisse. Auch S und R hatten diesen Widerspruch ins Zentrum gerückt und

betont, die Entwicklung der Produktivkräfte ver-lange nach neuen institutionellen Formen. Aber siehatten angenommen, dass er mit der Durchsetzung

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der kapitalistischen Marktgesetze, durch die sichallgemeiner Wohlstand über alle sozialen Schichtender Gesellschaft ausbreiten werde (S 1776/1937,11), gelöst sei. M und E dagegen nahmenan, dass mit dem Sieg der Bourgeoisie kein Ende der

Geschichte als einer Geschichte von Produktions-weisen und Klassenkämpfen erreicht sei. Vielmehrwerde der Widerspruch zwischen vergesellschafteterArbeit und privater kapitalistischer Aneignung dieGeschichte über den Kapitalismus hinaustreiben. Indiesem Prozess werde die Arbeiterklasse, wie vor ihrdie Bourgeoisie, wiederum in zwei Gestalten auftre-ten, einmal als »die größte Produktivkraft« der Öko-nomie und dann als potenziell kämpfender Akteurim gesellschaftspolitischen Feld (4/181).

Solange sich die Elemente einer neuen historischenProduktionsweise und Gesellschaftsordnung im Schos-se der alten Gesellschaft vorbereiten, koexistieren sienoch mit den Elementen der alten Gesellschaft. Insb.Theodor G hat daraus gefolgert und an der neue-ren Entwicklung belegt, dass historische Gesellschafts-formationen nicht in ›reiner‹ Form als scharf vonein-ander trennbare feudale, ständische, kapitalistische usw.Ordnungen vorzufi nden sind, sondern dass in ihnenüber längere Zeit historisch ungleichzeitige »domi-nante« kapitalistische und »subordinierte« nichtkapita-listische Elemente miteinander streitend koexistieren(1932, 84f, 92, 103ff; 1949, 44f, 47, 152-56).

1.1 Die Entwicklung des Klassenkonzepts vonM und E war an bestimmte, die Möglich-keiten der Theoriebildung begrenzende historischeBedingungen gebunden. Die anfängliche Problem-stellung blieb stark an die spezifi sch zugespitzte(oder ›antagonistische‹) Klassenkonfrontation der1840er Jahre gebunden (vgl. 2); sie konnte die neuenund differenzierten Entwicklungen nach 1848 (vgl.3) nur wenig antizipieren und auch der Klassenent-wicklung vor 1840 (vgl. 4) nicht ohne perspektivischeVerzerrungen gerecht werden.

E legte 1845 mit Lage eine einzigartig umfas-

sende Darstellung der englischen Wirtschafts- undGesellschaftsverhältnisse vor, aber diese enthält z.T.noch lineare Prognosen, ferner Unterschätzungen desKlassenbewusstseins der Arbeiter, die auf ein Elite-Masse-Schema zurückgehen. M entwickelte 1847ein methodisch stringentes Konzept der Klassenent-wicklung, das die empirische Entwicklung der eng-lischen Gewerkschaftsbewegung nach einem praxeo-logischen Theoriekonzept auf den Begriff bringt undquer zur Alternative von idealistischen und anschau-end-materialistischen Interpretationen steht. DasTheorem der Entwicklung von der ›Klasse an sich‹

zur »Klasse für sich selbst« (4/181) enthält bereitsfast alle wesentlichen Elemente eines analytischenKonzepts sozialer Praxis (im Sinne der Thesen über 

Feuerbach), wonach die Arbeiterklasse sowohl durchbestimmte äußere Bedingungen erzeugt wird als auchdurch eigene Kämpfe und Zusammenschlüsse sichselbst erzeugt.

Das praxeologische Theorem greift seiner Zeit weit

voraus. Es gibt einen tragfähigen Rahmen für eineTheorie der Klassenbildung ab, auch wenn M undE die künftigen Schritte der Entwicklung erstnach 1848 hinreichend konkret voraussehen und wis-senschaftlich zu fassen vermochten. V.a. konnten sie,wie ihre ethnologisch-historischen Studien belegen,zu ihrer Zeit nur ansatzweise auf eine Wissenschafts-entwicklung zurückgreifen, die die Elemente einerSoziologie und Psychologie des kollektiven Verhal-tens und der Kulturen und Mentalitäten vorweg-nahm. Diese entstanden erst nach 1890, als Reaktionauf die neuen Massenbewegungen der Arbeiterklasseund waren zunächst auch kaum mit einer Klassen-analyse verbunden. Erst die Arbeiten von TheodorG (1949), Edward Palmer T (1963),Michael V (1970) und Pierre B (1979)griffen die praxeologische Klassenanalyse von M  auf und führten sie weiter.

1.2 Während M wie E die ökonomischenund politischen Prozesse weitgehend in ihrem his-torisch spezifi schen Zusammenhang miteinanderdarstellen, haben sich diese beiden Aspekte in derWirkungsgeschichte des Marxismus gegeneinanderverselbständigt. Die »subjektive Formel« (K 1938/1967, 137) ist 1848 im Manifest auf ihre Kurz-form gebracht: »Die Geschichte aller bisherigenGesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.«(4/462) Sie fasst die historischen Teile des Manifests zusammen, die auf die sozialhistorischen Arbeitender 40er Jahre zurückgehen (vgl. Lage, 2/430-55,504ff; DI, 3/17-70; Elend, 4/175-82). Die »objektiveFormel« (Korsch, aaO.) taucht 1846 als Quintessenzder DI auf: »Alle Kollisionen der Geschichte habenalso nach unsrer Auffassung ihren Ursprung in demWiderspruch zwischen den Produktivkräften und der

Verkehrsform« (3/73) bzw. – in den Worten des Vorw59 – den »Produktionsverhältnissen« (13/9).Bes. Karl K hat hervorgehoben, dass die bei-

den Formeln sich zwar ergänzen, aber auf theoreti-scher Ebene unzureichend miteinander vermitteltsind (1938/1967, 82ff, 136ff, 181ff). Auch deshalbsind sie zur Grundlage gegensätzlicher Konzepte derhistorischen Handlungsperspektive der Arbeiterbe-wegungen geworden, eines substanzialistischen bzw.mechanisch-evolutionistischen Konzepts und eines»relationalen« bzw. »praxeologischen«, wie es B-

(1976, 139-318) nannte, als er, angeregt von den

Feuerbachthesen (143, 228), seinen »Entwurf einerTheorie der Praxis« ausarbeitete, mit dem er sich vonden phänomenologischen und strukturalistischen

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Ansätzen abgrenzte. Das ›mechanische Modell‹,zunächst bei E in Lage angelegt, zieht sich v.a.durch die Kampfschriften (bes. Manifest und AD).Dabei erscheint die Arbeiterklasse primär als auto-matischer Träger struktureller Bestimmungen bzw.

als leidendes, fragmentiertes und führungsbedürftigesObjekt, das sich nur durch gewaltsame Empörungund Sturz der bürgerlichen Staatsmacht wehren kann,also nach dem Muster der »jakobinisch-bürgerlichenRevolution« in Frankreich (K 1938/1967, 59).Das praxeologische Konzept geht dagegen von derEntstehung der Klassenorganisationen durch sozialeKämpfe aus, in denen schon innerhalb des Kapita-lismus institutionelle Gegenmacht und sozialpo-litische Reformen errungen werden, die über denKapitalismus hinausweisen können. In den WortenB (1998, 25): »Von der nur auf dem Papierexistierenden Klasse zur ›realen‹ Klasse kommt mannur um den Preis einer politischen Mobilisierungs-arbeit: Die ›reale‹ Klasse [...] ist immer nur die reali-sierte, d.h. mobilisierte Klasse, Ergebnis des Klassifi -zierungskampfes als eines genuin symbolischen (undpolitischen) Kampfes«.

Die verschiedenen Konzepte wurden zur Grund-lage einerseits evolutionistischer, auf den Gang derGeschichte vertrauender, andererseits aktivistischer,auf die militärische Machteroberung setzender Auf-fassungen. Die Bewegungen bzw. ihre Avantgardensind immer wieder in ›objektivistische‹ und ›subjek-tivistische‹, ›evolutionäre‹ und ›aktivistische‹, ›refor-mistische‹ und ›revolutionäre‹ Richtungen zerfallen.Die praxeologische Denkströmung lag quer zu diesendualistischen Alternativen; aus ihr sind bedeutsame,wenn auch an den Rand gedrängte Weiterentwicklun-gen der historischen Klassenanalyse hervorgegangen,die mit den Namen Rosa L und AntonioG, aber auch T, B, RaymondW und Barrington M verbunden sind.

2. Im 1847 auf den abschließenden Seiten von Elend 

(4/180ff) entworfenen praxeologischen Konzept istdie Klassenentwicklung bereits in allen ihren ana-lytischen Dimensionen konzipiert. Nach den präg-nanten Formulierungen, durch die das  scheKlassenkonzept bekannt geworden ist, »mag es aus-sehn, als habe man es mit einer Konstruktion a priorizu tun« (23/27). Tatsächlich sind sie als »summa-rische Zusammenfassung langer Entwicklungen, dievorher […] gegeben worden sind« (19/111), entstan-den, also als Quintessenzen, in denen differenziertehistorische und zeitgeschichtliche Untersuchungenauf den Begriff gebracht sind. Diese Zusammenfas-

sungen tauchen später oft als Versatzstücke in denwissenschaftlichen und v.a. politischen Schriften vonM und E auf.

Bei solchen Quintessenz-Texten muss unterschie-den werden, ob ausgelassene analytische Distinktio-nen und empirische Bezüge durch Rückgriff auf denTexthintergrund wiederhergestellt werden könnenoder ob sie auch dort fehlen, d.h. tatsächlich auf einer

›reduktionistischen‹, wichtige Vermittlungsgliederund Unterscheidungen auslassenden Analyse beruhen.An den Formulierungen in Elend, in denen M dieEntwicklung der Arbeiterklasse zur »Klasse für sichselbst« konzipiert, lässt sich dies exemplarisch zeigen(wobei die eingefügten Ziffern und kursiven Hervor-hebungen die analytischen Dimensionen markieren,die in den folgenden Unterabschnitten vollständigerdargestellt werden): »Die ökonomischen Verhältnissehaben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt [1]. Die Herrschaft des Kapitals hat fürdiese Masse eine gemeinsame Situation [2], gemein-same Interessen [3] geschaffen. So ist diese Massebereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber nochnicht für sich selbst. In dem Kampf [4], den wir nurin einigen Phasen gekennzeichnet haben, fi ndet sichdiese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klassefür sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt,werden Klasseninteressen. Aber der Kampf von Klassegegen Klasse ist ein politischer Kampf [5].« (4/180f)

Eingerahmt sind diese viel zitierten Zeilen in zweiandere Quintessenz-Passagen, die für das Verständ-nis unverzichtbar sind, weil sie die historischenBezüge und v.a. die Pointe verdeutlichen, dass dieKlasse nicht nur erzeugt wird, sondern sich durchKämpfe, Koalierung und Gegenmachtbildung auchselbst erzeugt. Der dem Leitzitat vorangestellte Rah-mungstext bildet, als begriffl ich-analytische Zusam-menfassung nach der  schen Methode, denAbschluss des Kapitels »Strikes und Arbeiterkoali-tionen«: »Die Großindustrie bringt eine Menge ein-ander unbekannter Leute an einem Ort zusammen.Die Konkurrenz spaltet sie in ihren Interessen; aberdie Aufrechterhaltung des Lohnes, dieses gemein-same Interesse gegenüber ihrem Meister, vereinigt sie

in einem gemeinsamen Gedanken des Widerstandes!– Koalition.« (180) Diese erfüllt einen »doppeltenZweck«: zum einen, »die Konkurrenz der Arbeiterunter sich aufzuheben« und damit die »Aufrechter-haltung der Löhne« zu erreichen; zum andern, einedauerhafte Konstitution als Interessenvertretung imKonfl ikt mit den Kapitalisten zu erreichen. So »for-mieren sich die anfangs isolierten Koalitionen in demMaß, wie die Kapitalisten ihrerseits sich behufs derRepression vereinigen zu Gruppen, und gegenüberdem stets vereinigten Kapital wird die Aufrechter-haltung der Assoziationen notwendiger für sie als die

des Lohnes« (ebd.).Der zweite, ohne Unterbrechung an das Leitzitat

anschließende Rahmungstext zieht das klassische

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Modell der Revolution der Bourgeoisie heran, diesich in einem etwa achthundertjährigen Emanzipa-tionskampf innerhalb der vorangehenden Gesell-schaftsformationen konstituiert hat: »Mit Bezug auf die Bourgeoisie haben wir zwei Phasen zu unter-

scheiden: die, während derer sie sich unter der Herr-schaft des Feudalismus und der absoluten Monarchieals Klasse konstituierte [4, 5], und die, wo sie, bereitsals Klasse konstituiert, die Feudalherrschaft und dieMonarchie umstürzte [6], um die Gesellschaft zu einerBourgeoisgesellschaft zu gestalten [7]. Die erste dieserPhasen war die längere und erforderte die größerenAnstrengungen. Auch das Bürgertum hatte mit par-tiellen Koalitionen gegen die Feudalherren begonnen[…,] von der Stadtgemeinde an bis zu ihrer Konsti-tuierung als Klasse […]. Eine unterdrückte Klasse istdie Lebensbedingung jeder auf den Klassengegensatzbegründeten Gesellschaft. Die Befreiung der unter-drückten Klasse schließt also notwendigerweise dieSchaffung einer neuen Gesellschaft [7] ein.« (181)

Unterschieden werden damit insgesamt siebenDimensionen. Zunächst drei Dimensionen der ›Klassean sich‹: Stellung als Lohnarbeiter, gemeinsame Lageunter Herrschaft des Kapitals, gemeinsame Interes-sen; sodann zwei Dimensionen der Konstitution undOrganisation als »Klasse für sich selbst«: Koalierungzuerst im gewerkschaftlichen Kampf und dann impolitischen Kampf; schließlich zwei Dimensionen derRevolution: Eroberung der politischen Macht undGestaltung der neuen Gesellschaft. V.a. den erstenvier Dimensionen liegen 1847 bereits ausführlichehistorische Analysen zugrunde (bes. in Lage, DI u.Elend), die später fortgeführt wurden (u.a. in Gr ,K I u. Ursprung). Sie verdeutlichen, wie weit dieseDimensionen gerade nicht idealistisch-teleologischeKonstrukte sind, sondern der »wirklichen Bewegung«historischer Strukturen und Akteure nachgehen(3/35). Auch die übrigen Dimensionen wurden nach1848 auf empirischer Grundlage weiter ausgefüllt.

Die dabei als Arbeitsbegriffe der empirischen Ana-

lyse angelegten begriffl ichen Unterscheidungen ent-sprechen durchaus dem internationalen terminolo-gischen Gebrauch der Schichtungs- und Klassensozio-logie im 20. Jh., vermitteln diese Konzepte aber diffe-renzierter mit den historisch-gesamtgesellschaftlichenZusammenhängen. Zu ihnen gehören die von M  und E verwendeten Konzepte »Stellung« (i.d.Soziologie gebräuchlich: ›position‹), »Lage« (›situa-tion‹), »Praxis« (›action‹, ›Handeln‹), »Kampf« (›con-fl ict‹), »Organisation« (›organisation‹), »Koalition«(›combination‹, ›coalition‹), »Einrichtung« (›institu-tion‹), »Kommunikation« (›communication‹). Ergänzt

werden sie durch übergreifende Konzepte wie »Produk-tivkräfte«, »Produktionsverhältnisse«, »Produktions-weise« usw.

Andererseits haben diese Konzepte dort, wo beiM und E Lücken bleiben, Neuentwicklun-gen angeregt, welche die analytische Methode und diepraxeologische Sichtweise auf neue Gegenstände derKlassenanalyse ausweiten. V.a. wurde das Konzept  der

historischen Ungleichzeitigkeit auf die fortgeschritte-nen Klassengesellschaften ausgedehnt (G 1932u. 1949), dem Konzept der Produktionsweise dasder klassenspezifi schen Lebensweise oder Kultur andie Seite gestellt (W 1958, T 1963),der Ausdruck Kapital für die nichtökonomischenMachtressourcen der Klassen (»kulturelles Kapital«)genutzt (B 1979) und die Differenzierungender Klassen in neue »Klassenfraktionen« im Kontextder Entwicklung der gesellschaftlichen Produktiv-kräfte erklärt (B 1979, V 1998, V  u.a. 2001). Ein Teil dieser Neuentwicklungen ist in denspäteren Schriften von M und E angebahnt, indenen sie die neueren politischen und ökonomischenEntwicklungen sowie die Forschung zur Ethnolo-gie und zur Geschichte der Produktionsweisen undGesellschaftsformationen aufgearbeitet haben.

2.1 Klassenstellung ist ein ›relationales‹ Konzept, dasdie relative Position einer Klasse in der Organisationder institutionalisierten Klassenherrschaft (Produk-tionsverhältnisse) und der funktionalen gesellschaft-lichen Arbeitsteilung (Produktivkräfte) bezeichnet.Diese beiden Momente der kapitalistischen Produk-tionsweise können miteinander in Widerspruch gera-ten, wenn die Verkehrsformen, Gewalt- und Rechts-verhältnisse, die die Machtstellung der Akteurebegründen, sich nicht mit den Produktivkräftenweiterentwickeln, sondern aus Gründen der Macht-erhaltung deren Entwicklung eher hemmen.

Produktionsverhältnisse. – Voraussetzung kapita-listischer Klassenherrschaft und Klassenverhältnisseist die geschichtliche Entstehung des kapitalisti-schen Produktionsverhältnisses und damit v.a. derim doppelten Sinne ›freien‹, d.h. eigentumslosen undungebundenen, Lohnarbeiter. Sie sind als Bauern,

Handwerker usw. in einem jahrhundertelangen his-torischen Enteignungsprozess über gewaltsame undrechtliche Hebel ›befreit‹ worden von ihren eigenenProduktionsmitteln und von den institutionellen»Garantien ihrer Existenz« (23/743) wie u.a. demGemeindeland. Befreit worden sind sie auch von denpersönlichen Pfl ichten der feudalen und ständischenRechtsordnungen. Dadurch werden »die Arbeiter inProletarier, ihre Arbeitsbedingungen in Kapital ver-wandelt« (790), so dass »die Arbeitsbedingungen auf den einen Pol als Kapital treten und auf den andrenPol Menschen, welche nichts zu verkaufen haben als

ihre Arbeitskraft« (765).Produktivkräfte. – Gleichzeitig hat die Bourgeoisie

v.a. im 18. Jh. ihrer »Klassenherrschaft massenhaftere

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und kolossalere Produktionskräfte geschaffen alsalle vergangenen Generationen zusammen« (4/467).Dazu gehört nicht nur die Erschließung der Natur-kräfte, des Binnen- und Weltmarktes, neuer Tech-nologien und Verkehrssysteme, sondern auch, über

neue Technologien und Arbeitsorganisation, die Ent-wicklung der Produktivkraft der Lohnarbeit durchzunehmende Vergesellschaftung und Kooperationvom Betrieb bis zum Weltmarkt.

Widerspruch. – Dieser ist in der klassischen Formelin Vorw 59 zusammengefasst: »Auf einer gewissenStufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Pro-duktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mitden vorhandenen Produktionsverhältnissen oder,was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit denEigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sichbisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen derProduktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fes-seln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialerRevolution ein.« (13/9) Dabei handelt es sich nicht umnaturgesetzliche Entwicklungen, die sich unabhän-gig von der aktiven Praxis und den Kämpfen sozia-ler Akteure durchsetzen. Die historischen Analysenarbeiten ausdrücklich heraus, dass diese Revolutio-nierung der Produktionsweise durch aktive Praxiseiner sozialen Klasse politisch, d.h. mittels gewalt-samer und zunehmend auch rechtlich-institutionellerHebel durchgesetzt worden ist (vgl. 23/741ff). Ebendiese Mittel werden zum Hemmnis, wenn die Pro-duktivkräfte immer gesellschaftlicher werden, dieAneignungs- und Herrschaftsformen aber privat blei-ben. Den Kämpfen um die rechtlich-institutionelleRegelung des Koalitions-, Arbeits- und Eigentums-rechts widmen M und E daher bes. großenRaum. Angelpunkt (und Vermittlungsscharnier zwi-schen »objektiver« und »subjektiver Formel«) ist derKampf um institutionelle Regulierung der Klassen-konstellation.

2.2 Klassenlage. – Im Konzept der Klassen- oderLebenslage liegt ein entscheidendes Problem der

Theorie der Klassenkonstitution. Die Lebenslageist die Vermittlungsstelle zwischen Klassenstellungund Klassenpraxis. Hier erfahren die Menschen ihreKlassenstellung in vielen Dimensionen praktisch undkönnen sie ihr Interesse am praktischen Widerstandentwickeln. Die Klassenstellung wirkt sich nichtnur unmittelbar, sondern vermittelt über vielgestal-tige gewaltförmige und institutionalisierte Macht-verhältnisse auf die von den Arbeitern erfahrenenLebensbedingungen aus. So hängt die empirischeLebenslage nicht zuletzt von den gewerkschaftlichenKämpfen um bessere Tarife und von den politischen

Kämpfen um sozialstaatliche Sicherungen ab. Hierzeigt sich auch eine bemerkenswerte Entwicklungder Konzepte. In den 1840er Jahren stellte E v.a.

die sinkenden quantitativen Niveaus der Lebenslage,um die es damals ging, in den Vordergrund, in denJahrzehnten darauf, als zunehmend bessere Lebens-bedingungen erkämpft wurden, eher die »Unsicher-heit« (22/231) dieser durchaus nicht geleugneten

Errungenschaften.Die Lebenslage der arbeitenden Klasse hängt

nach M und E zwar grundlegend ab vonder Klassenstellung als freie Lohnarbeiter, die ihreArbeitskraft als Ware verkaufen und die daher zulas-sen müssen, dass das Produkt ihrer Mehrarbeit vonden Kapitaleignern angeeignet und akkumuliert wird.Wie und in welchem Ausmaß diese Ausbeutunggeschieht, ist jedoch nach ihren Analysen nicht alleindurch nackte ökonomische Interessen bzw. Naturge-setze bestimmt. Vielmehr erhalten die Beziehungenzwischen den Klassen durch das Mittel spezifi scherMacht-, Herrschafts- und Rechtsverhältnisse, diein sozialen und politischen Kämpfen zwischen denAkteuren hervorgebracht und verändert werden, einehistorisch wandelbare Form.

Während die v.a. von M bis in die 1860er Jahreerarbeitete Analyse der Klassenstellung auf einertheoretisch durchdrungenen Analyse gesellschaft-licher Widersprüche und sehr langfristiger, facetten-reicher historischer Veränderungen (bes. in DI , Gr  und K I ) beruht, ist die zuerst von E bis 1845erarbeitete umfangreiche Darstellung der Lebenslageder arbeitenden Klasse an zeitgenössischem Unter-suchungsmaterial in Lage methodisch eher deskriptivund nicht widerspruchsanalytisch angelegt. Die Stu-die ist einzigartig als Beschreibung der vielgestaltigenEntwicklungen in England, aber erst wenig entwi-ckelt und refl ektiert in der ihren Interpretationenzugrundeliegenden Methodologie. Zwei Entwick-lungsannahmen sind bes. problematisch und spätervon Engels auch relativiert worden: die Annahmeüber die Unreife der Mentalität der arbeitendenKlasse und die Prognose einer linearen Tendenz derVerelendung und Klassenpolarisierung.

Die Prognosen gehen vorwiegend aus von denErfahrungen der Krisenjahre bis 1848, welche diefrühe englische Arbeiterbewegung durchmachte,nachdem ihre Wahlrechtsbewegungen und Arbeits-kämpfe, die sich seit 1820 im Aufwind befunden hat-ten, ab 1832 erhebliche Niederlagen hatten hinneh-men müssen (vgl. V 1970a, 281-396). Da beideBedingungen verbesserter Lebenslagen – erfolgreicheTarifkämpfe und die Entwicklung eines Sozialstaatsdurch eine Arbeitermehrheit im Unterhaus – bis1848 unverwirklicht blieben und ein erneuter Auf-schwung der Arbeiterbewegungen aus dieser histo-

rischen Situation nur schwer vorstellbar war, wurdedie Verschlechterung der sozialen Lage als lineareEntwicklungstendenz in die Zukunft projiziert, so

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wie schon einer der ersten Korrespondentenberichtevon E (1842) aus Lancashire mit den Wortenbeginnt: »Die Lage der arbeitenden Klassen in Eng-land wird täglich prekärer.« (1/464) In Lage undManifest fi ndet sich diese Sichtweise eingeordnet in

das Modell einer naturnotwendigen kausalen Stufen-folge von Eigentumslosigkeit, Verelendung, Empö-rung, politischer Machteroberung und gesellschaft-licher Umgestaltung.

In diesem deskriptiven Szenario linearer Tendenzenunterscheidet das Manifest (4/466-70), gestützt auf die umfassendere Untersuchung in Lage, v.a. vierEinzeldimensionen der Lebenslage: Klassenpolari-sierung (Abwärtsmobilität), vereinheitlichende Her-abdrückung der Arbeits- und Lebensbedingungen,Zersplitterung der gefühlsmäßigen sozialen Bande,aber auch Aufhebung dieser Zersplitterung durchVergesellschaftung der Produktions-, Verkehrs- undKommunikationsmittel.

Polarisierung. – Mit der Zentralisation des Kapi-tals steigert sich die Polarisierung der Gesellschaft inimmer mehr eigentumslose Lohnarbeiter und immerweniger mächtige Kapitalmagnaten. Immer mehrAngehörige der »bisherigen kleinen Mittelstände […]fallen ins Proletariat hinab«, da ihr ökonomischesKapital für die neue Produktionsweise nicht ausreichtund ihre Arbeitsqualifi kation (»Geschicklichkeit«)durch dieselbe »entwertet wird« (469). Auch Ange-hörige der akademischen Berufe – Ärzte, Juristen,Pfaffen, Poeten, Wissenschaftler – werden in »Lohn-arbeiter verwandelt« (465). Teile der »herrschendenKlasse« werden »ins Proletariat hinabgeworfen«,führen diesem »eine Masse Bildungselemente« zu,darunter einen »Teil der Bourgeoisideologen, welchezum theoretischen Verständnis der ganzen geschicht-lichen Bewegung sich hinaufgearbeitet haben« (471f).

Vereinheitlichende Herabdrückung. – Für die prole-tarisierten Gruppen (außer für das am Gelegenheits-erwerb orientierte Lumpenproletariat) schaffen nundie »große Industrie« (463) und die Herrschaft des

Kapitals gedrückte und einheitliche »Lebenslagen«(470f): Dequalifi zierung (die Arbeit wird unselbstän-dig, reizlos und auf einfache Handgriffe reduziert);despotische Fabrikdisziplin (ausgeübt durch Aufse-her und den Takt der Maschinen); unsichere Beschäf-tigung (abhängig von Marktschwankungen undKonkurrenz zwischen den zersplitterten Arbeitern);entsprechend auf das Subsistenzniveau gedrückteLöhne; schließlich ein zunehmender Pauperismus inden Elendsvierteln der Industriestädte. Diese Herab-drückung wird gleichzeitig als Vereinheitlichung derLage auch in anderen Wirtschaftszweigen nach dem

Muster der Arbeitsverhältnisse der großen Textilin-dustrie (2/360-429) und der Lebensverhältnisse derFabrikstädte (256-305) verstanden. Die Ursachen

werden in der Technologie, d.h. der »Maschinerie«,gesehen. »Die Interessen, die Lebenslagen innerhalbdes Proletariats gleichen sich immer mehr aus, indemdie Maschinerie mehr und mehr die Unterschiede derArbeit verwischt und den Lohn fast überall auf ein

gleich niedriges Niveau herabdrückt.« (4/470)Zersplitterung der sozialen Bande. – In Lage ent-

wickelt E eine Art Aufl ösungs- oder Fragmen-tierungsthese, in der ausführlichen Darstellung einer»in lauter Atome aufgelösten Gesellschaft« (2/304),der »Lockerung aller sozialen Bande« (358), der»Immoralität« und Demoralisierung (343f). Nachdem Manifest, das die Quintessenz dieser Darstel-lung formuliert, hat die Bourgeoisie mit den Mittelnihrer Herrschaft alle ständischen, feudalen, patriar-chalischen, idyllischen Verhältnisse und Bindungender Menschen an ihre Vorgesetzten »zerstört« unddie entsprechenden Vorstellungen und Anschau-ungen »aufgelöst«, im »eiskalten Wasser egoistischerBerechnung ertränkt« und nur »das nackte Inter-esse«, die »gefühllose‚ ›bare Zahlung‹« übrig gelassen(4/464f). Das Szenario der im Sinne Emile D anomischen Aufl ösung sozialer Beziehungen umfasstnicht allein die vertikalen Klassenbeziehungen, son-dern auch die horizontalen Vergemeinschaftungendes Alltags. So sind »infolge der großen Industrie alleFamilienbande für die Proletarier zerrissen« (478).Die Arbeiterklasse wird nach dem Bild einer atomi-sierten, passiven Masse interpretiert.

Kommunikation. – M wie auch E betonen,dass diese Homogenität einer gemeinsamen herabge-drückten Lebenslage der ›Klasse an sich‹ bzw. gegen-über dem Kapital keineswegs von sich aus zur Ver-einigung dieser fragmentierten Masse führt. Um zur»Klasse für sich selbst« zu werden, muss der Zustandder durch »Konkurrenz zersplitterten Masse« (470)isolierter Einzelner überwunden, d.h. die Vergesell-schaftung ihrer Beziehungen erreicht werden. Diesewird von der industriekapitalistischen Produktions-weise selber ermöglicht, indem sie die Arbeitenden in

Großbetrieben, großen städtischen Agglomerationenund über zunehmende Verkehrs- und Kommunikati-onsmittel physisch zusammenbringt (466f).

M hat dies 1852 im 18.B durch den Vergleichmit den französischen Parzellenbauern verdeutlicht:Diese »bilden eine ungeheure Masse, deren Gliederin gleicher Situation leben, aber ohne in mannigfacheBeziehung zueinander zu treten. Ihre Produktions-weise isoliert sie voneinander, statt sie in wechsel-seitigen Verkehr zu bringen. Die Isolierung wirdgefördert durch die schlechten französischen Kom-munikationsmittel und die Armut der Bauern. […]

Jede einzelne Bauernfamilie genügte beinahe sichselbst […]. Insofern Millionen von Familien unterökonomischen Existenzbedingungen leben, die ihre

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Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung vondenen der andern Klassen trennen und ihnen feindlichgegenüberstellen, bilden sie eine Klasse. Insofern einnur lokaler Zusammenhang unter den Parzellenbau-ern besteht, die Dieselbigkeit ihrer Interessen keine

Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung undkeine politische Organisation unter ihnen erzeugt,bilden sie keine Klasse. Sie sind daher unfähig, ihrKlasseninteresse im eigenen Namen, sei es durch einParlament, sei es durch einen Konvent geltend zumachen. Sie können sich nicht vertreten, sie müssenvertreten werden.« (8/198)

2.3 Klasseninteresse. – Auf welche Weise die Dimen-sionen der sozialen Lage von den sozialen Klassenpraktisch erfahren und in Klassenhandeln umgesetztwerden können, ist nicht zusammenhängend undbegriffl ich stringent ausgearbeitet. Hier bewegensich M und E noch weitgehend innerhalbder Grenzen der wissenschaftlichen Entwicklungim 19. Jh. Erst von den 1890er Jahren an wurden,nicht zuletzt herausgefordert von den Arbeiterbe-wegungen selber, die Elemente einer Soziologie undPsychologie des Massenverhaltens und der Kulturen,Mentalitäten und des Habitus von Klassenmilieusentwickelt. T (1963), der die Entstehungder frühen Arbeiterklasse auf bisher breitester empi-rischer Grundlage untersucht hat, sieht die äußereBedingtheit und die praktische Selbsterzeugung derArbeiterklasse nicht als einander ausschließendeGegensätze: »Die Arbeiterklasse wurde nicht nurgeschaffen, sie war zugleich ihr eigener Schöpfer.«(1987, 109, vgl. 7) Er verwendet das Gegensatzpaarheuristisch und nicht doktrinär und kann damit ihrergänzendes Zusammenwirken darstellen.

In der Tat wurden beide Perspektiven ursprünglich,in Lage, nicht als einander ausschließend, sondernals zwei mögliche alternative Fälle bzw. Szenarienentwickelt. Sie fassen Handlungsdispositionen, Klas-senkonstellationen und Wirtschaftsentwicklungenzu historisch konkreten, aber noch nicht methodisch

refl ektierten Ablaufbildern zusammen. Die beidenSzenarien wurden in Elend und im Manifest for-muliert und dabei so nebeneinander verwendet, alshandle es sich um vereinbare heuristische Konzepte.

In Lage diagnostiziert E eine durch Wirt-schaftskrisen und internationale Konkurrenz ver-schärfte Verelendung. Sinkt Englands Weltmarktrang,»wird die Majorität des Proletariats auf immer ›über-fl üssig‹ und hat keine andre Wahl als zu verhungernoder – zu revolutionieren.« (2/503) Kann es seinePosition halten, würden die Handelskrisen »mit derAusdehnung der Industrie und der Vermehrung des

Proletariats immer gewaltsamer, immer schauder-hafter werden. Das Proletariat würde […] bald dieganze Nation, mit Ausnahme weniger Millionäre,

ausmachen« und dann sehen, »wie leicht es ihm wäre,die bestehende soziale Macht zu stürzen, und dannfolgt die Revolution« (2/503f). Tatsächlich sprechealles dafür, dass die »Handelskrisen, der mächtigsteHebel aller selbständigen Entwicklung des Proleta-

riats, […] in Verbindung mit der auswärtigen Kon-kurrenz und dem steigenden Ruin der Mittelklasse,die Sache kürzer abmachen« werden (504).

Gleichwohl bleibt sich E bewusst, dass erdamit nur einen der möglichen Fälle beschreibt,der an das ›Wenn‹ eines bestimmten Verhaltensder Bourgeoisie und des Proletariats gebunden ist:»Wenn sich bis dahin die englische Bourgeoisie nichtbesinnt – und das tut sie allem Anschein nach gewissnicht –, so wird eine Revolution folgen, mit der sichkeine vorhergehende messen kann. […] Der Kriegder Armen gegen die Reichen wird der blutigste sein,der je geführt worden ist.« (504) Die Chancen derdem entgegengesetzten, vergleichsweise friedlichenAlternative werden am empirischen Beispiel dergewerkschaftlichen Kämpfe in England, die zu einerVerbesserung der Lage der Arbeiter führen können,und am Beispiel der Zunahme von Bildung undrationaler Aushandlungsfähigkeit bei den Arbeiternfestgemacht: wenn die englischen Arbeiter die sozia-listischen Ideen in sich aufnehmen würden, würden»ihre Schritte gegen die Bourgeoisie an Wildheit undRohheit verlieren« (505).

In Elend macht M die Beschreibungen und Ein-schätzungen von Lage zur Grundlage einer begriff-lich-analytischen Aufarbeitung, die in das Konzeptder Entwicklung zur »Klasse für sich selbst« (4/181)durch gewerkschaftliche Kämpfe und Kampforgani-sationen mündet. Im Manifest wird versucht, beideSzenarien nicht mehr als einander ausschließendeAlternativen darzustellen, sondern als aufeinanderfolgende Phasen der Klassenentwicklung miteinan-der zu verbinden. Das Szenario der zwangsläufi genRevolution wird 1867, in K I , auch begriffl ich zumKonzept einer ›abkürzenden Revolution‹ zugespitzt:

die aus extremer sozialer Polarisierung geboreneproletarische Revolution werde die Phase der langenhistorischen Gegenmachtbildung, die das Bürgertumnoch gebraucht habe, notgedrungen auslassen undüberspringen. Im einfl ussreichen AD wird 1877/78ein weiteres Mal versucht, das Muster der aktivenGegenmachtentwicklung dem Muster einer zwangs-läufi gen Entwicklung unterzuordnen.

Parallel entwickeln M und E nach 1848,angeregt durch neue internationale Entwicklungen,ihr Gegenmachtmodell weiter, als Perspektive derBildung autonomer, über den Kapitalismus hinaus-

weisender politischer und wirtschaftlicher Selbstver-waltung. Der Widerspruch zwischen beiden Szena-rien bleibt bestehen. Engels löst ihn schließlich an

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seinem Lebensende, indem er im Lage-Vorwort von1892 (22/265ff) zu seiner ursprünglichen Argumenta-tionsfi gur zurückkehrt, dass es sich um verschiedene,historisch und nach Ländern spezifi sche Wege zueiner neuen Gesellschaft handle.

Trotz dieser Schwierigkeiten der Theorieentwick-lung gewinnen in den Entwicklungsszenarien undin den historischen Arbeiten von M und E die verschiedenen Klassen und Klassenfraktionenwie auch länderspezifi sche Kampfbedingungen überdie Jahrzehnte zunehmend an Kontur. An diese teilsweiter führenden Differenzierungen, teils problema-tischen Vereinfachungen knüpfen die späteren Ent-wicklungen der Klassentheorie und -analyse an.

Teilgruppen der Volksklassen. – Zum einen wer-den die grundlegenden typologischen Unterschiededer Interessen oder Standpunkte der Volksklassenals Probleme der Arbeiterbewegungen diskutiert. Sounterscheidet das Manifest (4/465, 471ff) – abgese-hen von den zur Arbeiterbewegung stoßenden Teilender kritischen akademisch-ständischen bürgerlichenIntelligenz – drei große Teilgruppen der Volksklassen,deren Unterschiede M und E in ihrer Klas-senstellung und gesellschaftspolitischen Orientierungsehen: 1. das deklassierte Lumpenproletariat, das auf die schwankende Orientierung an äußeren Gelegen-heiten und die Anlehnung an stärkere Schutzmächteangewiesen ist, 2. die absteigenden konservativ-kleinbürgerlichen Volksmilieus, die eine Rückkehrzu ständischen bzw. reaktionären Ordnungen befür-worten und schließlich 3. die eigentliche industri-elle Lohnarbeiterklasse. Diese wird – jedenfalls imManifest – als einziger Teil der Volksklassen gesehen,der eine gegenüber der Bourgeoisie ›selbständige‹gewerkschaftliche und politische Interessenvertre-tung erstrebt.

Wenn auch die Entstehung dieser drei Standpunktehier nicht mentalitätstheoretisch erklärt wird, so istdoch deutlich, dass sie nicht durch die aktuelle Lageals Lohnarbeiter geprägt sind (dies entspräche einer

Widerspiegelungstheorie bzw. einem Ansatz derinteressegeleiteten ›rational choice‹), sondern durchihre Vorgeschichte als verschiedene Fraktionen derVolksklassen historisch erworben und verfestigt sind.

Nationale Entwicklungsmuster . – Die Unterschiedein der Militanz werden schließlich nicht nur auf per-sönliche Eigenschaften, sondern auch auf verschie-dene nationale Entwicklungsmuster zurückgeführt,die in Institutionen und Verhaltensweisen verankertsind. So diskutiert E schon in Lage die Aus-gangsfrage der Klassentheorie, wie die Arbeiterbe-wegung eine selbständige politische Kraft werden

könne, am Unterschied der französischen und derenglischen Arbeiterbewegung. Die Radikalität derArbeiter ist für ihn eine Frage der Kampfziele und

nicht nur der Militanz der Kampfmittel. Dass dieenglischen Arbeiter eher gewerkschaftlich und mitStreiks, die französischen Arbeiter eher politisch undin Form gewaltsamer Aufstände kämpfen, ist für ihnkein Ausdruck dafür, dass es den englischen Arbei-

tern an Militanz, am »revolutionären Mut« (2/443)fehle. Er sieht den Unterschied weniger bei denmoralischen Eigenschaften der Arbeiter selbst alsin den verschiedenen nationalen Entwicklungsmus-tern: »Die englischen Arbeiter geben keiner Nationan Mut etwas nach, sie sind ebenso unruhig wie dieFranzosen, aber sie kämpfen anders. Die Franzosen,die durchaus politischer Natur sind, kämpfen auchgegen soziale Übel auf politischem Wege; die Eng-länder, für die die Politik nur um des Interesses, umder bürgerlichen Gesellschaft willen existiert, kämp-fen, statt gegen die Regierung, direkt gegen die Bour-geoisie, und dies kann mit Effekt einstweilen nur auf friedlichem Wege geschehen.« (441)

2.4 Gewerkschaftliche Gegenmacht. – Das Kon-zept der Entwicklung zur »Klasse für sich selbst«in Elend ist an das historische Modell der bürger-lichen Revolution angelehnt. Die Voraussetzungenfür die Durchsetzung einer neuen Gesellschaftsord-nung sollen schon im Schoße der alten verwirklichtwerden: eine hohe Entwicklung der ökonomischenProduktivkräfte und damit der Arbeiterklasse, dieErkämpfung institutioneller Gegenmacht v.a. durchdie Gewerkschaftsbewegung und die Entwicklungrationaler Handlungsformen und -perspektiven beiden Arbeitern.

Parallele zur bürgerliche Klassenentwicklung. – Indieser ist der Phase der politischen Revolution, in derdie alte Ordnung umgestürzt und die neue Gesell-schaft gestaltet wurde, eine längere und mit Anstren-gungen verbundene Phase der Klassenkonstitutionvorausgegangen, in der die neuen Produktivkräfteentwickelt und die institutionelle Gegenmachterkämpft wurden, beginnend mit partiellen Koalitio-nen gegen den Feudalismus und selbstverwalteten

Stadtgemeinden (4/181). Im Manifest werden die»Entwicklungsstufen der Bourgeoisie« genauer dar-gestellt: als »Produkt […] einer Reihe von Umwäl-zungen in der Produktions- und Verkehrsweise«,»begleitet von einem entsprechenden politischenFortschritt. Unterdrückter Stand unter der Herr-schaft der Feudalherren, bewaffnete und sich selbstverwaltende Assoziation in der Kommune, hierunabhängige städtische Republik, dort dritter steu-erpfl ichtiger Stand der Monarchie, dann zur Zeitder Manufaktur Gegengewicht gegen den Adel […],erkämpfte sie sich endlich […] im modernen Reprä-

sentativstaat die ausschließliche politische Herr-schaft.« (464) Das Manifest enthält somit schon dasKonzept der stufenweisen historischen Bildung einer

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Gegenmacht von sich selbst verwaltenden Assoziatio-nen und Institutionen. Dieses Konzept wird auch auf die entstehende Arbeiterklasse angewandt.

Hoher Reifegrad der Produktivkräfte. – Dieser wirdin Elend als Voraussetzung der politischen Macht-

eroberung genannt, wobei zu den Produktivkräftennicht nur die dinglichen Arbeitsmittel, sondern auchdie lohnarbeitenden Menschen selber gehören: »Solldie unterdrückte Klasse sich befreien können, so musseine Stufe erreicht sein, auf der die bereits erworbenenProduktivkräfte und die geltenden gesellschaftlichenEinrichtungen nicht mehr nebeneinander bestehenkönnen. Von allen Produktionsinstrumenten ist diegrößte Produktivkraft die revolutionäre Klasse selbst.Die Organisation der revolutionären Elemente alsKlasse setzt die fertige Existenz aller Produktiv-kräfte voraus, die sich überhaupt im Schoß der altenGesellschaft entfalten konnten.« (181) Gemeint sindv.a. Formen der betrieblich und überbetrieblich ver-gesellschafteten, kooperativen Produktion auf derGrundlage hochentwickelter Arbeitsfähigkeiten undTechnologien, die mit den institutionellen Formender autokratischen Betriebsleitung und der privatenAneignung des Mehrprodukts nicht mehr vereinbarsind.

Gewerkschaftliche Kämpfe und Aushandlungs-formen. – Diese stehen bei M und E schonin den 1840er Jahren im Zentrum der Überlegungen,wie sich die Arbeiterklasse nicht nur als Produktions-faktor, sondern außerdem als kämpfende und insti-tutionalisierte Gegenmacht konstituieren kann. V.a.wird dargestellt, dass die Klassenpraxis nicht einfachein subjektives Handeln ist, das aus der objektivenKlassenlage folgt, sondern dass sie selber objektiveinstitutionelle Realitäten erzeugt. Die Klassenpraxisbeginnt zwar mit der Verarbeitung der Erfahrungder sozialen Lage, also im Kopf: mit einem »gemein-samen Gedanken«, d.h. einer Vorstellung des Han-delns (»Widerstand«, »Kampf«), des Handlungs-weges (Aufhebung der »Konkurrenz«, »Koalition«,

»Organisation«) und auch des Abhilfemittels derrechtlich-institutionellen Gegenmacht (180f). Ent-scheidend ist aber, dass in den ökonomischen Klas-senkämpfen eine relativ eigenständige soziale Realitätentsteht, ein Kampffeld, in dem die korporativ, d.h.verbandlich organisierten Arbeiter und Unternehmersich miteinander auseinandersetzen und verständigenund dazu eigene sozio-kulturelle, organisatorischeund rechtlich-institutionelle Formen dauerhaftkonstituieren. In diesem eigengesetzlichen, mehr-stufi gen Prozess der Praxis werden erst schrittweisedie weiterführenden Perspektiven klarer, indem sich

die individuellen Arbeiter durch die eigene kämp-fende Praxis zu Koalitionen und diese wiederumüber lokale oder einzelgewerbliche Beschränkungen

hinaus mindestens national miteinander verbünden.Das Handeln der Arbeiter bzw. ihrer Vertretungenwird also nicht als eine unmittelbare Reaktion auf eine unterdrückte Klassenlage erklärt. Es ist vielmehrvermittelt durch die Bedingungen und die institutio-

nellen wie nicht-institutionellen Spielregeln eineseigenen, relativ autonomen Handlungsfeldes.Wie dieses Handlungsfeld entsteht, wird von E 

im Kapitel »Arbeiterbewegungen« von Lage analy-siert, und zwar als mehrstufi ger Prozess der Suchenach einer angemessenen »Form für die Opposi-tion« (2/432), die auch als Kampf- und »Lernpro-zess« bezeichnet werden kann (V 1970a, 18-29,vgl. 1981). Die Opposition beginnt, so E, alsdie »ungebildetste, bewusstloseste Form der Pro-testation« (2/432), mit dem individuellen Diebstahl,wurde zur Zeit der Koalitionsverbote (1800-24) dannzur Aktion der »Arbeiterklasse«, die sich zunächstörtlich und »gewaltsam der Einführung von Maschi-nerie widersetzte« und dann, mit zunächst illegalenGewerkschaften, bis zum Fall der Koalitionsver-bote im Jahre 1824 das »Recht der freien Assozia-tion« erkämpfte (ebd.). Damit wurden die Zusam-menschlüsse und Solidaritätskassen (bei Streik undArbeitslosigkeit) legalisiert und das Recht institu-tionalisiert, in »allen Arbeitszweigen […] en masse,als Macht mit den Arbeitgebern zu unterhandeln«über eine »allgemein zu beobachtende Lohnskala«(heute: Flächentarifverträge), aber auch z.B. über dieEinstellung von Lehrlingen zu verhandeln (433, vgl.4/178ff).

In Elend hebt M hervor, dass für die Arbei-ter die Aufrechterhaltung der gewerkschaftlichenAssoziationen wichtiger werden kann »als die desLohnes« (4/180). Es handelt sich hier um einen Pro-zess der Verrechtlichung, Institutionalisierung undVerselbständigung. Im Gewerkschaftsgesetz von 1825wurden »die Koalitionen durch eine Parlamentsakteautorisiert« und als »ökonomische Tatsache« in eine»gesetzliche Tatsache« verwandelt (178). Im weiteren

Prozess wurde die »Organisation und Erhaltung derKoalitionen« (179) zum Selbstzweck. Diese Verrecht-lichung – die G (1949) als »Institutionalisierungdes Klassenantagonismus« (182) analysierte – dientedem Interesse beider Seiten an verlässlichen Arbeits-beziehungen. Durch das institutionelle Zusammen-wirken verfestigte sich allerdings zunehmend dasEigengewicht wie das Eigeninteresse der Verbands-organisationen.

Elite-Masse-Schema. – Nach der Interpretationvon E werden mit der Institutionalisierung derKämpfe auch deren Verkehrsformen rationaler. Als

Merkmale der »anfangenden Arbeiterbewegung«nennt er »die Erbitterung des Proletariats gegen seineUnterdrücker« sowie »Blutvergießen, Rache und

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Wut« (2/505). Diese »Fehler der Arbeiter« führt erzurück »auf Zügellosigkeit der Genusssucht, Man-gel an Vorhersicht und an Fügsamkeit in die sozialeOrdnung, überhaupt auf die Unfähigkeit, den augen-blicklichen Genuss dem entfernteren Vorteil auf-

zuopfern« (355), also auf den Mangel an asketischemLustaufschub. Die Überwindung dieser »Wildheitund Rohheit« (505) ist durch »sittliche Bildung« (343,vgl. 469) möglich, als »Versittlichung« (G 1985,40-63). Der Kampf würde dagegen »sehr friedlichablaufen«, wenn bei den Arbeitern die sozialistischenund kommunistischen Bildungselemente zunähmenund wenn die Bourgeoisie sich ebenfalls »besinnt«(2/504f). Das hier von E noch verwendeteSchema der affektgesteuerten, ›unreifen‹ Masse undder asketischen Elite wird nach 1848 nicht mehr auf die Arbeiterbewegung angewandt und auch durchdie Forschung zur frühen Arbeiterbewegung inFrage gestellt.

2.5 Politischer Kampf. – M und E setztensich, wie die späteren Arbeiterbewegungen auch,ihr Leben lang mit dem Problem auseinander, dassdie Umwandlung der ökonomischen Kämpfe derArbeiterbewegungen in Kämpfe um die politischeMacht ein ebenso schwieriger wie aufhaltbarer Pro-zess war. Trotz dieser Schwierigkeiten vertraten sienicht die (später für L zentrale) Auffassung, dassdie Lohnarbeiter von sich aus nicht über ein öko-nomisch-gewerkschaftliches Interessenbewusstseinhinausgelangen würden. Vielmehr diagnostiziertensie schon vor 1848 weitblickend eine den gewerk-schaftlichen Kämpfen innewohnende Dynamik derPolitisierung. Dabei verschob sich jedoch ihre Per-spektive. In Lage behandelt E noch sehr aus-führlich die von den englischen Arbeitern in Arbeits-kämpfen angewandten physischen und moralischenKampf- und Druckmittel, wobei er diese Kämpfe alseine »Kriegsschule« für das Kampfziel einer poli-tischen Revolution auffasst (2/441). Daneben standfreilich schon das Kampfziel, innerhalb des bürger-

lich dominierten Repräsentativsystems arbeits- undsozialrechtliche Verbesserungen durchzusetzen, v.a.im Kampf um den gesetzlichen Zehnstundentag unddas Armengesetz (446).

Da das seit der Wahlrechtsreform von 1832 bürger-lich dominierte Parlament eine sozialstaatliche Politikweitgehend blockierte, entstand ab 1834 die Chartafür das allgemeine Wahlrecht und die chartistischeBewegung, mit der Hoffnung auf eine Arbeitermehr-heit im Unterhaus (2/444-55). Jedoch schien dieserWeg der Politisierung bis in die 40er Jahre blockiert.Trotz ihrer Heftigkeit konnten die gewerkschaft-

lichen Klassenkämpfe in England nicht in einen poli-tischen Kampf überführt werden, in dem die Arbei-terklasse als eigene, von der Bourgeoisie getrennte

politische Kraft oder Partei auftrat, die dann alsParlaments- und Regierungsmacht auch eine eigenegesellschaftliche Umgestaltung hätte anstreben kön-nen (445-49, 454f). Die in die chartistische Bewegunggesetzten Hoffnungen (vgl. 471, 4/190) erfüllten sich

nicht. Das Projekt einer selbständigen politischenPartei konnte bis 1848 nur in Gestalt des sehr kleinenund meist illegalisierten Bundes der Kommunistenverwirklicht werden.

Dieser blockierten Situation entsprechend stehenim Manifest beide Perspektiven, das Konzept derGegenmacht und das der abkürzenden Revolution,noch unvermittelt nebeneinander. Einerseits setztdas Manifest darauf, dass die Arbeiter »Koalitionen«bilden und durch Kämpfe ihre Zersplitterung nachlokalen und regionalen, betrieblichen und bran-chenspezifi schen partikularen Interessen überwin-den. Trotz Rückschlägen ersteht die »Organisationder Proletarier zur Klasse […] immer wieder«, wirdpolitischer, zentraler, national und »erzwingt dieAnerkennung einzelner Interessen der Arbeiter inGesetzesform […]. So die Zehnstundenbill in Eng-land.« (4/471) Schließlich konstituiert sich die »pro-letarische Bewegung« als »selbständige Bewegungder ungeheuren Mehrzahl im Interesse der unge-heuren Mehrzahl« (472). – Andererseits mündet dieseDarstellung einer aktiven, kämpfenden, durch Rück-schläge immer wieder unterbrochenen Koalierungund Bewegung vier Absätze später in ein Resümee,das diesen Prozess begriffl ich in die Nähe naturge-setzlicher Zwangsläufi gkeit rückt: »Der Fortschrittder Industrie, dessen willenloser und widerstands-loser Träger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle derIsolierung der Arbeiter durch die Konkurrenz ihrerevolutionäre Vereinigung durch die Assoziation.«(473f) Die Bourgeoisie »produziert vor allem ihreneigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg desProletariats sind gleich unvermeidlich.« (474)

Knapp 50 Jahre nach dem Erscheinen von Elend,in seinem Todesjahr 1895, erlebte E jedoch

noch die Bestätigung der anderen, weitblickendenPrognose einer Politisierung der Gewerkschaftsbe-wegung. Aufgrund neuer Zuspitzungen der ökono-mischen Klassengegensätze bildeten die englischenGewerkschaften eine unabhängige Arbeiterpartei,die schließlich 1945, weitere 50 Jahre später, die poli-tische Mehrheit gewann, die sie dann zur Einführungeines modernen Sozialstaates nutzte.

2.6 Abgekürzter oder langer Weg zur politischenRevolution. – Nach 1848 wurde, bedingt durch dieunerhörte Entwicklung des Kapitalismus und derArbeiterbewegung, v.a. das Konzept der Gegenmacht

weiterentwickelt. Das Konzept einer abkürzendenRevolution wurde gleichwohl nicht aufgegeben, son-dern blieb daneben bestehen, und zwar auch in K I.

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Einerseits knüpft M hier an die erwähnte Überle-gung aus Lage an, die Zuspitzung der Krisen werde,indem sich das Proletariat unterm Druck extremerNot selbständig formiert, »die Sache kürzer abma-chen« (2/504). Sich ausdrücklich auf die Prognose

einer zwangsläufi gen Revolution im Manifest bezie-hend, gelangt er am Ende der Kapitel über die kapita-listische Akkumulation, die bereits die gewaltsamenund politischen Hebel der kapitalistischen Klassen-polarisierung hervorheben, zu einer verdichtetenFormel. In ihr erscheinen die Klassen als willenloseTräger einer naturgesetzlichen Klassenpolarisierung,die so extrem ist, dass der langwierige Weg durcheinen kurzen revolutionären Akt abgekürzt wer-den kann: »Mit der beständig abnehmenden Zahlder Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile diesesUmwandlungsprozesses usurpieren und monopoli-sieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, derKnechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aberauch die Empörung der stets anschwellenden unddurch den Mechanismus des kapitalistischen Repro-duktionsprozesses selbst geschulten, vereinten undorganisierten Arbeiterklasse. […] Aber die kapita-listische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeiteines Naturprozesses ihre eigne Negation.« (23/790f)Dabei war die »Verwandlung des auf eigner Arbeitder Individuen beruhenden, zersplitterten Privatei-gentums in kapitalistisches« in den Jahrhundertender ursprünglichen Akkumulation »natürlich einProzess, ungleich mehr langwierig, hart und schwie-rig als die Verwandlung des tatsächlich bereits auf gesellschaftlichem Produktionsbetrieb beruhendenkapitalistischen Eigentums in gesellschaftliches. Dorthandelte es sich um die Expropriation der Volksmassedurch wenige Usurpatoren, hier handelt es sich umdie Expropriation weniger Usurpatoren durch dieVolksmasse« (791).

Andererseits beschreibt M in K I auch dieAnsätze von Gegenmacht und Politisierung, die ange-legt sind im Kampf um die rechtliche Institutionali-

sierung der Arbeiterkoalitionen (766-70), in den auchnach der Legalisierung der Gewerkschaften von 1825anhaltenden Kämpfen um die Kriminalisierung vonArbeitskampfpraktiken wie Streiks, Mitglieds-Eiden,symbolischer Gewalt bzw. Einschüchterungen (768f),im Kampf um den Normalarbeitstag (245-320) undnicht zuletzt auch in der auf der Teilung der Arbeitberuhenden Kooperation spezialisierter Facharbeiter,die einer Fremdbestimmung durch die betrieblicheBefehlshierarchie entgegensteht (356-90).

2.7 Umgestaltung der Gesellschaftsordnung. – Bis1848 wurden die hohen Ansprüche an die nach der

politischen Machteroberung zu gestaltende herr-schaftsfreie Gesellschaft in der Regel noch ohne his-torische Spezifi zierung formuliert. Postuliert wird

eine hohe Entwicklungsstufe der Produktivkräfteund der individuellen Emanzipation. Unter dieserVoraussetzung wird, so heißt es in Elend, der »Sturzder alten Gesellschaft« keine »neue Klassenherr-schaft« oder neue »politische Gewalt« herbeiführen

(4/181). Auch dies kann nicht plötzlich realisiertwerden: »Die arbeitende Klasse wird im Laufe derEntwicklung an die Stelle der alten bürgerlichenGesellschaft eine Assoziation setzen, welche dieKlassen und ihren Gegensatz ausschließt, und es wirdkeine eigentliche politische Gewalt mehr geben, weilgerade die politische Gewalt der offi zielle Ausdruckdes Klassengegensatzes innerhalb der bürgerlichenGesellschaft ist.« (182)

Bemerkenswert ist, dass das historische Ergebnisdieser Umwälzung nicht ein kollektives oder staat-liches Eigentum sein soll, »wohl aber das individu-elle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaftder kapitalistischen Ära: der Kooperation und desGemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeitproduzierten Produktionsmittel« (23/791). DieseFormulierungen sind nicht näher erklärt. Wahr-scheinlich ist an bestimmte Formen der genossen-schaftlichen und gemeindlichen Selbstverwaltunggedacht, die im Manifest umschrieben werden als»eine Assoziation, worin die freie Entwicklung einesjeden die Bedingung für die freie Entwicklung allerist« (4/482). Und wahrscheinlich spielt M auch auf die anarchistische Utopie Political Justice (1793) vonWilliam G an, der, wie E (2/455) notiert,in der englischen Arbeiterbewegung sehr einfl uss-reich war. Nach G könnte in ferner Zukunftein hoher Entwicklungsstand der Technik und dermenschlichen Begabungen es möglich machen, dassviele Arbeiten von Individuen allein, ohne die Koo-peration anderer Arbeitender, durchgeführt werden(vgl. Vester 1970a, 154-58, u. 1970b, 10-25).

Die philosophische Formulierungsweise der 1840erJahre lässt noch offen, welche organisatorischen undinstitutionellen Formen diese Ansprüche erfüllen

könnten und ob der zu erobernde zentrale Staatsap-parat zu deren Einrichtung überhaupt geneigt undgeeignet sein könnte. M und E haben sichnach dem traumatischen Scheitern der Revolutionvon 1848 mit diesen Fragen beschäftigt und dabeiv.a. die in den realen sozialen Kämpfen unter derDominanz des Kapitalismus hervorgebrachten undertrotzten Formen einer direkten Demokratie undeiner sozialstaatlichen Politik studiert und auf denBegriff gebracht.

3. Konzepte der Gegenmacht und der relativen Auto-

nomie des Politischen nach 1848. – Als die englischeArbeiterbewegung aufgrund ihrer Niederlagen inden 1840er Jahren so weit erlahmte und zerfi el, dass

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selbst die europäischen Revolutionen von 1848 inEngland kein Echo mehr fanden, als diese revolutio-nären Kämpfe dann auch im übrigen Europa verlo-ren waren und als auch die Erwartung einer großenWirtschaftskrise durch den bis 1870 anhaltenden

Wachstumsschub der kapitalistischen Weltökonomieunerfüllt blieb, lenkten M und E, sich vom›sektiererischen‹ Handwerkersozialismus trennend(N’ 1979, 10-33), ihre Aufmerksamkeit auf neuegesellschaftliche Bewegungen. Diese waren einer-seits die Bewegungen der Ökonomie, deren Ana-lyse zuerst 1859 in Zur Kritik veröffentlicht wurde,andererseits, bes. in England, die Entstehung einerdie Gesellschaft schrittweise von innen veränderndenGegenmacht. Konzeptuellen Status erhielten dieseBeobachtungen aber erst, seitdem M durch seineArbeit für die IAA die Erkämpfung institutionellerGegenmacht der englischen Facharbeiterschaft inten-siv kennen und schätzen lernte.

3.1 Die politische Ökonomie der Arbeit: Produk-tivgenossenschaften und Arbeitszeitgesetze. – In derInauguraladresse von 1864 beschreibt M zunächstdie verheerenden europäischen Niederlagen, umdann »zwei große Ereignisse« (16/10) darzustel-len, die einen »Sieg der politischen Ökonomie derArbeit über die politische Ökonomie des Kapitals«bedeuteten. Er spricht von dem in dreißigjährigemKampf durchgesetzten gesetzlichen Zehnstundentagund »von der Kooperativbewegung, namentlich denKooperativfabriken, diesem Werk weniger kühnen›Hände‹ (hands). Der Wert dieser großen Experi-mente kann nicht überschätzt werden. Durch die Tat,statt durch Argumente, bewiesen sie, dass Produk-tion auf großer Stufenleiter und im Einklang mit demFortschritt moderner Wissenschaft vorgehen kannohne die Existenz einer Klasse von Meistern (mas-ters), die eine Klasse von ›Händen‹ anwendet; dass,um Früchte zu tragen, die Mittel der Arbeit nichtmonopolisiert zu werden brauchen als Mittel derHerrschaft über und Ausbeutung gegen den Arbeiter

selbst, und dass wie Sklavenarbeit, wie Leibeigenen-arbeit so Lohnarbeit nur eine vorübergehende unduntergeordnete gesellschaftliche Form ist, bestimmtzu verschwinden vor der assoziierten Arbeit« (11f).Gleichzeitig bleiben aber die politischen Seiten desKampfs, die »Reorganisation der Arbeiterpartei« unddie Internationalisierung der Arbeiterbewegung auf der Tagesordnung (12f).

Die Positionen der Inauguraladresse werden in denInstruktionen für die Delegierten des ProvisorischenZentralrats (16/190-99) näher erläutert. Den Arbei-tern werden v.a. die »Produktivgenossenschaften«

nahegelegt, denn diese greifen das gegebene ökono-mische System »in seinen Grundfesten an« (196). DieGewerkschaften »haben sich bisher ausschließlich

mit dem lokalen und unmittelbaren Kampf gegendas Kapital beschäftigt und haben noch nicht völligbegriffen, welche Kraft sie im Kampf gegen das Sys-tem der Lohnsklaverei selbst darstellen«. Durch ihre»Beteiligung an […] politischen Bewegungen« wür-

den sie »jedoch zum Bewusstsein ihrer großen histo-rischen Mission erwachen, […] im großen Interesseihrer vollständigen Emanzipation« (197).

3.2 Die politische Form: Selbstverwaltung stattStaatszentralismus. – Ebenfalls aus der Erfahrungpraktischer Kämpfe in der Periode der Ersten Inter-nationale ging M’ Schrift zur Pariser Kommunevon 1871 (Bürgerkrieg) hervor. Marx sah in dieservon der Arbeiterklasse erkämpften Regierung »dieendlich entdeckte politische Form, unter der dieökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehenkonnte« (17/342). Das Wesentliche dieses Beispiels»neuer geschichtlicher Schöpfungen« (340) sah erin ihrer Politik, die herkömmliche Herrschaft desKapitals und des Staatsapparates nicht selbst zu über-nehmen, sondern zu ersetzen durch wirtschaftlicheund politische Selbstverwaltungsorgane und eineplanvolle Koordination nach dem föderativen stattdem zentralistischen Prinzip (335-45). Zu dieserSelbstverwaltung gehörte auch, die Unterrichtsan-stalten den Einfl üssen von Zentralstaat und Kirchezu entziehen (339). Mit diesen Maßnahmen hatte dieArbeiterklasse keine Doktrinen oder »Ideale zu ver-wirklichen«, sondern »nur die Elemente der neuenGesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits imSchoß der zusammenbrechenden Bourgeoisgesell-schaft entwickelt haben« (343).

Diese Züge hob E in seiner Einleitung von1891 zur Kommuneschrift noch einmal hervor. Erbetonte, dass die maßgeblichen Fraktionen der Kom-mune, die Proudhonisten und die Blanquisten, in derrevolutionären Situation ihren praktischen Erfah-rungen folgten und damit gerade »das Gegenteil vondem taten, was ihre Schuldoktrin vorschrieb« (622).Dadurch war es möglich, dass entgegen der genos-

senschaftsfeindlichen Lehre P die »Kom-mune eine Organisation der großen Industrie undsogar der Manufaktur anordnete, die nicht nur auf der Assoziation der Arbeiter in jeder Fabrik beruhen,sondern auch alle diese Genossenschaften zu einemgroßen Verband vereinigen sollte; kurz, eine Orga-nisation, die […] schließlich auf den Kommunismus[…] hinauslaufen musste« (623). Entsprechend ver-traten die Blanquisten, entgegen ihrem Credo, nichtdie »diktatorische Zentralisation aller Gewalt in derHand der neuen revolutionären Regierung«, sonderndass die von Napoleon 1798 geschaffene »unterdrü-

ckende Macht der bisherigen zentralisierten Regie-rung«, die M schon 1851 im 18.B vernichtendkritisiert hatte, »überall fallen« sollte zugunsten einer

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»freien Föderation aller französischen Kommu-nen mit Paris«, weil »die Arbeiterklasse, einmal zurHerrschaft gekommen, nicht fortwirtschaften könnemit der alten Staatsmaschine« (ebd.).

3.3 Demokratische Kontrolle: gegen eine neue Klasse

von Staatsfunktionären. – Zur Zeit der Pariser Kom-mune war das Bewusstsein von E und M  bereits gegenüber der Gefahr geschärft, dass miteiner Revolution eine neue bürokratische Funktio-närsherrschaft entstehen könnte. So betont E,dass die »Arbeiterklasse, um nicht ihrer eignen,erst eben eroberten Herrschaft wieder verlustig zugehen, einerseits alle die alte, bisher gegen sie selbstausgenutzte Unterdrückungsmaschinerie beseiti-gen, andrerseits aber sich sichern müsse gegen ihreeignen Abgeordneten und Beamten, indem sie diese,ohne alle Ausnahme, für jederzeit absetzbar erklärte«(ebd.) und ihnen »nur den Lohn, den andre Arbei-ter empfi ngen«, zahlte (624). Kritisiert wird gleich-zeitig der »Aberglaube an den Staat« (ebd.) in vielenArbeiterparteien. Auch demokratische Parteien undLänder wie die Vereinigten Staaten seien nicht gefeitgegen die »Verselbständigung der Staatsmacht gegen-über der Gesellschaft, zu deren bloßem Werkzeug sieursprünglich bestimmt war« (ebd.).

3.4 Dezentralisierung der sozialen Staatsaufgaben:Selbstverwaltung. – Der gleiche Tenor beherrscht die1875 verfasste Kritik des Gothaer Programms, die v.a.gegen den staatsgläubigen Lassalleanismus gerichtetwar. Zum einen sollen sich »im selben Maß […], wiedie neue Gesellschaft sich entwickelt«, die Staatsauf-gaben von Ordnungs- bzw. Verwaltungsaufgabenzu sozialen Aufgaben verschieben, v.a. »zur gemein-schaftlichen Befriedigung von Bedürfnissen […], wieSchulen, Gesundheitsvorrichtungen etc.« (19/19).Damit sollte aber keine neue Staatsbürokratie, son-dern die Organisationsform autonomer Gegenmachtund Selbstverwaltung gestärkt werden. Wie schon inder Pariser Kommune, »sind Regierung und Kirchegleichmäßig von jedem Einfl uss auf die Schule aus-

zuschließen« (30). Auch die »jetzigen Kooperativ-gesellschaften« sollen sich als autonome Gegen-mächte entwickeln, »so haben sie nur Wert, soweitsie unabhängige, weder von den Regierungen nochvon den Bourgeois protegierte Arbeiterschöpfungensind« (27).

Den Gewerkschaften sollte eine besondere Rollebeim Erlernen der Fähigkeit zur Selbstverwaltungzukommen. Sie, so E 1875 an August B,sind »die eigentliche Klassenorganisation des Pro-letariats, in der es seine täglichen Kämpfe mit demKapital durchfi cht, in der es sich schult« (34/128).

Angestrebt werden sollte nicht nur Gesetzgebung,sondern »Verwaltung durch das Volk. Das wäre dochetwas« (ebd.).

3.5 Heuristische statt ableitende Klassenanalyse. !– Unter dem Eindruck v.a. der Kommune verstärk-ten M und E ihre Bemühungen, ihr Klas-senkonzept nicht als doktrinäre Prophezeiung, son-dern als heuristische Methode zu verstehen, mit der

geschichtliche Bewegungen zu entdecken wären. Soscheute sich Engels nicht, 1872 in seinem Vorwortzum Manifest einzuräumen, dass zwar die »allge-meinen Grundsätze« des Manifests »im ganzen undgroßen« richtig geblieben seien, aber die »praktischeAnwendung dieser Grundsätze […] überall und jeder-zeit von den geschichtlich vorliegenden Umständenabhängen« wird, so dass der Passus über die »revo-lutionären Maßregeln […] heute in vieler Beziehunganders lauten« würde (18/95). Mit der Fortentwick-lung der großen Industrie, der politischen Lage undder Parteiorganisation der Arbeiterklasse und den»praktischen Erfahrungen« v.a. mit der »PariserKommune, wo das Proletariat zum ersten Mal zweiMonate lang die politische Gewalt innehatte, ist heutedieses Programm stellenweise veraltet« (96).

Mit der gleichen heuristischen Absicht studiertenM und E systematischer die historischenVorläufer demokratischer Selbstverwaltung und (ent-gegen ihrer früheren Annahme, dass der Kapitalis-mus alle früheren gesellschaftlichen Bindungen auf-lösen werde) die Möglichkeit von deren Wiederkehr.In seinen Briefentwürfen an Vera S erin-nert M 1881 an die von Georg Ludwig .M  (1854 u. 1865/66) auf der Grundlage der von denGebrüdern G gesammelten Dorfverfassungenerforschten Spuren der germanischen Dorfgenossen-schaft, das »Gemeineigentum eines mehr oder wenigerarchaischen Typus« (19/384f), das im Mittelalter zum»Hort der Volksfreiheit und des Volkslebens« (387)wurde und möglicherweise, wie M Lewis HenryM zitiert, eine »Wiedergeburt des archaischenGesellschaftstypus in einer höheren Form« erlebenkönnte (386). Auf diese Forschungen wie auch seineeigenen Untersuchungen zum Ursprung des Privat-

eigentums verweist E schließlich auch im Vor-wort von 1888 zum Manifest.In seinen Altersbriefen kritisiert E die dogma-

tisierende Ableitung des Politischen aus dem Öko-nomischen, die »als Vorwand dient, Geschichte nicht zu studieren« (an C.Schmidt, 5.8.1890, 37/436) unddie »relative Selbständigkeit« und »Eigenbewegung«der Kräfte des politischen Feldes (27.10.1890, 490) zuignorieren, denen gegenüber »die Produktion undReproduktion des wirklichen Lebens« nur »das inletzter Instanz bestimmende Moment« (an J.Bloch,21.9.1890, 463) sei.

3.6 Zyklische statt lineare Entwicklungen. – Zu  denneuen Einsichten gehört nicht zuletzt, dass E die Annahme linearer und relativ einheitlicher

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Trends aufgibt und sich den zyklischen und diffe-renzierenden Entwicklungen des Kapitalismus undder Arbeiterklasse zuwendet. Dies kommt bes. klarzum Ausdruck in der zurückblickenden Analyse von1892, in der er die großen Entwicklungslinien der

englischen Arbeiterbewegung des vorangehendenhalben Jahrhunderts herausarbeitet – im Vorwort zurenglischen Ausgabe von Lage, das einen Artikel ausdem Jahre 1885 (21/191-97) mitverwendet. DiesemVorwort zufolge gehört der 1845 »beschriebne Standder Dinge […] größtenteils der Vergangenheit an«(22/265). Damals »existierte der moderne internatio-nale Sozialismus noch nicht […]. Mein Buch reprä-sentiert nur eine der Phasen seiner embryonalen Ent-wicklung« (269). Auch einige der »Prophezeiungen«wie die »einer bevorstehenden sozialen Revolution inEngland«, wie es ihm die »jugendliche Hitze« nahe-gelegt habe, seien fehlgegangen (270). Damals standEngland in einer schweren Wirtschaftskrise, zu derdie irische Hungersnot kam und »die zu lösen allemAnschein nach nur die Gewalt berufen war« (271).Doch im Revolutionsjahr 1848 brach die chartisti-sche Wahlrechtsbewegung zusammen und von 1850bis 1870 kam es zum Beginn »einer neuen industriel-len Epoche« (266), mit einem »Aufschwung der Pro-duktion«, so »unerhört« (273), dass er die 40er Jahrevöllig in den Schatten stellte. Die großen Fabrikantengaben die früheren kleinlichen Unterdrückungsmaß-nahmen wie das Trucksystem und überlange Arbeits-zeiten auf und gingen, um kostspielige Konfl ikte zuvermeiden, zu Arrangements mit den Gewerkschaftenüber, »jedenfalls in den leitenden Industriezweigen«(267). Sie übernahmen sogar Ziele der Volkscharta,indem sie die Parlamentsreformen von 1867 und 1884unterstützten. Engels hebt, eine Parallele zu früherenDiagnosen von Marx (vgl. 13/414ff) ziehend, hervor,dass damit dieselben Leute, die die »Revolution von1848 [… ] niederwarfen […], wie Karl Marx zu sagenpfl egte, ihre Testamentsvollstrecker geworden«  sind(22/273). Entsprechend kam es, wenigstens materi-

ell, zur Verbesserungen der Lebenslagen (268). Aberdurch diese Zusammenarbeit war die »englischeArbeiterklasse politisch der Schwanz der ›großenliberalen Partei‹ geworden« (272).

Allerdings handelte es sich dabei nicht um eine end-gültige, umfassende oder national und internationalgleichmäßige Entwicklung, sondern eine Teilungin gewinnende und verlierende Akteure. InnerhalbEnglands kam es zu einer »dauernden Hebung […]nur bei zwei ›beschützten‹ Abteilungen der Arbei-terklasse«, bei den durch die gesetzliche Begrenzungdes Arbeitstages beschützten Fabrikarbeitern und bei

den durch »die großen Trades Unions« geschütztenmännlichen Facharbeitern; letztere, Maschinenschlos-ser, Zimmerleute, Schreiner und Bauarbeiter, »bilden

eine Aristokratie in der Arbeiterklasse; sie haben esfertiggebracht, sich eine verhältnismäßig komfor-table Lage zu erzwingen, und diese Lage akzeptierensie als endgültig. […] Aber was die große Masse derArbeiter betrifft, so steht das Niveau des Elends und

der Existenzunsicherheit für sie heute ebenso nied-rig, wenn nicht niedriger als je« (274). Und während»England dem von mir geschilderten Jugendstand derkapitalistischen Ausbeutung entwachsen ist, habenandre Länder ihn eben erst erreicht«, v.a. Frankreich,Deutschland und die USA (268). Hier fi nden nun»dieselben Kämpfe für einen kürzeren, gesetzlichfestzustellenden Arbeitstag, besonders für Frauenund Kinder in Fabriken«, gegen das »Trucksystem«usw. statt (269).

Gleichzeitig geht E über die frühere Auffas-sung eines einfachen zyklischen Wechsels zwischenkurzfristigen Aufschwungs- und Krisenphasen hin-aus und beschreibt die Wirksamkeit langer, überJahrzehnte anhaltender Wellen der Expansion undder Stagnation des Kapitalismus. Nach den expan-siven Jahrzehnten nach 1848 hat sich nach 1870 dieinternationale Konstellation für England grundsätz-lich geändert. Eingetreten ist ein Zustand jenseits desbisherigen Pendelns zwischen »Zusammenbruch«und »Geschäftsblüte«, nämlich »ein tödlicher Druck,eine chronische Überfüllung aller Märkte«, weil »dasIndustriemonopol, das England ein Jahrhundertbesessen hat, jetzt unwiederbringlich gebrochen ist«durch die Konkurrenz mit den aufstrebenden neuenIndustrienationen »Frankreich, Belgien, Deutsch-land, Amerika, selbst Russland« (275f). So ist zubefürchten, dass die Stagnation die frühere ›blen-dende Periode‹ endgültig zum Abschluss bringt. Dieenglische Arbeiterklasse »wird sich allgemein – diebevorrechtete und leitende Minderheit nicht aus-geschlossen – eines Tages auf das gleiche Niveaugebracht sehen wie ihre Arbeitergenossen des Aus-landes. Und das ist der Grund, warum es in Englandwieder Sozialismus geben wird« (277). Das Londoner

Ostend »hat seine starre Verzweifl ung abgeschütteltund ist die Heimat des sogenannten ›Neuen Unio-nismus‹ geworden, d.h. der Organisation der großenMasse ›ungelernter‹ Arbeiter« (ebd.). Diese haben dieKöpfe frei von »den ererbten ›respektablen‹ Bour-geoisvorurteilen, die die Köpfe der bessergestellten›alten‹ Unionisten verwirren. Und so sehn wir jetzt,wie diese neuen Unionen die Führung der Arbeiter-bewegung überhaupt ergreifen« (278). – Tatsächlichführte diese Entwicklung 1895 zur Gründung einervon bürgerlicher Hegemonie unabhängigen Arbei-terpartei (39/53, 307f; zusammenfassend Jürke 1988).

Ebringt hier die spezifi sche Phasenstruktur derArbeiterbewegung mit den Auf- und Abschwungs-phasen der langen Wellen der kapitalistischen Ent-

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wicklung zusammen, wie sie später Nikolai K-

(1926) wirtschaftstheoretisch und ErnestM (1962 u. 1972) für die Entwicklung derKlassenkonstellationen herausgearbeitet haben. Auf dieser Grundlage kann die Konstitution der Arbei-

terklasse selbst als zyklisches Phänomen – anstatt alslineare Entwicklungstendenz – aufgefasst werden.Dies gilt bereits für die erste lange Wachstumswelle,die industrielle Revolution von den 1790er bis zu den1840er Jahren (vgl. V 1970a). Von dieser habenM und E aus eigener Anschauung nur dienach 1825 einsetzende Kontraktions- und Stagna-tionsphase kennengelernt, und dies erklärt auch ihrSzenario der Misserfolge in den 1840er Jahren.

3.7 Pluralität von Entwicklungswegen. – Die inhalt-liche Besonderheit der Klassenanalyen nach 1848liegt nicht darin, dass statt eines revolutionären nunein reformistischer Weg der Arbeiterbewegung zumDogma gemacht wurde. Es wird vielmehr eine Plu-ralität von Entwicklungswegen für sinnvoll gehalten,die je nach den Phasen der wirtschaftlichen und poli-tischen Entwicklung und je nach Land verschiedensein können. Dabei kommt es primär nicht auf dieDurchsetzungsform – etwa friedlich oder gewaltsam– an, sondern darauf, ob damit inhaltlich eine nachka-pitalistische Gesellschaft vorbereitet wird oder nicht.Entsprechend wird die Vorstellung, dass es um dieEroberung eines zentralstaatlichen Herrschaftsap-parates gehe, v.a. am französischen und preußischenBeispiel entschieden kritisiert. Ihr werden alle vonden Bewegungen hervorgebrachten Ansätze autono-mer Selbstverwaltung entgegengehalten.

Wenn in der kapitalistischen Gesellschaft Verbes-serungen der Lebenslagen erkämpft werden können,dann bedeutet dies nicht, dass damit für E dieÜberwindung der kapitalistischen Gesellschaftsord-nung unnötig geworden wäre. Im Kommentar zumErfurter Programm (1891) macht er deutlich, dassdie Gegenmacht der Arbeiterbewegung der Verelen-dungstendenz im Kapitalismus entgegenwirken kann,

auch wenn sie die grundsätzliche Unsicherheit dersozialen Lage nicht beenden kann, und er schlägt alsProgrammformulierung vor: »Die Organisation derArbeiter, ihr stets wachsender Widerstand wird demWachstum des Elends möglicherweise einen gewissenDamm entgegensetzten. Was aber sicher wächst, istdie Unsicherheit der Existenz.« (22/231)

4. Aufarbeitung der Entstehung der Arbeiterklassein der Forschung. – Das erste Jahrhundert der Ent-wicklung der Arbeiterklasse ist bes. für England inder marxistischen Denktradition umfassend aufge-

arbeitet worden. Dabei wurden verschiedene Ein-schätzungen, die M und E vor 1848 vertre-ten haben, widerlegt oder korrigiert, ihre späteren

Einschätzungen dagegen häufi g bestätigt oder wei-terentwickelt. Diese Aufarbeitung begann währenddes neuen Aufschwungs der Bewegungen nach 1890.Sie hat die schon von E beobachteten »ups anddowns« (39/386) und wechselnden Kräftekonstellati-

onen zwischen den Klassen (21/22) umfassender unddetaillierter herausgearbeitet. Dabei wurde deutlich,dass die Perspektive der 1840er Jahre und das Kon-zept der linearen Verelendung und Klassenpolarisie-rung nicht bedingungslos verallgemeinerbar waren.Es entstand eine neue Sicht auf die Klassenkonsti-tution, die nicht nur die den 1840er Jahren nachfol-genden, sondern auch die ihnen vorangehenden Ent-wicklungsphasen im Blick hatte.

Die grundlegenden Untersuchungen der Entstehungder englischen Arbeiterklasse bis 1832 werden häufi gT (1963 u. 1971) zugeschrieben. In Wirk-lichkeit bilden seine monumentalen Untersuchungenden Abschluss langer Forschungen zahlreicher bewe-gungsnaher Autoren seit den 1890er Jahren. Thomp-son verstand seinen Beitrag ausdrücklich als Teil die-ser großen arbeitsteiligen Anstrengungen. Es ist auchunberechtigt, Thompson einen besonderen Subjekti-vismus (A 1980, 42) oder eine »extrem sub-jektivistische Klassendefi nition, die Arbeiterklasse[…] durch Arbeiterkultur defi niert« (K 1979, 9,Fn. 7), zu unterstellen. T wollte die anderenUntersuchungen, v.a. zur KrpÖ und zur Durchset-zung der kapitalistischen Produktionsweise nichtdurch einen radikal subjektivistischen Ansatz erset-zen und wehrte sich vehement gegen die Vorstellung,er »sei der Auffassung, die Bildung von Klassen seivon objektiven Determinanten unabhängig, dassKlasse sich einfach als kulturelle Formation defi nie-ren ließe usw.« (1978a, 268). Er wollte sie vielmehrergänzen, indem er v.a. die praktische Seite der Klas-senbeziehungen und -kämpfe umfassender einbezogund hierfür auch neue analytische Konzepte einespraxeologischen Ansatzes entwickelte.

4.1 Kritik an der Unreife-These. – Die frühen For-

schungen im Umkreis der auch von M beeinfl uss-ten Labour-Linken sind seit den 1920er Jahren bes.von George Douglas Howard C (1927, 1941, 1948,1953a/b) in umfassenden Werken über die Wirt-schafts-, Sozial-, Bewegungs- und Ideengeschichteseit Beginn der industriellen Revolution im späten 18.Jh. zusammengefasst und vollendet worden (zusam-menfassend Vester 1970a/b). Dadurch wurde v.a.E’ Einschätzung außer Kraft gesetzt, dass es imfrühen 19. Jh. nur eine passive, leidende und blindgegen die neuen Technologien protestierende ›Arbei-terklasse an sich‹ gegeben habe, die zur selbständigen

Klassenaktion unfähig und der Führung durch bür-gerliche Philanthropen und Theoretiker wie RobertO bedürftig gewesen sei.

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Die Forschungen bestätigen zwar die besondereResonanz, die O seit den 1820er Jahren mit seinerKritik der kapitalistischen Ökonomie und seiner Pro-paganda für von aufgeklärten Unternehmern einzu-führende Genossenschaftsfabriken und Einrichtungen

eines modernen Sozialstaats gefunden hat (vgl. V  1970a, 187-233). Dieses Echo war jedoch eingebettet inaktive, breitere politische, gewerkschaftliche, genos-senschaftliche und kulturelle Arbeiter- und Volksbe-wegungen. Diese waren parallel zur FranzösischenRevolution entstanden und bes. im Kampf gegen diePressezensur, gegen den Abbau sozialer Schutzgesetze,gegen die von 1800 bis 1824 herrschenden drako-nischen Koalitionsverbote (die ein Überspringen derFranzösischen Revolution verhindern sollten) und füreine Reform des Wahlrechts zusammengewachsen.Die Gewerkschaftsorganisationen, die keineswegsnur in der Fabrikindustrie anwuchsen, wandten sichüber die Arbeiterpresse und -bildungsvereine ab 1820auch der von R ausgehenden linken politischenÖkonomie zu, v.a. ihrer Arbeitswertlehre (H 1825) und ihrer Perspektive einer von den arbeitendenKlassen selber !– und nicht von Philanthropen – ausge-henden Ablösung des Kapitalismus durch eine genos-senschaftliche Produktion (William T 1824,B 1839). So wandelte die frühe Arbeiterbewegungden Owenismus um in ein Konzept selbständigenKlassenhandelns, gestützt auf einen genossenschaft-lichen Sozialismus und eine Arbeitermehrheit im Par-lament, die einen neuen Sozialstaat durchsetzen sollte(vgl. V 1970a, 234-80).

Damit war bereits bis 1832 eine »Arbeiterklassefür sich selbst« entstanden (vgl. E.P.T 1963/1987, 208f, 912-39). Angeregt durch die fran-zösische Julirevolution von 1830, steigerten sich dieWahlrechtsdemonstrationen zeitweilig bis zum Punkteiner vorrevolutionären Situation (922). Die Bewe-gung zerbrach – nicht weil sie zu einer selbständigenKlassenpolitik unfähig, sondern weil sie dafür gegen-über der Bourgeoisie nicht stark genug war. Die von

den Arbeitern miterkämpfte Wahlrechtsreform von1832 nahm nur das besitzende Kleinbürgertum neuunter die Wahlberechtigten auf. Von den mehr alseine Mio gewerkschaftlich organisierten Arbeitern,die leer ausgingen, wandten sich viele nun verstärktaußerparlamentarischen und gewerkschaftlichenKämpfen mit anarchosyndikalistischen Zügen zu,die 1834 durch schwere Streikniederlagen, Depor-tation von ›Rädelsführern‹ usw. demoralisiert unter-gingen und die Gewerkschaftsführer wie ›Generäleohne Truppen‹ zurückließen (vgl. V 1970a, 328,331; B 1839/1920, 123f). Das liberale Bürgertum

stand nun zwar durch wirtschaftliche Absatzkrisenunter Druck, war aber politisch so gestärkt, dass esbis 1848 praktisch alle Gewerkschafts- und Wahl-

rechtskämpfe an sich abprallen ließ – und erst in derneuen Aufschwungsphase zu einer Politik der Arran-gements mit den Gewerkschaften zurückkehrte (vgl.261-333, 392-96).

Wenn M und E in den 1840er Jahren den

Eindruck hatten, dass die »Arbeiterklasse für sichselbst« noch nicht entstanden sei, ist dies aus die-sen verheerenden Niederlagen zu erklären undnicht aus einer ›Unreife‹ (vgl. N’ 1979, 13-16).Dokumentierte Spuren der untergegangenen Bewe-gungen fanden sie in den gedruckten Werken derfrühen Kapitalismuskritik, die M unter dem Titel»Gegensatz gegen die Ökonomen« in TM rezipiert(26.3, 234-319) – und die in deutscher Sprache zwi-schen 1903 und 1922 herausgebracht wurden (vgl.V 1970b, 10-147). M und E erklärtensich die Zurückhaltung der Bewegungen gegenübergrößeren Konfrontationen v.a. mit der These einerUnreife der ›Arbeiterklasse an sich‹, des langmü-tigen, noch nicht »zu vollem Bewusstsein« erwach-ten »ungeschliffenen Riesen«, wie es ihr MitstreiterGeorg W (SW 3, 237, 234, 310) formulierte.Dass die Arbeiterbewegung gerade unter diesenWidrigkeiten stabilere Organisationsformen fand,die die Fundamente ihres nach 1848 folgenden Auf-schwungs bildeten, wurde für M erst erfahrbar,als er nach 1860 im Zusammenhang mit der IAA diestabilisierten Gewerkschafts- und Genossenschafts-bewegungen näher kennenlernte.

Der Überblick über die gesamte Entwicklung derentstehenden Arbeiterklasse von den 1790er zu den1890er Jahren hat v.a. zwei Weiterentwicklungender Klassentheorie ermöglicht. Zum einen wurdeder praxeologische Ansatz weiterentwickelt, derselbständiges Klassenhandeln nicht unmittelbar aus›objektiven‹ Merkmalen der sozialen Lage abzuleiten,sondern aus den alltagskulturellen und politischenKlassenbeziehungen und -konfl ikten zu erklären undzu verstehen sucht (T 1963, 1971, 1978a/b;B 1970, 1979). Damit wurde es zum ande-

ren möglich, die Annahmen linearer Entwicklungs-tendenzen aufzugeben und die Widersprüchlichkeitund den zyklischen Charakter sozialer Entwick-lungen und Kämpfe, in denen Aufschwünge undAbschwünge der Bewegungen einander ablösen, zustudieren (M 1962 u. 1972; V 1970a/b).

4.2 Die historische Kontinuität solidarischer Gegen-macht und Volksklassenkultur . – Schon an den frü-hen Bewegungen wurde deutlich, dass ihre Intensi-tät keine unmittelbare Folge besonderer materiellerNot, sondern sozio-kulturell und politisch vermitteltwar. T belegt dies in daten- und informati-

onsreichen Untersuchungen des Übergangs vom 18.Jh. zu der neuen kapitalistischen Klassenkonstella-tion des 19. Jh., die von einer entschieden liberalis-

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tischen Politik der wirtschaftlichen Deregulierungund politischen Repression gekennzeichnet war. DieUntersuchungen der langfristigen Entwicklungenbestätigen durchaus die von M diagnostizierteDurchsetzung kapitalistischer Produktionsverhält-

nisse mit ihren dramatischen Veränderungen derKlassenstellung, d.h. die Verwandlung der kleinenBauern, Handwerker, Heimarbeiter und Armen ein-schließlich ihrer Frauen und Kinder in freie Lohnar-beiter. Aber sie bestätigt nicht die Perspektive einervereinheitlichenden Herabdrückung und Fragmen-tierung der Klassenlage.

E in Lage und M in K I hatten, gestütztv.a. auf Andrew U (1835), eine vereinheitlichendeHerabdrückung der Arbeitsqualifi kation und derLöhne v.a. der Frauen und Kinder zwar nur in derTextilindustrie (und dort auch zutreffend) beobachtet,aber diese zu einer Tendenzprognose für alle Indus-trien und Lohnarbeiter verallgemeinert. T-

(1963/1987, 203-28) stellte stattdessen eine sehruneinheitliche Entwicklung der Löhne und keine all-gemeine Dequalifi zierung fest. Spätere Datenanalysenbestätigen, dass es auch in anderen kapitalistischenLändern im langfristigen Durchschnitt zur Zunahmeder qualifi zierten Facharbeit kam, ohne dass aller-dings die großen Verlierergruppen der gering Quali-fi zierten und Entlohnten verschwanden (vgl. G  1949, B 1964, K 1961-72).

Die Heterogenität solcher äußerer Lagemerkmalemusste jedoch nicht zur sozialen Fragmentierungführen, da die Arbeiter- und Volksmilieus weitge-hend auch durch den Rahmen solidarischer Kohäsi-ons- und Deutungsmuster zusammengehalten wur-den. Indem T sich, auf dieser Grundlage, dermateriellen Verelendungsthese verweigert, verharm-lost er die Klassenherrschaft nicht, sondern defi niertsie nur umfassender, als eine dramatisch erfahreneVeränderung der ganzen kulturellen wie materiellen»Lebensqualität«; daher »besitzt die ältere ›katastro-phische‹ Sicht der Industriellen Revolution immer

noch volle Gültigkeit. Auch wenn sich eine kleinestatistische Verbesserung der materiellen Bedin-gungen nachweisen lässt, litt die Bevölkerung vonEngland in den Jahren 1780 bis 1840 unter der Erfah-rung der Verelendung. […] Die Erfahrung der Vere-lendung kam in hundert verschiedenen Formen übersie: für den Landarbeiter als Verlust von Gemeinde-rechten und den Resten einer dörfl ichen Demokratie;für den Handwerker als Verlust seines berufl ichenStatus; für den Weber als Verlust von Einkommenund Unabhängigkeit; für das Kind als Verlust vonArbeit und Spiel zu Hause; für viele Arbeitergruppen,

deren Reallöhne stiegen, als Verlust von Sicherheitund Freizeit, als Verschlechterung ihrer städtischenUmwelt.« (1963/1987, 476f)

Entsprechend kam der große Protest nicht vonden Fabrikarbeitern allein und auch nicht von denen,die am meisten unter materiellem und moralischemElend litten, sondern gerade aus den ›respektablen‹arbeitenden Volksklassen, deren soziale Stellung und

politische Rechte durch die liberalistische Wende inWirtschaft und Politik gefährdet wurden. Entschei-dend waren nicht die Daten des Lebensstandardsallein, sondern die Erfahrungen des Verlusts frühererFreiheiten und Qualitäten der Lebensweise und diedaraus folgenden sozialen Spannungen.T (432-78) widerlegt auch die Diagnose

einer allgemeinen anomischen und demoralisierendenFragmentierung und Aufl ösung der alltäglichen Klas-senmilieus und gemeindlichen Zusammenhänge. Erweist nach, dass die entstehende Arbeiterbewegungan vorangehende lange Traditionen der »commu-nity«, der solidarischen Organisation, der egalitärenGesellschaftsdeutung und des Protestes (Religions-gemeinschaften, Unterstützungskassen, kommunaleExistenzsicherungen, Vereine, Korrespondenznetze,symbolische Protestformen usw.) anknüpfen konnte.Diese Elemente einer solidarischen Klassenkulturerfuhren allerdings mit der ökonomischen und poli-tischen Durchsetzung des Industriekapitalismus eineentscheidende Transformation. Bis weit ins 18. Jh.waren die Klassengegensätze noch durch ältere his-torische Kompromisse gemildert gewesen (T-

1971 u. 1978a; M 1966). Die immer härtereliberale Politik der Zerstörung des Gemeindelands,der sozialen Sicherungen und der Meinungs- undKoalitionsfreiheiten traf die verschiedensten Volks-milieus gleichermaßen, so dass sie sich, v.a. in denWiderstandskämpfen ab 1800, immer mehr miteinan-der solidarisierten und auch modernisierte Konzepteentwickelten, die den neuen liberal-kapitalistischenBedingungen besser entsprachen. Anstelle traditio-neller, religiöser und naturrechtlicher Argumentewurden dem liberalen Umbau der sozialen Ord-nung zunehmend juristische und politökonomische

Konzepte einer demokratischen und solidarischenOrdnung entgegengehalten (V 1970a, 25-29,234-333; 1970b, 7-147). Dies galt nicht zuletzt für dieanwachsende Gewerkschaftsbewegung.T (1963/1987, 554-693) weist sogar nach,

dass Sabotage und Maschinenzerstörung der sog.Ludditen unter der Illegalisierung der Gewerk-schaften alternativlose Kampfmittel waren und sichauch nicht blind gegen die produktiveren neuenTechnologien als solche, sondern gegen das Fehlentarifl icher Flankierungen richteten und dass nichtwenige der ›Maschinenstürmer‹ nach der Wiederzu-

lassung ihrer Gewerkschaften noch jahrzehntelangformal friedliche Tarifpolitik betrieben. Insgesamtzeigt T auf, dass die Klassenentwicklung eine

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politische Koalitionsbildung verschiedenartiger, aberdurch eine gemeinsame Alltagskultur verbindbarerVolksmilieus war, die durch einen unerbittlichen libe-ralen Gegner überhaupt erst zur Solidarisierung undzur Umstellung auf modernere Verhältnisse heraus-

gefordert wurden. Diese Koalitionen konnten auchwieder zerfallen, wenn der Gegner eine koalierendeGruppe – wie die kleinen Hausbesitzer, die 1832 dasWahlrecht bekamen – zu sich herüberziehen konnte.

4.3 Handlungsdisposition und Handlungsfeld impraxeologischen Ansatz. – T (1971, 1978a/b)ergänzt, hierin in weitgehender Übereinstimmungmit B, den Marxismus v.a. durch zwei mit-einander verbundene Konzepte einer Theorie derPraxis. Wie sich Akteure praktisch verhalten, kannnicht unvermittelt aus den mit ihrer gesellschaftlichenStellung verbundenen Interessen bzw. materiellenoder kulturellen Ressourcen – ihrem ökonomischen,kulturellen und sozialen »Kapital« (Bourdieu 1979u. 1983) – abgeleitet werden. Wie diese Interesseninterpretiert und diese Ressourcen eingesetzt werden,hängt vielmehr von eigenständigen Handlungsdispo-sitionen ab, die die Akteure in Form ihrer gemein-samen Kultur historisch erworben, tradiert undauch aktiv gestaltet haben. Kultur wird hier ethno-logisch oder materialistisch, wie bei W (1972,317-405) und B (1982, 17), in Abgrenzungvon der Hochkultur als Kultur des Alltagsverhal-tens verstanden. Individuell verinnerlicht, verfestigtund manifestiert sie sich im Habitus. Das Konzeptdes Klassenhabitus teilt T der Sache nach(wenn auch unter dem Namen »culture« und »dispo-sition«) mit B, der ihn als »einheitsstiftendesErzeugungsprinzip der Praxis« und »Inkorporationder Klassenlage« (1982, 175) versteht, und mit G-

 (1932, 13-16, 77-82), der ihn gleichbedeutend mit»Mentalität« benutzt. Die Klassifi kations-, Bewer-tungs- und Handlungsdispositionen des Habituswerden aber nicht unmittelbar und immer gleich inreale Praxis umgesetzt. Dies hängt vielmehr von den

historisch veränderlichen Kräfteverhältnissen desHandlungsfeldes insgesamt ab. Die soziale Praxisist damit nicht zwingend vorherbestimmt, sonderninnerhalb eines bestimmten Spektrums von Möglich-keiten und historisch variabel. B fasst diesenkomplexen Zusammenhang in die vereinfachendeMerkformel: »[(Habitus)(Kapital)] + Feld = Praxis«(1982, 175). Ansätze zu dieser Feld, Habitus undMilieu einbeziehenden Praxistheorie lassen sich auchbei M und E nachweisen (vgl. .O 1994/2006, 41ff).

T grenzt sich ab von den statischen Klassen-

begriffen des orthodoxen Marxismus und des sozio-logischen Positivismus, die ihm als epistemologischesZwillingspaar gelten. Er fasst Klasse als »historische 

Kategorie« auf, die auch »den realen erfahrungsbe-stimmten historischen Prozess der Klassenbildung«einbeziehen müsse; man habe »dem Begriff ›Klasse‹viel zuviel (meist offensichtlich a-historische) theo-retische Beachtung geschenkt, dem Begriff Klassen-

kampf dagegen zuwenig. In der Tat ist Klassenkampf sowohl der vorgängige als auch der universellereBegriff. […] Klassen existieren nicht als gesonderteWesenheiten, die sich umblicken, eine Feindklassefi nden und dann zu kämpfen beginnen. Im Gegenteil:Die Menschen fi nden sich in einer Gesellschaft, die inbestimmter Weise (wesentlich, aber nicht ausschließ-lich nach Produktionsverhältnissen) strukturiert ist,machen die Erfahrung, dass sie ausgebeutet werden[…], erkennen antagonistische Interessen, beginnenum diese Streitpunkte zu kämpfen, entdecken sich imVerlauf des Kampfs als Klassen und lernen diese Ent-deckung allmählich als Klassenbewusstsein kennen.Klasse und Klassenbewusstsein sind immer die letzte,nicht die erste Stufe im realen historischen Prozess.«(1978a, 264-67)

Nach dem relationalen, d.h. an Feldbeziehungenorientierten Klassenkonzept T, das er mitB (1979/1982, 182-85) teilt, lassen sich Klas-sen nicht, wie bei positivistischen »Soziologen, die dieZeitmaschine gestoppt haben«, in statischen Merk-malen wie »Berufen, Einkommen, Statushierarchienusw. fi nden […], insofern Klasse nicht dieses oderjenes Teil der Maschine ist, sondern die Weise, in der die Maschine arbeitet, sobald sie in Bewegung gesetztist, nicht dieses oder jenes Interesse, sondern dasSpannungsverhältnis der Interessen – die Bewegungselbst, die Hitze und der donnernde Lärm. Klasseist eine soziale und kulturelle Formation (die oftinstitutionellen Ausdruck fi ndet), die nicht abstraktoder isoliert defi niert werden kann, sondern nur imVerhältnis (relationship) zu anderen Klassen; undschließlich kann die Defi nition nur in der Dimensionder Zeit (medium of time) gemacht werden, d.h. vonAktion und Reaktion, Wandel und Konfl ikt. Wenn

wir von einer Klasse sprechen, denken wir an einensehr locker abgegrenzten Zusammenhang von Leu-ten, die dieselbe Mischung von Interessen, sozialenErfahrungen, Traditionen und Wertsystemen teilen,die eine Disposition haben, sich als eine Klasse zuverhalten, sich in ihren Handlungen und in ihremBewusstsein im Verhältnis zu anderen Gruppen vonLeuten klassenmäßig zu defi nieren. Aber Klasseselbst ist nicht ein Ding, sondern ein Geschehen.«(T 1963, 257, zit.n. Vester u.a. 2001, 160)

Mit dem Begriff der Disposition berücksichtigenT wie B, dass es um die Anlagen,

Geneigtheiten und Möglichkeiten des Habitus geht,denen die Akteure auf verschiedene Weisen prak-tisch folgen können, je nach den Kräfteverhältnissen

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im Feld. T exemplifi ziert dies empirischam historischen Wandel der Klassenbeziehungen inEngland (den M 1966 in seiner vergleichendenhistorischen Klassenanalyse über einen noch länge-ren Zeitraum untersucht hat): Bis ins 18. Jh. waren

die Klassenkonstellationen aufgrund älterer ausglei-chender sozialer Arrangements noch wenig polari-siert. Bis zum frühen 19. Jh. wurden die kommunaleund zentralstaatliche Sozialpolitik, die korporativenund individuellen Rechte usw. im Namen des Laissez-faire-Kapitalismus weitgehend abgebaut. DiesesMacht-Ohnmacht-Gefälle zwischen den Klassenkulminierte in den 1840er Jahren und wurde danachwieder für Jahrzehnte relativiert. Gleichwohl prägtedie antagonistische Konstellation der 1840er Jahredas im Marxismus dominant gewordene Klassen-konzept. Dem hält T entgegen: »Klasse alsein Produkt der kapitalistischen Industriegesellschaftdes 19. Jh., das dann das heuristische Verständnis vonKlasse geprägt hat, hat in der Tat keinen Anspruchauf Universalität, sondern ist in diesem Sinn nichtmehr als ein Unterfall der historischen Formationen,die aus Klassenkämpfen entstehen.« (1978a, 268)

In seinen theoretischen Essays entwickelt T auf historisch-empirischer Grundlage sein Konzeptdes »fi eld of force« (1978a, 270) weiter und verknüpftes, wieder in Parallele zu B (1987, 180-94),mit der Kategorie der nicht gänzlich vorherbestimm-ten historischen Möglichkeit: »Bei der Analyse derBeziehungen von Gentry und Plebs [im 18. Jh.] trifftman weniger auf einen kompromisslosen Schlagab-tausch von unversöhnlichen Antagonisten als viel-mehr auf ein gesellschaftliches ›Kräftefeld‹. Ich denkean ein Experiment in der Schule […], wo elektrischerStrom eine mit Eisenspänen bedeckte Platte magneti-sierte. Die gleichmäßig verteilten Eisenspäne ordne-ten sich um den einen oder anderen Pol, während dieSpäne dazwischen, die an ihrem Platz blieben, sich inetwa so anordneten, als ob sie auf gegenüberliegendePole ausgerichtet seien. So etwa sehe ich die Gesell-

schaft des 18. Jh.: In vieler Hinsicht befi ndet sich dieVolksmenge an dem einen und die Aristokratie unddie Gentry an dem anderen Pol; dazwischen bis tief in das Jahrhundert die Gruppen der akademischenBerufe und der Kaufl eute, die durch Magnetliniender Abhängigkeit von den Herrschenden gebundensind und gelegentlich ihre Gesichter hinter gemein-samen Aktionen mit der Menge verstecken. DieseMetapher […] sagt uns auch viel über […] die Gren-zen des Möglichen, die die Mächtigen nicht zu über-schreiten wagten. Es heißt, Königin Caroline habeeinmal solchen Gefallen am St. James Park gefunden,

dass sie Walpole fragte, wieviel es wohl kosten würde,ihn als Privateigentum einzuhegen. ›Nur eine Krone,Madam‹, war Walpoles Antwort.« (1978a, 270f)

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G.D.H.C, A Short History of the British Working ClassMovement 1789-1927, Bd. 1: 1789-1848, London 1927;ders., Chartist Portraits, London 1941; ders., The Mea-ning of Marxism, London 1948; ders., Attempts at General Union. A Study in British Trade Union History, 1818-1834, London 1953a; ders., A History of Socialist Thought, Bd.  1:The Forerunners 1789-1850, London 1953b; Th.G, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes, Stuttgart1932; ders., Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel, Köln-Hagen 1949; H.G, Die moralische Ökonomie des frü-hen Proletariats. Die Entstehung der hannoverschen Arbei-terbewegung aus den arbeitenden und armen Volksklassenbis 1875, Frankfurt/M 1985; W.G, An Enquiry Con-cerning Political Justice and its Infl uence on General Vir-tue and Happiness, London 1793; Th.H, Labour Defended against the Claims of Capital, London 1825;E.J, Vision und Realpolitik. Die britische IndependentLabour Party im Lernprozess (1893-1914), Frankfurt/M1988; J.K, »Arbeiterkultur als Forschungsthema. Ein-leitende Bemerkungen«, in: Geschichte und Gesellschaft, 5. Jg., 1979, H. 1, 5-11; N.D.K, »Die langenWellen der Konjunktur«, in: Archiv für Sozialwissenschaftund Sozialpolitik, Bd. 56, 1926, H. 3, 573-609; K.K,Karl Marx (1938), Frankfurt/M 1967; J.K, DieGeschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 1-38, Berlin/DDR 1961-72; E.M, MarxistischeWirtschaftstheorie (1962), Bd. 1, Frankfurt/M 1968; ders.,Der Spätkapitalismus, Frankfurt/M 1972; G.L..M, Einleitung zur Geschichte der Mark-, Hof-, Dorf- undStadtverfassung und der öffentlichen Gewalt, München1854; ders., Geschichte der Dorfverfassung in Deutschland, 2 Bde., Erlangen 1865/66; B.M Jr., Soziale Ursprüngevon Diktatur und Demokratie. Die Rolle der Grundbesitzer und Bauern bei der Entstehung der modernen Welt, Frank-furt/M 1966; S.N’, Gibt es einen ›WissenschaftlichenSozialismus‹? Marx, Engels und das Verhältnis zwischensozialistischen Intellektuellen und den Lernprozessen der Arbeiterbewegung, Hannover 1979; P..O, »Klasseund Milieu als Bedingungen gesellschaftlich-politischenHandelns« (1994), in: H.Bremer u. A.Lange-Vester (Hg.),Soziale Milieus und Wandel der Sozialstruktur, Wiesbaden2006, 37-69; D.R, On the Principles of Political Eco-nomy and Taxation, London 1817; A.S, An Inquiryinto the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776),New York 1937; E.P.T, The Making of the English

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tur (vorkapitalistische), von außen, vorkapitalistische Pro-duktionsweisen, vormarxistischer Sozialismus, Vormärz,Widerspruch

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Klassenanalyse

A: taƒl÷l ̃ abaq÷. – E: class analysis. – F: analyse de classe.R: klassovyj analiz. – S: análisis de clase.C: jieji fenxi阶级分析阶级分析

›K‹ bezeichnet den Bereich der Gesellschaftsanalyse,in dem die vertikale und horizontale sozialstruktu-relle Gliederung der Gesamtbevölkerung nach sozial-ökonomischen und, darauf aufbauend, macht- undherrschaftspolitischen sowie kulturell-habituellenUnterscheidungskriterien in ihrem wechselseitigenBedingungsgefüge untersucht wird, und die diesbezü-glichen theoretische Voraussetzungen, Methodolo-gie und heuristische Verfahren. Dass die K seit dem19. Jh. zu den zentralen Problemen der sozialwis-senschaftlichen Theoriebildung und Methodologiegehört, resultiert aus dem Widerspruch zwischenbehaupteter Gleichheit und realer Klassenspaltungder bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sowieden theoretischen und praktischen Auseinanderset-zungen zwischen Bourgeoisie und Proletariat.

Wenngleich M und E in der für ihre Gesell-schaftsanalyse und die geschichtliche Orientierungder Arbeiterbewegung zentralen Frage von Klassen-struktur und Klassenkampf keine zusammenhän-gende Darstellung vorlegten, bestimmt das Klassen-konzept ihr gesellschaftstheoretisches Gesamtwerk.Das gleiche trifft auf L zu, mit der Spezifi k, dassdie politisch-agitatorischem Anliegen geschuldeteDefi nition von Klasse (LW 29, 410) von der Rezep-tion in den Mittelpunkt gerückt (und in der Komin-tern sowie vom ML im Staatssozialismus kanonisiert)wurde und die das Gesamtschaffen durchziehendeAnalyse von Klassen- und Sozialstrukturen demge-genüber geringere Beachtung fand. – In der II. Inter-nationale belebte die Revisionismus-Kontroversean der Wende vom 19. zum 20. Jh. zwar den klas-sentheoretischen Diskurs; die von ihm ausgehendenImpulse zur Weiterentwicklung der Klassentheorie

waren jedoch vorrangig auf die deutsche Sozialde-mokratie und den Austromarxismus begrenzt. Dif-ferenzierte und impulsgebende Untersuchungen vonKlassen, Schichten und sozialen Gruppen wie durchG erreichten erst nach 1945 die Öffentlichkeit,und auch dann lange Zeit nur selektiv.

Die zwischen Unverständnis des Marxismus undFeindschaft gegen ihn schwankende institutionali-sierte bürgerliche Forschung und Lehre drängt seitdem ausgehenden 19. Jh. die Rezeption der -

schen Klassentheorie und K ab in örtlich, instituti-onell, zeitlich sowie individuell bzw. auf spezielle

Gruppen begrenzte Rahmen. Nach dem ZweitenWeltkrieg setzte in Westeuropa unterm Einfl uss derUSA eine antimarxistisch ausgerichtete Grundlagen-