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Ausgabe 23 (November 2011) www.noirmag.de QUERBEET Aberglaube hinter der Theaterbühne THEMA Glaubensan- sichten: Sieben Geschichten KOLUMNE Freitags auf der Speisekarte: Backfisch & Co. Glaube Fluch oder Segen?

NOIR - Ausgabe 23: Glaube - Fluch oder Segen?

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NOIR - Ausgabe 23: Glaube - Fluch oder Segen?

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Page 1: NOIR - Ausgabe 23: Glaube - Fluch oder Segen?

Ausgabe 23 (November 2011)www.noirmag.de

Querbeet

Aberglaube hinter der Theaterbühne

thema

Glaubensan-sichten: Sieben Geschichten

Kolumne

Freitags auf der Speisekarte: Backfisch & Co.

GlaubeFluch oder Segen?

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Editorial

1NOIR Nr. 23 (November 2011)

Wenn Andreas nicht für NOIR ar-beitet, sieht er sich die Welt an. Als Praktikant war er bei der Süddeut-schen Zeitung. Einmal suchte er ver-zweifelt eine Pressekonferenz. »Da sind Sie hier völlig falsch«, sagte ihm eine rüstige Großmutter. »Steigen Sie ein, ich fahr Sie hin.« Sein Fazit: München ist eben eine andere Welt.

Als Atheistin amüsierte sich Leonie über einen »Gott-lieben«-Flyer der »Christen ohne Organisation«. »Die sind perfekt für die NOIR-Ausgabe«, dachte sie sich. Make-Up aufge-frischt und ab gings zum Interview. Doch dort hörte sie, dass Gott uns wertvoll findet, wie er uns erschaf-fen hat. Also auch ohne Make-Up.

Anika amüsiert sich köstlich über Wort-Kreationen wie die »Denker-stirn« aus dem Porträt über Dep-pendorf. Jetzt hat sie mit ihren Kol-legen einen Slogan für die NOIR gesponnen: »Aus Liebe zum Jour-nalismus.« Ihr amüsiert euch, findet es gelungen oder doof? Schreibt ihr: [email protected]

Man kann viel glauben. An Gott und die Welt. Ich persönlich glaube, mich tritt ein

Pferd. Diese NOIR ist noch spiritueller: Sie wird von vielen Pferden getreten. Pferden in

Form von Artikeln, die mit ihren Hufen euren Horizont anstupsen. Und wo wir schon

im Tierreich sind, Elefanten dürfen auch nicht fehlen. Von denen waren zwei auf der

Arche Noah. Ein weiterer Elefant kommt in einer buddhistischen Legende vor, in der

er blinden Männern vorgeführt wird. Der Legende zufolge tastete ein Blinder nach

dem Elefantenfuß. Er dachte, der Fuß sei ein Baumstamm. Ein anderer tastete nach

dem Rüssel und dachte, es sei eine Schlange. Wo bleibt die Quintessenz? Wenn wir in

einer Reihe stehen, in der gleichen Uniform, der gleichen Pose, mit den haargleichen

Frisuren, so sind die Bilder in unseren Köpfen doch Welten auseinander. Wir pinseln

unsere Welt in den Farben unseres Glaubens an. Rotgrünblau in allen Mischproduk-

ten. Überall schimmert Glauben durch, er muss ja nicht immer himmlisch sein: in der

Glückssträhne, im Orakel von Delphi, in Verschwörungstheorien, in der großen Liebe.

Er steckt auch in der Wimper, die an unserer Wange klebt. NOIR pustet diese weg und

wünscht euch was: viel Spaß beim Lesen! Anika Pfisterer, Chefredakteurin

HEiligEr BimBam!

aUS dEm rEdaKtioNSlEBEN ...

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NOIR Nr. 23 (November 2011)2

iNHalt

01 Editorial. aUS dEr rEdaKtioN

03 Porträt. UlricH dEPPENdorf

04 titEl. aNSicHtEN dES glaUBENS

08 rEPortagE. HirtE im KNaSt

10 WiSSEN. JUNgfraUENgEBUrt UNd co.

12 Porträt. PoP-art iN dEr KircHE

14 iNtErviEW. WiSSENScHaft vS. glaUBEN

16 WiSSEN. faNKUlt UNd SataNiSmUS

17 lifEStylE. KircHE im WEB

18 KolUmNE. Pizza Statt fiScH imPrESSUm

19 Pro-coNtra. glaUBEN oHNE KircHE?

20 iNtErviEW. aUSgEStiEgEN ...

23 KommENtar. dEr tErroriSt iN UNS

24 QUErBEEt. flEiScHvErzicHt?

24 QUErBEEt. aBErglaUBE

iNHaltSüBErSicHt

23 KommENtar

04 titEl

24 QUErBEEt

19 Pro-coNtra

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3NOIR Nr. 23 (November 2011)

Porträt

V ertraut man auf die Richtig-keit von Tierkreiszeichen, könnte der Wassermann

folgendermaßen beschrieben wer-den: »die Nase klein, ein wenig rund, die Stirn eine hohe Denkerstirn.« Ulrich Deppendorf ist Wassermann. Er wurde am 27. Januar 1950 in Essen geboren. Und tatsächlich, bei genau-em Hinsehen trifft es zu: Die hohe Stirn wird durch das lichte Haar noch betont. Sieht man Deppendorf zum ersten Mal nicht in der üblichen Sitzhaltung vor blauem Hintergrund, dann fällt eines zuerst auf: Der TV-Journalist ist nicht nur beruflich, sondern auch körperlich in die Höhe geschossen. Seine Körpergröße von 1,93 Meter scheint den Eindruck zu begünstigen, den Durch- und Über-blick zu haben. »Engelsgleich« be-schreibt die Sternzeichen-Expertin den Wassermann. Ob überirdisch oder nicht, fest steht: Ulrich Dep-pendorf hat journalistisch Karriere gemacht.

Seit 1976 arbeitet er beim Fernse-hen. Als Volontär begann er beim Westdeutschen Rundfunk, Anfang der 1990er Jahre wechselte er zur ARD nach Hamburg. Schließlich zog es ihn nach Berlin. Dort wurde er zum ersten Mal Chef des ARD-Hauptstadtstudios. Nach einem In-termezzo in seiner rheinländischen Heimat als Programmdirektor beim WDR in Köln lockte ihn die Haupt-stadt im Frühjahr 2007 erneut. Dep-pendorf erhielt seine alte Position als Studiochef zurück und blieb dort bis heute. Warum er Journalist gewor-den ist? Weil er so neugierig sei, ant-wortet der 61-Jährige. Neugier, Um-triebigkeit und Voraussicht. Stets auf

der Lauer, was der Morgen bringen wird und der Tag bereit hält. Sind das die Geheimnisse eines so erfolg-reichen Journalisten?

Aktuell sieht Deppendorf die He rausforderung der ARD darin, ge-zielt junges Publikum anzusprechen. Die Konkurrenz ist bekanntlich hell-wach. Jetzt fragt er sich, ob die Ta-gesschau künftig in einem weniger konservativen Licht erscheinen soll. Eine Begrüßung nach dem Motto »Hallo, Hallöchen und hier die Ta-gesschau« möchte er dennoch aus-schließen, sagt er und lacht.

Deppendorf wirkt entspannt, aber nicht abgeklärt. Selbstsicher, aber nicht arrogant. Ganz der Wasser-mann, charakterisiert durch seinen »wachen, neugierigen Geist« und seinen »Hunger nach neuen Erfah-rungen«. Ist es dieser Hunger, der ihn antreibt? Bis hin zur Perfekti-on, bis an die Spitze. So sagt man

es ihm nach. Wenn die Konkurrenz besser ist, heißt es in einem Artikel der ZEIT, ärgere er sich. Was seine Person angeht, bleibt er dennoch be-scheiden. Auf die Frage, wie er denn geworden sei, was er heute ist, winkt er lächelnd ab, beginnt die Antwort mit einem »Joa, also«.

Dem Eindruck, dass sein Erfolg mehr als eine glückliche Zusammen-reihung von Zufällen ist, entkommt man nicht. Das Brillieren scheint ihm Spaß zu machen, dabei beschei-den und geradlinig zu bleiben eben-falls. Ein Journalist der nüchternen Nachricht. Und er sei gerne Jour-nalist, betont er. Richtig abschalten könne er als Hauptstadtstudio-Chef allerdings nur schwer; Urlaub mache er deshalb gerne weit weg. Am liebs-ten in den USA. Ein Tag ohne Nach-richten? Käme für ihn aber trotzdem nicht in Frage.

dEr NEUgiErigE mit dEr dENKErStirN

Ulrich Deppendorf arbeitet am Puls der Politik: Seit vier Jahren leitet er das ARD-Hauptstadtstudio. Neugierde ist sein Antrieb.

text: lisa Kreuzmann | foto: fabian vögtle | layout: Sebastian Nikoloff

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NOIR Nr. 23 (November 2011)4

titEltHEma

daNiEl iSt EiN »cHriSt oHNE orgaNiSatioN«

JoNaS glaUBt NicHt mEHr aN gott

raffaElS vatEr iSt PfarrEr

JUditH fEiErt WEiHNacHtEN oHNE gott

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5NOIR Nr. 23 (November 2011)

titEltHEma

Gemeinde statt Volkskirche

S ie sind ein Beispiel dafür, wie Glaube heute oft gelebt wird: die »Christen ohne Organi-sation«. Jeden Abend nach der Arbeit tref-

fen sie sich bei einem Mitglied im Wohnzimmer, um über Gott und die Bibel zu diskutieren. Ihr Wunsch: »das Leben mit Gott ernst nehmen.« Die-ses Leben beinhalte mehr als den sonntäglichen Gang zur Kirche und die Predigt eines Pfarrers. »Bei uns stehen Gott und die Gemeinde an erster Stelle«, sagt Daniel*, 35 Jahre alt. Seit zwölf Jah-ren trifft sich die Gruppe täglich, redet im kleinen Kreis über ihre Erlebnisse, ihre Gedanken und ihr Leben mit der Bibel. Es gibt kein festes Programm und keinen Leiter. Zurück zum Ursprung, das ist ihr Ziel. Die »Christen ohne Organisation« zeu-gen von einer Entwicklung in der Gesellschaft: die Auflösung kirchlicher Strukturen. Ihnen gehe es nicht um evangelisch oder katholisch, nicht um den sonntäglichen Gottesdienst in der Kir-che. Aber sie wollen den Glauben umsetzen, wie sie glauben, dass Jesus ihn vorgelebt hat. Obwohl viele Menschen immer mehr den Glauben an ihre Bedürfnisse anpassen, wollen die Christen ohne Organisation gerade mit ihrem Leben ein Zeichen setzen, indem sie ihr Leben auf Grundlage der Bi-bel führen. »Sie dient uns als Ratgeber und Leit-faden in allen Lebenslagen«, sagt Anja*, 41 Jahre, und holt eine kleine Bibel im Taschenbuchformat aus ihrer Tasche. Text: Leonie Müller

Gott mit käferVorliebe?

A ls Kind ging Jonas Pfeiffer* jeden Sonn-tag in die Kirche. Aufgewachsen im Pfarrhaus der kleinen Gemeinde, kannte

er es nicht anders. Jonas’ Eltern sind beide Theo-logen. Als bei Jonas die Konfirmation anstand, be-schäftigte er sich zum ersten Mal intensiv mit dem Glauben. Vieles machte ihn stutzig: Als überzeug-ter Naturwissenschaftler fand er kein rationales Argument für Gott. »Warum sollte ich mich dafür rechtfertigen?«, fragte er sich. Eigentlich müsse das in unserer von Logik geprägten Gesellschaft doch das Normale sein. Jonas erzählt, wie er be-kannte Bücher zum Thema Atheismus gelesen hat und sie ihn stärker fesselten, als die Bibel es jemals geschafft hatte. Über Glauben zu streiten, findet Jonas zwecklos. Diskussionen müssen offen geführt werden und das sei mit überzeugten Kir-chengängern unmöglich, meint er. Deswegen wer-den Gespräche zu diesem Thema am Esstisch der Familie Pfeiffer tunlichst vermieden. Schlimm findet Jonas das nicht, denn Glauben ist für ihn nichts anderes, als eine »minderwertige Form von Wissen« und somit schlicht unwichtig. Und falls es Gott doch gibt? »Dann hat er jedenfalls eine über-triebene Vorliebe für Käfer«, zitiert Jonas mit ei-nem Augenzwinkern den Evolutionsbiologen J.B.S. Haldane. Im Gegensatz zu der Spezies Mensch gibt es hiervon immerhin über 500 000 Arten.

Text: Maria Graef

layout: tobias fischer

aNSicHtEN dES glaUBENS

Sieben Geschichten von Menschen und ihrem Glauben, ihren Religionen und ihren übersinnlichen Erfahrungen.

* Namen von der redaktion geändert

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titEltHEma

Weihnachten ohne Gott

I ch gehe nicht einmal an Ostern in die Kir-che. Aber an Weihnachten, das muss schon sein. Warum eigentlich? Ich habe Religion

abgewählt; gehe in den Ethikunterricht. Beten ist mir fremd, und auch meine Eltern leben ihren Glauben nicht im Alltag. Aber Weihnachten ist ein zentrales Fest unserer Familie. Ich freue mich jedes Jahr darauf, baue die selbstgetonte Krippe auf, schmücke den Baum und backe Plätzchen. An Heilig abend kommt meine ganze Familie zu Be-such, dann sitzen wir im Wohnzimmer und singen Weihnachtslieder: »Es ist ein Ros’ entsprungen«, »Kommet ihr Hirten« und »Vom Himmel hoch«.

An Weihnachten ist in den Kirchen eine beson-dere Stimmung. Es ist das Fest der Liebe. Jeder ist willkommen und man einigt sich auf ein Gefühl: Egal, was wir sonst für Sorgen haben, hier in die-ser Stimmung sind wir gut aufgehoben. Ob das Leuchten in allen Augen nun göttlich ist oder von Glühwein und Kerzen herrührt, ist auch egal.

Weihnachten ist wie eine Umarmung. Es gibt Wärme und Sicherheit. Und der Gedanke, dass vor langer Zeit jemand geboren wurde, der dieses Weihnachtsgefühl sein Leben lang verbreitete, ist doch schön. Über seinen Titel »Sohn Gottes« darf man sich dann im neuen Jahr wieder streiten. Text: Judith Daniel

der Pfarrerssohn

R affael, diesen Namen gaben ihm seine Eltern vor 19 Jahren. Übersetzt bedeutet er »Gott heilt«. Ein christlicher Name,

denn Raffaels Vater ist Pfarrer in einer Kirche in Leinfelden-Echterdingen. »Als Kind hatte ich kein Pro blem damit, ein Pfarrerssohn zu sein  –  jeder kannte dich und jeder mochte dich«, erzählt er. Christliche Werte bedeuten ihm viel, weil diese »wichtig sind für die Entwicklung eines gesell-schaftstauglichen Wesens«. Doch in der Pubertät wollte Raffael sich von seinen gläubigen Eltern abgrenzen. Obwohl er von Kinderkirche bis Jungs-char alles erfahren hatte, begann für ihn eine gott-lose Zeit. »In der Pubertät ist das Leben als Sohn eines Pfarrers nicht einfach«, sagt er und erinnert sich an sein erstes Bier auf einem Straßenfest. Die Leute redeten über den Pfarrerssohn, »wenn ich die ein oder andere Sache in der Pubertät auspro-biert habe«. Nicht nur gegen seine Eltern, sondern auch gegen das Bild des typischen Pfarrerssohns hat er rebelliert. Doch der Glaube hat ihn auf sei-nem Weg wieder eingeholt: Irgendwann kam in seinem Leben der Punkt, an dem er über die Exis-tenz eines Gottes nachdenken musste. »Wie im Leben eines jeden Menschen«, sagt er und grinst. »Ich wäre auch ohne meine Eltern Christ gewor-den. Aber ich musste einfach meinen eigenen Weg finden.« Text: Melanie Michalski

die kraft der meditation

A lles, was ich weiß, habe ich von meiner Mama«, sagt Liv. Sie habe ihr früh bei-gebracht, die großen Religionen kritisch

zu hinterfragen. Stattdessen zeigte ihre Mutter ihr eine andere Form von Religion: Meditationsübun-gen und spirituelle Riten. Heute hat Liv ihren eige-nen Glauben, ihr eigenes Bild von der Welt. Sie su-che den Halt, der zu ihr passt. Am Tag ihrer ersten Periode hielt ihre Mutter einen Ritus ab, der den ganzen Tag andauerte: Mit der Verbrennung eines heiligen Tabaks wurde sie in die Gemeinschaft der Frauen aufgenommen. Die Überzeugung bleibt, dass es Lebewesen und Energien gebe, die »wir als normale Menschen« nicht wahrnehmen können. Liv hat in dieser Welt aus Meditationen und indi-schen Riten einen Platz gefunden, an dem sie sich

aufgehoben fühlt. Sie will noch viel ausprobieren, Neues erfahren und damit umgehen lernen. Sie sei immer wieder selbst überrascht, welche Kräfte in ihr und ihrer Umwelt stecken, erzählt sie. Jeder Mensch könne das nutzen. »Man muss es nur an sich heranlas-sen.« Wenn es ihr schlecht geht, stellt ihre Mutter ihr Aufgaben, die ihr helfen. »Ich musste meine böse Energie benennen und zähmen lernen. Ich soll sie zu meinem Freund machen, damit ich ihre Kraft positiv nutzen kann.«

Text: Judith Daniel

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7NOIR Nr. 23 (November 2011)

»

titEltHEma

Glaube mit humor

W ir haben zwei Heimaten«, sagt Angie, 57 Jahre alt. »Drei bis vier Monate im Jahr sind wir in Indien, den Rest des

Jahres verbringen wir in Deutschland.« Seit 34 Jahren sind sie und Sriram, 60, ein Paar. Kennen-gelernt haben sie sich in Indien. Die indische Kul-tur hatte es Angie schon lange angetan, ebenso der Hinduismus. »Ich fühle mich mit dem Hinduismus verbunden, weil er im Gegensatz zu anderen Re-ligionen keine ›Sekte‹ ist, bei der man durch Tau-fe eintritt. Die Geschichten des Hinduismus sind außerdem voller Humor und Doppeldeutigkeiten und finden sich somit im täglichen Leben wieder. Das Pendeln zwischen der westlichen und der asi-atischen Welt stellt für das deutsch-indische Ehe-paar kein Problem dar: Überall können sie ihren Glauben leben. Dazu gehört zum Beispiel das Auf-stellen von Blumen vor Figuren, Bildern und Sym-bolen des Hinduismus und das Opfern von Essen. Das sei wichtig, um sich bewusst zu werden, dass das Essen nicht mein Eigentum, sondern nur ein

Geschenk ist. Angie und Sriram zeigen, wie sich auch der Glaube mit der Globalisierung verändert hat. Die Religionen werden dezentraler, sind nicht mehr gebunden an Orte und Gegebenheiten. Sie werden globaler, flexibler und damit auch persön-licher. Der Glaube begleitet die Menschen überall hin – und verbindet sie über den ganzen Globus.

Text: Leonie Müller

studieren mit Gott

T heologie? Ägypto-logie? Oder viel-leicht doch vor dem

Studium ein FSJ in Israel? Tashina, 21 Jahre, hatte sich viele Gedanken gemacht für die Zeit nach dem Abi-

tur. »Aber ich hatte nie das Gefühl ›Ja, das ist es!‹«, erzählt sie. Bis die Zusage vom »Europäischen Theologischen Seminar« kam. Das ist eine Ausbil-dungsstätte der »Gemeinde Gottes«, einer evange-lisch-freikirchlichen Pfingstgemeinde, die in den meisten Ländern Europas und anderen Teilen der Welt vertreten ist.

Seit letztem Jahr studiert Tashina hier Theolo-gie mit pastoralem und musikalischem Schwer-punkt. »Meine Mutter war anfangs etwas kritisch. Schließlich kann ich mit einem solchen Studium nicht unbedingt viel Geld verdienen«, erzählt

Tashina. »Aber sie war trotzdem happy; schließ-lich ist sie selbst sehr christlich.« Das besondere am ETS ist, dass viele Schüler auch in der Schu-le wohnen. Die Schüler kommen von überall her: USA, Indonesien, Rumänien. Man verbringt viel Zeit miteinander und wird geformt durch all die Konflikte und schönen Erlebnisse, die man zusam-men hat. Tashinas Tag an der Schule beginnt um kurz vor Acht, da springt sie aus dem Bett und eilt nach unten zum Unterricht. Viel Freizeit bleibt der jungen Theologiestudentin aber nicht: Mindestens eine Stunde am Tag muss sie Klavier üben, eine weitere Altgriechisch lernen, damit sie später die Urschriften der Bibel lesen kann. Trotzdem würde sie das Leben, das sie hier hat, gegen kein ande-res eintauschen wollen. Sie genießt die Zeit in Ge-meinschaft, sagt Tashina. »Und meine Beziehung zu Gott ist viel intensiver geworden!«

Text: Bettina Schneider

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rEPortagE

NOIR Nr. 23 (November 2011)8

D er Petrusfigur im Dom genügt ein einzi-ger Schlüssel, um die Himmelstür auf-zuschließen. Gefängnisseelsorger Peter

Knauf aber braucht einen schweren Schlüssel-bund, um in seine Kirche zu gelangen. Wenn er morgens mit seinem Auto durch die Gefängnis-schleuse fährt, muss er zwischen den beiden To-ren, die sich nicht gleichzeitig öffnen lassen, Aus-weis und Handy abgeben.

Lastwagen, die ihm aus dem Gefängnis entge-gen kommen, werden in der Schleuse an einen Herzfrequenzmesser angeschlossen. Hätte sich

ein Häftling im Lkw versteckt, würde das Gerät seinen Herzschlag anzeigen.

Die Kirche liegt im obersten Stock von Haus eins, einem Gebäude aus der Kaiserzeit. Die Zellen sind hier als Einzelzellen gebaut, trotzdem meist doppelt belegt, die Toiletten sind nicht abgetrennt. Weil diese Überbelegung eigentlich gegen die Menschenwürde verstößt, muss jeder Gefangene vorher eine schriftliche Einverständniserklärung unterzeichnen. Vorbei an den schweren, mit ei-nem kleinen Guckloch versehenen Eisentüren der Zellen gelangt man über das Treppenhaus in die

Der katholische Gefängnisseelsorger Peter Knauf kümmert sich auch um muslimische Gefangene. Weil viele Moslems seinen Gottesdienst besuchen, liest er an Heiligabend auch aus dem Koran. NOIR-Autor Martin Zimmermann hat den religiösen Arbeitskreis im Gefängnis besucht.

EiN HirtE zWiScHEN KNaStmaUErN

text: martin zimmermann | layout: tobias fischer

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9NOIR Nr. 23 (November 2011)

rEPortagE

Gefängniskirche. Die Kirche ist ein Ort, der schon architektonisch Gemeinschaft stiftet  –  im Kon-trast zu den Gefängnismauern. Die Kirchenbän-ke sind nicht im rechten Winkel, sondern parallel zum Gang rechts und links angeordnet. Die Got-tesdienstbesucher sitzen sich gegenüber. Die De-ckenlampen sind in einem Leuchtkreis angeord-net, der Zusammengehörigkeit symbolisiert; einer Zusammengehörigkeit, die vor Religionsgrenzen nicht Halt macht.

Im Heiligabendgottesdienst liest Peter Knauf die Sure Maryam aus dem Koran vor. In dieser 19. Sure ist von der jungfräulichen Geburt Jesu die Rede. Rund ein Drittel seiner Gottesdienstbesucher sind Moslems. »Dazu kommen einige Russisch-Ortho-doxe und einige, die nicht genau wissen, was sie sind«, sagt Knauf.

Jeden Montag kommen die Gefangenen zu Peter Knauf in den Nebenraum der Kirche. Er liest mit ihnen in der Bibel und dem Koran und diskutiert Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Religio-nen.

»Die Häftlinge kommen freiwillig. Das ist mir wichtig«, sagt Peter Knauf. »In anderen Freizeit-gruppen werden die Gefangenen ausgeschlos-sen, wenn sie unentschuldigt fehlen. Das ist hier bewusst nicht so.« Der Arbeitskreis »Bibel und Koran« gilt als religiöse Veranstaltung, von der Gefangene nicht aus disziplinarischen Gründen ausgeschlossen werden können. Früher leitete Knauf die Gruppe gemeinsam mit dem afgha-nischen Religionsgelehrten Hossein Fatimi aus Pforzheim, doch der hörte vor zehn Jahren aus Al-

tersgründen auf. Seither ist Knauf auf der Suche nach einem islamischen Pendant.

Einer der Gefangenen, Yussuf (Namen geän-dert), rollt vor Beginn der Veranstaltung den Ge-betsteppich aus und neigt sich gen Mekka. Der junge Algerier hat noch neun Monate wegen Kör-perverletzung abzusitzen. »Ich habe gegen ein Ge-bot Gottes verstoßen und Alkohol getrunken. Im Rausch bin ich gewalttätig.« Er glaubt, die Strafe wegen der Sünde gegen Gott und das Opfer »zwei-fach verdient« zu haben.

Dieses Mal sind sechs Häftlinge gekommen: ein Deutscher, ein Bosnier, ein Algerier, ein Türke, ein Marokkaner und ein Tunesier. Man sitzt an einem großen Tisch. Es gibt Kaffee und Kekse, die Knaufs Ehefrau gebacken hat. Der Vater von drei Söhnen hat sich einst gegen die Priesterweihe und für die

Gründung einer Familie entschieden. Der Theo-loge liest Stellen aus der Bibel und vergleichbare Koransuren in deutscher Übersetzung vor. Er legt Wert darauf, nicht missionieren zu wollen. Auch geht es nicht um Unterricht, sondern um einen Dialog, bei dem sich jeder einbringen kann. Zum Anfang des Jahres fängt er mit der Schöpfungsge-schichte wieder von vorne an. Sehr weit kommt

er nicht, denn die Gefangenen sind aufgefordert nachzufragen und zu diskutieren. Davon machen sie regen Gebrauch.

Yussuf will wissen, ob die Christen wirklich glauben, dass der Mensch vom Affen abstammt. Schließlich sei Charles Darwin doch ein Christ gewesen. Er könne dies nicht glauben, schließlich stünde im Koran, dass Affen keine Seele haben. Schnell findet er im Koran eine entsprechende Sure, um dies zu belegen. In der Sure al-Baqara, liest Yussuf vor, sagt Allah zu denen, die den Sab-bat nicht befolgen: »Werdet verstoßene Affen«. Es entspinnt sich eine Diskussion über die Begriffe Seele und Geist und darüber, was Tiere von Men-schen unterscheidet.

Bei Wolfgang hat die Gruppe das Interesse an islamischer Kultur geweckt. Er hat sogar angefan-gen, Arabisch zu lernen. Yussuf und Ali dagegen nutzen die Gruppe, um besser Deutsch zu lernen. »Ob da die neun Monate, die ihr noch abzusitzen habt, ausreichen«, frotzelt Deniz. Er sitzt eine langjährige Strafe ab.

Religiöse Diskussionen sind aber nicht der einzige Aspekt der Arbeitsgruppe. Peter Knauf ist auch ein Ansprechpartner für die Sorgen und Nöte der Gefangenen. Ali, ein Tunesier, wird ge-fragt, wie er die Lage in seiner Heimat sieht. »Gut und nicht gut«, meint Ali. »Gut, dass der Diktator Ben Ali weg ist. Nicht gut, dass man nicht weiß, was nachkommt.«

Hassan und Deniz beschweren sich, dass sie beim Freitagsgebet erst spät in den Gebetsraum gelassen wurden. Peter Knauf empfiehlt ihnen, den Gefängnisdirektor zum nächsten Freitagsge-bet einzuladen und ihm im Gespräch zu erklären, wie wichtig ihnen der Ablauf dieses Gebets sei.

Als das Treffen zu Ende ist, wartet bereits ein Vollzugsbeamter vor der Kirche, um die Häftlinge wieder in ihre Zellen einzuschließen.

Sechs Häftlinge sitzen mit Peter Knauf an einem Tisch. Es gibt Kaffee und Kekse.

In der Arbeitsgruppe geht es nicht nur um religiöse Diskussionen. Die Gefangenen er-

zählen Peter Knauf auch ihre Sorgen und Nöte.

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NOIR Nr. 23 (November 2011)10

WiSSEN

G ibt es ein Leben nach dem Tod? Diese Frage beschäftigt Menschen aller Kultu-ren seit Jahrtausenden. Die Auferstehung

Jesu Christi wurde bei uns zum gesetzlichen Fei-ertag. Kinder lieben die Gruselgeschichten von Geistern, die um Mitternacht auf dem Friedhof rumspuken. Aber was steckt dahinter?

Die großen Weltreligionen haben sehr eigene Ansichten: Der Hinduismus glaubt an die Wieder-geburt in verschiedenen Körpern, im Buddhismus kann man aus dieser Wiedergeburts-Kette ausbre-chen und das Nirwana, die vollendete Seelenruhe, erreichen. In Christentum, Judentum und Islam gibt es das Paradies und die Hölle, wenn auch in sehr unterschiedlichen Formen. Aus der christli-chen Hölle gibt es kein Entkommen, während im Islam Allah die Dauer des Aufenthaltes bestimmt.

Für Forscher ist dieses Thema ebenfalls ein spannendes Feld. Wissenschaftlich lassen sich

viele Vorgänge nicht erklären − zum Beispiel die Nahtoderfahrungen, die Menschen überall auf der Welt machen und die oft sehr ähnlich ablaufen. Die Seele des Sterbenden scheint den Körper zu verlas-sen und von oben auf ihn und den ganzen Raum blicken zu können. So konnten klinisch Tote, die wiederbelebt wurden, im Nachhinein genau be-schreiben, wie der Raum oder der Ort ausgesehen hat. Sie wussten sogar, wo der Krankenwagen ge-parkt hatte, während sie klinisch tot waren. Eben-falls unerklärlich bleiben Tonbandaufnahmen und Fotos, auf denen Personen erscheinen, die bei der Aufnahme nicht anwesend waren. Auch gibt es Menschen, die unter Hypnose in ein vermeintlich früheres Leben zurückversetzt wurden und von dieser Zeit erzählen konnten. Das Leben nach dem Tod bleibt mysteriös – und wohl eine persönliche Glaubensangelegenheit.

texte: leonie müller | foto: Harriet Hanekamp | layout: tobias fischer

UNStErBlicH?

Himmel, Hölle, Wiedergeburt? Warum lässt Gott Böses geschehen? Und kann es sein, dass die Jungfrauengeburt ein Übersetzungsfehler war. Diese drei großen Glaubensfragen nehmen wir genauer unter die Lupe.

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11NOIR Nr. 23 (November 2011)

WiSSEN

D ie Bibel – ein altes und be-sonderes Schriftstück, das für viele Menschen die

Grundlage ihres Glaubens darstellt. Doch unter welchen Bedingungen ist sie entstanden? Ist sie wörtlich zu verstehen oder symbolisch? Die Bibel ist in einem fast unüberschau-bar langen Zeitraum entstanden, 2 000 Jahre haben Spuren hinterlas-sen. Immer wieder wurden Form und Inhalt verändert, Texte ausge-schmückt, weggelassen – und über-setzt. Was das für die Bibel in ihrer heutigen Form bedeutet, versuchen Forscher seit langem herauszufin-den.

Das wohl prägnanteste Beispiel für diese Forschung und ihre Folgen ist die Jungfrauengeburt. Dass Maria bei der Geburt Jesu noch Jungfrau war, ist besonders in der katholi-schen Kirche zentraler Bestandteil

des christlichen Glaubens. Vom wissenschaftlichen Aspekt her ist je-doch von einem Übersetzungsfehler auszugehen: Im hebräischen Bibeltext ist die Rede von »alma«, einer jungen Frau im heiratsfähigen Alter. In der Überset-zung ins Altgriechische wurde dar-aus »parthenos«, was sowohl junge Frau, als auch Jungfrau bedeuten kann. Bei weiteren Übersetzungen wurde daraus Jungfrau. Ein gewalti-ger Unterschied – erregt diese biolo-gisch fragwürdige Geschichte doch überall auf der Welt die Gemüter und distanziert den modernen Menschen wohl eher von der Kirche, als sie mit ihm zu verbinden. Während die evangelische Kirche diese Lehre als irrelevant für den christlichen Glau-ben bezeichnet, tut sich die katholi-

sche mit diesem Sachverhalt deutlich schwerer. Der heutige Papst Joseph Ratzinger schrieb bereits 1967 in sei-nem Buch »Einführung in das Chris-tentum«, die Lehre vom Gottsein Jesu würde nicht angetastet, wenn Jesus aus einer normalen menschli-chen Ehe hervorgegangen wäre. Die-se theologische Aussage verdeutlicht bis heute, dass die Kirchen mit der Bibelforschung so manches Problem haben und versuchen, unangenehme Ergebnisse irgendwie zu umgehen. Dauerhaft werden Kirche und Wis-senschaft einen Weg finden müssen, miteinander umzugehen.

diE tHEodizEE-fragE. gott UNd daS üBEl iN dEr WElt

W o war Gott, als es mir schlecht ging? Wie kann Gott das Böse zulassen? Die Theodizee-Frage (griechisch »theós«

(Gott) und »diké« (Gerechtigkeit)) behandelt die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes angesichts des Bösen in der Welt. Seit der Antike wird diese Frage diskutiert. Schon vor 2 300 Jahren formulier-te der griechische Philosoph Epikur die Problem-struktur dieses Themas: »Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht: Dann ist Gott schwach, was auf ihn nicht zutrifft. Oder er kann es und will es nicht: Dann ist Gott missgünstig, was ihm fremd ist. Oder er will es nicht und kann es nicht: Dann ist er schwach und missgünstig zu-

gleich, also nicht Gott. Oder er will es und kann es, was sich allein für Gott ziemt.«

Die Religionen antworten alle sehr unter-schiedlich auf dieses Problem. Die Bibel widmet der Sache ein ganzes Buch (die Hiob-Geschichte). Dort verspricht Jesus letztendlich Gerechtigkeit im Paradies. Das Judentum sieht Leid als strafen-de Konsequenz der Sünde an. Der Islam lehrt den Glauben an das Jenseits; damit ist das Leben eine Prüfung, in der vom Menschen auch falsche Ent-scheidungen getroffen werden. Eine umfassende Erklärung aber liefert keine Religion. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich ebenfalls verschiedene Meinungen herausgebildet: Manche sagen, Gott habe sich von den Menschen zurückgezogen, weil sie ihn ablehnen. Andere sehen in der fast unbe-grenzten Freiheit des menschlichen Willens die Ursache allen Übels. Für den deutschen Philoso-phen Gottfried Leibniz, der im 18. Jahrhundert den Begriff »Theodizee« prägte, bedeutete das Böse die Chance zur eigenen Vervollkommnung und Ver-besserung der Welt. Wieder andere meinen ein-fach: Gottes Wege sind eben unergründlich.

diE JUNgfraUENgEBUrt – EiN üBErSEtzUNgSfEHlEr?

Page 14: NOIR - Ausgabe 23: Glaube - Fluch oder Segen?

NOIR Nr. 23 (November 2011)12

rEPortagE

text: laura Wolfert | layout: Borris golinski

maria aUS dEr SPraydoSE

Zwei Künstler, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: STEFAN STRUMBEL ist derzeit der bekannteste Pop-Art Künstler Deutschlands. Wie Leonardo da Vinci im 14. Jahrhun-dert verändert er heute den Kirchenstil: Er sprayt schrille Graffiti in Kirchen.

L eonardo da Vinci rebellier-te im 14. und 15. Jahrhun-dert mit seiner Kunst gegen

die traditionelle Art der Kirche. Er malte das Gemälde »Die Madonna in der Felsengrotte«, das eine Auf-tragsarbeit der »Bruderschaft der Unbefleckten Empfängnis« für die Kirche San Francesco in Mailand war. Da Vinci zeichnete Jesus ohne Gold und Heiligenschein. Das Bild entsprach nicht mehr dem kirch-lichen Dogma und wurde deshalb nie der Kirche übergeben. Was hätte aber die Kirche damals wohl gesagt, wenn ein ehemaliger Graffiti-Künst-ler die heilige Maria in bayerischer Tracht darstellen und eine Kirche mit bunten Farben ausmalen würde? Der moderne da Vinci heißt Stefan Strumbel. Mit zwölf Jahren begann er, Graffiti auf Wände und Züge zu sprayen. »Der U-Bahn-Raum ist eine offene Kunstszene. Dort kommen selbst Leute mit Kunst in Berührung, die nie in eine Gallerie gehen wür-den. Züge und ICE-Züge machen dich und deine Werke dort bekannt, wo sonst Keiner seine Kunst zeigt«, sagt Strumbel. Heute sprayt er aber nicht mehr an Züge oder Wände. Seit 2001 ist Strumbel ein freischaffender Künstler und befasst sich mit dem, was jeden betrifft: »Heimat. Das hat für jeden eine andere Bedeutung. Das ist auch gut so, denn jeder sieht in meinen Arbeiten etwas anderes.« Der Schwarzwald inspiriert ihn. Strumbel malt Bommelhutmädchen mit Gewehren und fiesen Sprüchen, erschafft pinkfarbene Kuckucksuhren mit Handgranaten. Darüber sprayt er Sprüche, die

schocken. »Heimatdroge« oder »Who killed Bam-bie?« sollen ausdrücken, dass einen die Heimat ein Leben lang beschäftigt. Er kombiniert seine Ideen auch mit Religiösem. Eine Provokation? Für Stefan Strumbel nicht. »Ich habe noch viele weitere Ide-en, die ich umsetzen werde und die vielleicht noch mehr schocken werden.« Doch wie kam Strumbels Kunst in eine Kirche? Es war eine normale Kirche in Goldscheuer bei Kehl, die verändert werden soll-te. Das Gotteshaus stand kurz vor der Schließung. »Es kamen zu wenig Besucher. Die Kirche füllte sich nur zu zwei bis drei Prozent. Da hat man sich

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schon überlegt, wofür man die Kirche gebrauchen könnte, aber die Gemeinde wollte sie behalten und spendete«, erzählt Thomas Braunstein, Pfar-rer von Goldscheuer. Auch im Pfarrgemeinderat überlegte man, wie man mehr Besucher anlocken könnte. Man kam auf Herrn Strumbel, der durch einen Mann berühmt wurde: Karl Lagerfeld. Der war begeistert, als er Strumbels Uhr geschenkt bekam. Als im Stern zu Lagerfelds 75-jährigem Geburtstag ein Bild davon veröffentlicht wurde, schlug Strumbels Sternstunde. Er gewann 2007 das erste Graffiti-Stipendium der Welt und arbeitete immer häufiger im Ausland. Der ehemalige Graffiti-Sprayer hatte Einzelausstellungen in der »One Man Show«, Galerie Springmann in Freiburg und auch Ausstellun-gen in New York, Basel und Polen. Die New York Times ernannte ihn zum zurzeit besten Pop-Art-Künstlers. Die Kirche engagierte ihn als ihre letzte Rettung. Sie über-ließ ihm die komplette Innenraumgestaltung der Kirche.

Mit seinem Hauptthema verbunden, will er nicht nur die Kirche retten. Er will einen Ort schaffen, wo Menschen ein Stück Heimat finden: Heimatgefühle in das Gotteshaus bringen. Strum-bel kleidet seine heilige Maria kurzerhand in eine Tracht. Die Gemeinde ist empört: »Ein Teil wollte

ihr Geld zurück«, erinnert sich Renate Hauer aus dem Pfarrgemeinderat. Strumbels Kunst wurde als Gottesverspottung deklariert. Doch Pfarrer Thomas Braunstein verstand, was der Künstler aussagen wollte und half, seine Absicht mit Arti-keln im Amtsblatt zu vermitteln. »Ich habe mit dem Lied ›Maria ist im Volke‹ gezeigt, dass Strumbels Maria in Tracht durchaus berechtigt ist. Er hat sie mit einem Zeichen unseres Volkes verbunden. Das haben sie verstanden. Die Gemeinde steht mittler-weile voll hinter ihm«, sagt Pfarrer Braunstein.

So konnte Strumbel der Kirche einen neuen Anstrich verleihen. Wo früher Empörung aufkam, wegen eines Bildes, das dem Dog-ma nicht entsprach, kommen heute Leute jedes Alters in die Kir-

che. Sie finden sich in der modernen Gestaltung wieder – mehr als je zuvor. Das Haus Gottes. Die Heimat Gottes. Von einem zweiten da Vinci revo-lutioniert.

»Es war ein tolles Gefühl, mit der Spraydose in der Kirche zu ste-

hen. Ihre Macht fasziniert mich!«

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text & fotos: Sanja döttling | layout: tobias fischer

diE SiNNE täUScHEN NicHtWo endet die Wissenschaft, wo beginnt der Glaube? Es ist eine Debatte, die so alt ist wie die Menschheit. NOIR lud den Theologen Albert Biesinger und den Neurobiologen Boris Kotchoubey zum Streitgespräch.

W arum glauben Men-schen?

Biesinger: Zum einen haben sie die Kompetenz, über das hinauszufragen, was empirisch ver-standen werden kann. Sie treffen die Option: »Es muss mehr als alles geben.« Der zweite Grund ist, dass Menschen sich sagen: »Ich kann mich zwar darauf einlassen, dass mit dem Tod alles aus ist – das ist mir aber zu kurzschlüssig. Ich frage noch weiter, über den Tod hinaus.« Ein anderes Beispiel ist die Entstehung des Uni-versums. Ich gehe selbstverständlich vom Grundmodell Evolution aus, frage aber als Theologe noch weiter. Nach der Bedingung der Möglich-keit, dass etwas ist. Die religiöse Fra-ge ist deshalb immer die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit der Wirklichkeit und der Existenz des Menschen.

Kotchoubey: Ich frage mich eher, warum manche Menschen nicht glauben. Und zwar deshalb, weil ich mir den Glauben etwas breiter vor-stelle: über den religiösen Rahmen hinaus. Menschen glauben, weil sie prinzipiell nicht alles wissen kön-nen. Sie brauchen eine Basis, die sie nicht genau prüfen können.

Was gehört für Sie zur breiteren De-finition von Glauben?

Kotchoubey: Der Glaube zum Bei-

spiel, dass mich meine Sinne norma-lerweise nicht täuschen. Wenn ich Sie jetzt sehe, dann existieren Sie tatsächlich. Und daran glaube ich. Wenn man tiefer geht, dann kommt man zu dem Punkt, dass man das nicht beweisen kann, dass sie vor mir sitzen. Ich muss also bestimmte Glaubensinhalte haben.

Biesinger: »Was glaubt, wer nicht an Gott glaubt?« – So haben es Kar-dinal Carlo Martini und Umberto Eco im Dialog thematisiert. Wenn ein Mensch sagt, es gibt keinen Gott, dann glaubt er eben, dass Gott nicht ist. Man kann weder beweisen, dass Gott existiert, noch dass er nicht existiert. Gott ist weiter und komple-xer als unsere menschlichen Gehirn-strukturen.

Kotchoubey: Die Ursache des Glau-bens ist die unendliche Komplexität der Welt. Wir tendieren dazu, die Komplexität zu unterschätzen, um Vorhersagen zu treffen. Dazu ver-einfachen wir Prozesse der Welt, die eigentlich viel komplexer sind. Die Begründer unserer modernen Wis-senschaft, wie Galileo, haben einen Weg der Vereinfachung gefunden. Darin liegt ihre Genialität. Jeder kann sehen, dass ein Stein schnel-ler fällt als eine Feder. Man muss aber, um wissenschaftliches Wissen aufzubauen, gewisse Aspekte ver-nachlässigen, wie den Luftwider-

stand – dann fallen Feder und Stein gleich schnell. Aber wenn wir mit dem Fallschirm springen, können wir vom Luftwiderstand nicht abse-hen, denn er entscheidet über Leben und Tod. Man darf diese Vereinfa-chung nur bis zu einem gewissen Punkt betreiben. Es gibt zum Bei-spiel chemische Systeme, bei denen man keinen Schritt auslassen kann. Die Systeme kann man im Nachhi-nein zwar erklären, mit dem Ursa-che-Wirkung-Prinzip. Aber in die Zukunft kann man sie nicht vorher-sehen.

War die Entstehung des Glaubens eine Form, die Wirklichkeit zu ver-einfachen?

Kotchoubey: Gott ist für mich ein Begriff, der auf der gleichen Stufe steht wie die Welt als Ganzes. Wenn es Gott gibt, dann ist er nach Defi-nition also unendlich komplex. Das heißt, wir können ihn nicht verste-hen und damit auch nicht wissen.

Biesinger: Ich sehe das so: Alles, was Naturwissenschaften entdecken, hilft mir als Theologe, den Schöpfer der Welt, also Gott, besser zu verste-hen. Gerade weil ich davon ausgehe, dass Gott die Welt in Prozessen der Evolution erschaffen hat. Der Gegen-satz zwischen Naturwissenschaft und Glaube muss aufgebrochen werden, sie schließen sich nicht aus.

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Herr Kotchoubey, sind Sie gläubig? Wie vereinen Sie das mit Ihrem Be-ruf?

Kotchoubey: Ich sehe darin kei-nen Widerspruch, solange man Gott nicht auf bestimmte Bilder reduziert. Es gibt einen Punkt, an dem ich an die Grenzen der Unvereinbarkeit komme.

Glauben immer weniger Jugendli-che an Gott?

Biesinger: Der Religionsmonitor des Bertelsmann-Verlages zeigt: Die Hälfte der deutschen Jugendlichen ist in verschiedener Ausprägung re-ligiös. Das andere größere Segment ist nicht atheistisch sondern agnos-tisch. Sie wissen nicht, ob es Gott gibt oder nicht. Die Statistik verän-dert sich durch die hohe Anzahl an Migranten, die tendenziell religiöser sind als die Jugendlichen der Mehr-heitsgesellschaft.

Kotchoubey: Die Zunahme des Atheismus ist ein kulturspezifi-sches Phänomen, das nur in ganz bestimmten Gesellschaften existiert. In Westeuropa sehen wir, je stärker entwickelt die Wissenschaften sind, desto weniger herrscht der Glaube vor. In Amerika, Afrika, Osteuropa

oder in asiatischen Ländern sehen wir diesen Zusammenhang nicht.

Biesinger: Vielleicht hängt das auch mit der Erfahrung zusammen, dass in den reicheren Ländern die Leute ihr Leben auch ohne Gott ge-stalten können. Man sagt: »Not lehrt beten.«

Meine Theorie, warum Jugendliche zu Atheisten werden: Sie wollen mehr Selbstbestimmung und nie-mand anderen über sich stellen.

Kotchoubey: Teilweise stimme ich zu. Es gibt in jedem das Bedürfnis, selbstbestimmt zu leben. Aber auch das Bedürfnis nach einer bestimm-ten Regelmäßigkeit. Viele Bücher in der Erziehungswissenschaft sa-gen aber, dass wir Jugendliche mit Selbstbestimmung überfordern. Sie fühlen sich in einer Welt ohne Re-geln verloren. Welche Rolle kann hier eine Religion spielen? Wenn wir die russisch-orthodoxe Kirche mit der lutherisch-evangelischen Kirche

vergleichen, schreibt die eine viel und die andere fast gar nichts vor. Das ändert nichts daran, dass die Jugendlichen auch aus der evangeli-schen Kirche aussteigen. Wenn Ihre Theorie stimmen würde, würden sie der evangelischen Kirche zulaufen.

Und wenn Jugendliche in der Kirche nach Regeln suchen?

Biesinger: Es gibt zwar Zulauf zu den Freikirchen, die große Gottes-dienste feiern und klarere Orien-tierung in einer komplexen Welt bieten. Aber auch in den beiden gro-ßen Kirchen gibt es große religiöse Jugendtreffen. Ich glaube nicht, dass die Jugendlichen sich allgemein vom Glauben zurückziehen. Es gibt einen gewissen Rückzug von den Kirchen, aber auch von den Parteien. Also all-gemein einen Rückzug aus der Ver-bindlichkeit.

Vielen Dank für das Gespräch.

Boris Kotchoubey wurde 1952 in Russland geboren. 1992 kam er nach Deutschland und ist heute Professor am Institut für medizinische Psycholo-gie und Verhaltensneurobiologie an der Universität Tübingen.

Albert Biesinger wurde 1948 in Tü-bingen geboren, studierte katholische Theologie und Pädagogik. Seit 1991 ist Biesinger Professor für Religionspäda-gogik an der Universität Tübingen und seit 2001 Leiter des Instituts für berufs-orientierte Religionspädagogik.

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D ie Luft vibriert, es ist unglaublich laut, dabei hat das Konzert noch nicht begon-nen. Tausende von kleinen Leuchtstä-

ben bringen eine unwirkliche Atmosphäre in die dunkle Arena. »Hatsune! Hatsune!« brüllt das Pu-blikum, bis sich der Rhythmus ändert und »Miku! Miku! Miku!« aus den Reihen tönt. Kurz wird es ganz still, dann antwortet eine glockenhelle Stimme über die Lautsprecher. Alles Weitere geht im Grölen unter. Hatsune Miku wächst aus dem Bühnenboden wie eine türkis leuchtende Blume.

SüSS, SExy, SyNtHESizE

text: Judith daniel | layout: Sebastian Nikoloff

Sie sieht zart und zerbrechlich aus mit ihren gro-ßen Augen. Zur Schuluniform trägt sie Zöpfe, die fast bis zum Boden fließen, Strapse und Plateau-schuhe. Kindchenschema und Sexappeal bis zur Gänze ausgereizt. Ein perfektes 16-jähriges Mäd-chen. Ein Hologramm.

Doch was macht Hatsune Miku, eine Synthesi-zer-Illusion, so erfolgreich, dass sie durch die Welt tourt? Sie ist vollständig erdacht und program-miert: ihr Körper, ihre Bewegungen und auch ihre Stimme. Miku wiegt 42 Kilogramm bei einer Kör-pergröße von 1,58 Metern. Ihre Macher feiern je-des Jahr am 31. August ihren 16. Geburtstag – und über eine Viertelmillion Facebook-Nutzer feiern mit.

Es werden Kuchen gebacken, Liebesgeständnis-se gemacht und Ständchen gesungen.

Was bringt uns Menschen dazu, das Privatleben einer fremden Person dermaßen zu verfolgen und ihr gegenüber von Zuneigung oder gar Liebe zu sprechen? So absurd der Kult um Hatsune Miku ist: Sie unterscheidet sich kaum von anderen Ido-len. Auch deren Image kann völlig frei erfunden sein. Wir sind auf der Suche nach jemandem, an den wir glauben können. Wir haben die Eltern als Vorbilder verloren und suchen auf den Bühnen der Welt nach Idolen.

A uch der Teufel hat Anhänger: Satanisten. Im Zentrum deren »Religion« steht na-türlich er selbst. Verehrt wird der Teufel

entweder alleinstehend oder als »höllische Drei-faltigkeit«, bestehend aus Satan, Luzifer und Beel-zebub. Aber nur für einen Bruchteil der bekennen-den Satanisten gehört die Teufelsanbetung zum Glaubensprogramm. Vielmehr wird sich auf die eigentliche Absicht des Teufels zurückbesonnen: die Menschen vom Glauben an eine überirdische

tEUfElSzEUg

text: Henrike W. ledig | layout: Sebastian NikoloffMacht zu befreien. Die Aufmerksamkeit wird auf das Individuum gelenkt, der Teufel rät zu einem gesunden Egoismus.

Da wäre allerdings ein simples Problem: Es gibt kein Buch wie die Bibel oder den Koran. Der Teufel ist entgegen der geläufigen Annahme kein sehr gesprächiger Geselle. Sämtliche Werke sind ausnahmslos von Menschen verfasst. Dazu gehört auch »Die schwarze Bibel«, die die Zehn Gebote des Satanismus beinhaltet. Somit existiert nur eine Orientierungshilfe auf der Suche nach einer Religion, der man oft mit Vorurteilen begegnet.

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G ottesdienst am Sonntag-morgen, Weihrauch und Orgelmusik: Religion leben

geht heute auch anders. Dank Han-dy-Applikationen und Internet kön-nen Christen sich heute online austo-ben. Silke Brüggemann hat getestet, wie man im Web 2.0 beichtet und ob ein Handy-Tagebuch einen besseren Menschen aus einem macht.

»Im Namen des Vaters, des Soh-nes und des Heiligen Geistes«, tönt es aus den Lautsprechern meines Laptops. Eine Homepage, gestaltet in schwarz und lila, lädt mich ein, »online mit Jesus« zu gehen. So soll aus mir ein besserer Mensch wer-den  –  per Online-Beichte. Durch Klicks auf zwei Kästchen bestätige ich, dass ich etwas bereue und gelobe mich zu bessern. In anderen Online-Beichtstühlen kann ich meine Sün-den als Foreneinträge direkt veröf-fentlichen. Andere Benutzer können die Beichten nicht nur lesen, sondern auch bewerten und ihren Senf dazu geben. Die Beichten reichen von Lü-gen über Betrug bis zu Tierquälerei.

Online beichten ist nichts für mich, merke ich. Und suche weiter: nach einem religiösen Angebot, das zu mir passt. Ich google »pray« und lande auf einer Seite, die mich zum Online-Beten einlädt. Eine Oase der Ruhe im grauen Büroalltag; so soll die Seite wirken. Doch die Home-page ist ebenfalls grau. Dazwischen eine ockerfarbene Wiese mit einem

blätterlosen Baum und einem Hauch von Kirchenmusik. Das soll wohl beru-higend wirken, auf mich wirkt es farb-los. Per Mausklick startet eine Stopp-uhr, die genau eine Minute abzählt, in der ich die Augen schließen und beten kann. Ich spule mei-ne Sorgen und Hoff-nungen gedanklich runter und bin nach zehn Sekunden fer-tig.

Beichten und be-ten online ist noch lange nicht alles: Kirchengemeinden laden ihre Ver-anstaltungen auf Videoplattformen hoch, Gläubige bloggen über ihre Lieblingsbibelstelle und Geschäfts-leute wollen ihre Jesus-Produkte loswerden, zum Beispiel christliche Handy-Applikationen. Orgelmusik und ein Wasserfall aus Bibelzitaten reißen mich aus dem Schlaf, als ich einen christlichen Wecker teste. Lei-der bin ich so müde, dass ich dem Sprecher mit der monotonen Stimme nicht folgen kann. Kein Zitat bleibt mir im Kopf und die Orgelmusik erinnert mich an den Soundtrack eines schlechten Vampir-Films. Ein Tagebuch als Handy-App soll aus mir einen besseren Christen ma-

chen. Auf einer Seite soll man fünf christliche Ziele eingeben. Ich gebe »mehr Nächstenliebe« und »mehr beten« ein. Die »Bibelstellen zur In-spiration« sind sehr ermutigend, aber helfen mir nicht, meine anderen drei Ziele zu finden. Zwei Ziele rei-chen für den Anfang, beschließe ich. Immer wenn ich es schaffe, eines der Ziele einzuhalten, darf ich mir einen Stern schenken. Sich ständig beob-achten zu müssen, ist lästig und der Stern lässt sich nur schwierig ein-geben. Ich gebe auf  – und erwische mich dabei, wie ich bei einer langen Autofahrt anbiete, auf meine Bein-freiheit auf dem hinteren Mittelsitz zu verzichten. Vielleicht funktioniert das Tagebuch ja doch.

KircHE 2.0

Wie cool wäre es, nicht mehr in die kalte Kirche gehen zu müssen, sondern von zu Hause aus zu beten. NOIR-Autorin Silke Brüggemann präsentiert: Die Kirche im Internet.

text: Silke Brüggemann | layout: Sebastian Nikoloff

online-absolution von »gesegneter iP«

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»

KolUmNE

Noir ist das junge magazin der Jugendpresse Baden- Württemberg e.v. ausgabe 23  – November 2011

HerausgeberJugendpresse Baden-Württemberg e.v. fuchseckstraße 7 70188 Stuttgart

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Chefredaktionandreas Spengler [email protected](v.i.S.d.P., anschrift wie Herausgeber)anika Pfisterer [email protected] djahangard [email protected] Kumpf [email protected]

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RedaktionSilke Brüggemann (sbr), Judith daniel (jd), Sanja döttling (sdl), marie graef (mg), friederike Ha-wighorst (fh), lisa Kreuzmann (lkr), Henrike ledig (hl), melanie michalski (mm), leonie müller (lm), Elisabeth omonga (eo), anika Pfisterer (apf), Bettina Schneider (bs), lena Schubert (lsb), Nanda da Silva (nds), andreas Spengler (as), Kevin Weber (kwe), laura Wolfert (lw), martin zimmermann (mz) [email protected]

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Noir kostet als Einzelheft 2,00 Euro, im abonnement 1,70 Euro pro ausgabe (8,50 Euro im Jahr, vorauszah-lung, abo jederzeit kündbar). Bestellung unter der telefonnummer 0711 912570-50 oder per mail an [email protected]. für mitglieder der Jugendpresse BW ist das abonne-ment im mitgliedsbeitrag enthalten.

imPrESSUm

text: Bettina Schneider | layout & illustration: tobias fischer

Pizza Statt fiScHJeden Freitag pulen Bettina Schneiders Mitschüler in der Kantine Gräten aus Backfischen. Ob sie dabei an Karfreitag denken und bewusst Verzicht üben?

O h nein, heute ist Freitag. Ich riech‘s!«, plärrt meine Freundin Jasi, als wir die Schulkantine betreten. Eine Duftwolke

von frischem Backfisch weht uns in die Nase. Wem es schmeckt, der pult Gräten aus seinem Tierchen. Immer wieder freitags – und keiner weiß wieso. »Kein Fleisch zu essen, soll eine Einschränkung sein, weil der Freitag an den Karfreitag erinnert, an dem Jesus umgebracht wurde«, lese ich online

im »Typisch katholi-schen Lexikon«.

Ahja. Was hat

Jesus davon, wenn wir auf Schnitzel, Burger und Co. verzichten? Das Internet sagt: »Das ungute Gefühl, das jeder ungerecht Verurteilte in uns anklingen lässt, verbindet sich mit der Einschrän-kung, die an jedem Freitag daran erinnert, dass je-der eine Mitschuld an dem Tod hat.« Ich sehe mich an jenem Freitag in der Kantine um. Dort entdecke ich vieles – nur keine schuldbewussten Gesichter. Mit Appetit werden Pommes und Backfisch ver-drückt. Nur Jasi und mich macht das nicht an. Wir gehen guten Gewissens in die nächste Pizzeria. Wie jeden Freitag. Danke, Jesus!

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I st nur der gläubig, der sonntags in den

Gottesdienst geht und die Kirchenfeiertage im Schlaf aufsagen kann?

Der Glaube jedes Menschen sollte indi-viduell auf seinen eige-nen Vorstellungen und Bedürfnissen beruhen und das ausfüllen, was er für sich und für sein Leben als Stärkung empfindet. Die Kirche hält sich an Regeln und Tradi-tionen, die den Menschen in seinem Glauben mehr einschränken als ihn darin zu unterstützen. Kein Wunder, denn wie kann man 2 000 Jahre alte Regeln in einer Zeit anwenden, die sich so komplett verändert hat – Mo-ral und Werte mit eingeschlossen.

Wieso sollte Gott mit den Men-schen nur über die Kirche in Kontakt treten. Laut dem christlichen Glau-ben ist er doch allgegenwärtig.

Die Freiheit jedes Einzelnen steht im Vordergrund. Wer die Regeln und die Kirche braucht, um seine Idee von Glauben ausleben zu können, dem stehe das frei. Auf der anderen Seite sollte Glaube nicht von der Kir-che abhängig sein. Jeder persönliche Glaube sollte respektiert werden. Das sollten auch die vielen Glau-bensrichtungen einsehen. Gläubig ist, wer glaubt. Egal ob mit oder ohne Kirche.

layout: Sebastian Nikoloff

text: friederike Hawighorst text: Nanda da Silva

BraUcHEN Wir diE KircHE? Kann man Glaube ohne Kirche und Kirche ohne Glauben leben? Zwei NOIR-Au-torinnen, zwei Meinungen: Die Kirche schränkt uns in unserem Glauben ein, sagt Nanda da Silva. Glauben muss man gemeinsam leben, hält Friederike Hawighorst dagegen und fordert auf, die Kirche selbst positiv zu prägen.

contra: glaUBEN BraUcHt KEiNE KircHE!

E s gibt viele Grün-de, der katholi-

schen Kirche den Rü-cken zu kehren. Ihre von Grausamkeiten gepflasterte Geschich-te zum Beispiel, von Kreuzzügen über den Ablasshandel bis hin zu Skandalen um pä-dophile Prügelpriester in jüngster Vergangen-

heit. Der reaktionäre Papst an der Spitze eines Apparates männlicher Dominanz, die Kirchensteuer und, nicht zu vergessen, die unchristli-chen Gottesdienstzeiten.

Warum ich nicht ausgetreten bin? Weil ich glaube, dass die Kirche zu einem Zweck geschaffen wurde: den Geist Jesu zu verwirklichen, ihm als Gemeinschaft nachzufolgen und auf diese Weise Nächstenliebe zu leben. Das geht gemeinsam einfach besser als alleine. Übersteigerter Individu-alismus ist im christlichen Glauben fehl am Platz.

Natürlich ist fast jeder einmal von der Kirche enttäuscht. Es wäre ver-messen, zu glauben, die Geschichte der Kirche wäre nicht auch durch fehlbare Menschen geschrieben. Und fehlbar sind wir ausnahmslos alle. Eine Gemeinschaft ist nur so gut wie die Menschen, die sie gestalten. An-statt zu nörgeln, sollten wir besser selbst anpacken, um die Missstände zu beheben.

Pro: icH glaUBE, WiE icH Will.

titEltHEma

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V on klein auf waren Sie bei den Zeugen Jehovas. Nun sind Sie scharfe Kritikerin der Orga-

nisation. Wie kamen Sie zu den Zeu-gen Jehovas?

Frau Kohout: Ich war seit meinem zehnten Lebensjahr mit den Zeugen Je-hovas verbunden. Ich war evangelisch, blass und klapperdürr, weil ich mit knapper Not dem Hungertod entron-nen war. Bitterarmen Flüchtlingen – und Heiden – wie uns begegnete man oft unfreundlich im katholischen Ober-bayern.

Wann fand der erste Kontakt statt?Es kam ein freundlicher Herr an

unsere Türe. Er erzählte uns von ei-ner wunderbaren Zukunft: Gott würde bald alle Ungerechtigkeit von der Erde beseitigen. Er lud uns zu einem Treffen ein. Auch dort waren die Leute freund-lich zu uns. Wir kannten so eine Herz-lichkeit nicht.

Und was waren deren erste Aussagen über ihren Glauben?

Sie glaubten alle, dass sie »in der Wahrheit« sind. Denn sie wä-ren die Einzigen, die die Bibel rich-

» ES vErfolgt micH tag UNd NacHt «Barbara Kohouts Leben war bestimmt vom Glauben. Sie fand Erfüllung bei den Zeugen Jehovas. Doch als sie deren perfide Methoden durchschaute, stieg sie aus. Heute spricht sie von Pest und Cholera und menschlichem Abfall.

interview: lena Schubert | foto: Eva Katrin Hermann | layout & illustration: Sebastian Nikoloff

tig auslegen könnten. Sie wussten ganz sicher, dass bald Harmagedon kommt und alles Böse von der Erde schafft. Wer sich für die Wahrheit der Zeugen Jehovas entscheidet, würde gerettet werden. So begann mein Lebensweg innerhalb einer Gemeinschaft mit extremen Ordens-regeln. Erst nach Jahrzehnten ge-lang es mir, die Ungereimtheiten zu durchschauen.

Warum ist es gerade für Neu-Ein-steiger so schwer, wieder Abstand zu finden?

Menschen in Ausnahmesituatio-nen stehen in der Gefahr, arglos in die Umgarnung extremer Gruppen zu geraten. Es sind Situationen, in denen man nach Trost, Halt oder nach Antworten auf die Frage nach dem »Warum« sucht.

Wird so etwas erwähnt, wenn über die Anfänge anderer Mitglieder ge-sprochen wird?

Die Veröffentlichungen der »Wachtturm-Gesellschaft« (Anm. der Red.: Herausgeber der Zeitschrift

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» ES vErfolgt micH tag UNd NacHt «

»Wachtturm«) sind gespickt mit so-genannten Erfahrungen. Sie geben euphorische Berichte ab, wie man durch die Güte Jehovas zur Erkennt-nis der Wahrheit gelangen könne. Diese Erfahrungen erzeugen das starke Gefühl, zu einer ganz be-sonderen, auserwählten Gruppe zu gehören. Man fühlt sich dankbar und verpflichtet, diese Dankbarkeit durch besondere Taten unter Beweis zu stellen.

Von welchen Taten ist die Rede?Beispielsweise das Bibelstudium

oder auch das Werben um Neumit-glieder. Es wird von den Zeugen Jehovas Predigtdienst genannt. Je-der Zeuge ist zu diesem Dienst ver-pflichtet und wird aufgefordert, über den Zeiteinsatz und die verbreiteten Wachtturm-Schriften genauen Be-richt zu erstatten. Die Wachtturm -Organisation stellt es so dar: Alles, was man in ihrem Auftrag tut, ge-schieht zur Förderung der Interessen des Königreiches Gottes. Ich habe es als Gnade und Vorrecht gesehen, freiwillig alles zu tun, um die Inte-

ressen des Königreiches zu unter-stützen.

Wie weit sind Sie gegangen und wie viel Anstrengung haben Sie schlussendlich für die Zeugen Jeho-vas aufgewendet?

Als Schülerin habe ich monatlich mindestens 60 Stunden eingesetzt. Als Sonderpionier wurden es neben dem regulären Predigtdienst von 150 Stunden noch mindestens 50 Stun-den mehr für die Versammlungsak-tivitäten. In der Zeit verzichtete ich auf eine Berufstätigkeit und begnüg-te mich mit einem Taschengeld von 150 Mark monatlich.

Nach der Geburt meiner Tochter reduzierte ich den Stundeneinsatz zwar, war aber trotzdem weiter bis zur Erschöpfung tätig, sogar mit meinem Baby im Dienst von Haus zu Haus.

Sie erwähnen einen Aufstieg. Gibt es eine klar sichtbare Hierarchie?

Es gibt eine eindeutige Hierarchie. Die ist für gläubige Zeugen Jeho-vas aber nicht wahrnehmbar, weil

sie nicht daran zweifeln, dass nur Christus der Führer und das Haupt der Versammlung sei.

Welche Rechte ergeben sich aus ei-nem Aufstieg?

Die Ernennung ist ab einem be-stimmten Status mit Vollmachten verbunden. So können die Ältesten innerhalb der Versammlungen über Verfehlungen der Zeugen Jehovas urteilen. Sie sind dabei Ankläger und Richter in einem und verhandeln nicht öffentlich.

Wie haben Sie es geschafft, von den Zeugen loszukommen?

Nachdem unsere Kinder die Wachtturm-Organisation verlassen hatten, interessierte ich mich für die Gründe. Mein Sohn zeigte mir an-hand der Wachtturm-Schriften, wie wir gezielt manipuliert wurden und mit welchen Unwahrheiten die Zeu-gen Jehovas operierten. Die Erkennt-nis, dass wir von Menschen benutzt und betrogen wurden, veranlasste mich, die Organisation zu verlassen.

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Wann war das?Im August 2008 beschloss ich zu-

sammen mit meinem Mann den Aus-stieg. Wir gingen nicht mehr zu den Zusammenkünften und gaben auch keinen Bericht mehr über unsere Tä-tigkeit für die Wachtturm-Organi-sation ab. Leider haben die Ältesten diese Entscheidung nicht akzeptiert. Sie bestanden darauf, uns die Ge-meinschaft zu entziehen, mit der Be-gründung dass wir Abtrünnige seien und man somit keinen Kontakt mehr mit uns haben dürfte.

Wie waren die Reaktionen?Ein Jahr später wurde uns die Ge-

meinschaft entzogen. Von diesem Zeitpunkt an konnten wir keinen Kontakt mehr mit unseren Freun-den und Verwandten pflegen, die noch Zeugen Jehovas sind – auch nicht mit meiner Mutter, den Ge-schwistern und Verwandten. Es ist ein Trauma, von einem Tag auf den anderen alle sozialen Bindungen zu verlieren. Häufig folgen langwierige psychotherapeutische Behandlun-gen und leider nicht selten Suizid.

Wären Sie auch von sich selbst aus ausgestiegen?

Für mich war das niemals denkbar. Ich wäre nie bereit gewesen, Schrif-ten von Ex-Zeugen zu lesen. Da ich mich außerstande fühlte, »dem vom Geist geleiteten treuen und verstän-digen Sklaven« ungehorsam zu sein.

Wie empfanden Sie das Leben mit den Zeugen Jehovas im Nachhi-nein?

Weil ich bereits als Kind gefischt wurde, gab es für mich keinen All-tag vor oder außerhalb der Sekte. Ich lebte in einem Kokon, abgeschirmt wie mit unsichtbaren Mauern.

Wie schwierig war es, vollständig mit dem Thema abzuschließen?

Für mich ist es bislang unmöglich. Es verfolgt mich Tag und Nacht. Ich fühle mich verpflichtet, meine Er-fahrungen, mein Wissen und mei-ne Erkenntnisse an andere weiterzugeben. Ich muss auf totalitäre Strukturen und Re-geln eines Systems aufmerk-sam machen, das gegen unse-re Verfassung verstößt, weil

es keine wirkliche Gewissens-, Glaubens- und Meinungsfrei-heit gewährt. Ich setze mich auch dafür ein, ehemalige Mit-glieder nicht zu diskriminie-ren. Die Methode der Zeugen Jehovas, missliebige Mitglie-der mit der Bestrafung durch sozialen Tod zu bedrohen und damit unter Druck zu setzen, ist menschenunwürdig. Es ist mittelalterlich. Das von einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes ist öffentliches Un-recht.

Vielen Dank für das Inter-view!

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23NOIR Nr. 23 (November 2011)

KommENtar

dEr tErroriSt iN UNSIslamismus, der Medienbegriff, wenn es um Terrorismus, Gewalt und Frauen-unterdrückung geht. Doch nur wenige unterscheiden noch zwischen Religion und Fanatismus findet Elisabeth Omonga. Ein Kommentar.

Elisabeth Omonga (19) studiert Regionalstu-dien Asien/Afrika und Portugiesisch an der Humboldt-Universität zu Berlin. Die gebürti-ge Aachenerin interes-siert sich für kulturelle Themen und politische

Konflikte, vor allem im arabischen Raum. Sie bekennt sich keiner Religion an, setzt sich aber für Vielfalt und Toleranz gegen Diskriminierung und Vorurteile ein.

text: Elisabeth omonga | layout: tobias fischer

D ie Lehre des Islams: Kopftuchbedeckung à la Burka, muslimische Männer als Ty-rannen und die Schweinefleischphobie.

Und natürlich Töchter, die zur Heirat gezwungen werden oder im Namen der Ehre sterben müssen. Soweit die Klischees. Mit weltweit über 1,3 Mil-liarden Anhängern ist der Islam die zweitgrößte Religionsgemeinschaft der Welt. Dahinter stehen eine Vielzahl unterschiedlicher Lebenseinstellun-gen. Dennoch werden Muslime zunehmend als eine homogene Masse wahrgenommen: bedroh-lich und meist rückständig. Der Ruf des Islams ist schlechter denn je. Wie kommt es, dass nicht die Vielfalt sondern die Einfalt Einzug in unsere Vor-stellungen gehalten hat?

»Was lehrt die Bibel über die Hölle?« Die Ant-wort auf diese Frage würde wohl lauten: »Frag doch einen Pastor!« Anders bei der Frage: »Was lehrt der Koran über den Jihad?« Hier denken sich viele Menschen: »Der Dönerverkäufer wird es be-stimmt wissen.«

Ein Schwamm saugt alles auf, er weiß nicht was und warum, aber er tut es. Und wir Menschen? Wir saugen alles auf, was wir im Radio hören, in der Zeitung lesen oder im Fernsehen sehen, ohne zu reflektieren, gehen wir unserer wachsenden Sensationslust nach. Die Medien leisten Vorarbeit und wir sind ihre Sklaven; ein primitiver Gedan-ke, um sich von seiner eigenen Verantwortung der Selbstreflexion zu entziehen. Doch drehen wir den Spieß mal um: Angenommen, nicht Muslime hätten am 11. September 2001 das World-Trade-Center bombardiert, sondern Christen. Schon die Vorstellung scheint zu irritieren? Christentumis-mus als neuer Medienbegriff? Eine Bedrohung für die ganze Menschheit – eine Religion, die die Instrumentalisierung als Mittel nutzt, einen soge-nannten »Heiligen Krieg« gegen alle Nichtchris-ten durchzuführen. Nein, da hört sich Islamismus

doch viel besser an. Islamisten passt doch. Kein Wunder, dass sogenannte Islamophobe uns mit ih-rer Sicherheitspolitik Angst vor vollbärtigen Män-nern machen wollen.

Es sind nicht nur die überspitzten Medien, es ist nicht nur die Ungewissheit. Es ist der Terrorist in uns, der uns dazu verleitet, eine Religion, Gruppen und dementsprechend Menschen zu beurteilen, noch bevor es die Sachkenntnis erlaubt. Was lehrt der Islam? Was bedeutet es, ein Muslim zu sein? Wer war Muhammad? Diese Religion, die heute als Quelle vieler Gewalt genannt wird, legt Wert auf die Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens, auf Frieden und auf die Hingabe an Gott. Ohne un-ser Schubladendenken wäre das Zusammenleben einfacher, friedlicher und harmonischer.

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NOIR Nr. 23 (November 2011)24

QUErBEEt

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PEcHmariE

W enn man an Dinge glaubt, die man nicht versteht, dann leidet

man«, hat Stevie Wonder vor fast 40 Jahren in seinem Lied »Superstition« (Aberglaube) gesungen. Das kann ich mit gutem Gewissen unterschrei-ben, denn ich laufe fröhlich unter Leitern durch, mache mir keinen Kopf um zerbrochene Spiegel und streichele schwarze Katzen, wenn sie meinen Weg kreuzen. Außerdem bin ich an einem Freitag dem 13. ge-boren und habe mich ganz gut ent-wickelt – obwohl ich dem Astro-TV nach die geborene Pechmarie bin. Was kann man sich über abergläu-bige Menschen nur amüsieren! Kein Menschenschlag allerdings ist aber-

gläubischer als Schauspieler: Da darf hinter der Bühne nicht gepfiffen, aus fremden Stücken nicht zitiert und nach der Generalprobe nicht geklatscht werden. Zudem folgt vor jeder Aufführung eine Art rituelles gegenseitiges Über-die-Schulter-Spu-cken aller Schauspieler. Bäh! Spucke auf dem Boden gegen Vergesslich-keit. Auf diesen Zug könnten die Pharmariesen aufspringen, das Zeug in Flaschen ziehen und teuer als Wundermittel gegen Demenz ver-schachern!

Ich spiele selbst seit drei Jah-ren Theater und habe mich an die merkwürdigen Rituale vor jeder Aufführung gewöhnt. Sie sind mir sogar richtig ans Herz gewachsen:

Nichts hilft so sehr gegen mörderi-sches Lampenfieber wie das Über-die-Schulter-Spucken, bevor man auf die Bühne geht. Ob ich an die glück-bringende Wirkung glaube, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur zwei Dinge: Erstens ist bisher jede unse-rer Aufführungen ein voller Erfolg gewesen und keiner hat davor aus einem fremden Stück zitiert. Im Ge-genzug haben wir einmal ein Toi-Toi-Toi vergessen und prompt im ersten Akt von Dürrenmatts »Die Physiker« Einstein nicht auf die Bühne gelas-sen, da wir ihr Stichwort vermasselt haben. Das muss reichen als Beweis! Gelitten habe ich unter diesem Aber-glauben meines Wissens nicht. Zeit für ein neues Lied, Stevie!

Kein Menschenschlag ist abergläubiger als Schauspieler: Aus fremden Stücken zitieren ist verboten und wehe, man vergisst das rituelle Über-die-Schulter-Spucken vor der Auffüh-rung. Henrike W. Ledig hat damit so ihre Erfahrungen gemacht.

text: Henrike W. ledig | layout: tobias fischer

M it der Erfahrung, einem toten Tier den Weg durch menschliche Innereien er-spart zu haben, kann man sich mit

olympischen Göttern messen. So meine Vorstel-lung. Wer Gutes tut, dem wird schließlich Gutes widerfahren. Deswegen wagte ich einen ungeheu-ren Versuch: zwei Monate ausnahmslos vegetari-sche Kost!

Bei stechender Hitze am See geht es los. Und die Sonne ist nicht mein einziger Peiniger: Ein

Tropfen Fett verdampft mit einem von mir innig geliebten Zischen an der Grillkohle. Der himmli-sche Duft von bissfesten Steaks eingelegt in süßer Paprikasauce tanzt in meiner Nase Jive. Und ich greife zu. Nehme mir den daneben deponierten kaugummiartigen Grillkäse, der so schmeckt, wie er aussieht.

Doch wo bleibt die gesteigerte Lebensqualität? Was ist mit dem erwarteten guten Gefühl, etwas Sinnvolles getan zu haben? Nicht da. Dafür geht nach über acht Wochen mein alltäglicher Traum vom Fleischverzehr endlich in Erfüllung und ich esse den Vegetariern nicht mehr ihr Gemüse weg. Nur als Fleischfresser bin ich unabhängig und glücklich. Und nun zwei Monate im Rückstand.

text: Kevin Weber

flEiScHloS

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