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Monika Dimpfl

Karl ValentinBiografie

Mit 28 s/w-Abbildungen

Deutscher Taschenbuch Verlag

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OriginalausgabeJuni 2007

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

www.dtv.de© 2007 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

MünchenAlle Rechte vorbehalten. Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheber-

rechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheber-rechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies giltinsbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die

Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlagfoto: SV-Bilderdienst/RA FetteSatz: Greiner & Reichel, Köln

Gesetzt aus der Trajanus 10/12,5·Druck und Bindung: Kösel, Krugzell

Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in Germany

ISBN 978-3-423-24611-8

Der Inhalt dieses Buches wurde auf einem nach den Richtlinien des Forest Stewardship Council zertifizierten

Papier der Papierfabrik Munkedal gedruckt.

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Inhalt

Kapitel 1Der Knabe Karl – ein gewesenes Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Kapitel 2Der Schreiner am Nagel – ein Münchner Original-Humorist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

Kapitel 3Erst ein armer magerer Teufel – später Blödsinnkönig . . . . . . 45

Kapitel 4Der Vorstadt-Paganini und das gute brave Lieserl – ein Alpen-Duett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

Kapitel 5Linksgedachtes Tingel-Tangel – quasi heidi bobi tschingreding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

Kapitel 6Revolutionszwetschgen – Loreleisenes Haar . . . . . . . . . . . . . . 117

Kapitel 7Das Geheimnis der Roten Zibebe – schöpferischer Infantilismus! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

Kapitel 8Holla rolla rolla Plem Plem – Rotzglocken unters Volk . . . . . 169

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Kapitel 9Luftähnliche Mibrollen – niederverachtungsleer . . . . . . . . . . 198

Kapitel 10Leibeigener Partner – unparteiisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

Kapitel 11Der Fischgemsigeldackelentenelsterschlangenhasen-karpfenrollenhirschbartsaurus – ein Regenwurm-Ei? . . . . . . . 241

Kapitel 12Der Untergrundbahnschaffner – ein Möchteltöchtel in der Ritterspelunke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

Kapitel 13Zettelträume – total abgebrannt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286

Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320

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Kapitel 1

Der Knabe Karl – ein gewesenes Kind

I ch schloff als kleiner Junge mit vier Jahren in das Stiefelrohr ei-nes Rohrstiefels meines Vaters mit dem Kopf hinein, aus was fürGründen ist mir heute noch unbekannt, ich nehme an, es war

jugendlicher Übermut. Ich wäre darin vielleicht erstickt, wenn nichtmeine liebe Mutter, die alles für ihr Kind tat, mich aus diesem ei-genartigen Tunnel herausgezogen hätte.«

Mit der verqueren Geschichte seiner gleichsam zweiten Geburt ausdem väterlichen Stiefelrohr hat Karl Valentin die Auswahl aus sei-nen ›Jugenderinnerungen‹ eingeleitet, die in der ›SüddeutschenSonntagspost‹ vom 28. August 1932 erschien. Unter den Lesern die-ser Münchner Wochenzeitung werden damals nur wenige das Dop-peldeutige gemerkt haben; sie lachten über die »lustigen Lausbu-benstreiche« des »großen unnachahmlichen Münchner Komikers,der zu den originellsten deutschen Künstlern gehört«. Valentin sel-ber solche Naivität zu unterstellen, wäre aber wohl verkehrt. Dazuinteressierte sich der geniale »Vorstadt-Hypochonder«, als den ihnder Wiener Essayist Anton Kuh Ende der zwanziger Jahre charakte-risiert hat, privat zu sehr für Fragen der Medizin und Psychologie. AlsGasthörer besuchte er beispielsweise den Kurs »Psychologie der Ge-genwart«, den das Pädagogisch-Psychologische Institut im Auditori-um maximum der Universität während der Semesterferien im Som-mer 1932 veranstaltete (›Süddeutsche Sonntagspost‹, 7. 8. 1932).

Dass Valentin, dem man gemeinhin dergleichen nicht zutraut,sich auch mit der Individualpsychologie von Alfred Adler beschäf-tigte, belegt eine andere Jugenderinnerung, die allerdings in der›Süddeutschen Sonntagspost‹ nicht abgedruckt ist, ›Der Wuhwuh

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kommt‹. Valentin stellt sich darin als Opfer falscher Kindererzie-hung dar und erzählt wiederum von seiner Mutter. Sie habe ihn,wenn er unfolgsam war, mit der Drohung erschreckt, den »Wuhwuh«zu holen: »… und die Mutter geht aus dem Zimmer, stülpt einenSack oder irgendeine Verhüllung über den Kopf (wie es leider mei-ne Mutter zu oft gemacht hat) klopft mit den Fäusten an die Tür,murmelt geisterhafte Worte und erscheint als Gespenst im Zimmer.Was geht nun in dem kleinen Gehirn des Kindes vor? Es … be-kommt Furcht und fängt an zu zittern, kurzum das ganze Nerven-system des Kindes ist ausser Rand und Band und in der Angst er-füllt das Kind nun die Wünsche der Mutter und ist brav geworden.Nun löst die Mutter das Rätsel, zeigt dem Kinde, indem sie den Sackvom Kopf nimmt, dass sie der ›Wuhwuh‹ war und meint irrtüm-licherweise nun ist alles wieder gut und vorbei. Aber dem ist nichtso … Für dieses Kind kommt im ganzen Leben immer der ›Wuhwuh‹,in Form der verschiedenartigsten Hemmungen u. Komplexe.«

›Karl Valentin der Lausbub‹ ist die Veröffentlichung in der ›Süd-deutschen Sonntagspost‹ überschrieben. Das klingt – gewiss nichtunabsichtlich – nach einer bekannten Vorlage, den ›Lausbuben-geschichten‹ von Ludwig Thoma aus dem Jahr 1905. In der Vorbe-merkung wird denn auch darauf hingewiesen, dass Valentin seineJugenderinnerungen aufgeschrieben habe, »um sie demnächst alsBuch herauszugeben«. Und: »Eine Reihe hübscher Jugendbegeben-heiten, illustriert von Ludwig Greiner, hat Karl Valentin der ›Süd-deutschen Sonntagspost‹ zum Erstabdruck aus seinem Manuskriptzur Verfügung gestellt, die wir fortlaufend veröffentlichen werden.«In der Tat hatte Valentin, der am 4. Juni 1932 seinen 50. Geburts-tag feierte, spätestens um 1930 damit begonnen, »die mir noch inErinnerung gebliebenen Erlebnisse aus meiner Jugend-, Jünglings-und Mannszeit zu sammeln«. Das geplante autobiografische Buchwurde jedenfalls mehrmals angekündigt. »Augenblicklich ist Valen-tin damit beschäftigt, ein Buch über seine ›Jugendstreiche‹ zu schrei-ben, das auch illustriert wird.« So oder so ähnlich schlossen fastalle Zeitungsartikel, die anlässlich der Münchner Uraufführung desOpernfilms ›Die verkaufte Braut‹ am 16. August 1932 eben auchüber Valentin – »unseren deutschen Chaplin« – und Liesl Karlstadt

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berichteten. Der Film war in Geiselgasteig unter der Regie von MaxOphüls gedreht worden und Valentin und Karlstadt spielten darin»ihre erste große Tonfilmrolle«, das Zirkusdirektorenpaar Brummer.

»Valentin’s Jugendstreiche« sind dann aber doch nicht als Bucherschienen; erst 1951 hat Gerhard Pallmann aus dem Nachlass eineZusammenstellung unter dem Titel ›Der Knabe Karl‹ herausge-geben. So ist es zu Valentins Lebzeiten bei dem Fotoband ›Das KarlValentin Buch‹ geblieben, einer Art Vorstufe zu seinen Memoiren.Das Buch kam mit dem Erscheinungsdatum 1932 schon an Weih-nachten 1931 im Verlag Knorr & Hirth heraus. Den fast barock-lan-gen Untertitel wird sich Valentin selber ausgedacht haben: »Erstesund einziges Bilderbuch von Karl Valentin über ihn und Lisl Karl-stadt mit Vorwort und ernsthafter Lebensbeschreibung und Bildun-terschriften von ihm selbst, sowie zwei Aufsätzen von Tim Klein undWilhelm Hausenstein«. Als Vorwortschreiber ist er unverkennbar:»Schon Nepomuk der Trotzige meinte, es müßte einmal ein Karl Va-lentin-Buch erscheinen, welches zum Umblättern geeignet ist undvon groß und klein betrachtet werden kann. Diese sinnige Anregungwurde endlich in die Tat umgesetzt.« Demgemäß enthält das Buchneben Rollen-, Masken- und Bühnenfotos auch Privataufnahmen,darunter Kinderbilder des kleinen Valentin und Fotografien vonseinem Elternhaus in der Vorstadt Au. Dazu hat sich Valentin an ei-nem »ernsthaften« Lebensabriss versucht und auf ein paar Seitenerzählt, »Wie ich Volkssänger wurde«.

Der bekennende Valentin-Fan Peter Panter alias Kurt Tucholskyrezensierte ›Das Karl Valentin Buch‹ in der ›Weltbühne‹. Natürlichempfahl er es – »zwecks Lachung«: »Es ist eine völlig närrische Welt,in der dieser da Kaiser, König, Edelmann, Bauer, Sieben, Achte,Neune und Zehne ist – und aus dem Meer dieses Unfugs taucht derLeser auf und blickt auf ein Land, dessen ……… grade so närrischsind, aber lange nicht so amüsant wie Karl Valentin.«

Obwohl es in Valentins Vorträgen, Szenen und Stücken über-raschend viele versteckte und verzwickte autobiografische Bezügezu entdecken gibt, spielt das direkte autobiografische Schreibenin dieser »närrischen Welt« eigentlich eine eher zweitrangige Rolle.Vor allem ist sein Zweck ein anderer als beim gewöhnlichen Memoi-

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renschreiber. Dem geht es um den bekannten »roten Faden«, umSinnstiftung und das Herstellen eines schlüssigen Lebenszusammen-hangs. Der Komiker Valentin hingegen schafft sein eigenes verque-res »Reich des Blödsinns«, in dem wiederum er als populäre Kunst-figur »Karl Valentin« das Subjekt ist. Lebensläufe sind in dieserbesonderen valentinesken Welt sowieso absurd.

Wobei Valentin sein erprobtes literarisches Verfahren der gro-tesk-komischen Lebensbeschreibung eben immer wieder auch aufdie eigene Biografie angewendet hat. Da rief etwa Liesl Karlstadt als»Impresario« in der Szene ›Oktoberfestschau‹, die Mitte November1920 im Kabarett Charivari uraufgeführt wurde, die Riesendame»Fräulein Lilly Wiesi-Wiesi« und Herrn »Tafit, den Mann mit denRiesenohren«, folgendermaßen aus: »Sie wurde im Jahre 1908 ge-boren und vollendete am 31. Februar 1892 ihr 45stes Lebensjahr.Ihr Papa, ehemaliger Direktor einer Schmalznudel-Verleihanstaltin Thalkirchen an der Ruhr, scheute keine Kosten, seine Tochterdie Abnormität erlernen zu lassen. … Hier sehen Sie ›Tafit‹, denMann mit den Riesenohren. Er ist geboren in dem Jahr, als der Ko-met am Himmel war. Im Alter von 12 Jahren und 16 Monaten kamer in die Lehre eines neapolitanischen Schuhmachermeisters inCeylon. …«

›Karl Valentins Selbstbiographie‹, ein bis heute viel zitierter sanftirrsinniger Text, den Valentin seinen im Verlag Max Hieber 1926veröffentlichten ›Originalvorträgen‹ voranstellte, beginnt vergleich-bar paradox: »Karl Valentin, Münchner Komiker, Sohn eines Ehe-paares. Karl Valentin erlernte aus Gesundheitsrücksichten im Altervon 12 Jahren die Abnormität und zeigte nach reiflicher ÜberlegungTalent zum Zeitungslesen. Sein Hang zur Musik ist alltäglich. Amliebsten hört er zu, wenn er selbst spielt.«

Zur Groteske geriet schließlich zwei Jahrzehnte später der Dia-log ›Ein Interview mit Karl Valentin‹. Er wurde im März 1947 bei Ra-dio München aufgenommen. Liesl Karlstadt spielte darin die Funk-reporterin und Valentin scheinbar unbeirrt noch immer sich selberals reale Kunstfigur in seiner valentinesken Welt, die er über Nazi-zeit, Krieg und Zusammenbruch in eine ungewisse Zukunft zuretten versuchte. Valentin: »Ja, also ich wurde geboren in dem Jahr,

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als der Komet am Himmel war, 1881.« Karlstadt: »So. Also 1881 istIhr Geburtsjahr.« Valentin: »Nein, da war ich noch gar nicht da, dennich bin ja erst eigentlich ein Jahr später auf die Welt gekommen.«Karlstadt: »Ja, das wär ja dann 1882.« Valentin: »Ja, stimmt, stimmt.«Karlstadt: »Und was hatten Sie gleich nach der Geburt für einenEindruck von der Welt?« Valentin: »Als ich die Hebamm sah, diemich empfing, war ich sprachlos. – Ich habe diese Frau in meinemganzen Leben noch nie gesehen …«

Zweifellos näher an der Realität – wenngleich ebenfalls für dasPublikum bestimmt und insofern Teil von Valentins Selbstinsze-nierung – ist die schon erwähnte »ernsthafte« Beschreibung ›Wie ichVolkssänger wurde‹. Hier stimmen die Fakten: »Falk und Fey, Mö-beltransportgeschäft in der Münchner Vorstadt Au, Entenbachstra-ße 63 im ersten Stock links, dort erblickte ich, Valentin Ludwig Fey,das Licht der Welt. Mit vier Jahren absolvierte ich den Kindergar-ten, mit sechs Jahren steckte man mich widerspenstig in die Volks-schule an der Klenzestraße …« Die Daten sind nachzutragen: Ge-burt am 4. Juni 1882 – einem Sonntag, von dem zu hoffen ist, er seiebenso hell und klar und wirklich wunderbar gewesen wie der vonValentin samt Hund später unvergesslich auf Schallplatte besun-gene; Eintritt in den Kindergarten der Vorstadt Au vermutlich1884/85; Schulanfang 1888.

Von seiner Familie her war Valentin geprägt durch das bürger-lich etablierte Handwerkermilieu des 19. Jahrhunderts, dem er ent-stammte. Seine Vorfahren väterlicherseits kamen aus Hessen. Da derVorname Valentin in der Familie Fey häufiger vorkommt, liest sichdie Genealogie etwas verwirrend. Der Vater, Johann Valentin Fey,geboren am 2. Juli 1833 in Darmstadt, war eines von neun Kinderndes Gärtners Christoph Fey und der Eva Margaretha, geborene Eck,aus Miltenberg. Nach der Lehre ging Johann Valentin Fey nachMünchen, wo er Arbeit bei dem Tapezierer Karl Falk in der VorstadtAu fand. Am 4. März 1864 stellte er ein Gesuch an den MünchnerMagistrat um eine Tapeziererskonzession. Darin versicherte er, beiKarl Falk seit dem 25. September 1852, »sohin über 11 Jahre in Con-dition [zu sein] und zwar in den letzten 5 Jahren als Geschäftsfüh-rer/Vorarbeiter«. Sein Vermögen gab er zu diesem Zeitpunkt mit

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1000 Gulden »Elterngut« und 550 Gulden Ersparnissen an. 1864bewirkte er auch seine Entlassung aus dem »Großherzoglich Hessi-schen Unterthanen-Verbande«, er wurde königlich-bayerischerUntertan und erwarb das – kostenpflichtige und mit einem be-stimmten direkten Steuersatz verbundene – Bürgerrecht in Mün-chen. Hintergrund war seine Heirat mit der jung verwitweten Toch-ter seines Arbeitgebers. Er wurde dadurch 1865 Teilhaber desBetriebs, der fortan »Falk & Fey« hieß. Ab 1883 – Falk & Fey war in-zwischen eine renommierte Möbelspedition – gehörte ihm auchdas Geschäfts- und Wohnhaus in der damaligen Entenbachstr. 23,heute Zeppelinstr. 41.

Seine erste Ehe blieb kinderlos; Elisabeth Fey starb schon 1867mit 28 Jahren. Der Schwiegervater und Kompagnon Karl Falk mach-te später beim kleinen Valentin den Taufpaten. Am 31. August1869 verheiratete sich Johann Valentin Fey zum zweiten Mal. Er ließsich diesmal nicht in München, sondern in Herwigsdorf in Sachsentrauen. Aus Sachsen, genauer aus Zittau, kam nämlich seine zehnJahre jüngere Braut, Johanna Maria Schatte, Valentins spätere Mut-ter. Sie wurde am 3. Januar 1845 geboren und zwar – wie das Trau-register im Kirchenbuch der evangelisch-lutherischen Kirche inHerwigsdorf vermeldet – als »Meister Karl Eduard Schattes, Bürgersund Weißbäckers wie auch der löblichen Zunft Oberältester in Zit-tau hinterlassene dritte Tochter«. Michael Schulte schreibt in seinerValentin-Biografie außerdem, Johanna Maria Schatte sei vor ihrerHeirat Köchin bei Graf Albert von Schlieffen gewesen und habe soihren künftigen Mann kennengelernt, der als Tapezierer zeitweisein den Münchner »Etablissements« dieses Grafen arbeitete.

Die Eltern von Valentin waren also keine alteingesessenen Bay-ern; sie gehörten obendrein zur evangelischen Minderheit in Mün-chen –, auf einen Protestanten kamen damals sechs Katholiken –,und sie ließen auch ihre vier Kinder evangelisch taufen. Zumeistnorddeutsche Valentinologen pflegen in diesem Zusammenhangdenn auch darauf hinzuweisen, dass Karl Valentin somit weder derHerkunft noch seiner protestantischen Konfession nach ein »Ur-bayer« sei. Herbert Achternbusch hat das Argument mit den »aus-wärtigen Eltern« einmal »rassistisch« genannt – nachzulesen in

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›Land in Sicht‹ von 1977. Töricht ist es allemal. Das belegen dieüberlieferten Zeugnisse fast aller Schriftsteller und Kritiker, die Va-lentin zu seiner besten Zeit selbst gesehen und gerade wegen seinerunverwechselbaren Verwurzelung in der Mentalität seiner Heimat-stadt bewundert haben. Für Oskar Maria Graf etwa war Karl Va-lentin – in merkwürdigem Widerspruch zu seiner Herkunft – der»münchnerischste (und das ist keineswegs das Bauern-Bayrische)aller Münchner«. »München verlor etwas Unwiederbringliches«, hatGraf in diesem Sinn seinen späten Nachruf auf Valentin überschrie-ben, in dem er fortfährt: »Er war es [d. i. münchnerisch] im Lebenund auf der Bühne so ohnegleichen, daß er selbst Menschen, dieihn jahrzehntelang genau kannten, immer wieder irritierte, weil sienie wußten, ob er spielte oder nicht. Etwas Unsterbliches an einemMenschen, einem Volk, einer Stadt oder einem Land so herauszu-kristallisieren, geht weit, weit über das Provinzielle hinaus. Es bleibtgültig für immer.«

Vorstellbar ist freilich, dass sein nicht-bayerisches Elternhaus imnahezu homogen bayerischen Vorstadtmilieu Valentin früh und so-zusagen unwillkürlich für sprachliche Eigenheiten sensibilisierte.Seine einmalige Kunst des »saudumm Daherredns«, sein destruk-tives Spiel mit Missverständnissen, seine Wortklaubereien oder seinFaible für den »Gleichklang«, kurz seine geradezu philosophischeSprachkomik, könnte hier eine Wurzel haben. Zur Dialektik zwi-schen »fremd« und »einheimisch« hat Valentin schließlich einen im-mer noch aktuellen Schallplattendialog, ›Die Fremden‹, geschrie-ben. Valentin: »Ein Fremder ist nicht immer ein Fremder.« Karlstadt:»Wieso?« Valentin: »Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.«

Immerhin gehörte Valentin zu den 37 Prozent eingeborenenMünchnern, die von der Statistik Mitte der 1880er Jahre gezähltwurden. Die größere Hälfte der rund 262000 Einwohner Münchensbestand aus zugezogenen Bayern, 6 Prozent kamen aus anderendeutschen Ländern, 4 Prozent aus dem Ausland, überwiegend ausÖsterreich und Ungarn. Ein zeittypisches Bild des autochthonenMünchners gibt ›Meyers Konversations-Lexikon‹ von 1888: »Inso-weit sich noch typische Figuren des echten Müncheners finden,zeigt dieser sich bieder, trocknen Humors, schwerblütig und genuß-

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freudig, aber auch bei schwerer Arbeit ausdauernd und kräftig, fürdas Fremde nicht leicht einzunehmen, auf seine Stadt und ihreSchönheit stolz, wenn auch mit mancher großstädtischer Neue-rung nicht immer sofort einverstanden. Im Hofbräuhaus, wo mansich selbst bedient, statt des Stuhls mit einem Faß, statt des Tellersmit einem Blatt Papier oder auch der flachen Hand begnügt, umStand und Würden des Nachbarn unbekümmert, mit demselbenrasch ein gemütliches Gespräch anknüpft, oder in den zahlreichenLagerbierkellern … der Vorstädte, wo auch das schöne Geschlecht,das in München seinen Namen mit Recht führt, vertreten ist, spie-len sich köstliche Volksbilder ab, deren Drastik sich steigert zur Zeitdes Bocks, einer im Monat Mai zum Ausschank gelangenden, beson-ders kräftigen Biersorte, oder des Salvators, der schon um Osternim sogenannten Zacherlbräu verabreicht wird.«

Valentin war das vierte und letzte Kind der Familie Fey. Das ers-te Kind, ein Mädchen, das den Namen Elisabeth erhielt, wurde am15. September 1870 geboren; es starb schon im Jahr darauf. Zweiältere Brüder, der am 25. Dezember 1873 geborene Karl Valentinund der am 21. August 1876 geborene Max, waren bei der Taufedes Jüngsten auf den Namen Valentin Ludwig acht und fünf Jahrealt. Alle drei Fey-Buben erkrankten innerhalb des folgenden Jahresan Diphtherie. Max starb am 27. Oktober 1882, Karl ein paar Wo-chen später, am 24. November. Nur Valentin, der jüngste, überleb-te. Vermutlich im Andenken an seinen ältesten Bruder hat er sichspäter den Künstlernamen Karl zugelegt; Kinderzeichnungen diesesBruders bewahrte er lebenslang auf. Man kann sich die dauerndeSorge seiner Mutter bei jeder Krankheit des kleinen Valentin vor-stellen, der ja ihr einziges Kind blieb. Vielleicht nahm seine vielfachbezeugte spätere Hypochondrie hier ihren Anfang. Es mag sein, dasser als Erwachsener die Angst seiner Mutter um seine Gesundheit zuseiner eigenen Angst gemacht hat.

Überdies litt er schon als Bub an Bronchialasthma. In den ›Ju-gendstreichen‹ hat er von dem auslösenden Unfall erzählt. Beimsogenannten »Schwankeisfahren«, dem Schlittschuhlaufen auf ei-ner leicht angetauten, dünnen Eisdecke, die sich über einer »tiefenGumpe« in der Isar »unterhalb des Muffatwehrs« gebildet hatte,

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brach er mit zehn Jahren ein. »Wird die Eisdecke wässerig, so ist dasein Zeichen der Gefahr … Aber für uns begann jetzt erst das rich-tige Vergnügen: ›Wer traut sich noch umi fahrn?‹ hiess es. ›Vale, lassde koan Drenza [Muttersöhnchen] hoassn, packs no moi, schnellgewagt, ist halb gewonnen!‹ – Und ich sauste über die ungefähr fünf-zig Meter langen gefährlichen Stellen, hinter meinen Füssen krach-te und knirschte es unheimlich, meine Kameraden hinter mir drein.Gut angekommen, Applaus auf der Brücke, und am anderen Ufer.Nach einigem Besinnen meinte der Ade, ›Gehts wega, i packs nomoi!‹, – startet, ich hinter ihm drein – ein Schrei der Buben und derZuschauer auf der Brücke: das Schwankeis ist geplatzt! Und Adeunter der Eisdecke! Ich breche auch ein, kann mich aber noch hal-ten, Bretter werden mir gereicht, ich bin gerettet. Mein KameradAde wurde am andern Tag als Leiche geborgen. Er liegt im Ostfried-hof begraben, Er hatte sich den Tod geholt und ich mir ein schwe-res Asthma, welches mir geblieben ist.« Später wurde Valentin wegenseines Asthmas vom Militärdienst befreit, und er lernte, mit Glas-inhalator und Asthmapulver zu hantieren.

»Die Au gehört heute, wie so vieles, der Vergangenheit an. Aberich bin selig, an diesem Ort geboren zu sein.« So bemerkte Valentin1947 in einer »historischen Plauderei« für das ›Münchener Maga-zin‹. Zur Zeit seiner Kindheit in den 1880er und frühen 1890erJahren muss die Vorstadt Au noch viel von ihrer traditionellen unddurchaus pittoresken Eigenart als Häusler- und Herbergenviertel derHandwerker und Tagelöhner besessen haben. Lena Christ etwa hatin ihrem Roman ›Die Rumplhanni‹ die Herbergsgegend um dieMariahilfkirche zu Anfang des 20. Jahrhunderts als ländlich ge-prägtes Arbeiterviertel beschrieben: »Ein winziger Geißenstall, einmorscher Holzschupfen, ein alter Röhrlbrunnen oder eine mürbeHolzaltane und ein wilder Holunderstrauch in dem armseligenWurzgärtlein weist noch dem Beschauer die Genügsamkeit der Be-wohner dieser Herbergen mit zwei – drei Kammern und dem Kü-chenloch. … Es ist um die Zeit am Morgen, da die Fabriken ihreSignale zum Beginn der Arbeit heulen und die Bäckerburschen mitden Milchmädchen an Straßenecken schwatzen. Durch die Gassenhinkt ein alter Lichtanzünder und verlöscht das Morgenlicht in den

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Laternen, und fröstelnd trippeln fünf – sechs Mädchen in dünnenFähnlein ihrer Arbeitsstätte zu.«

1854 war die Au zusammen mit den angrenzenden GemeindenGiesing und Haidhausen in den Münchner Burgfrieden einbezogenworden, nicht zuletzt um den starken Bevölkerungszustrom – ins-besondere an Kleinhäuslern, Arbeitsuchenden und Bettlern – indiese drei Vorstädte rechts der Isar besser kontrollieren zu können.Nach 1870 setzte im Zug des gründerzeitlichen Wirtschafts- undBaubooms die Entwicklung zur Arbeitervorstadt ein. Der Ruf derAuer Bevölkerung war dabei seit jeher nicht der beste. Davon zeugtschon für das 18. Jahrhundert die Anekdote von einem Henker inWien, der die Au seinerzeit für eine große Stadt hielt, weil er so oftLeute aus der Au hängen und köpfen musste. An der Wende zum20. Jahrhundert ist der männliche Auer Vorstädter folgerichtig alsechter Strizzi ins Repertoire der populären Unterhaltung einge-gangen. Der Volkssänger und Komiker August Junker war es, der dieFigur des »Lucki von der Au« – Steinträger »bei Heil und Litte«(d. i. die Baufirma Heilmann und Littmann), Gelegenheitsarbeiter,Kleinkrimineller, Frauenheld, Raufbold und Spezl vom nicht weni-ger populären »schönen Kare« aus Giesing – unsterblich gemachthat. Valentin holte den zehn Jahre Älteren später als Schauspielerauf die Bühne und für die mittlerweile verschollenen Filme ›Zir-kus Schnabelmann‹ und ›Schönheitskonkurrenz‹ vor die Kamera.Junker wurde mit seinem schon 1911 auf Platte aufgenommenenCouplet ›Der Stolz von der Au‹ zu einer lokalen Berühmtheit. »Ja ibin der Stolz von der Au, am Mariahilfplatz geborn, die Madln, dierenna, mich tuns alle kenna, sehn s’ mich, is a jede verlorn. … MeiVater geht fechtn [das kann »hausieren«, aber auch »betteln« hei-ßen], mei Mutter duad spechtn, damit ihn d’ Gendarm ned da-wischn. Mei Schwester is gscheider, sie hat schöne Kleider, ihrGschäft, des tragt halt schöne Zinsen. Mei Bruader, der geht aufnBau alle Tag, am Sonntag da geht er zum Wildern, damit Sie ’s auchwissen, womit i mi plag, ich handle mit heiligen Bildern.«

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»Der liebste Tag der ganzen Woch Is mir der Donnerstag;Da freu i mi die ganze Woch, Weil i da Ausgang hab. An Flins hab i im Hosensack – Zehn Markel in Papier. Da kann man was riskieren, Ein Mädchen auszuführen, Weil i de Krampf gern hab. Dann harpf i zu der Geliebten, Weil mir halt so was mög’n; Sie wohnet in Hoadhausen,Am Wörthplatz Nummra zehn. Ein Pfiff (mit den Fingern pfeifend, während die Musik einen Augenblick aussetzt) der genüget, Und ’s Mädchen kommt herab; dann geht’s hinauf ins Isartal im Trab.«

Selbstverständlich hatte später auch Karl Valentin ein Vorstadt-couplet im Programm. Die junge Liesl Karlstadt sang sein Lied vom›Pflastererlehrling‹ Lucke, der an seinem freien Donnerstag den »Ander blauen Donauwalzer« oftmals, aber niemals »rechtsum« tanzt,1916 zum ersten Mal im Kabarett Wien-München, »mit großemErfolg« vermerkte Valentin in der Unterzeile zur Textausgabe desCouplets ›Ein Vorstadtkind‹ als Nr. 33 seiner Originalvorträge.Dazu die Anweisung: »Der Vortragende kostümiert sich als Vor-stadttype, Hut in das Gesicht hereingesetzt, Hände im Hosensack,Hose hinaufgestülpt. Zwischen jeder Strophe soll sich der Vortra-gende mit sogenannten Vorstadtsprüchen mit dem Kapellmeisterunterhalten.« Dass Liesl Karlstadt außerdem perfekt mit den Fin-gern pfeifen und unwiderstehlich den Stenz markieren konnte, trugnicht wenig zum Erfolg dieser frühen Solonummer bei, die 1930ebenfalls auf Schallplatte erschien.

Der Handel mit Heiligenbildern, mit dem Junkers »Stolz von derAu« sich abplagte, dürfte damals rund um die Mariahilfkirche garnicht so abwegig gewesen sein, wie sich das heute liest. Gab es doch

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gerade in der Vorstadt Au viele sogenannte »Huckler«, d. h. Klein-krämer, und dazu noch eine Reihe spezieller Berufe, wie etwa dendes Hadernsammlers mit Lumpensammlerpatenten für die ansässi-gen zwei Papiermühlen. Andere seltsame »Professionalisten« warenLandmusikanten, Hafenbinder und Sesselträger, Aschensammler,Ameisenlieferanten und Froschhändler, Goldwäscher, Makkaroni-nudel-, Mausefallen- und Rahmerlmacher. Wen wundert da noch,dass Karl Valentin in der Inflationszeit unter die Schausteller gingund für das Oktoberfest 1921 den Betrieb einer »Froschbahn« – beider es sich freilich um ein Fahrgeschäft gehandelt haben soll – alsGewerbe anmeldete.

Valentin, der sich Zeit seines Lebens sehr für die GeschichteMünchens interessierte und schon als junger Mann – gewiss nochvor Ende des Ersten Weltkrieges – mit dem Sammeln von Altmünch-ner Fotografien begann, hat natürlich auch Unterlagen über be-rühmte und weniger berühmte Auer Typen und Sonderlinge zusam-mengetragen. So enthält seine ›Lichtbilderserie von MünchenerOriginalen, stadtbekannten Persönlichkeiten und Sonderlingen‹ –Valentin stellte die Schau Mitte der 1930er Jahre aus dem eigenenreichen Fundus zusammen und schrieb die Erläuterungen – ein Bilddes »fahrenden Sägfeilers von der Au« und folgenden Valentin-Kommentar: »1895 baute er sich selbst ein Dreirad und das war eineSensation, als er mit seiner Maschine im 5-Kilometer-Tempo durchdie Münchner Strassen fuhr. Er hatte ausser einem chronischenSchnapsrausch auch einen ebensolchen Schnupftabakrausch, denner schnupfte nicht weniger als täglich 1/4 Pfund ›Schmalzler‹.« Einweiteres Bilddokument zeigte die »Mina Hupf«, eine alte Auer Bett-lerin, »die noch dazu einen hölzernen Stelzfuss hatte«. »Sie war einbitterböses – ständig unter Alkohol stehendes Weib, der sogar dieGendarmen aus dem Weg gingen … Die Gassenbuben schrieen hin-ter ihr drein: ›Mina, hupf‹. Des öfteren schnallte sie ihren Stelzfussschnell ab und warf ihn zwischen die Kinder hinein. Dann hupftesie auf einem Fuss und holte sich den Holzfuss wieder zurück.« Vor-gestellt wurde auch der Gründer und Direktor des SchweigerschenVolkstheaters in der Au, das zur Biedermeierzeit mit Possen undParodien ein Publikum aus allen Ständen vergnügte. Der Auer

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»Rahmerlmann« schließlich »war bekannt durch seinen Ausspruch:›Sie kaffa do nix – Sie kaffa do nix!‹ Durch diese falsche Suggestionmachte er fast kein Geschäft.«

Im sozialen Gefüge der Vorstadt gehörte der Sohn des Haus-besitzers und Speditionsunternehmers Fey sicherlich zu den besse-ren Leuten. Auch wenn in Handwerkerfamilien Kindererziehungtraditionell keine so große Rolle spielte wie im Bildungsbürgertum,scheinen Valentins Eltern – glaubt man den ›Jugendstreichen‹ – ihmalle Kinderwünsche erfüllt und kaum je ein Vergnügen verboten zuhaben. Dass sein Vater mehr als einen Stammtisch hatte, »durchauskein Feind des Alkohols« war und sich »im dritten Rauschstadium«daheim dann »nicht gerade liebenswürdig« aufführte, erfährt maneher nebenbei. Wie spendabel der Vater sein konnte, ist ausführ-licher geschildert: »Einmal hatte mein Vater mit einem großen Mö-beltransportgeschäft nach auswärts ein besonders gutes Geschäftgemacht. Darum wollte er mir und meinen Freunden auch eineFreude machen. So kaufte er uns im Spielwarengeschäft Oblettereinen ganzen Haufen Instrumente; Bombardon, Trompete, Posau-ne, Waldhorn, Flöte, Klarinette, Tschinellen, alles aus Pappe, wun-derbar goldbronziert, fast wie echte Instrumente. Wir hatten eineMordsgaudi und zogen in der Au von einem Laden zum anderenund überall wurde ein Ständchen geblasen.«

Die Überzeugung, geliebt, verwöhnt und relativ behütet ineinem respektablen Elternhaus aufgewachsen zu sein, kommt in Va-lentins Jugenderinnerungen auch sonst immer wieder zum Aus-druck. Da macht ihm ein Mieter regelmäßig die schweren Rechen-hausaufgaben, da lacht der Vater über seine Streiche, statt ihn fürden angerichteten Schaden zu bestrafen, da kann die Mutter ihrKind nicht weinen sehen und gibt ihm Geld zum Kauf der ersehn-ten Messingtrompete auf der Auer Dult. Oder er erzählt, wie er sich»als Hausbesitzersohn« über die angesoffenen »Fuhrleute, Mau-rer und Auer Lukis«, die in der benachbarten Kothmüllerwirtschaftlautstark beim Frühschoppen zusammensaßen, einmal so ärgerte,dass er sie mittels einer Klistierspritze mit bekannt übel riechen-dem Schwefelammonium bespritzte, um sich dann auf der Fluchtvor der aufgebrachten Horde, einen »großen geladenen Armee-

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revolver« in der Hand, hinter der elterlichen Wohnungstür zu ver-schanzen. In einer anderen Episode ist er mit zwanzig Mark, einem»richtigen Goldstück«, das er seiner Mutter gestohlen hat, einenNachmittag lang »der reichste Schüler der Klenzeschule«. »Viel-leicht hat nicht einmal der Lehrer so viel dabeigehabt.« Für seinesämtlichen Freunde, rund zwanzig Buben, bestellte er dafür in derKonditorei Schaumkuchen mit Schlagrahm und bekam noch sieb-zehn Mark heraus. »Diese habe ich unter meinen Kameraden ver-teilt und machte sie dadurch alle zu reichen Leuten, denn mehr alsein Zwanzgerl hatte ja sonst nie einer bei sich.«

Deutlich weniger menschenfreundlich zeigte sich der »rothaa-rete Fey-Batzi« bei so manchem Kinderspiel, das er erfand oder or-ganisierte. Nachdem zum Sanitäterspielen alles Nötige, nämlichabgelegte echte Sanitätsmützen, eine selbst gezimmerte Tragbahresamt von der Mutter genähten Rotkreuz-Armbinden angeschafftund im Waschhaus daheim eine »Unfallstation« eingerichtet war,brauchten er und seine Freunde bloß noch »Verunglückte zum Tra-gen«. »Aber woher sollten wir sie nehmen und nicht stehlen? Ersatzwar eine halbe Sache. Wir brauchten richtige Verletzte, welche blu-teten. Aus diesem Dilemma half uns wiederum ein ungeheuerlichroher Gedanke. Auf der Wäschewiese vor unserem Haus streutenwir an bestimmten Spielplätzen zahllose Glasscherben. Die Kindersollten beim Barfussgehen sich diese eintreten. In dem Gras warendie Scherben auch nicht gut zu sehen. Und tatsächlich verging kaumein Tag, ohne dass sich ein Bub oder Mädel den Fuss daran verletz-te. Der Blutende wurde von uns Sanitätern mit der Tragbahre geholtund mit Hoffmannstropfen und Mullbinden in der Sanitätsstationbehandelt.« Der Gebrauch einer Totenbahre wurde von der Mutterverboten.

Michael Schulte hat vor dem Hintergrund dieses und ähnlicherBubenstreiche – dem Tätowieren mit Nähnadeln und Tusche, demUnter-Strom-Setzen von Türgriffen oder dem Leute-Erschreckenmit Feuerwerksfröschen, Knallerbsen und sogenannten »Schlüssel-büchsen«, Hohlschlüsseln mit Zündloch – »Sadismus« als einenGrundzug im Wesen von Valentin hervorgehoben, dem »KnabenKarl« allerdings einen »Sadismus als Belastungsprobe« attestiert,

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