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Ausgabe 26 (Juni 2012) www.noirmag.de THEMA Erziehungsstile: von Autoritär bis Liberal INTERVIEW Adoptiert. Von Indien ins Schwabenland KOLUMNE Die Trennung vom Fahrrad- schloss Bilderbuchfamilie » Solange du deine Füße ... «

NOIR - Ausgabe 26: Bilderbuchfamilie

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NOIR - Ausgabe 26: Bilderbuchfamilie

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Ausgabe 26 (Juni 2012)www.noirmag.de

Thema

Erziehungsstile: von Autoritär bis Liberal

InTervIew

Adoptiert. Von Indien ins Schwabenland

Kolumne

Die Trennung vom Fahrrad-schloss

Bilderbuchfamilie» Solange du deine Füße ... «

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Dein Wort des Jahres:

2012JugendWortVote here: www.jugendwort.de

ISBN 978-3-468-29859-2 • 3,99 €

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Stegwiesenstraße 6–1076646 Bruchsal

Editorial

1NOIR Nr. 26 ( Juni 2012)

Andreas treibt als Mann die Frauen-quote in die Höhe. Wie er das macht? Er sagt der NOIR Adieu und widmet sich seiner Bachelorarbeit. Dem Chef vom Dienst Alex wird ganz schwin-delig – er bleibt zurück mit einer rein weiblichen Chefredaktion. Danke für dein Engagement, Andreas! Wir hoffen auf zahlreiche Gastauftritte!

Schreibblockaden und leere Bild-schirme waren gestern. In Zukunft macht Bettina Schneider den NOIR-Autoren das Leben leicht. Sie gibt Tipps und Tricks und räumt Steine aus dem Weg von der Themenidee zum fertigen Text. Die 22-Jährige hat dieses Jahr Abitur gemacht und ist von Natur aus hilfsbereit.

Wer hoch fliegt, fällt tief. Anika Pfis-terer träumte von einer Welt ohne Fahrradschlösser. Doch noch wäh-rend sie die waghalsige These zu Pa-pier bringt, geschieht das Unerhör-te: Ihr Fahrrad ist weg! Ein bitterer Beigeschmack für den Beginn einer Fahrradschloss-Revolution. Die gan-ze Geschichte gibt‘s auf Seite 13.

Ich möchte eine Familie, sagt eine Freundin zu mir. Mit Kindern und vielleicht ein paar Kanin-

chen. Die sind so niedlich, besonders, wenn sie noch ganz klein sind. Die Kinder, meint sie,

nicht die Kaninchen. Und ein Mann dazu wäre auch nicht schlecht. Der muss irgendwie sein,

für die Kinder und so. Aber dann sagt sie, ihr wäre das alles zu langweilig. Sie möchte nicht

im Reihenhaus wohnen, nicht auf der Bank neben dem Sandkasten sitzen und gelangweilt

ihre Kinder mit denen der anderen Spielplatz-Muttis vergleichen. Lieber will sie reisen und

was erleben. Die Welt sehen und neue Erfahrungen machen. Aber mit Kindern ist das schwie-

rig. Also lieber doch keine Familie. Sie ist ja noch jung, sagt sie, und Kinder kriegen könne

sie später noch. Ihre Familie, ihre Eltern und Geschwister, die reichen ihr ja eigentlich auch

schon. Die machen schon genug Stress, sagt sie.

Familie – Stress oder etwas, auf das ihr nicht verzichten wollt? In dieser Ausgabe dreht sich

alles um die Familie in all ihren Formen. Ich finde, Familie ist wie alles andere: Zu viel davon

ist ungesund, zu wenig ist einfach nicht genug. Sabine Kurz, Chefredakteurin

Kind und KaninchEn

auS dEM rEdaKtionSlEBEn ...

NOIR Nr. 26 ( Juni 2012)2

inhalt

inhaltSüBErSicht

01 Editorial. rEdaKtionSGESchichtEn

03 Kultur. chantaliSMuS

04 titElthEMa. WandEl dEr ErziEhunG

07 titElthEMa. ErziEhunGSStilE

08 Porträt. lEBEn Mit SonnEnSchEin

09 uMfraGE. BEdEutunG dEr faMiliE

10 KoMMEntar. hotEl MaMa?

11 titElthEMa. EinEiiGE zWillinGE

12 intErviEW. zWiSchEn zWEi faMiliEn

13 KoluMnE. fahrrad- & luftSchlöSSEr

14 Porträt. EllEn von unWErt

15 Kultur. KEinE 99-cEnt-PartiES

16 QuErBEEt. PatchWorK iM urlauB

16 iMPrESSuM. WEr StEcKt hintEr noir?

04 titEl

14 Porträt

10 KoMMEntar

11 titEl

3NOIR Nr. 26 ( Juni 2012)

Kultur

S ie heißen Luna-Summer und Jake Conner Axel und sind die neuen Leidtragenden ei-ner unkonventionellen Strömung. Die Rede

ist von extravaganten Vornamen, die Kinder ihren überaus kreativen Eltern zu verdanken haben. In-dividuell, melodisch und außergewöhnlich in der Kombination – mehr Kriterien scheinen ihre Na-men wohl nicht erfüllen zu müssen.

Doch oftmals erntet dieser Trend nicht mehr als ein mitleidvolles Kopfschütteln. Man spricht scherzhaft vom »Chantalismus«. Ein unvorteilhaf-tes Phänomen, das laut Definition »die Unfähig-keit, Kindern sozialverträgliche Namen zu geben« ausdrückt.

Wenn Kinder ihre Eltern für die Namensgebung verklagen könnten, würden sie das tun? Diese Fra-ge stellt sich der gleichnamige Blog, der Geburts-anzeigen mit chantalistischem Charakter sam-melt. Nicht weniger etikettierend ist übrigens das männliche Pendant: Kevinismus. Stilblüten wie Mia Milou oder Jaden James sind Beispiele dafür, wie ambitioniert einige Eltern sind, ihrem Spröss-ling größtmögliche Individualität einzuhauchen. Egal ob mit oder ohne Bindestrich, ein- oder mehr-sprachig: Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Inspiration für werdende Eltern bietet dankens-werterweise der »Chantalizer« einer Website, der per Mausklick zufällig einen Namen kreiert. Wa-

gen wir einen Versuch. Das Ergebnis: Cheyenne Justine Seraphina. Dass ein gleichnamiges Baby gerade das Licht der Welt erblickt, ist leider nicht auszuschließen.

Ein Name ist aber mehr als nur ein Name. Das bestätigt auch eine Studie der Universität Olden-burg  –  zum Nachteil aller Mandys und Justins. Demnach werden ihre Leistungen von Lehrkräf-ten negativer wahrgenommen als die ihrer Mit-schüler Maximilian oder Sophie.

Wer seinem Nachwuchs also einen Gefallen tun möchte, orientiert sich besser nicht an Sänge-rin Gwen Stefanie, die ihre Tochter »Zuma Nesta Rock« nannte oder Fußballstar David Beckham, der seine kleine »Harper Seven« im Kinderwagen durch die Hollywood Hills schiebt.

chantal hat'S nicht Einfach

KevinJasmin

chantalBarbie Pe

ache

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lanzelotte

ashley

cheyenne-Jaqueline

frederik-Pasquale

Enola-angelina

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donatus

desideria

Etienne-roché

trav

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axto

n

tamia-Blue

tyron-MaddoxJoy virginia-leonie

chanel-viviana

Sari

Bronko

randy

Phönix

alvarorowena devin

dustin

finwick

feline chanaya

Piéric

Justine

Joleen

Mailin

Sind

ycélandine

Kimberley-Michelle

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Jill-l

eean

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Sam

enta

Knox

Boy

iron

text: irina Blesch | layout & illustration: luca leicht

4 NOIR Nr. 25 (Apri l 2012)

titElthEMa

»

5NOIR Nr. 25 (Apri l 2012)

titElthEMa

E s gibt in der Bundesrepublik einen fast uni-versalen Konsens darüber, dass Eltern in erster Linie mit ihren Kindern über Kon-

flikte sprechen und sie nicht schlagen sollten«, sagte der Hamburger Soziologe Karl-Heinz Reu-band schon 1997. Und trotzdem treffen provokative TV-Formate noch heute auf ein breites Publikum. Sie zeigen Gewalt innerhalb der Familie, wie bei »Die Super-Nanny«. Was hat sich also geändert in unseren Familien? Was wollen Eltern heute anders machen als noch vor 50 Jahren? Welche Erwartun-gen werden an die Institution Familie gestellt?

Ältere Generationen blicken heute gerne nos-talgisch verklärt auf ihre eigene Erziehung zu-rück. Die Soziologie bestätigt nüchtern: Es hat ein Wertewandel stattgefunden. Wo früher Gehor-sam, Ehrlichkeit und Sitte im Vordergrund stan-den, begreifen sich Eltern heute mehr als Begleiter der Persönlichkeitsentwicklung auf dem Weg zur Selbstständigkeit.

Doch die Achtung des individuellen Charakters verträgt sich nicht mit Prügelstrafen und Essens-entzug. Was sind also moderne Erziehungsmetho-den? Was tun, wenn das Zusammenleben doch aus dem Ruder läuft?

Daniela Stadler arbeitet als Heilpädagogin. Sie erlebt die Probleme vieler Familien. Erziehungs-ratgeber seien mit schuld, wenn viele Eltern unsi-cher sind, glaubt Stadler. Die Therapeutin ist sich

sicher: »Eine normale Frau hat eine normale Mut-terausstattung.« Das heißt, sie ist auch ohne Katja Saalfrank und rosafarbene Bücher in der Lage, ihr Kind zu erziehen. Doch unsere Gesellschaft baue einen Leistungsdruck gegenüber jungen Familien auf. Jeder Zweite fühle sich als Hobbypsychologe. Oft steht schon vor der Geburt eines Kindes fest, auf welches der drei Gymnasien in der Stadt es ge-hen soll.

Daniela Stadler glaubt sogar, dass ein Kind in der modernen Familie oft nur als Projektionsfläche der Elternträume dient. Eine Frau wollte als Mäd-chen Ballett tanzen und zwingt nun ihre Tochter drei Mal in der Woche ins Training.

»Eine Mutter muss geben, nicht nehmen,« sagt Stadler. Frauen seien heute oft zu unreif, um ein Kind zu erziehen. Das Wohl des Kindes sei zwar meist das Ziel, aber junge Eltern seien verwirrt von der Fülle an Informationen und Anforderun-gen.

Stadler beschreibt zwei große Trends unserer Zeit: Vernachlässigung einerseits, weil die Eltern zu sehr mit sich beschäftigt sind – Überbehütung andererseits, in der es dem Kind nicht möglich ist, selbstständig zu handeln und eigene Interessen zu entwickeln. Noch vor wenigen Jahrzehnten war es völlig selbstverständlich, dass ein Kind frei war, Dinge auszuprobieren, um so seine Grenzen zu tes-ten. Wurden diese überschritten, gab es eben

text: Judith daniel | fotos: felix Krummlauf | layout: tobias fischer

vErnachläSSiGt und üBErBEhütEt.

Die Familie wandelt sich. Das war schon immer so. Doch heute gibt es Erziehungskurse im TV, überforderte Eltern und überarbeitete

Psychologen. Eine Entwicklung, die nichts Gutes verheißt.

NOIR Nr. 26 ( Juni 2012)6

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Ärger. Nur so könne ein Mensch ler-nen, was richtig oder falsch ist – und so auch nach und nach zu hinterfra-gen lernen, um seine eigenen Maß-stäbe zu finden.

Heute jedoch kann diese Grenz-übertretung – und damit Grenzer-fahrung – oft nicht mehr stattfinden, da Kindheit zu einem durchorgani-sierten Projekt wurde. Viele Kinder kommen heute von der Schule zum Mittagessen, in die Hausaufgabenbetreuung, da-nach zum Musikunterricht oder Sportverein. Freie Nachmittage sind oft mit Nachhilfe belegt.

Ein Kind kann so keine eigene Persönlichkeit entwickeln. Wenn die Eltern alles vorbestimmen, wird es viel mehr dazu gezwungen, ihre Fehler zu wiederholen. Was ist also passiert in einer Familie, wie sie bei der Super-Nanny zu sehen ist? Stadler sagt hierzu ganz deutlich: »Die Super-Nanny ist gestellt. Doch diese Geschichten gibt es.« Kinder werden zu Symptomträgern. Sie spiegeln die Be-ziehung der Eltern wider, deren Selbstverständnis und Frustrationen.

Was ist zu tun, wenn das Familienleben aus dem Ruder läuft? »Scheinbar kleine Schritte bedeuten für die Familie große Schritte, die wir gemeinsam wertschätzen und die sich auch nicht nach Jah-ren, sondern innerhalb kurzer Zeit einstellen«, lautet die Einschätzung der berüchtigten Fernseh-Pädagogin Katja Saalfrank. Doch auch eine Mut-ter war mal Tochter. Erziehung ist abhängig von unterbewusstem Wiederholen der eigenen Erzie-hung  –  wieder der Vorwurf der Unreife. Stadler beobachtet, dass moderne Eltern nicht reflektieren, sondern kopieren. Das Abkupfern von Erziehungs-stilen, wie die Super-Nanny es vorlebt, ist einfach und bequem. Bei einer Reflexion stößt man unter Umständen auf dunkle Seiten der eigenen Persön-lichkeit. Das macht keinen Spaß. Und es dauert.

Was aber tun, wenn das Kind mit 12 Jahren raucht und klaut? Wer soll therapiert werden? Die sozialpädagogische Familienhilfe setzt hier kei-nen Fokus. Wichtig ist aber: Ein Kind aus einer Fa-milie herauszureißen, um es separat zu erziehen, ist beinahe unmöglich. Der Einfluss von Eltern auf ihr Kind sei viel stärker, als dass eine Jugendhilfe ihn ersetzen könnte, so Stadler. Erst bei Jugendli-chen können die Eltern außen vor gelassen wer-den. Sie haben in dem Alter sowieso an Bedeutung verloren.

Also müsste eine Katja Saalfrank, die direkt mit der ganzen Familie arbeitet, doch alles rich-tig machen, oder? Was sind die Vorwürfe der Kinderschutzbünde und Pädagogen? Über »ent-würdigende Zurschaustellung von Kindern vor laufender Kamera« empörte sich der Deutsche Kinderschutzbund. Ein Vierjähriger sagte in der Folge vom 14. September 2011: »Mama darf nicht mehr hauen. Es tut so weh.« Die Schläge wurden mehrmals gezeigt, entsprechende Videos sind auf Ewigkeiten im Netz zu finden. Doch Saalfrank verteidigt dies: »Mir geht es eher darum, Themen aufzugreifen, die im Verborgenen stattfinden und oft tabuisiert sind. Wie zum Beispiel Gewalt in der Familie. Ich will vor allem die Folgen für Kinder aufzeigen. Grundsätzlich finde ich, dass es viel zu viele Tabuthemen in der Familie gibt.« Doch be-steht hier ein Missverständnis. Natürlich sind Ta-bus in unserer Gesellschaft zu recht verpönt. Doch »persönliche Tabuthemen haben immer auch ei-nen Sinn«, meint Daniela Stadler. »Ein Problem, das verschwiegen wird, ist wie ein gärender Saft in einem dicht verschlossenen Fass. Natürlich will der da raus. Aber das muss mit Gefühl und nach und nach geschehen, sonst geht das Ganze in die Luft.«

Ein Tabu ist immer ein sehr verletzlicher, inti-mer Bereich eines Menschen. Wird dieser zu grob behandelt, wie es in der Medienöffentlichkeit der Fall ist, kann das den Zerfall einer Familie bedeu-ten. Kinder sind sensible Wesen, da sind sich Da-niela Stadler und Katja Saalfrank einig. Wie der Umgang in einer Familie sich gestalten sollte, wird wohl auf ewig ein streitbares Thema bleiben. Trotz alledem: Junge Eltern, lasst euch nicht stressen!

7NOIR Nr. 26 ( Juni 2012)

»

titElthEMa

P flege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvör-derst ihnen obliegende Pflicht.« So steht es

im Grundgesetz. Wie Eltern ihre Kinder erziehen, bleibt ihnen selbst überlassen..

Geht es um Erziehungsstile, unterscheidet man zwischen drei Idealtypen: Der autoritäre, der lais-sez-faire und der liberale Stil. Typen, die der Lauf der Zeit hervorgebracht hat. Denn der gerade an-gesagte Erziehungsstil ist immer Spiegel der Ge-sellschaft. Während des Kaiserreichs dominierte der autoritäre Stil. Der Vater war Familienober-haupt, die Rollen in der Familie waren klassisch verteilt. Autoritäre Eltern dirigierten und kontrol-lierten ihren Nachwuchs, für ihn gab es Lob und Tadel. Musterbeispiel: Struwwelpeter. Sohn Kon-rad hält sich nicht an die Worte seiner Frau Mama. Finger ab! Philipp zappelt und wackelt. Der Vater erhebt drohend den Zeigefinger.

Irgendwann wurde die Peitsche gegen Zucker-brot getauscht. Und der Zappelphilipp hätte wohl eher auf der »stillen Treppe« verharren müssen, statt Prügel einzustecken. Ideen des antiautoritä-ren Stils – mit viel Toleranz, wenig Grenzen und Vorschriften. Im Extremfall lässt man die Kinder einfach machen: Haare schnippeln, Teddy eincremen und Tapeten abreißen. Die Kinder sollen sich frei entfalten, ohne dass die Eltern mit ihrer Erziehung die Entwicklung steuern. Der antiau-toritäre Stil war Resultat der Nach-kriegsgeneration. Die 68er-Revoluti-on machte Deutschland lebendiger, toleranter und offener. Die Proteste brachen auch die verkrusteten Fami-lienstrukturen auf. Mit langen Haa-ren und Flower-Power-Musik wollten die Eltern ihre Kinder antiautoritär erziehen.

Mit zucKErBrot und PEitSchEKaiserreich, 1968er und heute: Mit der Gesellschaft haben sich auch die Erziehungsstile geändert.

text: isabel Stettin | layout: luca leicht

Zwischen den beiden Extremen liegt der libe-rale oder demokratische Erziehungsstil  –  wohl der, dem die meisten Eltern heute folgen. Moderne Eltern möchten ihre Kinder nicht mehr als ihnen untergeordnete schwächere Glieder in der Hier-archie sehen, sondern als gleichberechtigte klei-ne Menschen auf Augenhöhe. Grenzen werden zwar aufgezeigt, andererseits aber Eigenverant-wortung gefordert. Die Eltern sind einsichtig und verständnisvoll, Entscheidungen werden gemein-sam getroffen. Sie wollen alles richtig machen, Er-ziehungsratgeber stapeln sich. Es wird gefördert und gefordert. Das Resultat: vom Geigenunter-richt erschlagene, vom dreisprachigen Kindergar-ten überforderte, am Ende gelangweilte Kinder, die nie gelernt haben, sich mit sich selbst und der Welt zu beschäftigen. Mit dem Wandel des klassi-schen Familienbildes hat sich auch die Erziehung stetig verändert. Mittlerweile lebt ein Großteil der Deutschen in zusammengewürfelten Patchwork-Verhältnissen, viele sind alleinerziehend.

Gewaltsame Methoden sind mittlerweile verbo-ten. Aber immerhin noch 40 Prozent der Mütter und Väter in Deutschland geben zu, ihren Kindern hin und wieder einen »Klaps auf den Po« zu geben. Bei zehn Prozent setzt es ab und an Ohrfeigen. Diese Ergebnisse brachte eine im März erschiene-ne Forsa-Umfrage der Zeitschrift »Eltern« hervor.

NOIR Nr. 26 ( Juni 2012)8

rEPortaGE

F amilie Marquart ist eine ganz normale Fa-milie. Die Eltern Uwe und Birgit leben mit ihren vier Kindern in einer idyllischen ba-

dischen Kleinstadt. Die zwei Töchter machen ge-rade ihr Abitur, der eine Sohn Johannes besucht die neunte Klasse der Realschule. Und dann wäre da noch Josia. Er ist der jüngste Sohn der Familie. Der Zehnjährige spielt für sein Leben gerne Fuß-ball, sein Idol ist Manuel Neuer. Josia ist mit dem Down-Syndrom geboren.

Das Down-Syndrom, auch Trisomie 21 genannt, ist eine Genmutation, bei der das 21. Chromo-som dreifach vorkommt. Dieses Extrachromosom wirkt sich unterschiedlich auf die Betroffenen aus: Die Behinderungen reichen von leichter kogniti-ver Einschränkung bis hin zu starker geistiger Behinderung. Häufige Symptome sind auch Or-ganfehlbildungen, eingeschränkte Sensorik und Sprachbildung sowie eine schlechte Sehstärke.

Josia ist schwach eingeschränkt, sein Leben un-terscheidet sich nicht allzu sehr von dem anderer Kinder. Er besucht die dritte Klasse der Grundschu-le, spielt im Fußballverein und hat viele Freunde. »Ich habe seine Behinderung nie als anormal oder negativ erlebt«, sagt Josias Schwester Judith. »Erst als ich älter wurde, habe ich gemerkt, dass unsere Familie ein wenig anders ist als andere.

Trotz Josias guter Entwicklung braucht er na-türlich besondere Pflege, zum Beispiel tägliche Muskelübungen und halbjährliche Kuren. »Das fanden wir aber nicht schlimm – wenn unsere El-tern mit Josia in Kur waren, hatten wir sturmfrei«, sagt Judith.

»Josia hat genauso Rechte und Pflichten wie die anderen Kinder«, sagt seine Mutter Birgit. »Er räumt die Spülmaschine aus und deckt auch den Tisch.« Eine Sonderbehandlung führt bei vielen Menschen mit Behinderung zu einer Sonderstel-

Ein lEBEn Mit dEM SonnEnSchEin

Im Gewöhnlichen liegt das Wunder: Josia wurde als Kind mit Down-Syndrom geboren. Doch seine Familie schenkt ihm ein Leben, das möglichst normal ist.

lung in der Gesellschaft. Das wollen seine Eltern nicht. So besuchte Josia einen ganz normalen Kin-dergarten in seinem Heimatort und besucht nun eine integrative Grundschule. »Eine Sonderschule wäre nicht der richtige Platz für ihn«, sagt Birgit Marquart. Ihrer Meinung nach ist Integration und Verständnis alles. »Das gemeinsame Lernen und Leben ist das Wichtigste für Kinder mit Down-Syndrom.« Weil Josia mit so vielen Menschen ohne Behinderung Umgang hat, kennt er keine Berüh-rungsängste. Viele anderen Down-Syndrom-Kin-der, die nur Sondereinrichtungen besuchen, haben den Umgang mit gesunden Kindern nie richtig gelernt und scheuen den sozialen Kontakt. Nicht so Josia.

Seltsame Kommentare hat sich Familie Mar-quart über Josia selten anhören müssen. Ihr Um-feld ist sehr verständnisvoll und hat die Entschei-dung der Eltern, ihr Kind nicht abzutreiben, nie in Frage gestellt. »Es ist so bewegend, weil er nicht weiß, wie besonders seine Situation ist«, sagt Bir-git Marquart. Denn ein Kind mit Down-Syndrom aufzuziehen, wird von der Gesellschaft oft ver-pönt. »Mein Doktor hat mich sogar zu Hause ange-rufen und versucht, mich von einer Abtreibung zu überzeugen.« Doch ein Leben ohne Josia kann sich die ganze Familie heute nicht mehr vorstellen. »Er ist unser Sonnenschein.«

text: corinna vetter | layout: luca leicht

9NOIR Nr. 26 ( Juni 2012)

titElthEMa

leonie (li.), 20: Für mich sind meine WG-Mitbewohnerinnen meine Familie. Sie

machen den Alltag einfacher und lustiger. Ungefähr jedes dritte Wochenende fahre

ich nach Hause.

alisa (re.), 18: Ich wohne alleine und bin froh darüber. Trotzdem bedeutet meine

Familie für mich Unterstützung und Zusammenhalt.

Steffi, 29: Meine Familie bedeutet mir viel. Ich möch-te später selbst eine Familie gründen, wegen der Karriere ist die aber noch nicht in Planung.

Sascha (re.), 24: Familie ist für mich meistens nur nervig. Ich verbinde nicht viel

damit. Freundschaften sind mir viel wichtiger!

MaMa, PaPa und du

Das Kinderzimmer steht leer und verlassen … Braucht man Familie überhaupt noch, wenn man auf eigenen Beinen steht, selbst Bierkästen tragen kann und staubsaugen? NOIR-Autorin Leonie Müller hat sich in Stuttgart umgehört.

fotos: alexander Schmitz | layout: tobias fischer

Mariann, 22: Mir ist die Familie sehr wichtig. Meiner Meinung nach ist

das Familienleben die Basis für alle anderen Beziehungen.

daniel (li.), 20 und Marius (re.), 21: Wir wohnen beide seit fast zwei Jahren nicht mehr zu Hause, durch Telefon und Skype halten wir aber den Kontakt. Alle paar Wochen vor Ort vorbeizuschauen, ist auch immer mal wieder schön.

NOIR Nr. 26 ( Juni 2012)10

»

KoMMEntar

I ch wohne noch bei Mutti!«, die-sen Spruch findet

man auf T-Shirts, Tas-sen und sogar Socken. Was wie ein Vorwurf klingt, hat durchaus Vorteile. Dabei geht es nicht um Bemutterung durch die Eltern, son-dern auch um finanzi-elle Hilfe. Denn die Er-wartungen der Jüngeren steigen: Sie wollen möglichst schnell ein Auto, ein Studium und am besten noch ein Auslandssemester in Australien oder Kanada. Dafür tun wollen sie nichts. Nebenher arbeiten schon gar nicht. Wer länger zu Hause wohnt und in der Nähe studiert, spart Geld für später und kann sich besser auf sein Studium konzentrieren. Wer eine Ausbildung macht und nur wenig Geld zur Verfügung hat, ist meistens auf seine Eltern angewiesen. Warum dann nicht gleich noch eine Weile daheim wohnen? Familie bedeutet gleichzeitig auch Kraft und Unter-stützung. Und wer ein harmonisches Familienleben hat, muss wohl eher vertrieben werden, als dass er frei-willig auszieht.

layout: tobias fischer und luca leicht

text: Elisabeth adeyanju omonga text: Melanie Michalski

an MuttErS rocKziPfEl

Contra: auSziEhEn, nEin, danKE!

E ndlich das ma-chen, was man will. Unabhän-

gig und frei, raus von zu Haus. Wer träumt nicht davon? Die eige-nen vier Wände sind nicht nur ein Zeichen von Unabhängigkeit, sie symbolisieren auch einen neuen Lebens-abschnitt. Schluss mit

Hotel Mama! Selbstständigkeit, Verantwortungsbewusstsein und eine gewisse Belastbarkeit für die kommenden finanziellen Nöte wer-den jetzt auf die Probe gestellt. Der schnellste Weg zum Erwachsenwer-den ist auszuziehen und die Welt auf eigene Faust zu bestreiten. Und das am besten weit weg von Mama und Papa. Jetzt ist Kochen angesagt, Put-zen, Einkaufen und für die nächs-te Prüfung Lernen. Anfangs ist es schwer, aber mit der Zeit entwickelt man Strategien, mit Problemen al-leine umzugehen. Früh auszuziehen stärkt das Selbstbewusstsein – Unsi-cherheit und Ängste schwinden. Mit 19 Jahren bin ich von Aachen nach Berlin gezogen und ich kann sagen: Ich habe vieles für mein Leben ge-lernt, nicht nur das Kochen.

Pro: SchluSS Mit hotEl MaMa!

11NOIR Nr. 26 ( Juni 2012)

titElthEMa

L ena und Lisa Haselmeyer* (beide 27) sind eineiige Zwil-linge. Sie haben die gleichen

Gesichtszüge und die gleichen Au-gen. Lena ist aber einige Zentimeter größer als Lisa. Und auch charakter-lich sind sie völlig verschieden: Lena ist ehrgeizig und ernsthaft. Lisa ist eine Frohnatur, die auch ohne Karri-ere glücklich ist. »Lena und ich wa-ren noch nie gleich«, sagt sie.

Eineiige Zwillinge haben gleiche Erbanlagen, aber diese Erbanlagen zeigen nicht bei beiden die gleiche Wirkung. Gleiche Gene sind keine Garantie für Gleichheit in Aussehen, Entwicklung und Charakter. Es gibt eine Menge an Einflüssen, die dazu führen, dass bestimmte Gene ein- und ausgeschaltet werden. Dass sich

unterschiedliche Gene aktivieren, ist auch bei ein-eiigen Zwillingen normal. Deshalb sind die meis-ten Zwillinge ungleicher, als uns manche Filme weismachen wollen.

Zwillinge sind nicht immer ein Herz und eine Seele. Das sei eine Erfindung der Medien, meint Meike Watzlawik. Die Psychologin ist Lehrbeauf-tragte an der TU Braunschweig und beschäftigt sich mit der Entwicklung von Identität und Bezie-hungen von Zwillingen: »Die Beziehung zwischen Zwillingen kann alle Bandbreiten annehmen, die es bei Geschwistern auch gibt.«

Auch bei Lena und Lisa fliegen oft die Fetzen: »Wir haben oft unterschiedliche Meinungen, egal ob es um Filme, Autos oder Geld geht.« Trotzdem können sie nicht ohne einander: »Von meinen an-deren Geschwistern höre ich manchmal drei Wo-chen nichts, das ist normal. Wenn ich aber Lena so lange nicht höre, frage ich mich, ob ich etwas Falsches gesagt habe.«

hanni GEGEn nanniGeschwister und gleichzeitig beste Freundinnen: Idyllische Ideen vom Zwillingdasein kennen wir alle. NOIR-Autorin Silke Brüggemann wollte wissen, wie es wirklich ist, im »Doppelpack« aufzuwachsen.

layout: luca leicht

* Die Namen wurden von der Redaktion geändert.

Psychologin Watzlawik kennt das: Bei Zwillingen ist die Bindung oft enger als zwischen anderen Ge-schwistern. »Das liegt daran, dass sie dasselbe Alter haben und da-durch vor allem in der Kindheit vie-les gleichzeitig erleben.«

Damit Zwillingskinder getrennt gefördert werden können, werden sie oft in unterschiedliche Klassen gesteckt. So war das auch bei Lisa und Lena. »Wir haben dann öfter die Rollen getauscht und Lehrer und Mitschüler reingelegt«, erzählt Lisa.

Das Trennen – das vermeintli-che Geheimrezept von Lehrern und Eltern  –  kann aber auch schädlich sein, sagt Psychologin Watzlawik. »Einige Zwillinge, die viel zusam-men machen, können von solch einer plötzlichen Trennung einen Schaden tragen«, weiß sie. Zwillinge seien sich auch ohne Trennung schnell be-wusst, dass sie eine eigene Identität haben – lange bevor sie in die Schule oder in den Kindergarten kommen.

Zwillingskinder haben den Vor-teil, dass sie sich selbst durch den anderen beobachten können. An-dererseits stehen sie unter einer besonderen Aufmerksamkeit. Lisa findet: »Es ist lustig, ein Zwilling zu sein. Besonders, wenn du wildfrem-de Leute triffst, die glauben, dich zu kennen.«

NOIR Nr. 26 ( Juni 2012)12

titElthEMa

layout: tobias fischer

zWiSchEn zWEi faMiliEn

Miriam Conrad ist vor 23 Jahren in Indien geboren. Im Alter von einem Jahr wurde sie von einer deutschen Familie adoptiert. Im Interview mit NOIR-Autorin Iris Schmutz erzählt sie von ihrem Leben im Schwabenland und ihren indischen Wurzeln.

W arum haben sich deine Eltern für eine Adoption entschieden?Wir haben gute Bekannte, die auch

ein Kind adoptiert haben und im Gespräch mit ih-nen sind meine Eltern darauf aufmerksam gewor-den. Es war ein sehr langer Prozess, bis der ganze Papierkram erledigt war, ganze zwei Jahre. Man braucht Durchhaltevermögen und einen starken Willen für eine Adoption.

Wie kamst du dann von Indien nach Deutsch-land?

In Indien war ich im Kinderheim »Ashraya Children’s Home« untergebracht. Von dort hat mich eine Ärztin mit dem Flugzeug nach Deutsch-land gebracht. Ich war damals noch sehr jung und kann mich an diese Reise nicht mehr erinnern. Der Tag, an dem ich in Deutschland angekommen bin, war mein erster Geburtstag und die Adoption das beste Geschenk! Meine Mama hat mir erzählt, dass ich nach meiner Ankunft nur Reis gegessen habe und mich erst langsam an andere Nahrungs-mittel gewöhnen konnte.

Du warst zu jung, um die Adoption bewusst mit-zubekommen. Wie hast du schließlich davon er-fahren?

Sobald die Selbstwahrnehmung da ist, fällt ei-nem Kind auf, was anders an ihm ist. Bei mir ist

der Unterschied nicht zu übersehen: Meine Haut ist viel dunkler als die meiner Eltern. Trotzdem ist das Wort »adoptiert« als Kind ganz schön schwer auszusprechen! Natürlich hatten die anderen Kin-der auch die üblichen Vermutungen, zum Beispiel dass ich in einen Schokoladentopf gefallen sei. Ich bin froh, dass meine Eltern ehrlich zu mir waren. Das ist wichtig, damit eine Adoption glücklich verläuft. Ich kenne Adoptiveltern, die es ihren Kindern erst in einem gewissen Alter erzählt ha-ben. Das hat früher oder später immer zu Schwie-rigkeiten geführt.

Hast du dich jemals dafür interessiert, deine leib-liche Familie kennenzulernen?

Als Kind habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Mit 16 habe ich dann öfter überlegt, ob ich meiner leiblichen Mutter wohl ähnlich sehe und mit 18 dann Kontakt mit der Ärztin aufge-nommen, die mich nach Deutschland gebracht hat. Sie meinte, dass meine leibliche Mutter gehei-ratet hätte und der neue Mann nichts von mir wis-se. In Indien könnte sie verstoßen werden, wenn sie mich treffen würde. Ich war zwar traurig, aber dadurch konnte ich die Sache auch abschließen. Ich habe ja hier meine richtige Familie. Ich spre-che Schwäbisch wie alle hier und ich liebe Spätzle.

Gibt es etwas in deinem heutigen Leben, das dich an deine Ursprünge erinnert?

Manchmal gibt es Momente, wenn ich asiati-sche Gewürze rieche, in denen ich ein komisches Gefühl im Bauch merke. Das könnte ein Über-bleibsel meiner Wurzeln sein. Außerdem haben meine Eltern mir meinen indischen Namen von meiner leiblichen Mutter als Zweitnamen gegeben. Sunanda bedeutet »die strahlende Sonne«.

13NOIR Nr. 25 (Apri l 2012)

KoluMnE

text: anika Pfisterer | layout: tobias fischer

fahrrad- und luftSchlöSSEr

Prüfungsphase. Der Kurs der Währung Zeit schwebt über den Dächern der Börse. Eine Minute im Wert zu einem heiligen Gral. Ich muss meine Luxus-Sekunden sparen – und zwar beim Fahrradabschließen!

M ein Fahrradschloss hat es nicht anders gewollt. Es steht stur auf dem Uni-

platz und bockt beim Aufschließen. Ich muss Gewalt anwenden  –  bis zum Dominoday: Ein Fahrrad nach dem anderen stößt sich um mich scheppernd die Knie auf, bleibt ver-wundet liegen und entblößt den Su-perhelden in der Mitte. Für solche Blamagen bin ich nicht Student. Vor allem habe ich dafür keine Zeit.

Seit ich nicht mehr abschließe, bin ich ein freier Mensch. Eine Brise Gandhi weht, wenn ich vom Sattel oder Thron – unklar – gleite, mei-nem Fahrrad seine tägliche Freiheit schenke und der Welt mein Ja-Wort. Pastellfarbene Blumen sprießen gen Himmel, wo ein Engelschor tiriliert: »Gepriesen seist du, Drahtesel!« Die Fahrräder und Herzen um mich wer-den eingesperrt in Käfige des Miss-trauens, graue Männer stehen dane-ben und rauchen die Zeit.

Warum die Sicherheit auf die Nachkommastelle reglementieren, solange die Nullkommanix-Ver-schwörung herrscht – über ein Volk weißer Schafe! Die paar schwarzen Schafe haben kein Interesse an Ge-brauchträdern mit Rost am Lenker. »Irgendwann klaut es dir einer!«, tönt die Urban Legend seit Monaten. Ob-acht, ihr Schwarzmaler! Der nächste verschwindet mitsamt Fahrrad, da-mit er einsieht: Viel wahrscheinli-cher als ein Fahrraddiebstahl ist ein in den Gulli fallender Schlüssel oder ein Schloss, das an den Nussspuren in der Schokolade erstickt.

Wenn ich meinen Ledersattel in der weidenden Fahrradherde aufblit-zen sehe, rauschen die Endorphine. Ich bin die freudig wartende Mama an der Kita-Pforte. Ein Schloss degra-diert Fahrräder zu einer Selbstver-ständlichkeit: Das Fahrrad ein Ich-Bin-Das-Ich-Bin-Da. Aber Fahrräder leben nicht von Klau-Blockaden son-dern von Liebe. Seit ich meinem Fahrrad Freiraum lasse, blüht unsere

Beziehung wie ein Himbeerstrauch. Apropos Himbeerstrauch und Grün-zeug: Wer so besitzergreifend in den Wald ruft: »Mein Fahrrad!«, kriegt schlechtes Karma mit Computervi-rus, Casting-Misserfolg und Pipapo. Dann tönt der innere Kritiker: Leben verplempert mit Schlüssel-Ertasten in den Abgründen der Tasche oder Seele  –  unklar  –, mit Niederknien auf schmutzigem Boden, mit Wirbel-säule sinusförmig Biegen zwischen Massen von Fahrrädern, verplem-pert mit der falschen Schlüsselwahl, weil man der Intuition der Finger glaubte, verschwendet in 180 Grad-Drehbewegungen der rechten Hand. Mit der Zeit gehaushaltet wie Gott in Frankreich, gelebt wie Sisyphos und sein Stein!

An dem Tag, an dem ich meinem Fahrrad- und Luftschloss Lebewohl sagte, kaufte ich eine mechanische Uhr und konvertierte. Ich ziehe sie einmal am Tag auf für mehr als 24 Stunden Laufzeit. Nix ins Leere ver-pufft oder Keller-Aktienkurs. Es gibt ein Leben ohne Fahrradschloss!

14 NOIR Nr. 25 (Apri l 2012)

lESErBriEfE

C laudia Schiffer kniet in ei-nem holzvertäfelten Raum verspielt auf einem schwar-

zen Cord-Sofa. Rote High Heels an den Füßen, als Oberteil ein langes weißes Top, zwischen ihren Armen ein weißer Stoff-Teddy-Bär – sie knabbert an seinem Ohr. Ellen von Unwerth inszeniert ihre Models au-ßergewöhnlich, in einer Mischung aus Mode und Fetisch.

1954 in Frankfurt am Main ge-boren, wächst Ellen von Unwerth im Allgäu in einem Waisenhaus auf, später bei Pflegeeltern. Mit 16 Jahren zieht sie mit ihrem damali-gen Freund in eine Kommune nach München. Damals arbeitete sie als Clown-Assistentin und Nummern-Girl im Zirkus Roncalli. Heute noch erinnern die Fantasiewelten, die sie in ihren Fotos inszeniert an ein Zir-kusvolk – eine autobiografische Seite ihres Werkes.

Ellen von Unwerths Aufnahmen erinnern an ihr Vorbild Helmut Newton, von dem sie selbst als Mo-del fotografiert wurde. Durch ihre eigene Erfahrung vor der Kamera weiß sie, wie man Models fotogra-fiert. Ihre Fotografien erschienen in großen Magazinen wie Elle, Vogue und dem Stern. Heute lebt sie mit ih-rer Tochter in Paris.

Angefangen hat Ellen von Un-werth auf der anderen Seite der Ka-mera. Eine Kosmetikfirma spricht sie auf der Straße an und leitet damit ihre Modelkarriere ein. Zehn Jahre ist sie erfolgreich. Durch ihre Bezie-hung zu einem Fotografen kommt sie zur Fotografie. Während eines Fotoshootings 1986 in Kenia fotogra-fiert sie die Bewohner eines Dorfes. Ihre Fotos werden in einem franzö-sischen Modemagazin veröffentlicht. Drei Jahre später fotografiert sie die noch unbekannte Claudia Schiffer für die französische Ausgabe der Zeitschrift Elle. Mit ihrem Shooting für Guess Jeans machte sie Schiffer bekannt. Neben Supermodels hat sie auch Musiker und Schauspieler wie Madonna, Britney Spears oder Eva Green vor der Linse. Ihren Blick für Ästhetik setzt Unwerth auch als Re-gisseurin für Kurzfilme und Musik-videos ein.

MärchEn trifft zirKuSSie wechselte die Seiten. Anfangs als Top-Model vor der Kamera wurde sie innerhalb kurzer Zeit zu einer der angesagtesten und originellsten deutschen Modefotografinnen: Ellen von Unwerth. Vor ihrer Kamera hatte sie Supermodels wie Kate Moss, Naomi Campbell und Eva Herzigová. Sie gilt als Entdeckerin von Claudia Schiffer.

text: alexander Schmitz | layout: luca leicht

Inzwischen er-schien Ellen von Unwerths Buch »Fräulein« im Taschen Verlag. Es zeigt ihre Aufnahmen aus den letzten 15 Jahren – romantisch-kitischig in einer märchenhaften Fantasiewelt.

15NOIR Nr. 26 ( Juni 2012)

WiSSEn

text: felix Groell | layout: luca leicht

D ie Großraumdiskotheken deutscher Millionenstäd-te und Partymeilen wie

die Hamburger Reeperbahn oder die Stuttgarter Theodor-Heuss-Straße sind jedes Wochenende nachts Treffpunkt Tausender Ju-gendlicher und junger Erwachse-ner, die schick mit High Heels und Ed-Hardy-Hemd in den Clubs und Bars feiern gehen. Etlichen jungen Erwachsenen graut es vor diesen Meilen, vor den Ed-Hardy-Trägern und vor David Guetta. Sie fühlen sich davon nicht angesprochen. Doch auch sie wollen feiern. »Man-che Leute sind schon in der Schule irgendwie anders. Ich finde, man sollte sie ermuti-gen, ihr Anderssein zu leben. Ich meine jetzt keine Crash-Kids oder Drogenabhängige, sondern Leu-te, die eine andere Vorstellung von Gesellschaft haben und auch andere Vorstellungen davon, wie man auf einer Party feiert«, erzählt Lars Lewerenz im Gespräch mit NOIR. Der 34-Jährige hat mit der Gründung seines Labels »Audiolith« 2003 in Ham-burg keinen neuen Akteur der Musik industrie geschaffen, sondern einfach einen neuen Ansatz: Jugendliche, die Partys in glitzernden Großstadt-clubs oder 99-Cent-Dorfdiskotheken anwidern, sollen sich zusammenfinden – und feiern. Partys und Konzerte ohne Dresscode und mit anderer Musik: Diese Nische füllen nun Partyreihen wie »Stuttgart Kaputtraven« oder das »Audiolith Ma-ximum« in Hamburg. Dort treten Bands und DJs auf wie »aUtOdiDakT« oder Egotronic, die Kult-status in der Szene elektronischer Punkbands ha-ben. Seit mehr als zehn Jahren tourt »Egotronic«-Gründer und Sänger Torsun von Berlin-Kreuzberg

durch das Land – mit Songs wie »Raven gegen Deutschland«. Wie alle andere Künstler des Labels »Audiolith« kommt auch Torsun ehemals aus der Deutschpunk- und Metalszene, bis er durch neue elektronische Möglichkeiten die Musikproduktion für sich entdeckte.

»Audiolith« ist, was so viele Punklabels früher gewesen sind: Punk mit anderen, mit neueren Mit-teln«, erklärt Torsun. Das bedeutet harte elektro-nische Bässe mit computerproduzierten C64- oder auch 8-Bit-Sounds. Antifaschismus, Solidarität und Gesellschaftskritik – für »Audiolith« sind das nicht nur Themen. Es sind die Grundsätze des Labels. Diskussionen unter jungen Erwachsenen anzustoßen, Menschen zum Handeln und für das Außergewöhnliche zu ermutigen  –  das seien die übergeordneten Ziele, erklärt Lars Lewerenz.

Ganz gleich ob in Stuttgart, Hamburg, Leipzig oder Köln: Überall hat sich aus der Symbiose zwi-schen Party, Punk und politischer Haltung eine eigene Jugendkultur entwickelt.

aufErStandEn auS dEM PunKFür 99-Cent-Partys haben sie kein Verständnis. In Stuttgart haben sich vie-le Jugendliche von diesen Partys losgesagt und eine eigene Kultur geschaf-fen, in der es um mehr geht als um Spaß und Alkohol.

16 NOIR Nr. 25 (Apri l 2012)

QuErBEEt

noir ist das junge Magazin der Jugendpresse Baden- Württemberg e.v. ausgabe 26  – Juni 2012

HerausgeberJugendpresse Baden-Württemberg e.v. fuchseckstraße 7 70188 Stuttgart

tel.: 0711 912570-50 www.jpbw.de fax: 0711 912570-51 [email protected]

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Titelbildertitel: felix Krummlauf; teaser-fotos, v.l.n.r: felix clasbrummel / jugendfotos.de, florian Penke / ju-gendfotos.de, Paul Prasser / jugendfotos.de

Bildnachweise (sofern nicht auf der entspr. Seite vermerkt)

S. 1 (oben): gute / sxc.hu; S. 1 (unten): Privat (3x); S. 2 »zwillinge«: Stefan Beger / pixelio.de; »hotel Mama«: Gerd altmann / carlsberg1988 / pixelio.de; »Kamera«: Josefin hardinger / jugendfotos.de; »familie«: felix Krummlauf; S. 7: MilkaMilch-schaum / photocase.com; S. 8: Privat; S. 10: Privat; S. 11: Matrjoschka / photocase.com; S. 12: Privat; S. 13: schwedenmädchen / photocase.com; S. 14: Ellen von unwerth / taschen verlag; S. 15: kikii-ii / photocase.com; S. 16: analice / photocase.com

noir kostet als Einzelheft 2,00 Euro, im abonne-ment 1,70 Euro pro ausgabe (8,50 Euro im Jahr, vorauszahlung, abo jederzeit kündbar). Bestellung unter der telefonnummer 0711 912570-50 oder per Mail an [email protected]. für Mitglieder der Jugendpresse BW ist das abonne-ment im Mitgliedsbeitrag enthalten.

iMPrESSuM

text: harriet hanekamp | layout: tobias fischer

PatchWorK-urlauB

M eine Familie, das sind Gisela  (62), Heinz  (65), Sabine  (39), Lena  (18), Fe-lix  (27), Ilse  (69), Alexander  (45), Ka-

rin  (43), Hester  (13), Harald  (11) und ich  –  Har-riet  (16). Wie andere Familien haben auch wir einen Geburtstagskalender an der Wand hängen. Der hat aber statt vier Spalten – Mama, Papa und zwei Kinder – elf. Wenn wir einen Ausflug ma-chen möchten, wird das geplant, als gingen wir auf Völkerwanderung. Wir sind eine echte Patch-workfamilie.

Das bedeutet vor allem eine große Herausforde-rung, wenn es ums Organisieren und Planen geht, zum Beispiel eines Urlaubs. Elf Menschen, darun-ter vier Jugendliche, die in verschiedenen Bundes-ländern leben und zur Schule gehen, sollen unter einen Hut gebracht werden. Wer hat wann Ferien? Wo wollen wir überhaupt hinfahren? Und wie sol-len wir da alle samt Sack und Pack hinkommen? Aber es funktioniert trotzdem.

Letzten Sommer waren wir gemeinsam auf Mallorca, dieses Jahr wollen wir nach Südfrank-

reich. Da wir so viele sind, reicht natürlich weder Zelt noch kleines Ferienhaus – wir brauchen eine Villa. Da müssen wir zwar immer noch Zimmer teilen, aber dafür ist es gemütlich und kuschelig. Das ist es auch schon auf der Hinfahrt: Zu dritt quetschen wir uns zehn Stunden auf die Rückbank im Auto; sonst würden wir gar nicht alle in die Autos passen. Chaotisch und kompliziert ist es ei-gentlich immer. Und mit Kompromissen müssen wir alle leben. Aber dafür wird es nie langweilig mit meiner elfköpfigen Familie.

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