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Skript Numerische Verfahren in der Geotechnik Daniel Aubram Sommersemester 2016 Version 13.07.2016 Fakultät VI Planen Bauen Umwelt Fachgebiet Grundbau und Bodenmechanik Prof. Dr.-Ing. Frank Rackwitz

Numerische Verfahren in der Geotechnik · Euler-Methoden, Runge-Kutta-Methode, Trapez-Methode, Newmark-beta-Methode), Methoden zur Lösung von RWP (z.B. Finite Elemente Methode, Finite

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Skript

Numerische Verfahren in der Geotechnik

Daniel Aubram

Sommersemester 2016 Version 13.07.2016

Fakultät VI Planen Bauen UmweltFachgebiet Grundbau und

BodenmechanikProf. Dr.-Ing. Frank Rackwitz

Kontaktdaten des Autors:

Dr.-Ing. Daniel AubramTechnische Universität BerlinFachgebiet Grundbau und BodenmechanikSekr. TIB1-B7, Gebäude TIB13BGustav-Meyer-Allee 2513355 BerlinE-Mail: [email protected]

Copyright c© 2016 Daniel Aubram. Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis iii

1 Einführung 11.1 Worum geht es? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Verfahren und Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

1.2.1 Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.2.2 Methoden für Randwertprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

1.3 Besonderheiten der Geotechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41.4 Literaturempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51.5 Schreibweisen und Konventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

2 Exkurs Kontinuumsmechanik 92.1 Allgemeine Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92.2 Mathematische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

2.2.1 Vektorräume und lineare Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . 112.2.2 Affine Punkträume und Koordinaten . . . . . . . . . . . . . . . 152.2.3 Tensoralgebra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172.2.4 Felder und Tensoranalysis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

2.3 Kinematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272.3.1 Bewegung eines Körpers im Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . 272.3.2 Verformung und Verzerrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

2.4 Bilanzgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302.4.1 Allgemeine Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302.4.2 Massenbilanz (Massenerhaltungssatz) . . . . . . . . . . . . . . . 312.4.3 Impulsbilanz und Spannungstensor . . . . . . . . . . . . . . . . 32

2.5 Konstitutive Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

3 Materialmodelle für Böden 353.1 Allgemeine Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

3.1.1 Modelle sind Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353.1.2 Modellannahmen für Boden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363.1.3 Spannungs- und Dehnungsinvarianten . . . . . . . . . . . . . . . 37

3.2 Elastische Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423.2.1 Lineare Elastizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423.2.2 Nichtlineare Elastizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

3.3 Elastisch-Plastische Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463.3.1 Modellkomponenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463.3.2 Fließ- und Bruchkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483.3.3 Herleitung des Steifigkeitstensors . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

4 Grundlagen der Finite Elemente Methode 554.1 Schwache Form des Anfangsrandwertproblems . . . . . . . . . . . . . . 55

4.1.1 Mechanisches Anfangsrandwertproblem . . . . . . . . . . . . . . 554.1.2 Schwache Formulierung (virtuelle Arbeit) . . . . . . . . . . . . . 56

4.2 Räumliche Diskretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584.2.1 Matrixschreibweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584.2.2 Finite Elemente Approximation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604.2.3 Semi-Diskrete Schwache Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624.2.4 Transformationsregeln und numerische Integration . . . . . . . . 634.2.5 Ebene und rotationssymmetrische Probleme . . . . . . . . . . . 64

4.3 Zeitliche Diskretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674.4 Lineare statische Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

4.4.1 Elementgleichungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684.4.2 Zusammenbau des Gesamtgleichungssystems . . . . . . . . . . . 68

5 Methoden für spezielle Probleme 715.1 Nichtlineare statische Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

5.1.1 Iteration des Gleichgewichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715.1.2 Newton-Raphson-Verfahren und Linearisierung . . . . . . . . . . 725.1.3 Liniensuchverfahren (Line Search) . . . . . . . . . . . . . . . . . 735.1.4 Integration elasto-plastischer Materialmodelle . . . . . . . . . . 74

5.2 Transiente Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 825.2.1 Implizite Zeitintegration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

Kapitel 1

Einführung

1.1 Worum geht es?

In der Geotechnik, insbesondere bei der Bemessung von Grundbauwerken, sucht mannach Antworten auf die üblichen Fragen an einen Bauingenieur:

1. Versagt das Bauwerk bzw. der Baugrund?

2. Wie groß sind die Verformungen?

3. Welche Risiken bzw. Auswirkungen gibt es?

Die Antwort auf die erste Frage ist verknüpft mit dem Nachweis im Grenzzustand derTragfähigkeit (Ultimate Limit State – ULS), die Antwort auf die zweite Frage hin-gegen mit dem Nachweis im Grenzzustand der Gebrauchstauglichkeit (ServiceabiltyLimit State – SLS) und die Antwort auf die dritte Frage definiert schließlich die An-forderungen bzw. die Geotechnische Kategorie (GK) des Bauvorhabens gemäß DINEN 1997-1 (Eurocode 7) und DIN 1054. Die Bemessung nach den beiden genanntenNormen und weiteren geotechnischen Bemessungsrichtlinien wird ausführlich in denGrundveranstaltungen des Bachelorstudiengangs Bauingenieurwesen (Grundbau undBodenmechanik I, II) an der TU Berlin behandelt.

Die allgemeine Antwort eines Akademikers auf die oben gestellten Fragen („Das kommtdarauf an.“) ist zwar auch hier richtig, aber nicht zielführend. Andererseits sind quali-tative Aussagen wie „Die Böschung ist standsicher.“ oder „Die Einbindetiefe der Wandist zu gering.“ oft nicht ausreichend und quantitative Aussagen schwierig („Wie ver-formt sich die Wand?“ oder „Wie groß ist die Setzung des Fundaments?“). Gerade fürletztere sind ein geeignetes Rechenverfahren und eine möglichst genaue Beschreibungdes Problems bzw. Prozesses erforderlich.

Gegenstand der Betrachtung sind physikalische Größen wie Spannung und Lagerungs-dichte, deren Werte generell vom Ort und auch von der betrachteten Zeit abhängen.Beispielsweise möchte man bei einem Streifenfundament auf einem Baugrund mit einerbindigen Bodenschicht wissen, wie groß die Setzung zu einem bestimmten Zeitpunkt aneinem bestimmten Ort ist. Präzise und allgemeiner gesprochen sucht man die Lösung

2 KAPITEL 1. EINFÜHRUNG

eines Anfangsrandwertproblems (ARWP). Ein ARWP stellt die mathematische Model-lierung eines speziellen physikalischen Problems bzw. Prozesses dar und ist gegebendurch:

• Eine Differentialgleichung oder ein System von Differentialgleichungen, welchesdas Verhalten der betrachteten orts- und zeitabhängigen Größen beschreibt.

• Anfangsbedingungen (AB) für die Größen.

• Randbedingungen (RB) für die Größen.

Liegen nur ortsabhängige Größen vor, so spricht man von einem Randwertproblem(RWP). Ein Anfangswertproblem (AWP) wird hingegen durch Größen beschrieben, dieausschließlich zeitabhängig sind. Im letztgenannten Fall sind die zugrunde liegendenGleichungen gewöhnliche Differentialgleichungen, anderenfalls im Allgemeinen partielleDifferentialgleichungen.

1.2 Verfahren und Methoden

1.2.1 Übersicht

Anfangsrandwertprobleme bzw. Randwert- oder Anfangswertprobleme können grund-sätzlich mit unterschiedlichen Verfahren gelöst werden.

Analytische Verfahren Geschlossene Lösung eines Problems. Differentialgleichung,Anfangs- und Randbedingungen werden überall und zu jedem Zeitpunkt exakterfüllt. Beispiele: Eindimensionale Konsolidierungstheorie (Zeitsetzungstheorie),Direkte Setzungsberechnung, Grundbruchtheorie. Nachteile: Nur für sehr spezi-elle Problemstellungen; für sehr viele praktische Probleme lassen sich keine ana-lytischen Lösungen finden.

Semi-analytische/-empirische Verfahren Kombination aus analytischen Verfah-ren und ergänzenden Daten von Feld-, Labor- und/oder Modellversuchen. Bei-spiele: Indirekte Setzungsberechnung; Formel für Sondierspitzenwiderstand. Nach-teile: Nur für sehr spezielle Problemstellungen; Datengrundlage entscheidend.

Numerische Verfahren Lösung eines Problems mittels Approximationsverfahren.Beispiele folgen später. Nachteile: Fehler der Approximation; Effizienz, Stabi-lität, Robustheit der implementierten Methoden; hohe Komplexität (Mechanik,Numerische Mathematik, Informatik, etc.).

Innerhalb der numerischen Verfahren gibt es Methoden für spezielle Aufgaben. Häu-fig erforderlich sind Methoden zur Lösung von AWP (z.B. explizite oder impliziteEuler-Methoden, Runge-Kutta-Methode, Trapez-Methode, Newmark-beta-Methode),Methoden zur Lösung von RWP (z.B. Finite Elemente Methode, Finite DifferenzenMethode, Randelementemethode, Diskrete Elemente Methode), sowie Methoden zurLösung nichtlinearer Gleichungen (z.B. Newton-Raphson-Methode, Line Search).

1.2. VERFAHREN UND METHODEN 3

1.2.2 Methoden für Randwertprobleme

Finite Elemente Methode

Das Grundprinzip der Finite Elemente Methode (engl.: finite element method, kurz:FEM) ist das sogenannte Variationsprinzip bzw. die „schwache“ Formulierung der be-trachteten Differentialgleichung. Hierbei wird die Differentialgleichung mit einer Test-funktion multipliziert, welche die Randbedingungen exakt erfüllt. Die schwache Fromerfüllt die DGL dann im integralen Mittel.

Das Berechnungsgebiet wird approximiert durch nicht-überlappende Elementargebie-te (Finite Elemente Netz), und die Verteilung einer Größe im Element wird approxi-miert durch die Werte an den Elementknoten und zugehörigen Interpolationsfunktionen(sog. Ansatz). Man spricht in diesem Zusammenhang von der räumlichen Diskretisie-rung des Problems. Liegt ein Anfangsrandwertproblem vor, so muss dieses auch zeitlichdiskretisiert werden. Ist das Problem außerdem nichtlinear, so ist eine Linearisierungerforderlich, bevor das resultierende lineare Gleichungssystem gelöst werden kann.

Der größte Vorteil der FEM ist ihre universelle Einsetzbarkeit. Sie findet heute einebreite Anwendung in nahezu allen Bereichen der Ingenieur- und Naturwissenschaften.In der Ingenieurpraxis ist die FEM als Standardwerkzeug anerkannt. Als ein Nach-teil wird gelegentlich erwähnt, dass die Finite Elemente Methode vergleichsweise re-chenintensiv ist. Für sehr komplexe Probleme im Bereich des Höchstleistungsrechnens(z.B. Wettervorhersagen) kommen daher auch heute noch Finite Differenzen Methodenzum Einsatz.

Finite Differenzen Methode

Bei der Finite Differenzen Methode (engl.: finite difference method, kurz: FDM) wer-den Ableitungen, d.h. Differentialquotienten, in den Differentialgleichungen durch be-stimmte Differenzenquotienten approximiert. Hierfür werden das Berechnungsgebietdurch ein strukturiertes Gitter diskretisiert und geeignete Randbedingungen an denGebietsrändern formuliert. Je nach gewähltem Differenzen-Schema (Ansatz) werdendie Werte einer Größe an benachbarten Gitterpunkten herangezogen, um die Diffe-renzenquotienten zu bilden. Das dadurch entstehende lineare Gleichungssystem wirdanschließend gelöst.

Finite Differenzen Methoden zeichnen sich durch ihre Anschaulichkeit und den geringenAufwand bei der numerischen Implementierung aus. Für komplizierte bzw. unregelmä-ßige Geometrien sind sie jedoch ungeeignet, weil diese im Allgemeinen nicht strukturiertsondern nur unstrukturiert vernetzt werden können (d.h. kein regelmäßiges Gitter).

Randelementemethode

Die Randelementemethode (engl.: boundary element method, kurz: BEM) wendet dasPrinzip von Trefftz an. Im Gegensatz zum Prinzip von Ritz, welches die Grundidee der

4 KAPITEL 1. EINFÜHRUNG

FEM verkörpert, werden nicht die Differentialgleichungen des Randwertproblems, son-dern die Randbedingungen approximiert. Zugleich muss eine möglichst einfache Funkti-on gewählt werden, die die DGL in dem Gebiet exakt erfüllt (sog. Fundamentallösung).Die räumliche Diskretisierung approximiert lediglich den Rand des Berechnungsgebiets(Randelementnetz) und die Verteilung einer Größe auf den Randelementen. Zur Lö-sung des Randwertproblems muss demzufolge eine Integralgleichung auf dem Randausgewertet werden.

Durch die Reduzierung des Problems um eine Raumdimension ist der Rechenaufwandgrundsätzlich geringer als bei Gebietsmethoden. Außerdem können Halbräume, d.h. un-endlich ausgedehnte Räume mit Rand, relativ leicht abgebildet werden, was insbesonde-re für dynamische Aufgabenstellungen in der Geotechnik ein entscheidender Vorteil ist.Wesentliche Nachteile der BEM sind ihre Beschränkung auf lineare Probleme sowie dasAuffinden einer geeigneten Funktion für die exakte Lösung der Differentialgleichung.

Diskrete Elemente Methode

Für Diskontinua wie z.B. granulares Material oder Fels mit Trennflächen bietet dieDiskrete Elemente Methode (engl.: discrete element method, kurz: DEM) eine alterna-tive Lösungsstrategie zu den oben beschriebenen Kontinuumsmethoden. Das Berech-nungsgebiet wird hierbei durch blockartige Elementargebiete approximiert (DiskreteElemente Gefüge). Die einzelnen diskreten Elemente interagieren über Kontaktbedin-gungen, und die rechnerische Analyse des Mehrkörpersystems liefert die Kontaktkräfteund Verschiebungen.

Die DEM zeichnet sich durch Anschaulichkeit und einfache Zusammenhänge und Glei-chungen aus. Demgegenüber stehen ein großer Rechenaufwand durch die notwendigeIteration des Gleichgewichts sowie die starke Vereinfachung der Elemente und Kon-taktbedingungen. Das Nachrechnen realer Problemstellungen mit spezifischen Boden-eigenschaften ist daher nur eingeschränkt möglich.

1.3 Besonderheiten der Geotechnik

• Hochgradig nichtlineares Materialverhalten

– Inelastisch (elastisch nur bei sehr kleinen Verformungen)

– Abhängig von Spannung, Lagerungsdichte, Belastungsgeschichte

– Dilatanz (Volumenänderung bei Scherverformung)

– Mehrphasensystem (Korngerüst – Wasser – Luft)

• Anfangszustand des Baugrunds muss berücksichtigt werden

– Effektiver Spannungszustand

– Lagerungsdichte

1.4. LITERATUREMPFEHLUNGEN 5

– Belastungsgeschichte (geologisch, anthropogen)

• Heterogene Bodenbeschaffenheit und -zustände

• Komplexe Bauzustände, Rand- und Kontaktbedingungen

• 2D-Modellierung realer Probleme oft unzureichend

• Berechnungsausschnitt (Halbraum)

• Lückenlose Erkundung nicht möglich (Probennahme)

• Anfangszustand schwer zu erfassen

– Auswirkungen geologischer Prozesse

– Auswirkungen von Bauabläufen / Herstellungsverfahren

1.4 Literaturempfehlungen

Anwendung numerischer Verfahren in der Geotechnik:

• P. A. vonWolffersdorff, H. F. Schweiger: Numerische Verfahren in der Geotechnik,Kap. 1.9 in K.-J. Witt (Hrsg.): Grundbau-Taschenbuch – Teil 1, 7. Auflage, Ernst& Sohn, Berlin, 2008

• Deutsche Gesellschaft für Geotechnik (DGGT): Empfehlungen des ArbeitskreisesNumerik in der Geotechnik – EANG, Ernst & Sohn, Berlin, 2014

Einführung in die Finite Elemente Methode und FEM Standardwerke:

• M. Merkel, A. Öchsner: Eindimensionale Finite Elemente – Ein Einstieg in dieMethode, Springer-Verlag Berlin Heidelberg, 2010

• P. Steinke: Finite-Elemente-Methode – Rechnergestützte Einführung, 5. Auflage,Springer-Verlag Berlin Heidelberg, 2015

• K. Knothe, H. Wessels: Finite Elemente – Eine Einführung für Ingenieure, 3. Auf-lage, Springer-Verlag Berlin Heidelberg, 1999

• O. C. Zienkiewicz, R. L. Taylor u.a.: The Finite Element Method, drei Bände, 7.Auflage, Butterworth-Heinemann, 2013

• K.-J. Bathe: Finite Element Procedures, Prentice Hall, New Jersey, 1996

• T. J. R. Hughes: The Finite Element Method – Linear Static and Dynamic FiniteElement Analysis, Prentice Hall, New Jersey, 1987

Nichtlineare FEM und Implementierung von Materialmodellen:

• T. Belytschko, W. K. Liu, D. Moran: Nonlinear Finite Elements for Continuaand Structures, John Wiley & Sons, 2000

6 KAPITEL 1. EINFÜHRUNG

• P. Wriggers: Nonlinear Finite Element Methods, Springer-Verlag Berlin Heidel-berg, 2008

• J. C. Simo, T. J. R. Hughes: Computational Inelasticity, Springer-Verlag Berlin,1998

FEM speziell für geotechnische Anwendungen:

• D. M. Potts, L. Zdravković: Finite Element Analysis in Geotechnical Engineering– Theory, Thomas Telford, London, 1999

• D. M. Potts, L. Zdravković: Finite Element Analysis in Geotechnical Engineering– Application, Thomas Telford, London, 2001

• O. C. Zienkiewicz, A. H. C. Chan u.a.: Computational Geomechanics with SpecialReference to Earthquake Engineering, John Wiley & Sons, Chichester, 1999

• R. W. Lewis, B. A. Schrefler: The Finite Element Method in the Static and Dy-namic Deformation and Consolidation of Porous Media, 2. Auflage, John Wiley& Sons, Chichester, 1998

Einführung in die Materialmodelle für Böden:

• D. Kolymbas, I. Herle: Stoffgesetze für Böden, Kap. 1.5 in K.-J. Witt (Hrsg.):Grundbau-Taschenbuch – Teil 1, 7. Auflage, Ernst & Sohn, Berlin, 2008

• D. M. Potts, L. Zdravković: Finite Element Analysis in Geotechnical Engineering– Theory, Thomas Telford, London, 1999

• O. C. Zienkiewicz, A. H. C. Chan u.a.: Computational Geomechanics with SpecialReference to Earthquake Engineering, John Wiley & Sons, Chichester, 1999

1.5 Schreibweisen und Konventionen

Zur Unterscheidung mathematischer Größen wird folgende Schreibweise vereinbart:

• a, α, . . ., d.h. Kleinbuchstaben kursiv mager, für Skalare und Koordinatenindizes

• O,P, . . ., d.h. Großbuchstaben kursiv mager, für Punkte und spezielle Operatoren

• v,α, . . ., d.h. Kleinbuchstaben kursiv fett, für Vektoren und Ortsvektoren

• A,Φ, . . ., d.h. Großbuchstaben kursiv fett, für Tensoren zweiter und höherer Stu-fe, lineare Abbildungen und Matrizen

• M,N , . . ., d.h. Großbuchstaben kalligrafisch, für Mengen und Vektorräume

• R,N, . . ., d.h. Großbuchstaben mit Doppelstrich, für Zahlenmengen

Dies ist eine allgemeine Regel, die nicht immer konsequent angewendet werden kann.Zum Beispiel wird der Spannungstensor mit σ bezeichnet, obwohl es sich dabei umeinen Tensor zweiter Stufe handelt. Meistens ergibt sich aus dem Kontext, welche

LITERATURVERZEICHNIS 7

Stufe der betrachtete Tensor hat. Zur Realisierung an der Tafel ersetzen wir außerdemFettdruck durch einen Unterstrich, d.h. A anstelle von A.

Bei Vektoren und Tensoren unterscheidet man zwischen verschiedenen Schreibweisenbzw. Darstellungen. Für Vektoren einesm-dimensionalen Vektorraums (entsprechendesgilt für Tensoren 2. und höherer Stufe) verwenden wir speziell die

• symbolische, direkte oder absolute Schreibweise: v ,

• indizistische oder Komponentenschreibweise: vi ,

• lokale oder hybride Schreibweise: v = v1e1 + . . .+ vmem ,

• Matrixschreibweise: vT = (v1, . . . , vm) .

Außer der symbolischen Schreibweise beziehen sich alle Schreibweisen auf eine gegebeneBasis e1, . . . , em

def= ei des zugrunde gelegten Vektorraums, die Matrixschreibweiseinsbesondere auf die orthonormierte Standardbasis.

Im vorliegenden Skript gilt die Einsteinsche Summenkonvention. Gemäß dieser Kon-vention wird innerhalb eines Terms über alle Werte doppelt auftretender Indizes sum-miert, wobei man das Summenzeichen zur Verbesserung der Lesbarkeit weglässt. Fürdie lokale Schreibweise eines Vektors gilt dann

v =m∑i=1

vieidef= viei . (1.5.1)

Falls nicht summiert werden soll, so wird darauf explizit hingewiesen.

Schließlich sei darauf hingewiesen, dass wir konsequent die Vorzeichenkonvention derallgemeinen Mechanik anwenden, d.h. Kompression (Volumenverringerung) und kom-pressive Spannung werden mit einem negativen Vorzeichen versehen. Dies steht imGegensatz zu der in der Bodenmechanik üblichen Vorzeichenkonvention. Unabhängigdavon besitzt Druck ein positives Vorzeichen immer wenn die zugeordenete Spannungkompressiv ist, anderenfalls ein negatives Vorzeichen.

LiteraturverzeichnisDIN 1054. Baugrund – Sicherheitsnachweise im Erd- und Grundbau. Beuth Verlag,Berlin, Dezember 2010. (zusammen mit Änderungen A1 und A2).

DIN EN 1997-1. Eurocode 7: Entwurf, Berechnung und Bemessung in der Geotechnik— Teil 1: Allgemeine Regeln. Beuth Verlag, Berlin, März 2014.

8 KAPITEL 1. EINFÜHRUNG

Kapitel 2

Exkurs Kontinuumsmechanik

2.1 Allgemeine Bemerkungen

Bei bodenmechanischen oder geotechnischen Problemstellungen muss man oft die räum-liche Verteilung der effektiven Spannung oder der Lagerungsdichte bzw. Porenzahlkennen. Als Beispiel sei die indirekte Setzungsberechnung genannt, bei der man denWert der Vertikalspannung (genauer: der vertikalen Spannungskomponente) in einerbestimmten Tiefe benötigt, um den passenden Steifemodul des Bodens aus einem Last-setzungsdiagramm abgreifen zu können. Die Gesamtheit einer Größe an allen Punktendes betrachteten Gebiets bezeichnet man in der Mathematik als Feld, und die Größeselbst heißt dann Feldgröße.

Der umgebende Raum und die materiellen Körper (Bodenschicht, Betonfundamentetc.), die sich in diesem befinden, werden als Kontinua aufgefasst. Ein Kontinuum istdabei eine Menge von Punkten bzw. Partikeln, die sich in jeder ihrer m Dimensionenbijektiv auf die Menge der reellen Zahlen, R, abbilden lässt. Für jedes Paar von Punk-ten können also immer Umgebungen dieser Punkte angegeben werden, die sich nichtüberschneiden, d.h. zwei Punkte eines Kontinuums sind niemals direkte Nachbarn. Diesunterscheidet Kontinua von diskreten Mengen bzw. Diskontinua. Außerdem kann je-der Punkt durch m reelle Zahlen, die Koordinaten des Punktes, eindeutig beschriebenwerden.

Die Betrachtung von Boden als Kontinuum mag auf den ersten Blick nicht einleuchten,besteht er doch aus einzelnen Körnern, Wasser und Luft (sog. Dreiphasensystem). Übli-cherweise ist man jedoch nicht an der mikroskopischen Verteilung einer Größe oder derBewegung eines Einzelkorns interessiert, sondern an gewissen Mittelwerten. Es genügtin diesem Fall, die drei Phasen als überlappende Makro-Kontinua zu betrachten undlediglich ihren jeweiligen Volumenanteil zusätzlich zu berücksichtigen. Nichts andereswird in der traditionellen Bodenmechanik gemacht. Beispielsweise ist die Massendichteeines wassergesättigten Bodens gegeben durch

ρr = (1− n)ρs + nρw , (2.1.1)

10 KAPITEL 2. EXKURS KONTINUUMSMECHANIK

wobei ρs die (gemittelte) Korndichte und ρw die Dichte des Wassers ist. Der Porenan-teil n entspricht bei voller Sättigung dem Volumenanteil des Wassers, und 1 − n istentsprechend der Feststoffanteil. Die Dichte des wassergesättigten Bodens, ρr, ist dahereine über ein repräsentatves Elementarvolumen gemittelte, makroskopische Größe. DieKontinuumsbetrachtung ist auch eine Voraussetzung dafür, dass man mit Spannungs-und Dehnungsfeldern operieren kann anstelle von Einzelkräften und Verschiebungenvon Körnern eines Korngefüges.

Unter den getroffenen Annahmen ist die Bodenmechanik ein Teilgebiet der Kontinu-umsmechanik. Die Kontinuumsmechanik beschäftigt sich mit der Bewegung und Ver-formung von deformierbaren Körpern als Reaktion auf äußere Belastungen. Sie ist eineFeldtheorie und erfordert als solche zunächst Klarheit über ein paar grundlegende ma-thematische Begriffe und Beziehungen, die wir im Abschnitt 2.2 weitestgehend ohneBeweise zusammentragen. Einiges dürfte aus den Grundveranstaltungen zur HöherenMathematik und Mechanik bereits bekannt sein.

Wir verweisen für das Selbststudium auf die Literatur, z.B.

• L. Papula: Mathematik für Ingenieure und Naturwissenschaftler Band 1, 14. Auf-lage, Springer Fachmedien Wiesbaden, 2014

• L. Papula: Mathematik für Ingenieure und Naturwissenschaftler Band 2, 14. Auf-lage, Springer Fachmedien Wiesbaden, 2015

• B. Huppert, W. Willems: Lineare Algebra, B. G. Teubner Verlag, Wiesbaden,2006

• D. Lau: Algebra und Diskrete Mathematik 1, 2. Auflage, Springer-Verlag BerlinHeidelberg, 2007

zu den Themen der Linearen Algebra (Vektoren, Matrizen usw.) sowie

• H. Schade, K. Neemann: Tensoranalysis, 2. Auflage, Walter de Gruyter, Berlin,2006

• D. Klingbeil: Tensorrechnung für Ingenieure, Bibliographische Institut, Mann-heim, 1966

• M. Itskov: Tensor Algebra and Tensor Analysis for Engineers – With Applicationsto Continuum Mechanics, Springer-Verlag Berlin Heidelberg, 2007

• Kapitel und/oder Anhänge in der Literatur über Kontinuumsmechanik

im Hinblick auf die Tensoralgebra und Tensoranalysis.

Lehrbücher über Kontinuumsmechanik und Materialtheorie sind ebenfalls zahlreichvorhanden. Empfohlen seien hier beispielsweise

• H. Altenbach: Kontinuumsmechanik – Einführung in die materialunabhängigenund materialabhängigen Gleichungen, 3. Auflage, Springer-Verlag Berlin Heidel-berg, 2015

2.2. MATHEMATISCHE GRUNDLAGEN 11

• W. H. Müller: Streifzüge durch die Kontinuumstheorie, Springer-Verlag BerlinHeidelberg, 2011

• G. A. Holzapfel: Nonlinear Solid Mechanics – A Continuum Approach for Engi-neers, John Wiley & Sons, Chichester, 2000

• W. F. Chen, D. J. Han: Plasticity for Structural Engineers, Springer-Verlag NewYork, 1988

• C. Truesdell, R. A. Toupin: The Classical Field Theories, Band III//1 in En-cyclopedia of Physics, S. 226–793, Springer-Verlag Berlin Göttingen Heidelberg,1960

2.2 Mathematische Grundlagen

2.2.1 Vektorräume und lineare Abbildungen

Operationen mit Vektoren

Eine Menge V def= u,v,w . . ., auf die die Operationen der Addition u + v = w ∈ Vund der Multiplikation mit einer reellen Zahl λu = v ∈ V für alle λ ∈ R anwendbarsind, heißt ein (reeller) Vektorraum, und die Elemente von V heißen Vektoren. Für dieAddition und die Multiplikation mit einer reellen Zahl gelten außerdem die folgendenGesetze:

Kommutativgesetze: u+ v = v + u , λu = uλ , (2.2.1)Assoziativgesetze: (u+ v) +w = u+ (v +w) , λ(µu) = (λµu) , (2.2.2)Distributivgesetze: λ(u+ v) = λu+ λv , (λ+ µ)u = λu+ µu , (2.2.3)neutrale Elemente: u+ o = u (Nullvektor), 1u = u , (2.2.4)

inverses Element: u+ (−u) def= u− u = o , (2.2.5)

für alle λ, µ ∈ R und u,v,w ∈ V . In diesem Zusammenhang nennt man λ, µ auchskalare Größen bzw. Skalare. Es lässt sich leicht zeigen, dass

0u = o und (−1)u = −u , für alle u ∈ V . (2.2.6)

Existiert ein inneres Produkt oder Skalarprodukt

u · v = v · u ∈ R , für alle u,v ∈ V , (2.2.7)

so ist V ein Euklidischer Vektorraum. Die Euklidische Norm eines Vektors ist danndefiniert durch ‖v‖ def=

√v · v. In einem Euklidischen Vektorraum entspricht die Ab-

standsfunktiond(u,v) def= ‖u− v‖ (2.2.8)

der sogenannten Metrik des Raumes.

12 KAPITEL 2. EXKURS KONTINUUMSMECHANIK

Basis eines Vektorraums

Sei m die Dimension des Vektorraums V , dann heißt die Menge g1, g2, . . . , gm vonlinear unabhängigen Vektoren ga, a ∈ 1, . . . ,m, eine Basis von V . Zukünftig schrei-ben wir für die Basis kurz ga ∈ V . Sofern die Basis gegeben ist kann jeder Vektorunter Verwendung der Einsteinschen Summenkonvention (1.5.1) dargestellt werden als

v = v1g1 + v2g2 + . . .+ vmgm = vaga , (2.2.9)

mit den Komponenten v1, v2, . . . , vm ∈ R bezüglich der Basis ga. Für den Nullvektorv = o ∈ V gilt va = 0 für alle a ∈ 1, . . . ,m.

Man beachte, dass die Basisvektoren in (2.2.9) im Allgemeinen weder normiert nochorthogonal zueinander sind. In m-dimensionalen Euklidischen Vektorräumen existierenjedoch ortho-normierte Basen ei derart, dass

ei · ej = δij für alle i, j ∈ 1, . . . ,m , (2.2.10)

worin

δijdef=

1 falls i = j

0 falls i 6= j(2.2.11)

das Kronecker-Delta ist. Das Kronecker-Delta repräsentiert die sog. Koeffizienten derMetrik eines Euklidischen Vektorraums bezüglich einer ortho-normierten Basis. Für ei-ne beliebige Basis ga eines m-dimensionalen Euklidischen Vektorraums gilt hingegen

ga · gbdef= gab 6= δab , mit a, b ∈ 1, . . . ,m. (2.2.12)

Bezüglich einer ortho-normierten Basis ei ∈ V lässt sich das Skalarprodukt (2.2.7)für alle u,v ∈ V ausdrücken durch

u · v = (uiei) · (vjej) = (ei · ej)uivj = δijuivj = uivi , (2.2.13)

mit i, j ∈ 1, . . . ,m. Insbesondere erhält man die Komponenten eines Vektors durch

ei · v = ei · (vjej) = (ei · ej)vj = δijvj = vi . (2.2.14)

Aus (2.2.13) und (2.2.14) geht eine wichtige Eigenschaft des Kronecker-Delta hervor,die später noch benötigt wird: es benennt Indizes um.

Standardvektorraum

Nach dieser allgemeinen Einführung betrachten wir das Beispiel eines Euklidischen Vek-torraums, auf den wir uns im Rahmen dieser Lehrveranstaltung meistens beschränken,nämlich den Standardvektorraum bzw. Raum der m-Tupel1, V = Rm. Üblicherweise ist1Ein m-Tupel ist eine geordnete Liste mit m Einträgen.

2.2. MATHEMATISCHE GRUNDLAGEN 13

m = 2 oder m = 3. Mit Hilfe von (m × 1)-Matrizen, d.h. Spaltenmatrizen, wird derStandardvektorraum oft dargestellt als die Menge

Rm def= u =

u1...um

|u1, . . . , um ∈ R . (2.2.15)

Eine ortho-normierte Basis für Rm definiert durch (2.2.15) heißt eine Standardbasisoder kanonische Basis und ist gegeben durch

10...0

def= e1,

01...0

def= e2, . . . ,

00...1

def= em ∈ Rm . (2.2.16)

Analog zu (2.2.9) ist u = uiei ∈ Rm eine Darstellung des m-Tupels bezüglich derStandardbasis.

Die Transponierte uT = (u1, . . . , um) einer Spaltenmatrix ist eine Zeilenmatrix. Mit derbekannten „Zeile mal Spalte“-Regel für die Multiplikation von Matrizen sowie (2.2.13)erhält man das Standard-Skalarprodukt

uTvdef= u · v = uivi , mit i ∈ 1, . . . ,m . (2.2.17)

Lineare Abbildungen und Matrizen

Genauso wie zwischen Vektoren und ihren Komponenten unterscheiden wir konsequentzwischen einer linearen Abbildung und einer Matrix. Eine lineare Abbildung oder lineareTransformation A : V → W bildet einen Vektor v ∈ V auf einen VektorA(v) def= A·v =w ∈ W ab und besitzt die Eigenschaften

Homogenität: A · (λv) = λ(A · v) , (2.2.18)Additivität: A · (u+ v) = A · u+A · v , (2.2.19)

für alle u,v ∈ V und λ ∈ R. Wir schreiben für die Gesamtheit dieser AbbildungenL(V ;W).

Die identische Abbildung I in V ist definiert durch I · v = v für alle v ∈ V , und I =A−1·A = A·A−1 fallsA ∈ L(V ;V) eine Inverse besitzt; letztere Beziehung existiert alsonur für lineare Abbildungen eines Vektorraums auf sich selbst (sog. Endomorphismen).

Aufgrund von (2.2.9) besitzt jede lineare Abbildung eine lokale Darstellung. Falls bei-spielsweise ga ∈ V = Rm und hν ∈ W = Rn Basen sind, so kann A ∈ L(V ;W)bezüglich dieser Basen dargestellt werden durch

A · ga = Aνahν , (2.2.20)

mit a ∈ 1, . . . ,m und ν ∈ 1, . . . , n. Man nennt die Zahlen Aνa ∈ R die Komponen-ten der linearen Abbildung A bezüglich der Basen hν und ga. Diese n×m Zahlen

14 KAPITEL 2. EXKURS KONTINUUMSMECHANIK

können in einer Matrix angeordnet werden. Man erhält so die Darstellungsmatrix derlinearen Abbildung A bezüglich der Basen ga und hν:

(Aνa) def=

A11 . . . A1m... . . . ...

An1 . . . Anm

∈ Rn×m . (2.2.21)

Wie üblich bezeichnet der erste Index den Zeilenindex und der zweite Index den Spal-tenindex. Die Transponierte einer Matrix erhält man durch Vertauschen der Indizes,also (Aνa)T def= (Aaν). Es sei angemerkt, dass gemäß (2.2.9) die Basisvektoren hν ihrer-seits eine Darstellung bezüglich ga besitzen und entsprechend die Komponenten vonA ∈ L(V ;W).

Sofern die Basen feststehen, kann eine lineare Abbildung A ∈ L(V ;W) mit ihrerMatrix bezüglich dieser Basen identifiziert werden. Mathematisch gesprochen ist dieAbbildung A → (Aνa) ein Isomorphismus, und die Matrix eine lineare Abbildung(Aνa) ∈ L(Rm;Rn) zwischen Standardvektorräumen.

Für eine ortho-normierte Basis ei ∈ V und eine lineare Abbildung A ∈ L(V ;V)liefert (2.2.20) aufgrund von (2.2.10) den wichtigen Zusammenhang

Aij = ei ·A · ej . (2.2.22)

Man beachte die Analogie zu (2.2.14). Wir werden diesen Zusammenhang später fürdie Definition eines Tensor verwenden.

Basistransformation und Invarianz

Wir betrachten nun zwei Basen ga, ga′ desselben Vektorraums V , die nicht not-wendigerweise orthogonal oder normiert sind, zusammen mit der identischen AbbildungI ∈ L(V ;V). Die m×m Zahlen Baa′ ∈ R definiert durch

I · ga′ = ga′ = Baa′ ga bzw. ga · I · ga′ = Bba′ga · gb = Bba′δab = Baa′ (2.2.23)

heißen die Komponenten des Basiswechsels ga 7→ ga′; die Schreibweise ga′ anstellevon g′a ist allgemein üblich. Für den inversen Basiswechsel ga′ 7→ ga definieren wir(Baa′)−1 def= (Ca′a) und erhalten analog

ga = Ca′a ga′ bzw. ga′ · I · ga = Ca′a . (2.2.24)

Wendet man die identische Abbildung auf einen Vektor v ∈ V an, welcher jeweils dielokalen Darstellungen v = vaga und v = va′ga′ bezüglich zweier Basen ga, ga′ ∈ Vbesitzt, dann folgt mit (2.2.23)

v = I · v = va′I · ga′ = va′Baa′ga = vaga . (2.2.25)

Wir erhalten die fundamentale Aussage, dass sich unter einem Basiswechsel die Kom-ponenten des Vektors mit der Inversen des Basiswechsels transformieren, sonst wäreder Vektor selbst nicht invariant:

va = Baa′ va′ bzw. va′ = Ca′a va , mit (Ca′a) = (Baa′)−1 . (2.2.26)

2.2. MATHEMATISCHE GRUNDLAGEN 15

Falls zwei Basen ei, ei′ ∈ V ortho-normiert sind, dann ist die Matrix des Ba-siswechsels (Bii′) ∈ L(Rm;Rm) aufgrund der Eigenschaft (2.2.10) orthogonal, d.h. esgelten

(Bii′)−1 = (Bii′)T = (Bi′i) ∈ L(Rm;Rm) (2.2.27)sowie

ei · I · ej = Bii′Bi′j = δij , (2.2.28)worin die Komponenten Bii′ und Bi′i jeweils gegeben sind durch ei′ = Bii′ ei undei = Bi′i ei′ . Für einen Vektor v = viei = vi′ei′ ∈ V folgt aus (2.2.26) und (2.2.27) dieIdentität

vi′ = Bi′i vi und vi = Bii′ vi′ . (2.2.29)

2.2.2 Affine Punkträume und Koordinaten

Axiome des affinen Punktraums

In den zuvor behandelten Vektorräumen existieren keine Punkte. Für den Begriff desphysikalischen Feldes (Spannung, Dichte, usw.) muss jedoch ein Bezug zwischen derGröße und dem Bezugspunkt, an dem diese z.B. gemessen wird, hergestellt werden. Zudiesem Zweck wird der Begriff des affinen Punktraums eingeführt.

Ein affiner Punktraum (S,V), oder je nach Kontext einfach nur S, besteht aus einerMenge von Punkten S def= A,B,C, . . ., einem Vektorraum V , beispielsweise V = Rm,und einer Abbildung S × S → V , die jedem Paar von Punkten (A,B) einen Vektor−→AB = v zuordnet. Darüber hinaus müssen die folgenden Axiome eingehalten werden:

1. Für jeden Punkt A ∈ S und jeden Vektor v ∈ V gibt es einen eindeutigen PunktA+ v = B ∈ S, so dass v = −→AB = B − A.

2. Falls −→AB = −−→CD, so gilt auch −→AC = −−→BD.

Die zweite Bedingung ist als Parallelogrammaxiom bekannt. Dieses Axiom ist äquiva-lent zur Aussage v(A) = v(C) bzw. (A,v) = (C,v) ∈ (S,V).

Ein affiner Punktraum (S,V) heißt Euklidischer Punktraum, falls der Vektorraum VEuklidisch ist. Zum Beispiel ist der Raum der Anschauung ein Euklidischer Punktraum.In Euklidischen Punkträumen ist der Abstand der Punkte P,Q ∈ S definiert durch dieMetrik d(P,Q) def=

√v · v = ‖v‖, mit v = −→PQ = Q− P .

Bezugssysteme und affine Koordinaten

Ein Bezugssystem oder Bezugsrahmen (O, g1, . . . , gm) def= (O, ga) in einem m-dimen-sionalen affinen Punktraum (S,V) ist eine Vektorbasis ga ∈ V an einem beliebigenPunkt O ∈ S, dem Bezugspunkt oder Ursprung des Bezugssystems. Der Ortsvektoreines weiteren Punktes P ∈ S bezüglich des Ursprungs O ist das Paar

(O,−→OP ) def= (O,x) ∈ S × V . (2.2.30)

16 KAPITEL 2. EXKURS KONTINUUMSMECHANIK

Der Einfachheit halber schreiben wir x bzw. x(P ) für den Ortsvektor von P , sofernKlarheit über den Ursprung herrscht. Der Ortsvektor ist wegen (2.2.30) kein gewöhn-licher Vektor, außer wenn er von einem anderen Bezugssystem (O′, ga′) aus betrachtetwird. Daher spielen Bezugssysteme in affinen Punkträumen eine wichtige Rolle.

Die lokale Darstellung des Ortsvektors, x(P ) = za(P ) ga, liefert die affinen Koordina-ten z1(P ), . . . , zm(P ) des Punktes P im Bezugssystem (O, ga). Die Gesamtheit deraffinen Koordinaten aller Punkte heißt ein affines Koordinatensystem.

In Euklidischen Punkträumen (S,V) kann mit Hilfe einer ortho-normierten Basis ei ∈V ein spezielles Bezugssystem (O, ei) konstruiert werden. Die lokale Darstellung x(P ) =xi(P ) ei des Ortsvektors von P ∈ S in diesem Bezugssystem enthält dessen kartesi-schen Koordinaten x1(P ), . . . , xm(P ), und ihre Gesamtheit heißt ein kartesischesKoordinatensystem.

Der sog. Standardraum (S,V) def= (Rm,Rm), oder kurz Rm, ist ein Euklidischer Punkt-raum mit kanonischer Basis gemäß (2.2.16), in dem jeder Punkt P mit der Spaltenma-trix seiner kartesischen Koordinaten bezüglich (O, ei) identifiziert wird:

x(P ) =

x1(P )

...xm(P )

∈ Rm (2.2.31)

Transformationen

Gegeben seien affine Koordinatensysteme im Zusammenhang mit zwei Bezugssystemen(O, ga) und (O′, ga′). Dann transformieren sich unter einem Wechsel der Bezugssysteme(O, ga) 7→ (O′, ga′) die affinen Koordinaten linear mit

za′ = Ca′a za + ca′ . (2.2.32)

Hierin sind Ca′a die Komponenten des inversen Basiswechsels ga′ 7→ ga gemäß(2.2.24), und ca′ sind die Komponenten der Translation

−−→O′O. Anders ausgedrückt sind

die Funktionen ζa′ gegeben durch za′ def= ζa′(z1, . . . , zm) linear in den za. Ihre partiellenAbleitungen nach den affinen Koordinaten sind die (konstanten) Komponenten desinversen Basiswechsels:

∂ζa′(z1, . . . , zm)∂za

= ∂za′

∂za= Ca′a . (2.2.33)

Für kartesische Koordinatensysteme gilt speziell

xi′ = Bi′i xi + ci′ = ∂xi′

∂xixi + ci′ . (2.2.34)

Die Transformationsvorschriften (2.2.32) bzw. (2.2.34) liefern die affinen bzw. karte-sischen Koordinaten unter einem Wechsel der Bezugssysteme, was auch als passive

2.2. MATHEMATISCHE GRUNDLAGEN 17

Transformation bezeichnet wird. Im Gegensatz dazu verändert eine affine Transfor-mation den affinen Punktraum selbst, beziehungsweise eine Teilmenge davon (aktiveTransformation).

Es seien also (S,V) und (T ,W) affine Punkträume, A ∈ L(V ;W) eine lineare Abbil-dung und O,P ∈ S. Unter einer affinen Transformation θ : S → T wird der PunktP = O +−→OP abgebildet auf

θ(P ) = θ(O) +A · (−→OP ) ∈ T . (2.2.35)Um eine Komponentendarstellung bezüglich ortho-normierter Systeme zu erhalten, de-finieren wir x def= −→OP = xiei, x′ def=

−−−−→Oθ(P ) = xi′ei′ und c def=

−−−−→Oθ(O) = ci′ei′ . Dann ist

wegen (2.2.35) zunächst−−−−→Oθ(P ) = A · (−→OP ) +

−−−−→Oθ(O) bzw. x′ = A · x+ c (2.2.36)

eine symbolische Vektordarstellung der affinen Transformation. Falls nun eine trans-formierte ortho-normierte Basis ei′ gegeben ist durch A · ei = Ai′iei′ , so ist

xi′ = Ai′i xi + ci′ (2.2.37)eine Komponentendarstellung der affinen Transformation.

2.2.3 Tensoralgebra

Jedem Bauingenieur sind die Begriffe Spannungstensor und Dehnungstensor geläufig,doch nur wenige können erklären, was ein Tensor überhaupt ist. In der Literatur findetman insbesondere zwei Definitionen, die am Ende aber zum selben Ergebnis führen.Die erste Definition betrachtet den Tensor als eine multilineare Abbildung und diezweite Definition führt ihn als eine mathematische Größe ein, die sich unter einemBasiswechsel nicht ändert.

Letztere Eigenschaft eines Tensors, die Invarianz, ist in der Mechanik und in anderenBereichen der Physik von fundamentaler Bedeutung. Ein einfaches Beispiel ist derVektor der Gewichtskraft eines Bauteils. Dieser hat stets denselben Betrag und istimmer auf den Mittelpunkt der Erde gerichtet, ganz egal welches Bezugssytem manwählt, um seinen Betrag und seine Richtung zahlenmäßig anzugeben.

Im Folgenden beziehen wir uns ausschließlich auf ortho-normierte Basen ei, ei′eines Euklidischen Vektorraums V . Gemäß Abschn. 2.2.1 ist die Matrix (Bii′) des Ba-siswechsels ei 7→ ei′ orthogonal, so dass die Matrix des inversen Basiswechselsgegeben ist durch (Bii′)−1 = (Bii′)T = (Bi′i).

Definition eines Tensors: Transformationsverhalten

Wir stellen zunächst fest, dass Skalare α ∈ R, wie z.B. die Euklidische Norm einesVektors oder der Abstand zweier Punkte, definitionsgemäß invariant gegenüber Basis-wechsel sind. Es gilt also die Transformationsvorschrift

α′ = α ∈ R . (2.2.38)

18 KAPITEL 2. EXKURS KONTINUUMSMECHANIK

Man nennt eine mathematische Größe, die sich unter einem Basiswechsel ei 7→ ei′gemäß der Vorschrift (2.2.38) transformiert, einen Tensor nullter Stufe.

Im Abschn. 2.2.1 hatten wir die Invarianz von Vektoren v ∈ V gegenüber beliebigerBasistransformationen nachgewiesen:

vi′ = Bi′i vi bzw. vi = Bii′ vi′ ∈ R . (2.2.39)

Für die Basisvektoren gilt entsprechend

ei′ = Bii′ ei bzw. ei = Bi′i ei′ . (2.2.40)

Man nennt eine mathematische Größe, deren Komponenten sich unter einem Basis-wechsel ei 7→ ei′ gemäß der Vorschrift (2.2.39)1 transformieren, einen Tensorerster Stufe. Vektoren sind demnach zugleich Tensoren erster Stufe, jedoch nicht dieVektorkomponenten oder deren Anordnung in einer Spaltenmatrix.

Wir betrachten nun eine lineare Abbildung A : V → V . Ihre Komponenten bezüglichder ortho-normierten Basis ei ∈ V sind gegeben durch (2.2.22):

Aij = ei ·A · ej ∈ R . (2.2.41)

Bezüglich einer anderen ortho-normierten Basis ei′ ∈ V verlangen wir analog

Ai′j′ = ei′ ·A · ej′ . (2.2.42)

Einsetzen von (2.2.40)1 liefert dann

Ai′j′ = (Bii′ei) ·A · (Bjj′ej) = Bii′Bjj′(ei ·A · ej) , (2.2.43)

und mit (2.2.41) erhält man schließlich

Ai′j′ = Bii′Bjj′ Aij ∈ R oder (Ai′j′) = (Bi′i)T(Aij)(Bjj′) . (2.2.44)

Man nennt eine mathematische Größe, deren Komponenten sich unter einem Basiswech-sel gemäß der Vorschrift (2.2.44) transformieren, einen Tensor zweiter Stufe. LineareAbbildungen sind demnach zugleich Tensoren zweiter Stufe, jedoch nicht die Kom-ponenten der linearen Abbildung oder deren Anordnung in einer Matrix. WichtigeBeispiele von Tensoren zweiter Stufe in der Kontinuumsmechanik sind der Spannungs-tensor und der Dehnungstensor.

Die Transformationsvorschrift (2.2.44) lässt sich auf Tensoren beliebiger Stufe verall-gemeinern. Man nennt eine mathematische Größe T , deren Komponenten sich untereinem Basiswechsel gemäß der Vorschrift

Ti′1i′2...i′k = Bi1i′1Bi2i′2

. . . Biki′kTi1i2...iq ∈ R (2.2.45)

transformieren, einen Tensor q-ter Stufe. Diese Vorschrift lässt sich leicht merken.

In der Kontinuumsmechanik begegenen einem üblicherweise Tensoren bis maximal vier-ter Stufe, und zwar in Form eines Materialmodells („Stoffgesetz“). Ein lineares Mate-rialmodell wird durch die Steifigkeit repräsentiert, welche mathematisch gesprochenden Dehnungstensor linear auf den Spannungstensor abbildet. Ein Tensor vierter Stufeist also eine Abbildung zwischen Tensoren zweiter Stufe bzw. linearen Abbildungen.

2.2. MATHEMATISCHE GRUNDLAGEN 19

Definition eines Tensors: Multilineare Abbildung

Die Betrachtung eines Tensors als eine Abbildung erfordert keine Komponentendarstel-lung bezüglich einer Basis, d.h. sie kann rein symbolisch erfolgen. Dies mag Ingenieurenzu abstrakt mathematisch erscheinen, es vervollständigt jedoch unser Bild eines Tensorsund trägt zum tieferen Verständnis bei.

Gemäß (2.2.38) ist ein Skalar eine invariante Größe. Das Skalarprodukt zweier Vektorenu,v ∈ V liefert definitionsgemäß einen Skalar. Wir schreiben hierfür allgemeiner

u(v) ∈ R (2.2.46)

und meinen damit den Tensor u angewendet auf v.

Die Multiplikation einer linearen Abbildung A ∈ L(V ;V) mit zwei Vektoren v,w ∈ Vführt wegen (2.2.41) ebenfalls auf einen Skalar (Summenkonvention!):

v ·A ·w = (viei) ·A · (wjej) = viwj(ei ·A · ej) = viwjAij ∈ R . (2.2.47)

Wir schreiben hierfürA(v,w) ∈ R (2.2.48)

und meinen damit den Tensor A angewendet auf v und w.

Allgemein definieren wir nun einen Tensor q-ter Stufe T im Vektorraum V als einemultilineare Abbildung

T : V × . . .× V︸ ︷︷ ︸q−fach

→ R

(v1, . . . ,vq) 7→ T (v1, . . . ,vq) .(2.2.49)

Den Raum aller Tensoren q-ter Stufe in V bezeichnen wir mit Tq(V). Multilinearitätder Abbildung bedeutet hierbei Linearität in allen Argumenten, also

T (v1, . . . , λa, . . . ,vq) = λT (v1, . . . ,a, . . . ,vq) (2.2.50)

und

T (v1, . . . ,a+ b, . . . ,vq) = T (v1, . . . ,a, . . . ,vq) + T (v1, . . . , b, . . . ,vq) (2.2.51)

für alle λ ∈ R und a, b,v1, . . . ,vq ∈ V .

Die Komponenten eines Tensors q-ter Stufe werden konsistent zu (2.2.41) definiertdurch

Ti1...iqdef= T (ei1 , . . . , eiq) ∈ R , (2.2.52)

d.h. indem man dem Tensor die Basisvektoren als Argumente übergibt. Hieraus folgtauch unmittelbar die Transformationsvorschrift (2.2.45):

Ti′1...i′q = T (ei′1 , . . . , ei′q) = T (Bi1i′1ei1 , . . . , Biqi′qeiq) = Bi1i′1

. . . Biqi′q Ti1...iq . (2.2.53)

Zusammenfassend können wir festhalten:

20 KAPITEL 2. EXKURS KONTINUUMSMECHANIK

• Tensoren nullter Stufe sind Skalare,

• Tensoren erster Stufe sind Vektoren,

• Tensoren zweiter Stufe sind lineare Abbildungen,

• Tensoren q-ter Stufe sind multilineare Abbildung auf R mit q Argumenten.

Tensorprodukt und lokale Darstellung

Es seien T ∈ Tp(V) ein Tensor p-ter Stufe und S ∈ Tq(V) ein Tensor q-ter Stufe imVektorraum V . Das Tensorprodukt von T und S ist dann der Tensor (p+ q)-ter Stufedefiniert durch

(T ⊗ S)(v1, . . . ,vp,w1, . . . ,wq) def= T (v1, . . . ,vp)S(w1, . . . ,wq) , (2.2.54)

mit v1, . . . ,vp,w1, . . . ,wq ∈ V . Die p- und q-Tupel der Argumente der beteiligtenTensoren werden also einfach hintereinander geschrieben. Auf diese Weise kann manTensoren beliebiger Stufe „konstruieren“. Beispielsweise erhält man aus zwei Tensorenerster Stufe (Vektoren) einen Tensor zweiter Stufe. Das Tensorprodukt ist übrigensauch dann definiert, wenn T und S unterschiedlichen Vektorräumen angehören.

Das Tensorprodukt zweier Vektoren u,v wird auch ihr dyadisches Produkt genannt,und das Resultat ist die Dyade u⊗v. Diese ist im Allgemeinen nicht kommutativ, d.h.

u⊗ v 6= v ⊗ u . (2.2.55)

Es gelten die folgenden Rechengesetze:

Kommutativgesetze: a⊗ b+ c⊗ d = c⊗ d+ a⊗ b , (2.2.56)λ(a⊗ b) = (a⊗ b)λ , (2.2.57)

Assoziativgesetze: (a⊗ b+ c⊗ d) + e⊗ f = a⊗ b+ (c⊗ d+ e⊗ f) , (2.2.58)λ(a⊗ b) = (λa)⊗ b , (a⊗ b)λ = a⊗ (λb) , (2.2.59)

Distributivgesetze: (a+ b)⊗ c = a⊗ c+ b⊗ c , (2.2.60)a⊗ (b+ c) = a⊗ b+ a⊗ c , (2.2.61)(λ+ µ)(a⊗ b) = λ(a⊗ b) + µ(a⊗ b) , (2.2.62)

neutrales Element: a⊗ b+ o⊗ o = a⊗ b (Nulldyade) , (2.2.63)

für alle λ, µ ∈ R und a, b, c,d, e,f ∈ V . Es lässt sich leicht zeigen, dass

0(a⊗ b) = o⊗ b = a⊗ o = o⊗ o für alle a, b ∈ V . (2.2.64)

Mit Hilfe des Tensorprodukts (2.2.54) kann man eine lokale Darstellung eines TensorsT ∈ Tq(V) bezüglich einer ortho-normierten Basis ei ∈ V konstruieren:

T = Ti1i2...iq ei1⊗ ei2⊗ . . .⊗ eiq ∈ Tq(V) = V ⊗ . . .⊗ V︸ ︷︷ ︸q−fach

. (2.2.65)

2.2. MATHEMATISCHE GRUNDLAGEN 21

Hierbei ist ei1⊗ . . .⊗eiq eine Basis des q-Tensorraums Tq(V), mit q ∈ N (nichtnegativeganze Zahl), und ein beliebiges eik heißt Bein des Tensors, mit k ∈ 1, . . . , q. DieReihenfolge der einzelnen Basisvektoren spielt aufgrund der Eigenschaften des Tensor-produkts eine wichtige Rolle. Ein Tensor q-ter Stufe im dreidimensionalen Raum Rm=3

besitzt daher im Allgemeinen 3q verschiedene Komponenten. Speziell gilt für q = 2T = Tij ei⊗ ej

= T11 e1⊗ e1 + T12 e1⊗ e2 + T13 e1⊗ e3

+ T21 e2⊗ e1 + T22 e2⊗ e2 + T23 e2⊗ e3

+ T31 e3⊗ e1 + T32 e3⊗ e2 + T33 e3⊗ e3 ,

(2.2.66)

mit unabhängig laufenden Indizes i, j ∈ 1, 2, 3.

Einfache und doppelte Überschiebung

Das Skalarprodukt zwischen Vektoren, (2.2.7), kann auf Tensoren übertragen werdenund heißt dort (einfache) Überschiebung oder (einfache) Kontraktion. Bei der einfachenÜberschiebung wird das i-te Bein eines Tensors mit dem j-ten Bein eines anderenTensors skalar multipliziert. Ist beispielsweise T ∈ T4(V) ein Tensor vierter Stufe mitKomponenten Tabcd und S ∈ T3(V) ein Tensor dritter Stufe mit Komponenten Sijk,so ergibt die einfache Überschiebung auf dem letzten Index einen Tensor der Stufe4 + 3− 2 = 5:

T · S ∈ T5(V) , in Komponenten Tabcd Sijd ∈ R . (2.2.67)

Die doppelte Überschiebung oder doppelte Kontraktion kondensiert die letzten zwei Bei-ne (Indizes) von T and S:

T : S ∈ T3(V) , in Komponenten Tabcd Sicd ∈ R . (2.2.68)

Die einfache Überschiebung eines Tensors zweiter Stufe T ∈ T2(V) mit einem Ten-sor erster Stufe (Vektor) v ∈ T1(V) ≡ V liefert analog zu einer linearen Abbildungeinen Vektor. Mit der lokalen Darstellung (2.2.52) eines Tensors bezüglich der ortho-normierten Basis ei ∈ V kann die Überschiebung von rechts ausgedrückt werdendurch

T · v = (Tij ei⊗ ej) · (vk ek) = Tijvk ei(ej · ek) = Tijvkδjk ei = Tijvj ei , (2.2.69)mit i, j, k ∈ 1, . . . ,m, d.h.

T · v = vi T · ei ∈ V , in Komponenten Tij vj ∈ R . (2.2.70)Bei der Überschiebung von links erhält man stattdessen

v · T = viei · T ∈ V , in Komponenten vi Tij = Tij vi ∈ R . (2.2.71)Die einfache Überschiebung bricht also Dyaden auf. In Analogie zu (2.2.18) und (2.2.19)gelten die Rechengesetze

Homogenität: a⊗ b · (λc) = λa(b · c) , (2.2.72)Additivität: (a⊗ b) · (c+ d) = a(b · c) + a(b · d) , (2.2.73)

für alle λ ∈ R und a, b, c,d ∈ V .

22 KAPITEL 2. EXKURS KONTINUUMSMECHANIK

Weitere Operationen und spezielle Tensoren

Mit Hilfe der lokalen Darstellung eines Tensors bezüglich der ortho-normierten Basisei ∈ V definieren wir den Einheitstensor zweiter Stufe oder Metriktensor durch

Idef= δij ei⊗ ej = ei⊗ ei . (2.2.74)

Im Folgenden sei T ∈ T2(V) ein beliebiger Tensor zweiter Stufe. Die Spur von Terhält man durch die einfache Überschiebung beider Beine des Tensors bzw. durch diedoppelte Überschiebung mit dem Einheitstensor zweiter Stufe:

spT def= T : I = I : T ∈ R , in Komponenten Tij δij = Tii ∈ R . (2.2.75)

Für den Einheitstensor zweiter Stufe in einemm-dimensionalen Vektorraum gilt speziell

sp I = m . (2.2.76)

Die Norm von T ist gegeben durch

‖T ‖ def=√T : T =

√sp(T 2) =

√TijTij ∈ R mit T 2 def= T T · T . (2.2.77)

Der Tensor T T ∈ T2(V) ist der Transponierte von T und definiert durch

v · (T · u) = (T T · v) · u , (2.2.78)

für alle u,v ∈ V . Der Tensor heißt symmetrisch, falls T = T T.

Als Deviator bezeichnet man Tensoren zweiter Stufe deren Spur verschwindet. Derdeviatorische Anteil beliebiger T ∈ T2(V) berechnet sich aus

Tdevdef= T − 1

m(spT )I , in Komponenten (Tdev)ij = Tij − 1

mTkkδij , (2.2.79)

mit spTdev = 0. Umgekehrt lässt sich jeder Tensor zweiter Stufe additiv in seinendeviatorischen Anteil und seinen sog. Kugelanteil Tsph

def= 1m

(spT )I aufspalten.

Ein Tensor vierter Stufe zusammen mit der Operation der doppelten Überscheibungkann als eine (multilineare) Abbildung zwischen Tensoren zweiter Stufe aufgefasst wer-den. Mit dieser und den zuvor gewonnenen Erkenntnissen definieren wir nun häufigverwendete Einheitstensoren vierter Stufe in V :

1 def= δikδjl ei⊗ej⊗ek⊗el bzw. 1 : T def= T , (2.2.80)

1Tdef= δilδjk ei⊗ej⊗ek⊗el bzw. 1T : T def= T T , (2.2.81)

1symdef= 1

2(δikδjl + δilδjk) ei⊗ej⊗ek⊗el bzw. 1sym : T def= Tsym , (2.2.82)

1sphdef= 1

3δijδkl ei⊗ej⊗ek⊗el bzw. 1sph : T def= Tsph , (2.2.83)

1devdef= 1−1sph = (δikδjl − 1

3δijδkl) ei⊗ej⊗ek⊗el bzw. 1dev : T def= Tdev , (2.2.84)

für alle T ∈ T2(V).

2.2. MATHEMATISCHE GRUNDLAGEN 23

Beispielhaft weisen wir nach, dass 1sph tatsächlich den Kugelanteil von T = Tij ei⊗ej =Trs er ⊗ es liefert:

1sph : T = (13δijδkl ei ⊗ ej ⊗ ek ⊗ el) : (Trs er ⊗ es)

= 13δijδklTrs (ei ⊗ ej ⊗ ek ⊗ el) : (er ⊗ es)

= 13δijδklTrs (ei ⊗ ej)(ek · er)(el · es)

= 13δijδklδkrδlsTrs (ei ⊗ ej)

= 13δijδklTkl ei ⊗ ej = 1

3Tkkδij ei ⊗ ej= 1

3(spT )I = Tsph .

(2.2.85)

Eigenwerte und Invarianten

Die Eigenwerte λk ∈ R eines Tensor zweiter Stufe T = Tij ei ⊗ ej ∈ T2(V) in einemdreidimensionalen Vektorraum, mit i, j, k ∈ 1, 2, 3, ergeben sich aus seinem charak-teristischen Polynom

det(T − λkI) = λ3k − I1(T )λ2

k + I2(T )λk − I3(T ) = 0 . (2.2.86)

Hierin heißen die Koeffizienten I1(T ), I2(T ), I3(T ) die Hauptinvarianten des Tensors,wobei gilt

I1(T ) def= spT = λ1 + λ2 + λ3 , (2.2.87)

I2(T ) def= detT sp(T−1) = 12((spT )2 − sp(T 2)) , (2.2.88)

I3(T ) def= detT = λ1λ2λ3 . (2.2.89)

2.2.4 Felder und Tensoranalysis

Definition eines Feldes

In den vorangegangenen Abschnitten haben wir Skalare, Vektoren und Tensoren oh-ne Bezug zu einem umgebenden Raum behandelt. In der Bodenmechanik oder derKontinuumsmechanik allgemein ist man jedoch an der räumlichen Verteilung einerphysikalischen Größe (Skalar, Vektor oder Tensor) interessiert und wie sich diese vonOrt zu Ort ändert. Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Tensoranalysis, für die manden Begriff des Feldes einführen muss.

Gegeben sei affiner Punktraum (S,V), bestehend aus einer Punktmenge S und einemm-dimensionalen Vektorraum V . Ein Tensorfeld q-ter Stufe T , oder kurz Feld, ist dieAbbildung

T : S → S × Tq(V)P 7→ T (P ) ,

(2.2.90)

die jedem Punkt P ∈ S einen Tensor q-ter Stufe zuordnet. Wir bezeichnen die Mengealler Tensorfelder q-ter Stufe auf S mit Tq(S) und schreiben T ∈ Tq(S).

24 KAPITEL 2. EXKURS KONTINUUMSMECHANIK

Die Definition gilt für Skalarfelder α ∈ F(S) bzw. α : S → S × R (Tensorfeldernullter Stufe) und Vektorfelder v ∈ V(S) bzw. v : S → S × V (Tensorfelder ersterStufe) gleichermaßen. Häufig schreiben wir einfach T (P ) und meinen damit entwederein Tensorfeld oder speziell den Tensor T ∈ Tq(V) am Punkt P ∈ S.

Ein zeitabhängiges Feld wird dadurch definiert, dass für jeden festen Zeitpunkt t inner-halb eines gegebenen Zeitintervalls [0, T ] ⊂ R ein bestimmtes zeitunabhängiges Feldvorliegt, also

T (P, t) def= Tt(P ) ∈ Tq(S) , für alle festen t ∈ [0, T ] . (2.2.91)

Gradient und Divergenz

Sofern ein Feld eine gewisse Stetigkeit besitzt kann dieses differenziert werden, d.h. eskann die Ableitung des Feldes am Punkt P ∈ S berechnet werden. Im Folgenden seix(P ) = xi(P ) ei der Ortsvektor des Punktes in einem ortho-normierten Bezugssystemund xi seine kartesischen Koordinaten, mit i ∈ 1, . . . ,m. Darüber hinaus sei derzugrunde gelegte Punktraum Euklidisch.

Ist nun f ∈ F(S), ein Skalarfeld auf dem Punktraum, also f(P ) ∈ R, dann ist derGradient von f ein Vektorfeld ∇f ∈ V(S) definiert durch

∇f(P ) def= ∂f

∂x1(P ) e1 + . . .+ ∂f

∂xm(P ) em = ∂f

∂xi(P ) ei für alle P ∈ S . (2.2.92)

Der Gradient eines Vektorfeldes v : S → S × V ist ein Tensorfeld zweiter Stufe ∇v :S → S × T2(V), mit

∇v(P ) def= ∂vi∂xj

(P ) ei ⊗ ej ∈ T2(S) . (2.2.93)

Allgemein liefert der Gradient eines Tensorfeldes q-ter Stufe T ein Tensorfeld ∇T derStufe q + 1. An jedem P ∈ S sind seine Komponenten gegeben durch

(∇T )i1...iqjdef= ∂Ti1...iq

∂xj. (2.2.94)

Die Divergenz eines Tensorfeldes T ∈ Tq(V) erhält man durch einfache Überschiebungdes Gradienten ∇T auf dem letzten Bein des Tensors, d.h.

divT (P ) def= ∂Ti1...iq∂xiq

(P ) ei1⊗ . . .⊗ eiq−1 ∈ Tq−1(S) . (2.2.95)

In der Literatur wird gelegentlich T ·∇ anstelle von divT geschrieben. Für Vektorfeldergilt speziell

div v = sp(∇v) = I :∇v . (2.2.96)

2.2. MATHEMATISCHE GRUNDLAGEN 25

Für ein Skalarfeld α, ein Vektorfeld v und ein beliebiges Tensorfeld T gilt die Produkt-regel

div(αT ⊗ v) = αv ·∇T + T div(αv)= αv ·∇T + T (v ·∇α) + αT div v ,

(2.2.97)

mit

v ·∇T def= vj∂Ti1...iq∂xj

ei1⊗ . . .⊗ eiq und v ·∇αdef= vi

∂α

∂xi. (2.2.98)

Materielle Zeitableitung

Die materielle Zeitableitung eines zeitabhängigen Tensorfeldes Tt ∈ Tq(S) definierenwir durch

T (P, t) def= ∂T

∂t(P, t) = ∂Ti1...iq

∂t(P, t) ei1⊗ . . .⊗ eiq . (2.2.99)

Richtungsableitung und Ableitung nach einem Tensor

Im Zusammenhang mit Materialmodellen benötigt man häufig die Ableitung einer ska-laren oder tensorwertigen Funktion nach einem Tensor. Auch bei der sog. Linearisierungnichtlinearer Gleichungen werden derartige Ableitungen benötigt. Man benötigt hierfürdie Begriffe der Richtungsableitung bzw. der Fréchet-Ableitung.

Gegeben sei eine glatte, d.h. unendlich oft stetig differenzierbare Funktion g : R→ R,die jedem Punkt x ∈ R einen Wert g(x) ∈ R zuordnet. Die Taylor-Entwicklung lieferteine Darstellung dieser Funktion in der Umgebung eines Punktes x0:

g(x) = g(x0) +Dg(x0) · (x− x0) +R . (2.2.100)

Dg(x0) def= ∂g(x)/∂x|x=x0 ist die Ableitung der Funktion nach x am Punkt x0, · ist dienormale Multiplikation und R def= R(u) ist ein Restglied mit der Eigenschaft

limu→0R(u)|u|

= 0 , mit udef= x− x0 . (2.2.101)

Die ersten beiden Terme auf der rechten Seite von (2.2.100) sind linear in u und heißendie Linearisierung der Funktion am Punkt x0 in Richtung u. Wir schreiben hierfür

LINx0(g;u) def= g(x0) +Dg(x0) · u . (2.2.102)

Die für skalarwertige Funktionen angegebenen Definitionen lassen sich auf tensorwer-tige Funktionen erweitern. Es sei G : T2(V) → T2(W) eine stetig differenzierbareFunktion, die einem Tensor zweiter Stufe T ∈ T2(V) den Tensor G(T ) ∈ T2(W) zuord-net, wobei V undW beliebige Vektorräume sind2. Die Verallgemeinerung von (2.2.100)lautet dann

G(T ) = G(T0) +DG(T0) : U +R , (2.2.103)2Im eigentlichen mathematischen Sinne handelt es sich bei der FunktionG um einen linearen Operatorzwischen den Banach-Räumen T2(V) und T2(W).

26 KAPITEL 2. EXKURS KONTINUUMSMECHANIK

mit T ,T0,U ∈ T2(V) und der sogenannten Fréchet-Ableitung von G(T ) nach T ,

DG(T0) = ∂G(T )∂T

∣∣∣∣∣T=T0

, in Komponenten (DG)ijkl = ∂Gij

∂Tkl. (2.2.104)

Es wurde angenommen, dass diese Ableitung existiert, also G Fréchet-differenzierbarist. Auf der Grundlage von (2.2.104) lässt sich die Ableitung einer Funktion nach einemTensors oft am einfachsten komponentenweise durchführen. Basierend auf (2.2.102)schreiben wir für die Linearisierung von G an T0 in Richtung U dann

LINT0(G;U) = G(T0) +DG(T0) : U . (2.2.105)

Es sei angemerkt, dass die Fréchet-Ableitung Df(x) einer differenzierbaren Funktionf : Rm → Rn gerade der Matrix der partiellen Ableitungen von f an x = (x1, . . . , xm) ∈Rm, d.h. ihrer n×m Jabobi-Matrix entspricht.

Nach diesen Vorbemerkungen definieren wir nun die Richtungsableitung oder Gâteaux-Ableitung der Funktion G an der Stelle T 0 in Richtung U durch

ddλ G(T 0 + λU)|λ=0 , mit λ ∈ R . (2.2.106)

Falls G Fréchet-differenzierbar ist an T 0, dann ist die Funktion auch Gâteaux-differen-zierbar an T 0, weil die Ableitung in Richtung U existiert. Mit Hilfe der Kettenregelfolgt nämlich

ddλ G(T 0 + λU)|λ=0 =

[∂G(T 0 + λU)

∂T: ∂(T 0 + λU)

∂λ

]λ=0

= DG(T 0) : U .

(2.2.107)

Die Umkehrung gilt im Allgemeinen nicht, d.h. nicht jede Gâteaux-differenzierbareFunktion ist auch Fréchet-differenzierbar. Falls λ = t den Parameter „Zeit“ repräsen-tiert und T zeitabhängig ist, so folgt speziell

G(T ) = DG(T ) : T = ∂G(T )∂T

: T . (2.2.108)

Wir wollen nun einige Beispiele geben, worin T ∈ T2(V) ein beliebiger Tensor zweiterStufe ist. Die Identitäten (2.2.80)–(2.2.84) führen unmittelbar auf

∂T

∂T= 1 bzw. ∂Tij

∂Tkl= δikδjl , (2.2.109)

∂Tsym

∂T= 1sym bzw. ∂(Tsym)ij

∂Tkl= 1

2(δikδjl + δilδjk) , (2.2.110)

∂Tsph

∂T= 1sph bzw. ∂(Tsph)ij

∂Tkl= 1

3δijδkl , (2.2.111)

∂Tdev

∂T= 1dev bzw. ∂(Tdev)ij

∂Tkl= (δikδjl − 1

3δijδkl) . (2.2.112)

2.3. KINEMATIK 27

Zusammen mit den bekannten Definitionen und der Kettenregel erhält man dann

∂‖T ‖∂T

= T

‖T ‖, (2.2.113)

∂(spT )∂T

= I , (2.2.114)

∂(detT )∂T

= T−T detT . (2.2.115)

2.3 Kinematik

Nach dieser Einführung mathematischer Grundlagen beschäftigen wir uns nun mit Be-griffen und Gleichungen der Kontinuumsmechanik. Man unterscheidet auf der einenSeite die materialunabhängigen Gleichungen, zu denen kinematische Zusammenhän-ge und die Bilanzgleichungen einer physikalischen Größe zählen, und auf der anderenSeite die materialabhängigen Gleichungen wie z.B. Stoffgesetze. Die materialabhän-gigen Gleichungen stellen sicher, dass den unbekannten Größen dieselbe Anzahl vonGleichungen gegenüber stehen und damit das betrachtete Problem eindeutig lösbar ist.

2.3.1 Bewegung eines Körpers im Raum

Zwei fundamentale Begriffe der Kontinuumsmechanik sind die des materiellen Körpersund des umgebenden Raumes. Der umgebende Raum ist der Raum unserer Anschau-ung, also ein Euklidischer Punktraum (S,V) der Dimension m = 2 oder m = 3. DiePunktmenge S wird dabei als Kontinuum aufgefasst (siehe allgemeine Bemerkungen inAbschn. 2.1), und die Differenz von je zwei Punkten Q1, Q2 ∈ S definiert einen VektorQ2−Q1 = −−−→Q1Q2 = v ∈ V . Im Folgenden bezeichnen wir den so definierten umgebendenRaum aus Bequemlichkeit einfach mit S = Rm (S wie „space“).

Wir bezeichnen eine mit Materie gefüllte Teilmenge B ⊂ S derselben Dimension mdes umgebenden Raumes als materiellen Körper (B wie „body“). Ein Punkt P ∈ Bheißt Materialpartikel und trägt die Eigenschaften des betrachteten Materials. Ist nun[0, T ] ⊂ R ein gegebenes Zeitintervall, dann heißt die Abbildung

ϕt : B → SP 7→ Q = ϕt(P )

(2.3.1)

die Konfiguration von B in S zum Zeitpunkt t ∈ [0, T ]. Entsprechend ist ϕt(B) ⊂ S dieKonfiguration des materiellen Körpers zum Zeitpunkt t, und Q = ϕt(P ) ist der Ort desPartikels P zum Zeitpunkt t. In dem hier betrachteten Euklidischen Punktraum bildet(B,W) ⊂ (S,V) einen Unterraum, wobeiW ⊂ V . In speziellen Fällen kann (2.3.1) eineaffine Abbildung gemäß Abschn. 2.2.2 sein, im Allgemeinen ist sie das jedoch nicht.

28 KAPITEL 2. EXKURS KONTINUUMSMECHANIK

Jede Konfiguration drückt über B → ϕt(B) eine Verformung des Materials aus. AlsBewegung des Körpers B im Raum S verstehen wir eine Familie von Konfigurationenin Abhängigkeit von t ∈ [0, T ], wobei wir

ϕt(·) = ϕ(·, t) für feste t (2.3.2)

setzen. Der Einfachheit halber setzen wir außerdem

B = ϕ0(B) = ϕ(B, 0) , (2.3.3)

d.h. der materielle Körper befindet sich bei t = 0 in seiner Ausgangskonfiguration.Mit „Materialpartikel“ meinen wir also präzise ausgedrückt denjenigen Ort, den einMaterialpartikel in der Ausgangskonfiguration einnimmt. Die Ausgangskonfigurationkann in der Geotechnik z.B. der K0-Zustand sein (Erdruhedruck).

Gemäß Abschn. 2.2.2 existiert im umgebenden Raum ein ortho-normiertes Bezugssys-tem (O, ei), so dass jedes Materialpartikel P ∈ B ⊂ S durch kartesische Koordinatenx1(P ), . . . , xm(P ) ≡ xi(P ) eindeutig identifiziert werden kann. Der Ort des Partikelszum Zeitpunkt t besitzt die kartesischen Koordinaten xi(Q) = xi(ϕ(P, t)) def= ϕi(P, t).Für die Ortsvektoren bezüglich O ∈ S schreiben wir

x(P ) = xi(P ) ei und ϕ(P, t) def= ϕi(P, t) ei = xi(ϕ(P, t)) ei . (2.3.4)

Wir nennen das Vektorfeld u : B → S × V definiert durch

u(P, t) def= ϕ(P, t)− x(P ) = (ϕi − xi)(P, t) ei (2.3.5)

das Verschiebungsfeld,v(P, t) def= ϕ(P, t) = ∂ϕi(P, t)

∂tei (2.3.6)

das Geschwindigkeitsfeld und

a(P, t) def= ϕ(P, t) def= ∂2ϕ

∂t2(P, t) = ∂2ϕi(P, t)

∂t2ei (2.3.7)

das Beschleunigungsfeld des Körpers. Offensichtlich ist v = u und a = v = u .

2.3.2 Verformung und Verzerrung

Der sog. Deformationsgradient F ist das Differential der Bewegung ϕt und bildet zujedem Zeitpunkt t infinitesimale Vektoren dx(P ) des materiellen Körpers linear aufinfinitesimale Vektoren dϕ(P, t) des umgebenden Raumes ab:

dϕ(P, t) = F (P, t) · dx(P ) . (2.3.8)

Der Deformationsgradient ist daher ein Tensorfeld zweiter Stufe, jedoch nicht im her-kömmlichen Sinne, und besitzt die lokale Darstellung

F (P, t) = ∇ϕ(P, t) = ∂ϕi∂xj

(P, t) ei ⊗ ej def= Fij(P, t) ei ⊗ ej . (2.3.9)

2.3. KINEMATIK 29

Aufgrund von (2.3.5) gilt außerdem

F = I + ∇u , mit ∇u(P, t) = ∂ui∂xj

(P, t) ei ⊗ ej . (2.3.10)

∇u ist der Verschiebungsgradient.

Deformationsgradient und Verschiebungsgradient beinhalten sämtliche Verformungendes materiellen Körpers B, also sowohl Streckungen als auch Rotationen, und sind daherkeine geeigneten Verzerrungsmaße. Anders verhält es sich mit dem Green-LagrangeTensor

Edef= 1

2(F T · F − I) ∈ T2(B) . (2.3.11)Der Green-Lagrange Tensor beschreibt die Längenänderung infinitesimaler materiellerVektoren dx, denn mit (2.3.8) gilt

‖dϕ‖2 − ‖dx‖2 = (F · dx) · (F · dx)− dx · dx = dx · (F T · F − I) · dx . (2.3.12)

Die Definition (2.3.11) führt zusammen mit (2.3.10) auf den Zusammenhang

E = 12((I + ∇u)T · (I + ∇u)− I)

= 12((∇uT + IT) · (I + ∇u)− I)

= 12(∇uT · I + IT · I + IT ·∇u+ ∇uT ·∇u− I)

= 12(∇u+ ∇uT + ∇uT ·∇u) .

(2.3.13)

Im Folgenden setzen wir voraus, dass die Materialverformungen (Streckungen und Ro-tationen) infinitesimal klein sind. Der quadratische Term in (2.3.13) kann dann ver-nachlässigt werden, d.h.

sp(∇uT ·∇u) = ‖∇u‖2 ≈ 0 . (2.3.14)

Der so entstandene Tensor heißt linearer bzw. infinitesimaler Verzerrungstensor :

εdef= ∇symu = 1

2(∇u+ ∇uT) , mit εijdef= 1

2

(∂ui∂xj

+ ∂uj∂xi

)(2.3.15)

bezüglich der Basis ei, und i, j ∈ 1, . . . ,m. Offensichtlich ist

ε = εT bzw. εij = εji . (2.3.16)

Bei den Komponenten des infinitesimalen Verzerrungstensors unterscheiden wir

Dehnungen (bzw. Normaldehungen): εij mit i = j , (2.3.17)Gleitungen (bzw. Scherdehnungen): 2εij = γij mit i 6= j . (2.3.18)

Um mit den Verzerrungen, also den Ableitungen der Bewegung nach dem Ort, einedazu kompatible Bewegung bzw. ein kompatibles Verschiebungesfeld rekonstruieren zukönnen, müssen die sog. Kompatibilitätsbedingungen eingehalten werden. Wir verweisenin diesem Zusammenhang auf die Literatur.

30 KAPITEL 2. EXKURS KONTINUUMSMECHANIK

2.4 Bilanzgleichungen

2.4.1 Allgemeine Formen

Bilanzgleichungen geben die Gesetzmäßigkeiten an, nach welchen sich eine bestimmteFeldgröße in einem physikalischen System verhält, wenn sich dieses System in der Zeitändert (physikalischer Prozess). Die zwei wichtigsten Feldgrößen für die Beschreibungmechanischer Prozesse sind die Masse und der Impuls. Bilanzgleichungen können inglobaler Form (Integralform) oder in lokaler Form (Differentialgleichung) angegebenwerden. Beide Darstellungsformen sind für die hier betrachteten Prozesse äquivalent.

Die globale Form einer Bilanzgleichung bezieht sich auf eine beliebige Teilmenge U ⊂ Bdes materiellen Körpers mit Rand ∂U , die sich im umgebenden Raum gemäß (2.3.1)bewegt und zum Zeitpunkt t ∈ [0, T ] die Konfiguration ϕt(U) ⊂ ϕt(B) einnimmt. Unterder getroffenen Annahme infinitesimal kleiner Verformungen ändert sich die Konfigu-ration des Körpers praktisch nicht mit der Zeit und wir können

ϕt(U) = ϕ(U , t) ≈ U für alle t ∈ [0, T ] (2.4.1)

setzen.

Es sei nun q(P, t) ein zeitabhängiges Tensorfeld beliebiger Stufe, b(P, t) eine gegebenenQuelle bzw. Senke für q pro Einheitsvolumen und u(P, t,n(P )) eine Quelle bzw. Senkepro Einheitsfläche für alle P ∈ B und t ∈ [0, T ]. Das Vektorfeld n bezeichnet die nachaußen gerichteten Einheitsnormalen auf der betrachteten Fläche. Die Größen q, b undu erfüllen die globale allgemeine Bilanzgleichung falls

ddt

∫Uq(P, t) dv =

∫Ub(P, t) dv +

∫∂Uu(P, t,n(P )) da . (2.4.2)

Hierin bezeichnen dv die Volumendichte bzw. das infinitesimale Volumenelement undda dieOberflächendichte bzw. das infinitesimale Flächenelement des umgebenden Raum-es.

Das Gebiet U ist definitionsgemäß zeitunabhängig, also ist

ddt

∫Uq(P, t) dv =

∫U

∂q(P, t)∂t

dv def=∫Uq(P, t) dv . (2.4.3)

Die Form des Integranden u(P, t,n(P )) auf der rechten Seite steht mit einem Mei-lenstein der Kontinuumsmechanik im Zusammenhang: dem Cauchy Theorem. Diesesbesagt, dass bei einer gewissen Stetigkeit von u ein Feld u existiert, für welches

u(P, t,n(P )) = u(P, t) · n(P ) . (2.4.4)

Integriert man die rechte Seite über ein berandetes Gebiet, so gilt der wichtige Inte-gralsatz von Gauß bzw. das Divergenz-Theorem∫

U(divu) dv =

∫∂Uu · n da . (2.4.5)

2.4. BILANZGLEICHUNGEN 31

Mit (2.4.3), (2.4.4) und (2.4.5) sowie der Voraussetzung, dass die Bilanzgleichung fürbeliebige berandete Gebiete U ⊂ B gelten muss, erhält man aus der globalen Form dielokale allgemeine Bilanzgleichung

q(P, t) = b(P, t) + divu(P, t) , für alle P ∈ B und t ∈ [0, T ]. (2.4.6)

Durch Einsetzen spezieller Felder für q, b und u bzw. u in die allgemeine Bilanzgleichungerhält man spezielle Bilanzgleichungen. Wir zeigen dies anhand der Massenbilanz undImpulsbilanz.

2.4.2 Massenbilanz (Massenerhaltungssatz)

Mit der Massenbilanz wird die Änderung der Massendichte ρ(P, t) ≥ 0 in einem physi-kalischen Prozess beschrieben, d.h. in (2.4.2) setzen wir q def= ρ. In einem abgeschlosse-nen System, in dem keine Masse mit der Umgebung ausgetauscht wird und auch keineMasse produziert wird oder verloren geht, muss b = u ≡ 0 gelten. Die Massendichteheißt in diesem Fall eine Erhaltungsgröße, und die Massenbilanz ist gleichbedeutendmit dem Massenerhaltungssatz

ddt

∫Uρ(P, t) dv = 0 , (2.4.7)

wobei wir wiederum infinitesimal kleine Verformungen vorausgesetzt haben. Im allge-meinen Fall großer Verformungen gilt hingegen

ddt

∫Uρ(P, t) J(P, t) dv = 0 . (2.4.8)

Hierin bezeichnet J def= detF > 0 die Jacobi-Determinante der Bewegung ϕt : B →S. Diese beschreibt die volumetrische Verformung eines Körpers, so dass der globaleMassenerhaltungssatz (2.4.8) äquivalent ist zu der lokalen Form

ρ(P, t) J(P, t) = ρ0(P ) , mit ρ0(P ) def= ρ(P, 0) und J(P, 0) = 1 . (2.4.9)

Im Falle kleiner Verformungen ist J ≈ 1 für alle P ∈ B und t ∈ [0, T ]. Die lokale Formdes Massenerhaltungssatzes kann dann basierend auf (2.4.6) dargestellt werden als

ρ = 0 bzw. ρ = const. (2.4.10)

Wir haben hier die Massenbilanz in einer für die Festkörpermechanik geeigneten Formdargestellt (sog. materielle oder Lagrange’sche Darstellung). In der Strömungsmecha-nik wird im Gegensatz dazu keine Teilmenge des materiellen Körpers, sondern einortsfestes Gebiet des umgebenden Raumes betrachtet (sog. räumliche oder Euler’scheDarstellung). Die lokale Massenbilanz erhält dadurch die Form der Kontinuitätsglei-chung

∂ρ

∂t+ div(ρv) = 0 . (2.4.11)

Die einzelnen Terme sind dabei Funktionen fester Raumpunkte Q = ϕ(P, t) ∈ S, dievon Partikeln des materiellen Körpers im Laufe der Zeit eingenommen werden.

32 KAPITEL 2. EXKURS KONTINUUMSMECHANIK

2.4.3 Impulsbilanz und Spannungstensor

Die Impulsbilanz bildet eine der Grundgleichungen der klassischen Mechanik und istdort unter den Namen zweites Newton’sches Gesetz oder erstes Cauchy-Euler’schesBewegungsgesetz bekannt. Die Impulsbilanz besagt, dass die zeitliche Änderung desImpulses p gleich der Summe der angreifenden Volumenkräfte fv und Oberflächenkräftefs ist:

∂p

∂t= fv + fs . (2.4.12)

Im statischen Fall (∂p/∂t = o) erhält man das bekannte Kräftegleichgewicht.

Wir wollen nun die Aussagen der Impulsbilanz in der klassischen Mechanik auf dieKontinuumsmechanik übertragen. Dafür unterscheiden wir zunächst extensive Größenund intensive Größen. Man bezeichnet eine Größe als extensiv, falls diese sich mitder Ausdehnung des betrachteten Kontinuums ändert (Beispiel: Masse). Anderenfallsbezeichnet man die Größe als intensiv (Beispiel: Massendichte). Die Bilanzgleichung(2.4.12) beinhaltet nur extensive Größen.

Der Impuls p ist das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit. Den Impuls eines mate-riellen Körpers bzw. einer Teilmenge davon erhält man durch Integration des Produktsaus Massendichte und Geschwindigkeit über das Gebiet. Als angreifende Volumenkräf-te fv berücksichtigen wir ausschließlich solche, die sich aus der Masse und der Wirkungeines Schwerefeldes g (z.B. Erdschwerefeld) ergeben. Die angreifenden Oberflächenkräf-te fs ergeben sich bei einem Kontinuum durch Integration über den Gebietsrand einessog. Spannungsvektorfeldes t mit der Einheit Kraft pro Fläche (t wie „traction“).

Mit diesen Erkenntnissen und Vereinbarungen setzen wir in (2.4.2) also q def= ρv, b def= ρg

sowie u def= t und erhalten damit die zu (2.4.12) äquivalente globale Impulsbilanz einesberandeten Teilgebiets U ⊂ B des materiellen Körpers:

ddt

∫Uρ(P, t)v(P, t) dv =

∫Uρ(P, t) g(P, t) dv +

∫∂Ut(P, t,n(P )) da . (2.4.13)

Die lokale Form dieser Bilanzgleichung lässt sich wie oben erläutert herleiten. Insbe-sondere liefert das Cauchy Theorem (2.4.4) eine Definition des Spannungsfeldes σ:

t = σ · n , in Komponenten ti = σij nj . (2.4.14)

Während die Spannungsvektoren t auf dem Rand wirken, ist der Spannungstensorσ(P, t) = σij(P, t) ei ⊗ ej eine zeitabhängige Größe, die an Partikeln P ∈ B im Innerndes Körpers wirkt. Entsprechend gilt der Integralsatz von Gauß (2.4.5).

Unter der Voraussetzung der Massenerhaltung (2.4.10) sowie v = u folgt dann aus(2.4.13) die lokale Impulsbilanz

ρu = ρg + divσ . (2.4.15)

Neben der Impulsbilanz bildet auch die Drehimpulsbilanz eine Grundgleichungen derklassischen Mechanik (vgl. zweites Cauchy-Euler’sches Bewegungsgesetz). Im statischen

2.5. KONSTITUTIVE GLEICHUNGEN 33

Fall folgt daraus das Momentengleichgewicht. Ohne weiter ins Detail zu gehen sei hierangemerkt, dass die Drehimpulsbilanz unter Voraussetzung der Massenerhaltung undImpulsbilanz auf die Symmetrie des Spannungstensors führt, also

σ = σT bzw. σij = σji . (2.4.16)

2.5 Konstitutive Gleichungen

Die im vorangegangen Abschnitt diskutierten Bilanzgleichungen reichen allein nichtaus, um eine gegebene mechanische Problemstellung zu lösen. Die Bewegung ϕt be-ziehungsweise die Komponenten des Verschiebungsfeldes u bilden die primären Un-bekannten (primären Lösungsvariablen), und die Felder ρ und g sind in der Regelgegeben. Der Massenerhaltungssatz gibt ρ als (näherungsweise) konstante Größe an,und das Beschleunigungsfeld u ergibt aus dem Verschiebungsfeld. Für die drei Ver-schiebungskomponenten im dreidimensionalen Raum stehen genau drei Gleichungender Impulsbilanz zur Verfügung. Dann verbleiben jedoch die sechs Komponenten dessymmetrischen Spannungstensors als Unbekannte.

Konstitutive Gleichungen stellen, allgemein gesprochen, den Bezug zwischen den pri-mären Lösungsvariablen der Bilanzgleichungen und dem Verhalten des Materials her.Im speziellen vorliegenden Fall liefern sie die noch fehlenden Beziehungen zur Bestim-mung der Spannungskomponenten3. Einen direkten Zusammenhang zwischen Verschie-bungen und Spannungen aufzustellen ist aus physikalischer Sicht jedoch nicht sinnvoll,wohl aber zwischen den Verschiebungsableitungen und den Spannungen. Man nutztalso die Beziehung (2.3.15) und definiert die Dehnungskomponenten als unabhängigeVariablen.

Der eindeutige Zusammenhang zwischen Spannungen und Dehnungen und ggf. weite-ren Zustandsvariablen, welcher das reale mechanische Materialverhalten mathematischbeschreiben soll, wird Materialmodell oder Stoffgesetz genannt. Die hier behandeltenelastischen und elasto-plastische Materialmodelle können allgemein durch die Gleichung

σdef= C(σ,κ) : ε , in Komponenten σij

def= Cijkl εkl , (2.5.1)

beschrieben werden. Der Tensor vierter Stufe C heißt Steifigkeitstensor, und κ def=κ1, . . . , κa ist eine möglicherweise leere Liste von Zustandsvariablen, für die wir Evo-lutionsgleichungen ähnlich zu (2.5.1) voraussetzen. Ohne dass wir im Folgenden noch-mals darauf hinweisen gelte das allgemeine Materialmodell (2.5.1) für alle P ∈ B undt ∈ [0, T ].

Der Steifigkeitstensor beschreibt eine lineare Abbildung zwischen Tensoren zweiter Stu-fe und genügt aufgrund der Symmetrie von σ und ε den Symmetriebedingungen

Cijkl = Cjikl = Cijlk = Cjilk . (2.5.2)3Konstitutive Gleichungen gibt es auch in anderen Disziplinen als der Mechanik. Zum Beispiel istdas Fourier’sche Gesetz, das die durch Wärmeleitung übertragene Wärmeleistung beschreibt, einekonstitutive Gleichung der Thermodynamik (Wärmelehre).

34 KAPITEL 2. EXKURS KONTINUUMSMECHANIK

Es können weitere Symmetriebedingungen vorliegen, sofern der Tensor eine gewisseIsotropie des Materials beschreibt. Für weitere Details, insbesondere im Hinblick aufMaterialmodelle für Böden, sei auf Kap. 3 verwiesen.

Kapitel 3

Materialmodelle für Böden

3.1 Allgemeine Bemerkungen

3.1.1 Modelle sind Theorien

Materialmodelle reduzieren und abstrahieren Beobachtungen in der realen Welt (Ver-suchsergebnisse o.ä.) und basieren auf Annahmen. Alle Materialmodelle sind daherals Versuche zu verstehen, die Realität zu approximieren. Diese Approximation kannmehr oder weniger genau sein, was durch Validierung mit Hilfe von Experimentenüberprüft werden muss. Beim Material „Boden“ besteht eine Schwierigkeit darin, dassman sein Verhalten in situ, also an Ort und Stelle, kaum untersuchen kann. Stattdes-sen entnimmt man Proben und untersucht diese im Labor, wobei man versucht dieBedingungen in situ nachzuahmen. Schwierig wirkt sich auf die mathematische Mo-dellierung außerdem aus, dass es sich bei Boden um ein komplexes Mehrphasensystemund einen natürlichen Baustoff handelt, dessen Eigenschaften sehr breiten Streuungenunterliegen.

Die Entwicklung von Materialmodellen ist Gegenstand der Materialtheorie. Hierin un-terscheidet man verschiedene Herangehensweisen bzw. Kategorien von Modellen. Rheo-logische Modelle rekonstruieren gewissermaßen das Materialverhalten durch Reihen-schaltung und/oder Parallelschaltung von elementaren, idealisierten Modellkörpern.Zu den Modellkörpern gehören der ideal elastische Körper, der ideal viskose Körperund der ideal plastische Körper. Das Federelement (Hooke-Element) repräsentiert denideal elastischen Körper, das Dämpferelement (Newton-Element) den ideal viskosenKörper und das Reibungselement (St.-Venant-Element) den ideal plastischen Körper.Durch das Zusammenschließen dieser Elemente kann auch komplizierteres Materialver-halten reproduziert werden. Beispielsweise liefert die Reihenschaltung eines Feder- undeines Reibungselements einen linear elastischen-ideal plastischen Körper (sog. Prandtl-Körper).

Komplexes Materialverhalten kann durch rheologische Modelle, d.h. Schaltungen vonelementaren Modellkörpern, kaum darstellt werden. Phänomenologische Modelle sind

36 KAPITEL 3. MATERIALMODELLE FÜR BÖDEN

in diesem Fall sehr viel besser geeignet, weil hierbei weitgehend unabhängig von allge-meinen Theorien die Beobachtung selbst als funktionaler Zusammenhang beschriebenwird. Bei den phänomenologischen Materialmodellen unterscheidet man solche, die sichim Wesentlichen aus einer Abänderung oder Erweiterung existierender Modelle ergeben(induktive Modelle) von jenen, bei denen eine individuelle Neukonstruktion ausgehendvom allgemeinsten aller möglichen Zusammenhänge erfolgt (deduktive Modelle). DieHerangehensweise zur Herleitung induktiver Modelle ist anschaulich und ingenieurmä-ßig, während die deduktive Modellierung eher abstrakt wirkt und einem trial and errorfolgt.

Es gibt potentiell unendlich viele Möglichkeiten, das mechanische Verhalten eines Ma-terials phänomenologisch zu modellieren. Um diese einzugrenzen, wurden verschiedeneAxiome postuliert, deren Gültigkeit in der Community bis heute teilweise heftig dis-kutiert wird. Wir gehen hierauf nicht ein. Stattdessen wenden wir uns zwei der für dieGeotechnik wichtigsten Klassen von (induktiven) Materialmodellen zu: die elastischenund die elasto-plastischen. Zuvor präzisieren wir das hier zugrunde gelegte Modell einesBodens und führen einige Größen und spezielle Schreibweisen ein, die im Rahmen derMaterialtheorie häufig verwendet werden.

3.1.2 Modellannahmen für Boden

In Abschn. 2.1 wurde die Motivation für die Verwendung eines Kontinuum-Modells fürBoden erläutert. Dieses Modell soll nun präzisiert werden. Zusätzlich zu den bereits inKap. 2 getroffenen Annahmen setzen wir folgendes voraus:

• Der betrachtete Boden ist entweder trocken oder vollständig wassergesättigt, sodass der Porenraum entweder nur mit Luft oder nur mit Wasser gefüllt ist.

• Die Bodenkörner und das Porenwasser werden als inkompressibel angesehen.

• Der Kompressionsmodul und die Massendichte von Luft sind vernachlässigbarklein gegenüber dem Kompressionsmodul und der Massendichte des Korngerüsts.

• Bei vollständiger Wassersättigung wird postuliert, dass der betrachtete Boden anjeder Stelle dränieren kann. Konsolidierungseffekte treten daher nicht auf, d.h. dieBewegung der Feststoff- und Fluidphasen sind entkoppelt.

• Die Bodenkörner sind permanent, d.h. sie sind unzerbrechlich und verschleißennicht durch Abrasion.

• Oberflächeneffekte wie z.B. Kapillarität oder Zementierung von Körnern bleibenunberücksichtigt.

• Die Abhängigkeit von der Belastungsgeschwindigkeit, d.h. Rateneffekte (Viskosi-tät), sei vernachlässigbar klein.

Aufgrund dieser Annahmen kann Boden als homogene Mischung bzw. effektives Ein-phasenmaterial modelliert werden. Alle Phasen des Bodengemisches (Korngerüst und

3.1. ALLGEMEINE BEMERKUNGEN 37

Luft bzw. Wasser) bewegen sich auf dieselbe Weise, d.h. es findet keine Relativbewe-gung statt. Lediglich die Volumenanteile jeder Phase gehen in die Modellierung ein.Ein Beispiel hierfür ist die Massendichte eines wassergesättigten Bodens, (2.1.1), diewir im Abschn. 2.1 erwähnt hatten.

Basierend auf den Annahmen definiert man die Massendichte des gesättigten Bodens

ρdef= (1− n)ρs + nρf , (3.1.1)

und setzt f = w falls der Boden wassergesättigt ist (w wie „water“), und f = a fallsder Boden trocken, also mit Luft gesättigt ist (a wie „air“). ρf ist die Massendichtedes Porenfluids (f wie „fluid“). Mit ρf = ρw folgt dann ρ = ρr, und mit ρf = ρa ≈ 0erhalten wir die bekannte Massendichte des trockenen Bodens

ρddef= (1− n)ρs . (3.1.2)

Auf gleiche Weise verallgemeinert definiert man die Massendichte des Bodens unterAuftrieb oder effektive Massendichte

ρ′def= ρ− ρf = (1− n)(ρs − ρf) . (3.1.3)

Im Falle ρf = ρa ≈ 0 folgt wie erwartet ρ′ = ρd = ρ, während sich für ρf = ρw dieDichte des wassergesättigten Bodens tatsächlich um die Auftriebswirkung verringert,d.h. ρ′ ≤ ρr.

Gl. (3.1.3) nehmen wir im Sinne von Terzaghi zum Anlass, das in der Bodenmechanikübliche Prinzip der effektiven Spannung folgendermaßen zu definieren:

σ′def= σ + pfI . (3.1.4)

Demnach lässt sich die über ein repräsentatives Volumen gemittelte Spannung im Korn-gerüst σ′ (effektive Spannung) darstellen als die Summe der messbaren totalen Span-nung σ im Boden und dem ebenfalls gemittelten Druck pf , der von dem Porenfluidauf das Korngerüst wirkt. Falls der Porenraum mit Luft gefüllt ist, dann gilt auf-grund der Voraussetzungen (Massendichte und Kompressionsmodul vernachlässigbar)pf = pa ≈ 0, also

σ′ = σ . (3.1.5)Wir gehen zur Vereinfachung der Schreibweise für den Rest des Kapitels von der letztenIdentität aus und bezeichnen die Spannung stets mit σ. Wir behalten jedoch im Hin-terkopf, dass bei der Modellierung des Bodenverhaltens stets die effektiven Spannungengemeint sind.

3.1.3 Spannungs- und Dehnungsinvarianten1

Wenn das mechanische Verhalten eines Materials gewisse Symmetrien wie z.B. Isotropieaufweist, so können diese bei der Formulierung von Materialmodellen ausgenutzt wer-den. Beispielsweise lassen sich Operationen mit Tensoren in Teilen oder vollständig in1Aufgrund der im Abschn. 1.5 vereinbarten Vorzeichenkonvention gibt es u.U. Abweichungen zwischenden hier angegebenen Definitionen und den in der Bodenmechanik üblichen!

38 KAPITEL 3. MATERIALMODELLE FÜR BÖDEN

Operationen mit skalaren, invarianten Größen überführen, wodurch Zusammenhängeleichter überschaubar und überprüfbar werden. Selbst ohne die Betrachtung möglicherIsotropien ist die Definition von Vergleichsspannungen und Vergleichsdehnungen sinn-voll, um reale, mehrachsige Beanspruchungen in fiktive, einachsige Beanspruchungenzu überführen. Eine Vergleichsspannung sollte zwei Bedingungen erfüllen, nämlich (i)den Spannungszustand möglichst umfassend beschreiben und (ii) versagensrelevanteInformationen beinhalten. Letztere liegen z.B. in den Fließ- und Bruchkriterien derFestigkeitslehre (Plastizitätstheorie).

Für die Definition von Invarianten des Cauchy-Spannungstensors σ(P, t) sowie des infi-nitesimalen Dehnungstensors ε(P, t) greifen wir auf die Beziehungen und Operationenfür symmetrische Tensoren zweiter Stufe aus Kap. 2 zurück. Wir legen allen Betrach-tungen den dreidimensionalen Euklidischen Raum S def= R3 zugrunde, mit der ortho-normierten Basis e1, e2, e3R3 und den kartesischen Koordinaten x1

def= x, x2def= y,

x3def= z. Der Spannungstensor und der Dehnungstensor besitzen dann jeweils die Dar-

stellungen

σ = σij ei⊗ ej und ε = εij ei⊗ ej , mit i, j ∈ 1, 2, 3 . (3.1.6)

Spannungsinvarianten und Haigh-Westergaard Koordinaten

Der Spannungstensor wird additiv aufgespalten in seinen Kugeltensor und Deviator:

σ = −pI + s . (3.1.7)

Hierin bezeichnet

pdef= −1

3 spσ = −13(σ11 + σ22 + σ33) = −1

3(σxx + σyy + σzz) (3.1.8)

die (negative) mittlere Spannung, und s def= σdev = σ + pI. Bei reinen Festkörpernohne innere Zwangsbedingungen ist die negative mittlere Spannung äquivalent zumDruck und damit ein Maß für den Widerstand, den der Körper einer Volumenänderungentgegensetzt.

Wir bezeichnen die Hauptinvarianten von σ mit I1, I2, I3 und diejenigen von s mitJ1,−J2, J3; die Verwendung des negativen Wertes von J2 ist eine allgemein üblicheKonvention. Darüber hinaus seien σ1, σ2, σ3 die Eigenwerte von σ (Hauptspannungen)und s1, s2, s3 die Eigenwerte von s. Die Definitionen (2.2.87)–(2.2.89) liefern dann

I1 = σ11 + σ22 + σ33 = σ1 + σ2 + σ3 = −3p (3.1.9)

sowie

J1 = sii = s11 + s22 + s33 = s1 + s2 + s3 = σ1 + σ2 + σ3 + 3p = 0 , (3.1.10)J2 = 1

2sijsji = 12(s2

11 + s222 + s2

33 + 2s212 + 2s2

23 + 2s213) = 1

2(s21 + s2

2 + s23) (3.1.11)

= 16((σ1 − σ2)2 + (σ2 − σ3)2 + (σ3 − σ1)2) ,

J3 = det(sij) = 13sijsjkski = 1

3(s31 + s3

2 + s33) = s1s2s3 . (3.1.12)

3.1. ALLGEMEINE BEMERKUNGEN 39

mit sij = σij + p falls i = j, und sij = σij falls i 6= j. Es besteht der Zusammenhang

J2 = 13(I2

1 − 3I2) und J3 = 127(2I3

1 − 9I1I2 + 27I3) . (3.1.13)

Mit Hilfe der zweiten Invariante des Spannungsdeviators definiert man die von-Mises-Spannung oder Deviatorspannung

qdef=√

3J2 =√

32 ‖s‖ , (3.1.14)

welche ein Maß für die mittlere Schubspannung darstellt. Demgegenüber ist p ein Maßfür die mittlere Normalspannung.

Im Triaxialgerät, einem der wichtigsten Versuchsstände in der experimentellen Boden-mechanik, werden axialsymmetrische Spannungszustände realisiert. Die Komponenteσ1 bezeichnet dann die Axialspannung und σ3 = σ2 die Radialspannung. Unter diesenBedingungen folgen aus (3.1.11) und (3.1.11) dann

p = −13(σ1 + 2σ3) und q = |σ1 − σ3| . (3.1.15)

Für die Deviatorspannung werden häufig auch negative Werte zugelassen, also

q = σ1 − σ3 . (3.1.16)

Unter Beachtung der Symmetrie spannt die Menge aller Spannungstensoren einensechsdimensionalen Spannungsraum auf. Die Hauptachsentransformation reduziert dieAnzahl der Spannungskomponenten auf drei und ermöglicht dadurch die Darstellungdes Spannungszustands im Euklidischen Raum R3. In diesem so definierten Spannungs-raum mit Ursprung O ∈ R3 besitzt ein Spannungspunkt S die kartesischen Koordinatenσ1(S), σ2(S), σ3(S), so dass

−→OS = σ1e1 + σ2e2 + σ3e3 = σiei , mit i ∈ 1, 2, 3 . (3.1.17)

seinen Ortsvektor beschreibt. Dieser Vektor wird dargestellt als Summe−→OS = −−→OM +−−→MS , (3.1.18)

worin−−→OM

def= −pe1 − pe2 − pe3 = 13I1(e1 + e2 + e3) , (3.1.19)

−−→MS

def= s1e1 + s2e2 + s3e3 = siei = (σi + p)ei . (3.1.20)

Gl. (3.1.18) entspricht der Aufspaltung (3.1.7) in einen sphärischen Anteil und einendeviatorischen Anteil, hier jedoch dargestellt im dreidimensionalen Spannungsraum.Es gilt−−→OM ·

−−→MS = −s1p e1 · e1 − s2p e2 · e2 − s3p e3 · e3 = −(s1 + s2 + s3)p = 0 , (3.1.21)

d.h. −−→OM und −−→MS sind orthogonal zueinander.

40 KAPITEL 3. MATERIALMODELLE FÜR BÖDEN

Der sphärische Anteil −−→OM ist ein Vektor entlang der hydrostatischen Achse

σ1 = σ2 = σ3 , (3.1.22)

die auch als Äquisektrix bezeichnet wird. Die Richtung von −−→OM ist daher für alle Span-nungszustände gleich. Der hydrostatischen Achse kann der nicht-normierte Basisvektor

epdef= e1 + e2 + e3 , mit ‖ep‖ =

√12 + 12 + 12 =

√3 (3.1.23)

zugewiesen werden, woraus sich−−→OM = −pep , mit ‖−−→OM‖ = |I1|/

√3 def= |ξ| (3.1.24)

ergibt. Man beachte, dass ξ 6= p.

Die Ebene, die von −−→OM und −−→MS aufgespannt wird, heißt Meridianebene des Span-nungspunktes S. Die Ebene senkrecht zur hydrostatischen Achse −−→OM heißt Deviatore-bene oder π-Ebene und wird durch die Gleichung

I1 −√

3 ξ = 0 (3.1.25)

eindeutig beschrieben. Die Koordinate ξ ist dann der Abstand zwischen dem UrsprungO und dem Spannungspunkt M in der Deviatorebene, gemessen entlang der Flächen-normalen −−→OM . Mit (3.1.23) folgt aus (3.1.20)

−−→MS = σiei + pep

= s1(ep − e2 − e3) + s2(ep − e1 − e3) + s3(ep − e1 − e2) ,(3.1.26)

und‖−−→MS‖ =

√s2

1 + s22 + s2

3 =√

2J2 = ‖s‖ =√

23 q

def= ρ . (3.1.27)

Das Spannungsmaß ρ ist der Radius eines Kreises in der Deviatorebene mit MittelpunktM , auf dem der Spanungspunkt S liegt.

Die Projektion e∗i eines Basisvektors ei, mit ‖ei‖ = 1, entlang der Normalen ep auf dieDeviatorebene hat die Länge

‖e∗i ‖ = cos(arctan

(1/√

2))

=√

2/3 , so dass ei =√

32 e∗i . (3.1.28)

In der Projektion besitzen die Basisvektoren also die verkürzte Länge√

2/3. Dies kannmit Hilfe trigonometrischer Beziehungen am Einheitswürfel leicht gezeigt werden. Ent-sprechend gilt für die Komponenten des deviatorischen Anteils des Spannungsvektorsin der Projektion auf die Deviatorebene

−−→MS · e∗i =

√23(sjej) · ei =

√23 sjδij =

√23 si

def= s∗i . (3.1.29)

Der Spannungszustand wäre durch Angabe der skalaren Größen ξ und ρ allein nochnicht eindeutig bestimmt. Man benötigt außerdem noch die Richtung von −−→MS, die in

3.1. ALLGEMEINE BEMERKUNGEN 41

Form eines Rotationswinkels θ, dem Lode-Winkel, angegeben wird. Werden die Haupt-spannungen so sortiert, dass

σ1 ≥ σ2 ≥ σ3 (3.1.30)

gilt, dann kann der Wertebereich dieses Winkels aus Symmetriegründen auf ein Sechsteldes Vollkreises eingeschränkt werden. Eine mögliche Definition des Lode-Winkels lautetdann

cos(3θ) def= 3√

32

J3

J3/22

, mit 0 ≤ θ ≤ π

3 . (3.1.31)

Der Lode-Winkel ist dann auf der Deviatorebene zu messen als der Winkel zwischender σ1-Achse und −−→MS.

Ein Spannungszustand kann sowohl durch die Hauptspannungen σ1, σ2, σ3 als auchdurch das Tripel ξ, ρ, θ ausgedrückt werden. Letzteres definiert das sog. Haigh-Westergaard Koordinatensystem.

Hier sei noch angemerkt, dass der Lode-Winkel mit verschiedenen Belastungssituatio-nen bzw. Belastungsrichtungen im Zusammenhang steht:

θ = π/3 Triaxiale Kompression, σ1 = σ2 ≥ σ3 ,θ = π/6 Reine Scherung, σ2 = (σ1 + σ3)/2 ,θ = 0 Triaxiale Extension, σ1 ≥ σ2 = σ3 .

Der Fall der reinen Scherung führt auf

p = −13(σ1 + 1

2(σ1 + σ3) + σ3) = 13(3

2σ1 + 32σ3) = 1

2(σ1 + σ3) (3.1.32)

sowie

s1 = σ1 − 12(σ1 + σ3) = 1

2(σ1 − σ3) , (3.1.33)s2 = 1

2(σ1 + σ3)− 12(σ1 + σ3) = 0 , (3.1.34)

s3 = σ3 − 12(σ1 + σ3) = −1

2(σ1 − σ3) . (3.1.35)

Die hieraus abgeleiteten Spannungsinvarianten

sdef= −1

2(σ1 + σ3) und tdef= 1

2(σ1 − σ3) (3.1.36)

entsprechen der mittleren Spannung und maximalen Schubspannung bei ebener Sche-rung bzw. im Triaxialversuch mit axialsymmetrischem Spannungszustand (σ1: Axial-spannung, σ3 = σ2: Radialspannung).

Dehnungsinvarianten

Die Dehnungsinvarianten definiert man gerade so, dass sie mit den Spannungsinvari-anten arbeitskonforme Paare bilden, d.h.

σ : ε = σi εi = p εp + q εq , (3.1.37)

42 KAPITEL 3. MATERIALMODELLE FÜR BÖDEN

wobei ε1, ε2, ε3 die Eigenwerte von ε (Hauptdehnungen) sind. Die Größe εp entsprichtdann der Volumendehnung und εq ist eine äquivalente Scherdehung, mit

εpdef= εvol

def= sp ε = ε11 + ε22 + ε33 = ε1 + ε2 + ε3 , (3.1.38)

εqdef=√

23 ‖εdev‖ =

√43J

ε2 . (3.1.39)

Hierin bezeichnet Jε2 die (negative) zweite Hauptinvariante des Dehnungsdeviators εdev.Die Aufspaltung des Dehnungstensors in Kugelanteil und Deviator erfolgt schließlichanalog zum Spannungstensor:

ε = 13εvolI + εdev . (3.1.40)

Für die Komponenten von εdev schreiben wir vereinfachend eij def= (εdev)ij.

Der Vollständigkeit halber geben wir die Formeln der Invarianten für den Fall axial-symmetrischer Dehnungszustände (ε1: Axialdehnung, ε3 = ε2: Radialdehnung) an:

εp = ε1 + 2ε3 und εq = 23 |ε1 − ε3| . (3.1.41)

Auch hier lässt man häufig negative Werte für εq zu, also

εq = 23(ε1 − ε3) . (3.1.42)

Auf diese Weise erhält man Größen, die zu den gemäß (3.1.15) berechneten Spannungs-invarianten arbeitskonform sind.

3.2 Elastische Modelle

3.2.1 Lineare Elastizität

Elastizität drückt aus, dass die unter einer Belastung auftretenden Verformungen rever-sibel sind. Wird eine elastische Materialprobe belastet und anschließend um das gleicheMaß wieder entlastet, so geht die Probe in ihre Ausgangskonfiguration zurück. Bei einerlinear elastischen Probe ist die Verformung darüber hinaus proportional zur Belastung.Reales Bodenverhalten ist nur bei sehr kleinen Verzerrungsamplituden (<10−6) linearelastisch. Die lineare Elastiziät eignet sich daher gut für die Berechnung der Wellenaus-breitung im Baugrund, jedoch nicht für Verformungsberechnungen bis zur Grenzlast.

Zu den einfachsten Materialmodellen für Festkörper zählt die lineare isotrope Elastizitätbzw. das verallgemeinerte Hooke’sche Gesetz

σdef= Ce : ε , in Komponenten σij

def= Ceijkl εkl . (3.2.1)

Hierbei bezeichnet Ce den konstanten linearen isotropen Elastizitätstensor. Dieser Ten-sor enthält also nur Konstanten und kann lokal dargestellt werden durch

Ce def= λ I ⊗ I + 2µ 1sym bzw. Ceijkl

def= λ δijδkl + µ(δikδjl + δilδjk) . (3.2.2)

3.2. ELASTISCHE MODELLE 43

Die Faktoren λ und µ bezeichnen die Lamé-Konstanten, I ist der Einheitstensor zweiterStufe und 1sym der symmetrisierende Einheitstensor vierter Stufe oder Symmetrierergemäß (2.2.82). Für (3.2.1) können wir mit den Definitionen aus dem letzten Abschnittauch

σ = λεvolI + 2µε (3.2.3)

schreiben. Diese Darstellung des verallgemeinerten Hooke’schen Gesetzes enthält nurTensoren zweiter Stufe.

In der Bodenmechanik werden die Lamé-Konstanten üblicherweise ersetzt durch denKompressionsmodul und den Schubmodul,

K = λ+ 23µ und G = µ . (3.2.4)

Mit Hilfe des Elastizitätsmoduls E und der Querdehnzahl ν lassen sich diese elastischenKonstanten auch ausdrücken als

K = E

3(1− 2ν) und G = E

2(1 + ν) . (3.2.5)

Auf diese Weise erhält man eine weitere Darstellung des Materialmodells (3.2.1):

σ = KεvolI + 2Gεdev bzw. σij = Kεkkδij + 2Geij , (3.2.6)

so dassCe = K I ⊗ I + 2G 1dev . (3.2.7)

1dev ist der Deviator-Einheitstensor vierter Stufe gemäß (2.2.84). Die inverse Form von(3.2.6) drückt die Dehnung als Funktion der Spannung aus:

ε = − p

3K I + 12Gs bzw. εij = − p

3Kδij + 12Gsij . (3.2.8)

Aufgrund der vorausgesetzten Isotropie lässt sich das verallgemeinerte Hooke’sche Ge-setz sogar auf zwei skalare Gleichungen reduzieren. Mit den Aufspaltungen (3.1.7) und(3.1.40) und den damit einhergehenden Definitionen des vorangegangenen Abschnittsfolgt nämlich

p = −K εvol und q = 3Gεq . (3.2.9)

Beispiel: Kompression mit behinderter Seitendehnung

Als ein einfaches Anwendungsbeispiel der linearen isotropen Elastizität betrachten wirnun eine Bodenprobe, die in ihrer Seitendehnung behindert ist und sich lediglich inz-Richtung frei verformen kann, d.h. ε11 = ε22 = 0 und εij = 0 für alle i 6= j. Manspricht hierbei von ödometrischen Randbedingungen, welche im Ödometerversuch rea-lisiert werden und näherungsweise für einen homogenen Halbraum in situ gelten.

44 KAPITEL 3. MATERIALMODELLE FÜR BÖDEN

Setzt man die angegebenen Bedingungen in (3.2.6) ein, so besteht unter Beachtung von(3.2.5) zwischen der Spannung in z-Richtung σ33 und den Dehnungen der Zusammen-hang

σ33 = Kεkkδ33 + 2G(ε33 − 13εkk) = Kε33 + 2G(ε33 − 1

3ε33) = (K + 43G) ε33

= E

(1

3(1− 2ν) + 46(1 + ν)

)ε33 = E

6(1 + ν) + 12(1− 2ν)18(1− 2ν)(1 + ν) ε33

= E (1− ν)(1 + ν)(1− 2ν) ε33 .

(3.2.10)

Der FaktorEs

def= E (1− ν)(1 + ν)(1− 2ν) (3.2.11)

ist der linear elastische Steifemodul. Er entspricht dem Elastizitätsmodul bei behinder-ter Seitendehnung.

Wir nehmen nun an, dass bei einer gleichmäßigen Belastung in negative z-Richtungσ0 = −σ33 6= 0 unter ödometrischen Randbedingungen die seitlichen Spannungen ge-rade den Wert σ11 = σ22 = K0σ33 besitzen, worin K0 ≥ 0 dem Erdruhedruckbeiwertentspricht. Es gilt darüber hinaus aufgrund des vorausgesetzen isotropen Verhaltensσij = 0 für alle i 6= j. Aus (3.2.8) und (3.2.5) folgt dann zunächst

ε11 = 19Kσkkδ11 + 1

2G(σ11 − 13σkk)

=( 1

9K + 13G

)σ11 +

( 19K −

16G

)(σ22 + σ33)

= 1− 2ν + 2(1 + ν)3E σ11 + 1− 2ν − (1 + ν)

3E (σ22 + σ33)

= 1E

(σ11 − ν(σ22 + σ33))

= 0 .

(3.2.12)

Einsetzen von σ11 = σ22 = K0σ33 liefert nach kurzem Umformen schließlich eine Bezie-hung zwischen der Querdehnzahl und dem Erdruhedruckbeiwert:

ν = K0

1 +K0bzw. K0 = ν

1− ν , mit −1 < ν < 0,5 . (3.2.13)

Der zulässige Wertebereich von ν ergibt sich unmittelbar aus (3.2.5). Wenn also linearisotrop elastisches Bodenverhalten vorausgesetzt wird, dann gilt entsprechend

−0,5 < K0 < 1 . (3.2.14)

Der Erdruhedruckbeiwert eines Bodens kann mit Hilfe der empirischen Formel vonJaky,

K0def= 1− sinφ′ , (3.2.15)

abgeschätzt werden. Hierin ist φ′ der Reibungswinkel des Bodens. Es sei jedoch ange-merkt, dass die Formel bei bestimmten Baugrundsituationen den Erdruhedruck unter-schätzt und K0 durchaus Werte größer als Eins annehmen kann.

3.2. ELASTISCHE MODELLE 45

3.2.2 Nichtlineare Elastizität

Bei Verzerrungsamplituden >10−6 zeigen sowohl bindige als auch nichtbindige Bödenein nichtlineares mechanisches Verhalten. Bis zu einer Verzerrungsamplitude von unge-fähr 10−4 bleiben die Verformungen jedoch reversibel, so dass Böden in diesem Bereichder Beanspruchung durch nichtlinear elastische Materialmodelle auf geeignete Weiseabgebildet werden.

Nichtlinear elastische Modelle besitzen die allgemeine Form

σdef= Cs(σ) : ε bzw. σ

def= Cs∗(ε) : ε , (3.2.16)

d.h. der Steifigkeitstensor Cs ist abhängig von der Spannung bzw. der Dehnung undgegebenenfalls weiteren Zustandsvariablen. Der hochgestellte Index s drückt aus, dasses sich um eine Sekantensteifigkeit handelt (s wie „Sekante“). Diese wird als Sekantedurch einen gegebenen Punkt (ε0, σ0) einer Spannungs-Dehnungs-Kurve σ(ε) gemessen,mit σ0

def= σ(ε0). Im eindimensionalen Fall gilt also

Cs(σ0) def= σ(ε)ε

∣∣∣∣∣ε0

. (3.2.17)

Demgegenüber ist die Tangentensteifigkeit definiert als Tangente an die Kurve σ(ε) imPunkt (ε0, σ0):

Ct(σ0) def= ∂σ(ε)∂ε

∣∣∣∣∣ε0

. (3.2.18)

Die Tangentensteifigkeit ist der Stefigkeitstensor in der Ratenform von (3.2.16),

σdef= Ct(σ) : ε bzw. σ

def= Ct∗(ε) : ε . (3.2.19)

Die σ-ε-Beziehung ist in der Bodenmechanik die bevorzugte Form eines Materialm-odells, weil die σ-ε-Beziehung stark nichtlinear und in der Regel auch pfadabhängigbzw. geschichtsabhängig ist.

Die Definition der Elastizität verlangt Pfadunabhängigkeit, d.h. unabhängig vom Deh-nungspfad (bzw. Spannungspfad) ist jedem Wert der Dehnung ein eindeutiger Wertder Spannung (bzw. Dehnung) zugeordnet. Anders ausgedrückt muss die Beziehung(3.2.19) integrierbar ist. Es muss also eine eindeutige und invertierbare Beziehung zwi-schen der Spannung und der Dehnung existieren, und nicht nur zwischen der Spannungs-und der Dehnungsrate.

Einen Spezialfall der vorangegangenen Beziehungen stellt die nichtlineare isotrope Elas-tizität dar. Diese wird ebenfalls durch die Spannungs-Dehnungs-Beziehung (3.2.6) bzw.(3.2.9) dargestellt, allerdings sind in diesem Fall K und G spannungs- bzw. dehnungs-abhängig.

Ein anderes, in der Bodenmechanik weit verbreitetes nichtlinear elastisches Mate-rialmodell ist das Duncan-Chang Modell. Es beruht auf der Beobachtung, dass die

46 KAPITEL 3. MATERIALMODELLE FÜR BÖDEN

Spannungs-Dehnungs-Kurve bei einem Triaxialversuch durch eine Hyperbel angenä-hert werden kann:

qdef= ε1

a+ b ε1bzw. ε1

qdef= a+ b ε1 . (3.2.20)

Hierin sind q = σ1 − σ3 die Deviatorspannung und ε1 die Axialdehnung, a ist derKehrwert der anfänglichen Tangentensteifigkeit und b der Kehrwert des Grenzwertesqult bei sehr großen Axialdehnungen. Die rechte Gleichung ergibt sich durch einfacheUmformung der linken Gleichung und beschreibt eine Gerade im ε1-(ε1/q)-Raum.

3.3 Elastisch-Plastische Modelle

3.3.1 Modellkomponenten

In der klassischen Plastizitätstheorie wird plastisches Fließen als ein irreversibler Pro-zess verstanden, der durch die Materialgeschichte charakterisiert wird. Die Material-geschichte eines Körpers B ⊂ R3 zu einem betrachteten Zeitpunkt t ∈ R wird dabeidefiniert als

]−∞, t] 3 τ 7→ (σ(P, τ),κ(P, τ)) , für alle P ∈ B . (3.3.1)

κdef= κ1, . . . , κa ist eine Liste von (möglicherweise tensorwertigen) inneren Zustands-

variablen, zumeist bezeichnet als Verfestigungsparameter oder plastische Variablen.Insbesondere versteht man die Elemente von κ als Variablen vom Spannungstyp, wiez.B. die Fließgrenze. Man könnte genauso mit einer Liste innerer Variablen vom Deh-nungstyp arbeiten, welche zu den Zustandsvariablen vom Spannungstyp komplementärsind.

Der Zustand eines elastisch-plastischen Materials ist definiert durch das Paar

(σ,κ) ∈ T sym2 ×K , (3.3.2)

worin T sym2 die Menge aller symmetrischen Tensorfelder zweiter Stufe bezeichnet und

K def= κ |κ ∈ K die Menge aller Listen plastischer Variablen vom Spannungstyp.Demzufolge kann die Materialgeschichte als die zeitliche Aneinanderreihung aller ver-gangener Zustände aufgefasst werden.

Die Modelle der klassischen Elasto-Plastizität werden dann durch folgende Komponen-ten beschrieben:

Additive Zerlegung der Dehnungsrate

Die Rate der infinitesimalen Dehnung wird additiv in einen elastischen und einen plas-tischen Anteil aufgespalten:

εdef= εe + εp , in Komponenten εij

def= εeij + εp

ij . (3.3.3)

3.3. ELASTISCH-PLASTISCHE MODELLE 47

Spannungsantwort

Die Änderung der Spannung wird beschrieben durch ein elastisches Materialmodell vonRatentyp in der Form

σdef= Ct(σ) : (ε− εp) . (3.3.4)

Im einfachsten Fall ist der Steifigkeitstensor gegeben durch den konstanten linearenisotropen Elastizitätstensor (3.2.2) bzw. (3.2.7).

Elastischer Bereich und Festigkeitskriterium

Eine differenzierbare Funktion

f : T sym2 ×K → R (3.3.5)

heißt Fließfunktion oder Festigkeitskriterium und

Aσdef= (σ,κ) ∈ T sym

2 ×K | f(σ,κ) ≤ 0 (3.3.6)

ist die Menge aller zulässigen Zustände im Spannungsraum. Ein zulässiger Zustand(σ,κ) ∈ Aσ, welcher f(σ,κ) < 0 erfüllt, gehört zum elastischen Bereich oder heißt einelastischer Zustand. Für f(σ,κ) = 0 liegt der Zustand auf der Fließfläche und heißtein elasto-plastischer Zustand. Zustände mit f > 0 sind unzulässig.

Fließregel und Verfestigungsregel

Die Evolutionsgleichung für εp heißt Fließregel und diejenige für κ heißt Verfestigungs-regel. Diese sind jeweils gegeben durch Differentialgleichungen in der Form

εp def= γm(σ,κ) und κdef= −γ l(σ,κ) . (3.3.7)

Hierbei sind m und l vorgegebene Funktionen, und γ ≥ 0 heißt Konsistenzparameteroder plastischer Multiplikator.

Die Fließregel legt den Betrag und die Richtung der plastischen Dehnungszuwächse fest.Die Fließregel heißt assoziiert, falls das plastische Dehnungsinkrement εp bei festem κsenkrecht zur Fließfläche f = 0 am Spannungspunkt σ gerichtet ist, also

mdef= ∂f(σ,κ)

∂σ

∣∣∣∣∣κ

. (3.3.8)

Die rechte Seite ist hierbei als Fréchet-Ableitung im Sinne von (2.2.104) aufzufassen.

Im Gegensatz dazu wird bei einer nicht-assoziierten Fließregel das plastische Deh-nungsinkrement aus einem sog. plastischen Potential g 6= f gewonnen:

mdef= ∂g(σ,κ)

∂σ

∣∣∣∣∣κ

, mit g : T sym2 ×K → R . (3.3.9)

48 KAPITEL 3. MATERIALMODELLE FÜR BÖDEN

Es ist auch möglich, m direkt zu definieren und nicht als Ableitung einer Funktion foder g.

Eine wichtige Beobachtung ist, dass bei einer durch (3.3.9)1 gegebenen Fließregel dieHauptachsenrichtungen der plastischen Dehnungsrate und der Spannung übereinstim-men. Diese erzwungene Koaxialität wird in der Literatur kontrovers diskutiert, weil dasplastische Verhalten von Sand und anderen granularen Materialien durchaus davon ab-weichen kann.

Die Verfestigungsregel legt fest, wie sich der elastische Bereich bzw. die Fließflächemit der Belastung verändert. In diesemn Zusammenhang repräsentiert κ bei üblichenisotropen Verfestigungsregeln den aktuellen Radius der Fließfläche, bei kinematischenVerfestigungsregeln hingegen die Achse bzw. den Mittelpunkt der Fließfläche (sog. backstress).

Belastung/Entlastung und Konsistenzbedingung

Es wird angenommen, dass der plastische Multiplikator γ die Bedingungen für Be- undEntlastung bzw. Karush-Kuhn-Tucker-Bedingungen

γ ≥ 0 , f(σ,κ) ≤ 0 , und γ f(σ,κ) = 0 (3.3.10)

ebenso wie die Konsistenzbedingung

γ f(σ,κ) = 0 (3.3.11)

erfüllt, mit

f = ∂f(σ,κ)∂σ

∣∣∣∣∣κ

: σ + ∂f(σ,κ)∂κ

∣∣∣∣∣σ

: κ

= Dσf : σ +Dκf : κ .(3.3.12)

Hierin sind Dσf und Dκf die partiellen Fréchet-Ableitungen von f gemäß (2.2.104).

Durch die genannten Bedingungen sind vier verschiedene Situationen denkbar (Zustän-de mit f > 0 sind definitionsgemäß unzulässig):

f < 0 =⇒ γ = 0 elastisches Verhalten

f = 0

f < 0 =⇒ γ = 0 elastische Entlastungf = 0 und γ = 0 neutrale Belastungf = 0 und γ > 0 plastische Belastung

(3.3.13)

3.3.2 Fließ- und Bruchkriterien

Wir hatten im Abschn. 3.1.3 den Begriff der Vergleichsspannung eingeführt, mit derenHilfe Spannungszustände infolge mehrachsiger Beanspruchungen durch skalare Größenausgedrückt werden können. Vergleichsspannungen bilden die Grundlage von Fließ-und Bruchkriterien.

3.3. ELASTISCH-PLASTISCHE MODELLE 49

Die Fließgrenze oder Fließspannung für einen gegebenen Materialzustand bezeichnetdabei diejenige Vergleichsspannung, bei deren Erreichen (weitere) plastische Verfor-mungen auftreten. Die Bruchgrenze oder Bruchspannung ist hingegen der Maximal-wert der Vergleichsspannung, der für eine bestimmte Materialgeschichte erreicht wer-den kann. Die Bruchgrenze gibt an, ab welcher Belastung ein Material versagt; sie istdaher ein Maß für die Festigkeit des Materials. Bei ideal plastischem Materialverhalten,d.h. ohne Ver- und Entfestigung, sind Fließ- und Bruchgrenze identisch. Gemäß denvorangegangenen Definitionen der klassischen Elasto-Plastizität ist das Materialverhal-ten unterhalb der Fließ- bzw. Bruchgrenze elastisch.

Fließkriterium nach Tresca

Das Fließkriterium nach Tresca ist eines der ältesten Fließkriterien und besagt, dassplastische Verformungen auftreten, sobald die maximale Schubspannung τmax einenkritischen Wert κ erreicht:

f(σ, κ) def= τmax − κ = 0 , (3.3.14)

mitτmax = τmax(σ) def= max(1

2 |σ1 − σ2|, 12 |σ2 − σ3|, 1

2 |σ3 − σ1|) . (3.3.15)

Die im letzten Abschnitt eingeführte Liste der Zustandsvariablen κ = κ1, . . . , κabesteht also aus nur aus einem einzigen Element, nämlich κ. Als kritischer Wert wird dieFließgrenze bei reiner Scherung definiert, d.h. κ def= τy. Diese wird bei Metallen z.B. ausder Fließspannung σy im einaxialem Zugversuch bestimmt (σ1 = σy, σ2 = σ3 = 0), beiundränierten bindigen Böden entspricht der kritische Wert der undränierten Kohäsioncu, also

κ = σy

2 (Metalle) bzw. κ = cu (undränierter bindiger Boden) . (3.3.16)

Mit den im Abschn. 3.1.3 definierten Spannungsinvarianten kann das Fließkriteriumnach Tresca auch in der verallgemeinerten Form

f(σ, τy) def= q sin(θ + 13π)−

√3 τy = 0 , mit 0 ≤ θ ≤ 1

3π , (3.3.17)

geschrieben werden, mit κ = τy. Die durch f(σ, τy) = f(σ, κ) = 0 definierte Tresca-Fließfläche im Spannungsraum beschreibt in jeder Deviatorebene ein regelmäßiges Sechs-eck mit konstanter Kantenlänge ρ =

√23 σ

y = 2√

23 cu; siehe auch Abschn. 3.1.3. Das

Fließkriterium nach Tresca ist also unabhängig von der mittleren Spannung bzw. vonI1 oder ξ.

Fließkriterium nach von Mises

Das Fließkriterium nach von Mises erfasst im Gegensatz zum Fließkritierium nachTresca auch den Einfluss der derjenigen Hauptspannung, deren Wert zwischen der

50 KAPITEL 3. MATERIALMODELLE FÜR BÖDEN

minimalen und maximalen Hauptspannung liegt. Plastische Verformungen treten auf,wenn die mittlere Schubspannung einen kritischen Wert κ erreicht:

f(σ, κ) def= q − κ = 0 . (3.3.18)

Hierin ist q die durch definierte von-Mises-Spannung. Die durch f(σ, κ) = 0 definier-te von-Mises-Fließfläche im Spannungsraum beschreibt in jeder Deviatorebene einenKreis.

Wir können nun verlangen, dass die von-Mises-Fließfläche in die Tresca-Fließflächeeingeschrieben ist. In diesem Fall stimmen beide Fließkriterien für reine Scherung(θ = π/6) überein und (3.3.17) liefert κ =

√3 τy. Die Größe τy ist wiederum die

Fließgrenze bei reiner Scherung. Soll der kritische Wert κ jedoch aus der Fließgrenzeσy bei einaxialem Zug bestimmt werden, so erhalten wir im Gegensatz zu (3.3.16) beimFließkriterium nach Tresca nun die Beziehungen

κ = σy (Metalle) bzw. κ =√

3 cu (undränierter bindiger Boden) . (3.3.19)

Werden stattdessen die beiden Fließkriterien so definiert, dass sie bei einaxialem Zugübereinstimmen, so gilt für die Fließgrenzen bei reiner Scherung

τy(von Mises)τy(Tresca) = 2√

3= 1,15 , (3.3.20)

und die von-Mises-Fließfläche ist in der Deviatorebene ein Umkreis der Tresca-Fließ-fläche.

Bruchkriterium nach Mohr-Coulomb

Das mechanische Verhalten von Böden (mit wenigen Ausnahmen), granularen und wei-teren Materialien wie z.B. Beton ist abhängig von der mittleren (effektiven) Spannung.Der Grund hierfür liegt in ihrem strukturellen Aufbau. Nichtbindige Böden und gra-nulare Materialien bestehen aus Körnern, deren Kontaktkräfte vor allem durch Druckund Reibung bestimmt sind. Bei bindigen Böden kommen Kontaktkräfte aufgrund vonOberflächeneffekten (Kohäsion) hinzu.

Beim Bruchkriterium nach Mohr-Coulomb ist die Schubspannung im Bruchzustand,τ f , eine Funktion der Kohäsion c, dem inneren Reibungswinkel φ ≥ 0 und der Normal-spannung σ (negativ bei Kompression):

τ f def= c− σ tanφ . (3.3.21)

Man spricht in diesem Zusammenhang von Bruch anstatt von Fließen, weil mit demKriterium gerade der Spannungszustand beim Materialversagen abgebildet werden soll.Der innere Reibungswinkel steht nicht ausschließlich im Zusammenhang mit der Korn-zu-Korn Reibung auf der Mikroskala, sondern resultiert auch aus der Anordnung derKörner und der Kornform (Verzahnungseffekte).

3.3. ELASTISCH-PLASTISCHE MODELLE 51

Gl. (3.3.21) beschreibt eine Gerade τ f(σ) im σ-τ -Raum, mit τ f(0) = c. Diese Geradetangiert in dem Raum Mohr’sche Spannungskreise, die bei σ1 und σ3 die σ-Achseschneiden, wobei σ1 ≥ σ2 ≥ σ3 gemäß der Konvention (3.1.30). Aus trigonometrischenBeziehungen erhält man dann die Darstellungen

σ = σ1 + σ3

2 + σ1 − σ3

2 sinφ und τ f = σ1 − σ3

2 cosφ . (3.3.22)

Einsetzen in (3.3.21) liefertσ1 − σ3

2 cosφ = c−(σ1 + σ3

2 + σ1 − σ3

2 sinφ)

tanφ . (3.3.23)

Durch Verallgemeinerung erhält man daraus das Bruchkriterium nach Mohr-Coulombfür beliebige mehrachsige Beanspruchungen:

f(σ, c, φ) def= q sin(θ + 13π) + q√

3cos(θ + 1

3π) sinφ−√

3 p sinφ−√

3 c cosφ

= 0 ,(3.3.24)

mit 0 ≤ θ ≤ 13π. Für φ = 0 und c = τy folgt das Kriterium nach Tresca als Spezialfall.

Die durch (3.3.24) definierte Bruchfläche im Spannungsraum beschreibt eine unregel-mäßige hexagonale Pyramide. Jede Deviatorebene stellt ein unregelmäßiges Sechseckdar, welches symmetrisch bezüglich des Lode-Winkels ist.

Bruchkriterium nach Drucker-Prager

Ebenso wie man das Bruchkriterium nach Mohr-Coulomb als Verallgemeinerung desKriteriums nach Tresca auffassen kann, erhält man das Bruchkriterium nach Drucker-Prager durch Erweiterung des Kriteriums (3.3.18) nach von Mises um eine lineareFunktion der mittleren effektiven Spannung:

f(σ, κ) def= q − α p− κ = 0 . (3.3.25)

α und κ sind Parameter, die die Festigkeit des Materials charakterisieren. Für α = 0folgt aus (3.3.25) gerade (3.3.18).

Im Spannungsraum beschreibt (3.3.25) einen Konus mit kreisförmiger Deviatorebene.Man kann nun α und κ so kalibrieren, dass dieser Konus die Mohr-Coulomb-Bruchfläche(3.3.24) umschreibt oder in diese eingeschrieben ist. Im erstgenannten Fall stimmen dieFunktionswerte bei triaxialer Kompression (θ = π/3) überein und man erhält

α = 6 sinφ3− sinφ und κ = 6c cosφ

3− sinφ . (3.3.26)

Man beachte, dass sich daraus für φ = 0 und c = cu > 0 (undränierter bindiger Boden)gerade α = 0 und κ = 2cu ergeben. Die Werte der undränierten Kohäsion für dasDrucker-Prager und das von Mises Kriterium stehen also in diesem Fall im Verhältnis

cu(Drucker-Prager)cu(vonMises) =

√3

2 = 0,87 . (3.3.27)

52 KAPITEL 3. MATERIALMODELLE FÜR BÖDEN

3.3.3 Herleitung des Steifigkeitstensors

Hat man ein Festigkeitskritierium (Fließ- oder Bruchkriterium) und ggf. ein davonabweichendes plastisches Potential festgelegt, so lässt sich mit den Modellkomponentenaus Abschn. 3.3.1 eine zugehörige σ-ε-Beziehung in der Form

σ = Cep(σ,κ) : ε (3.3.28)

herleiten. Der elasto-plastische Steifigkeitstensor Cep stellt die Tangentensteifigkeit ander Stelle ε = ε0 für einen Materialzustand (σ0,κ0) dar, d.h.

Cep(σ0,κ0) = ∂σ(ε,κ)∂ε

∣∣∣∣∣ε0,κ0

. (3.3.29)

Die rechte Seite ist die Fréchet-Ableitung einer entsprechenden Spannungsfunktion imSinne von (2.2.104).

Je nach Festigkeitskritierium, Fließ- und Verfestigungsregeln ist die Herleitung derTangentensteifigkeit mehr oder weniger komplex. Als ein einfaches Beispiel wird hierein elasto-plastisches Materialmodell mit Fließkriterium nach von Mises, assoziierterFließregel und einer linearen isotropen Verfestigungregel betrachtet. Dabei handelt essich um ein Standardmodell für Metalle, und man spricht in diesem Zusammenhangauch von der von-Mises-Plastizität oder J2-Plastizität mit isotroper Verfestigung.

Die wesentlichen Komponenten des Materialmodells sind das Fließkriterium (3.3.18),welches wir hier durch

f(σ, σy) def= q − σy = 0 (3.3.30)ausdrücken, sowie eine lineare Beziehung für die aktuelle Fließgrenze:

σy(εp) def= σy0 + Ep εp . (3.3.31)

Die Streckgrenze bzw. Anfangsfließgrenze σy0 und der sog. plastische Modul Ep sindMaterialparameter, zusätzlich zu den Materialparametern für die elastische Steifigkeit.Die äquivalente plastische Dehnung εp ist eine Zustandsvariable vom Dehnungstyp undwird als Funktion der plastischen Dehnungsrate εp aufgefasst. Gl. (3.3.31) beschreibtdemnach eine Gerade im εp-σ-Raum.

Die Berücksichtigung von (3.3.31) führt zu einem bilinearen elasto-plastischen Mate-rialverhalten mit isotropem Verfestigungsmechanismus. Bilinear bedeutet in diesemKontext, dass ein Stab im eindimensionalen Zugversuch sich zunächst linear elastischverhält, mit einem Elastizitätsmodul E. Nach Erreichen der Streckgrenze σy0 tritt plas-tisches Fließen auf, und das Material verfestigt sich linear gemäß der Vorschrift (3.3.31).Die Gesamtdehnung ergibt sich aus

ε = εe + εp = σ

E+ σ

Epdef= σ

Et . (3.3.32)

Der elasto-plastische Tangentenmodul Et folgt daraus zu

Et = E Ep

E + Ep . (3.3.33)

3.3. ELASTISCH-PLASTISCHE MODELLE 53

Die Änderung der Spannung sei nun in Anlehnung an (3.3.4) gegeben durch

σ = Ce : (ε− εp) , (3.3.34)

worin Ce den konstanten isotropen Elastizitätstensor aus (3.2.2) bzw. (3.2.7) darstellt.Darüber hinaus werde plastischen Fließen durch eine assoziierte Fließregel abgebildet.Mit den Definitionen (3.3.7)1, (3.3.8), (3.3.2) sowie den üblichen Regeln für Differen-tiation erhält man zunächst

εp def= γ∂f(σ, σy)

∂σ

∣∣∣∣∣σy

= γ∂q(σ)∂σ

= γ∂(3J2(σ))1/2

∂σ= γ

32√

3J2

∂J2(σ)∂σ

= γ32q

∂J2(s)∂s

: ∂s∂σ

.

(3.3.35)

Die (Fréchet-)Ableitung der zweiten Hauptinvariante des Spannungsdeviators nach demSpannungsdeviator berechnen wir komponentenweise:

∂J2(sij)∂skl

= 12∂

∂skl(sijsji) = 1

2

(∂sij∂skl

sji + sij∂sji∂skl

)

= 12 (δikδjlsji + sijδjkδil) = skl .

(3.3.36)

Die Ableitung des Deviators eines Tensors zweiter Stufe nach dem Tensor ist gerade derist der Deviator-Einheitstensor vierter Stufe definiert durch (2.2.84), siehe (2.2.112).Daraus folgt für die Fließregel

εp = γ32q s : 1dev = γ

32q s = γ

3‖s‖2q

s

‖s‖= γ

√32s

‖s‖def= γ

√32 n , (3.3.37)

mit‖n‖ = 1 , spn = sp s

‖s‖= 0 und daher εp ≡ εp

dev . (3.3.38)

Plastisches Fließen ist also rein deviatorisch, d.h. eine irreversible Volumenänderungfindet nicht statt.

Unter Anwendung dieser Eigenschaft zusammen mit (3.3.37) und (3.1.39) erhalten wiraus (3.3.31) eine Evolutionsgleichung für die Fließgrenze:

σy = Ep εp ≡ Ep εpq = Ep

√23‖ε

p‖ = γ Ep bzw. εp = γ . (3.3.39)

Diese entspricht gemäß Definition (3.3.7) einer speziellen Verfestigungsregel und be-schreibt die Veränderung des Radius der von-Mises-Fließfläche.

Mit den bis hierhin durchgeführten Herleitungen ergibt sich für die Konsistenzbedin-gung (3.3.12) während plastischer Belastung, f = 0, die spezielle Form

f = ∂f(σ, σy)∂σ

∣∣∣∣∣σy

: σ + ∂f(σ, σy)∂σy

∣∣∣∣∣σ

σy =√

32 n : Ce : (ε− εp) + γ Ep

= 2G√

32 n : εdev − γ 3G+ γ Ep = 0 .

(3.3.40)

54 KAPITEL 3. MATERIALMODELLE FÜR BÖDEN

Hierbei wurde ausgenutzt, dass n deviatorisch und normiert ist, denn es gelten

n : Ce = K n : I ⊗ I + 2Gn : 1dev = K(spn)I + 2Gn = 2Gn (3.3.41)

und n : ε = n : εdev. Der plastischer Multiplikator errechnet sich also aus

γ = 2G3G+ Ep

√32 n : εdev (3.3.42)

und vervollständigt das Materialmodell.

Wir können nun die Fließregel (3.3.37) mit dem plastischen Multiplikator (3.3.42) indie Spannungsantwort (3.3.34) einsetzen und erhalten schließlich die Beziehung

σ = Ce :(ε− 3Gn : εdev

3G+ Ep n)

=(Ce − 3G

3G+ Ep Ce : n⊗ n

): ε

=(Ce − 6G2

3G+ Ep n⊗ n)

: ε def= Cep : ε .(3.3.43)

Wir fassen zusammen, dass der elasto-plastische Steifigkeitstensor für die von-Mises-Plastizität mit linearer isotroper Verfestigung gegeben ist durch

Cep(σ, σy) def= Ce − 6G2

3G+ Ep n⊗ n (3.3.44)

bei plastischer Belastung, und durch Cep(σ, σy) def= Ce bei elastischer Be- und Entlas-tung sowie bei neutraler Belastung. Die Unterscheidung dieser Belastungsmodi erfolgtauf der Grundlage von (3.3.13) und (3.3.30) zusammen mit (3.3.31). Der Steifigkeits-tensor hängt daher nur indirekt von σy ab

Kapitel 4

Grundlagen der Finite ElementeMethode

4.1 Schwache Form des Anfangsrandwertproblems

4.1.1 Mechanisches Anfangsrandwertproblem

Wie bereits festgelegt, betrachten wir ausschließlich mechanische Problemstellungenmit kleinen Verformungen eines materiellen Körpers B ⊂ S über ein Zeitintervall[0, T ] ∈ R. Die Problemstellung soll dem Massenerhaltungssatz (2.4.10) genügen unddurch die Impulsbilanz (2.4.15), also

divσ + ρg − ρu = o , (4.1.1)

beschrieben werden. Darüber hinaus sei an jedem Partikel P ∈ B und für alle t ∈[0, T ] der Spannungstensor σ = σT durch ein Materialmodell mit dem infinitesimalenDehnungstensor ε verknüpft. Das Materialmodell ist also eine Funktion der Bewegungdes materiellen Körpers, so dass (4.1.1) ein System von Bewegungsgleichungen bildet.

Die Problemstellung ist so noch nicht lösbar, weil (4.1.1) eine partielle Differential-gleichung ist, in der einerseits die zweite Ableitung des Verschiebungsfeldes u nachder Zeit und andererseits die erste Ableitung des Spannungsfeldes nach dem Ort auf-taucht. Es müssen daher zusätzlich Anfangs- und Randbedingungen vorgegeben underfüllt werden.

Wir wählen als Anfangsbedingungen zum Zeitpunkt t = 0

u(0) = u0 und σ(0) = σ0 , (4.1.2)

als Verschiebungsrandbedingung (allg. Dirichlet-Randbedingung)

u = u auf ∂uB (4.1.3)

und als Spannungsrandbedingung (allg. Neumann-Randbedingung)

σ · n = t auf ∂σB (4.1.4)

56 KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER FINITE ELEMENTE METHODE

für jeden Zeitpunkt t ∈ [0, T ]. Für die so definierten Randabschnitte ∂uB, ∂σB ⊂ ∂Bgelte außerdem ∂uB ∪ ∂σB = ∂B und ∂uB ∩ ∂σB = ∅. Mit anderen Worten ist aufdem Rand des materiellen Körpers entweder eine Spannung oder eine Verschiebungvorgegeben.

Wir nennen eine Problemstellung, welche durch die Impulsbilanz (4.1.1) zusammen mitder Anfangsbedingung (4.1.2) und den Randbedingungen (4.1.3) und (4.1.4) vollständigbeschrieben wird, ein mechanisches Anfangsrandwertproblem. Weil hierbei die lokaleImpulsbilanz, also eine Differentialgleichung verwendet wird, spricht man speziell vonder Starken Form des mechanischen Anfangsrandwertproblems.

Sofern die beteiligten Felder zeitunabhängig sind, spricht man von einem Randwertpro-blem (s. Kap. 1). In der Geotechnik trifft dies vor allem auf statische oder quasi-statischeProbleme in nichtbindigen Böden zu. Für viele praktische Fragestellungen spielt jedochdie zeitliche Dimension eine wichtige Rolle (z.B. bei Konsolidierung oder dynamischerAnregung).

4.1.2 Schwache Formulierung (virtuelle Arbeit)

Es genügt uns, das mechanische Anfangsrandwertproblem näherungsweise zu lösen.Hierfür verwenden wir einen grundlegenden mathematischen Zusammenhang, der alsFundamentallemma der Variationsrechnung bekannt ist: sei [a, b] ⊂ R ein Intervall,f : [a, b]→ R eine stetige Funktion auf diesem Intervall und h : [a, b]→ R eine andere,ebenfalls stetige Funktion welche h(a) = 0 und h(b) = 0 erfüllt. Falls dann∫ b

af(s)h(s) ds = 0 (4.1.5)

gilt, dann gilt zugleich f(s) = 0 für alle s ∈ [a, b]. Man nennt∫ ba f(s)h(s) ds = 0 die

Schwache Form der Gleichung f(s) = 0 und Letztere ihre Starke Form.

Bezogen auf das mechanische Anfangsrandwertproblem entspricht f(s) = 0 der Impuls-bilanz (4.1.1). Anstelle von h(s) definieren wir das Feld δu als ein Verschiebungsfeld, fürwelches δu = o auf dem Randabschnitt ∂uB gilt. Ein solches Feld heißt eine zulässigeVariation der Verschiebung u bzw. eine virtuelle Verschiebung, und für die Gesamtheitdieser Vektorfelder schreiben wir Z. Präzise schreibt man

Z def= δu : B → S × V | δu = o auf ∂uB . (4.1.6)

Jeder Term in (4.1.1) wird sodann mit δu skalar multipliziert bzw. einfach überschobenund über B integriert. Man erhält dadurch zunächst∫

Bδu · (divσ + ρg − ρu) dv = 0 . (4.1.7)

Für den ersten Integranden liefert die Produktregel für Differentiation unter Berück-sichtigung von (2.2.96) die Beziehung

divσ · δu = div(δu · σ)− σ :∇(δu) . (4.1.8)

4.1. SCHWACHE FORM DES ANFANGSRANDWERTPROBLEMS 57

Aufgrund der Symmetrie des Spannungstensors gilt für den zweiten Term auf der rech-ten Seite

σ :∇(δu) = σ : δε , mit δεdef= 1

2

(∇(δu) + (∇(δu))T

), (4.1.9)

δε entspricht dabei einer virtuellen Dehnung. Einsetzen in (4.1.7) ergibt∫B

(div(δu · σ)− σ : δε) dv +∫Bρg · δu dv −

∫Bρu · δu dv = 0 . (4.1.10)

Mit dem Integralsatz von Gauß (2.4.5), dem Cauchy-Theorem (2.4.14) sowie der Span-nungsrandbedingung (4.1.4) folgt für den ersten Integralausdruck∫

Bdiv(δu · σ) dv =

∫∂B

δu · σ · n da

=∫∂B

δu · t da =∫∂σBt · δu da+

∫∂uBt · δu da .

(4.1.11)

Der letzte Term ist Null, weil die virtuelle Verschiebung auf dem Randabschnitt ∂uBdefinitionsgemäß verschwindet. Durch Substitution in (4.1.10) erhält man schließlichdie Schwache Form der Impulsbilanz

Wdef=∫Bσ : δε dv −

∫Bρg · δu dv −

∫∂σBt · δu da+

∫Bρu · δu dv = 0 . (4.1.12)

Diese repräsentiert eine virtuelle Arbeit am Körper B und ist nichts anderes als diekontinuumsmechanische Version des aus der Statik bekannten Prinzips der virtuellenVerschiebungen, wobei der Trägheitsterm ρu über das d’Alembertsche Prinzip berück-sichtigt wurde.

Jeder Term in (4.1.12) hat eine konkrete physikalische Bedeutung, und zwar ist

W in def=∫Bσ : δε dv (4.1.13)

die virtuelle Arbeit der inneren Kräfte (in wie „intern“),

W ex def=∫Bρg · δu dv +

∫∂σBt · δu da (4.1.14)

die virtuelle Arbeit der äußeren Kräfte (ex wie „extern“) und

W ki def=∫Bρu · δu dv (4.1.15)

die virtuelle Arbeit der Trägheitskräfte (ki wie „kinetisch“). Es gilt dann

W = W in −W ex +W ki = 0 , für alle δu ∈ Z . (4.1.16)

Die schwache From der Impulsbilanz (4.1.12) bzw. (4.1.16) zusammen mit der Anfangs-bedingung (4.1.2) und den Randbedingungen (4.1.3) und (4.1.4) heißt die SchwacheForm des mechanischen Anfangsrandwertproblems.

58 KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER FINITE ELEMENTE METHODE

4.2 Räumliche Diskretisierung

4.2.1 Matrixschreibweise

Die approximative Lösung von Randwert- und Anfangsrandwertproblemen mit Hilfeder Finite Elemente Methode (FEM) erfordert deren räumliche Diskretisierung. Beizeitabhängigen Problemstellungen, d.h. Anfangsrandwertproblemen, ist außerdem einezeitliche Diskretisierung erforderlich. Diese wird später behandelt. Das Elementnetzspiegelt die räumliche Diskretisierung wider, während die zeitliche Diskretisierung denVerlauf einer gesuchten Größen an einzelnen, d.h. diskreten Zeitpunkten annähert.

Für die Diskretisierung müssen die relevanten kontinuumsmechanischen Gleichungenund Zusammenhänge in eine für den Rechner verarbeitbare Form gebracht werden.Insbesondere werden Vektoren und Tensoren in geeignete Matrizen überführt. Wirbeschäftigen uns zunächst mit vollständig dreidimensionalen Problemstellungen undwidmen uns erst später den ebenen und axialsymmetrischen Sonderfällen.

Gegenstand der Betrachtung ist der Euklidische Standardraum (S,V) def= (R3,R3) mitdem globalen kartesischen Bezugssystem (O, e1, e2, e3), wobei die Vektoren ei, i ∈1, 2, 3, der Standardbasis durch (2.2.16) definiert sind. Ein Partikel des materiellenKörpers B ⊂ R3 wird mit der Spaltenmatrix seiner kartesischen Koordinaten in diesemBezugssystem identifiziert:

x = xiei = x1e1 + x2e2 + x3e3 =

x1x2x3

def=

xyz

∈ R3 . (4.2.1)

Die infinitesimalen Volumen- und Flächenelemente besitzen jeweils die Darstellungen

dv = dx dy dz und da = dx dy . (4.2.2)

Bezüglich der Standardbasis kann der Spannungstensor dargestellt werden als

σ =

σ11 σ12 σ13σ21 σ22 σ23σ31 σ32 σ33

=

σxx τxy τxzτyx σyy τyzτzx τzy σzz

(4.2.3)

und der infinitesimale Dehnungstensor als

ε =

ε11 ε12 ε13ε21 ε22 ε23ε31 ε32 ε33

=

εxx γxy/2 γxz/2γyx/2 εyy γyz/2γzx/2 γzy/2 εzz

. (4.2.4)

Aufgrund ihrer Symmetrie genügt es, von den jeweils neun Komponenten nur die sechsunabhängigen in Spaltenmatrizen zu speichern. Gemäß der im FE-ProgrammsystemANSYSr verwendeten Notation, welche eine Modifikation der sogenannten VoigtschenNotation ist, definieren wir

σdef= (σ11, σ22, σ33, σ12, σ23, σ13)T = (σxx, σyy, σzz, τxy, τyz, τxz)T (4.2.5)

4.2. RÄUMLICHE DISKRETISIERUNG 59

sowie

εdef= (ε11, ε22, ε33, 2ε12, 2ε23, 2ε13)T = (εxx, εyy, εzz, γxy, γyz, γxz)T . (4.2.6)

Man spricht in diesem Zusammenhang vom Spannungsvektor und Dehnungsvektor.

Mit den oben vereinbarten Konventionen und der tensoriellen Darstellung σ = C : εbzw. σij = Cijkl εkl eines allgemeinen linearen Materialmodells ergibt sich die Ma-trixdarstellung des Steifigkeitstensors zu

C =

C1111 C1122 C1133 C1112 C1123 C1113C2211 C2222 C2233 C2212 C2223 C2213C3311 C3322 C3333 C3312 C3323 C3313C1211 C1222 C1233 C1212 C1223 C1213C2311 C2322 C2333 C2312 C2323 C2313C1311 C1322 C1333 C1312 C1323 C1313

=

Cxxxx Cxxyy Cxxzz Cxxxy Cxxyz CxxxzCyyxx Cyyyy Cyyzz Cyyxy Cyyyz CyyxzCzzxx Czzyy Czzzz Czzxy Czzyz CzzxzCxyxx Cxyyy Cxyzz Cxyxy Cxyyz CxyxzCyzxx Cyzyy Cyzzz Cyzxy Cyzyz CyzxzCxzxx Cxzyy Cxzzz Cxzxy Cxzyz Cxzxz

.

(4.2.7)

Die Matrixdarstellung des Materialmodells ist dann

σ = Cε , (4.2.8)

mit σ, ε und C gemäß (4.2.5), (4.2.6) und (4.2.7).

Die Matrixdarstellung der Spannungsrandbedingung (4.1.4) lautet

t =

txtytz

=

nx 0 0 ny 0 nz0 ny 0 nx nz 00 0 nz 0 ny nx

σxxσyyσzzσxyσyzσxz

def= IT

n σ . (4.2.9)

Hierin ist σ die Spannung am Rand ∂σB und In ist eine Projektion, welche die Kom-ponenten der Einheitsnormalen n auf demselben Rand beinhaltet.

Eine Druckrandbedingung wird realisiert durch

σ = (−p,−p,−p, 0, 0, 0)T = −pm , mit mdef= (1, 1, 1, 0, 0, 0)T . (4.2.10)

60 KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER FINITE ELEMENTE METHODE

Die Verschiebungskomponenten im R3 sind ux, uy, uz. Basierend auf der Definition(2.3.15) kann der Dehnungsvektor (4.2.6) berechnet werden aus

ε =

εxxεyyεzzγxyγyzγxz

=

∂∂x

0 00 ∂

∂y0

0 0 ∂∂z

∂∂y

∂∂x

00 ∂

∂z∂∂y

∂∂z

0 ∂∂x

uxuyuz

def= Lu . (4.2.11)

Die Matrix L heißt Differentialoperator.

Mit den so definierten Matrixdarstellungen und den üblichen Rechenregeln für Matrizenkann die schwache Form der Impulsbilanz (4.1.12) äquivalent geschrieben werden als

W =∫BδuTLTσ dv −

∫BδuTρg dv −

∫∂σB

δuTt da+∫BδuTρu dv = 0 . (4.2.12)

4.2.2 Finite Elemente Approximation

Approximation des Rechengebiets (Finite Elemente Netz)

Im Rahmen der FEM wird der materielle Körper im umgebenden Raum approximiertdurch einen überlappungsfreien Zusammenschluss

B ≈ Bh def=nel⋃e=1

Ωe ⊂ R3 (4.2.13)

von nel finiten Elementen Ωe ⊂ R3. Der hochgestellte Index e wird weggelassen, falls einbeliebiges Element Ω betrachtet wird. Der hochgestellte Index h ist eine charakteristi-sche Elementlänge (z.B. Kantenlänge) und weist auf eine Näherung hin. Der Operator⋃ ist als eine Anordnungsvorschrift zu verstehen, welcher Bh ein dreidimensionalesElementnetz mit einer gewissen Konnektivität (Topologie) zuordnet. Der Rand von Bwird im Zuge dessen durch

∂B ≈ ∂Bh =bel⋃e=1

∂Ωe ⊂bel⋃e=1

∂Ωe (4.2.14)

approximiert. Darin bezeichnet bel die Anzahl derjenigen Elemente, bei denen ein Ab-schnitt ∂Ωe ⊂ ∂Ωe ihres Randes mit dem Rand ∂B des Körpers zusammenfällt.

Die Gleichung (4.2.12) muss sowohl für die gesamte Näherung Bh, als auch für dieTeilmenge Ωe gelten. Wie bei einer Gleichgewichtsaussage ist es nämlich egal, wel-cher Schnitt betrachtet wird, denn jeder Schnitt muss für sich im Gleichgewicht sein(vgl. Grundaussage der Statik). Im Folgenden behandeln wir die Gleichungen für einEinzelelement. Die Anordnung der Elementgleichungen zu einem globalen Modell unddas Einprägen von Randbedingungen werden später erläutert.

4.2. RÄUMLICHE DISKRETISIERUNG 61

Einheitselement

Jedes Element im dreidimensionalen Raum sei ein konvexes Polyeder Ω ⊂ R3, defi-niert durch ebene Seitenflächen, Kanten und M Knoten I ∈ 1, . . . ,M. Dabei fassenwir jedes Element im umgebenden Raum S = R3 zum Zeitpunkt t ∈ [0, T ] als einebestimmte Konfiguration

Ω = β(Ω, t) ⊂ R3 (4.2.15)

eines Einheitselement Ω ⊂ R3 auf. Ein beliebiger Punkt P im Einheitselement wirdmit seinem Koordinatenvektor

ξPdef= ξ(P ) =

ξ1(P )ξ2(P )ξ3(P )

def=

ξ(P )η(P )ζ(P )

∈ Ω (4.2.16)

identifiziert. Die natürlichen Koordinaten des Einheitselements, ξ, η, ζ oder kurz ξα,mit α ∈ 1, 2, 3, müssen nicht notwendigerweise kartesische Koordinaten sein. Siehaben häufig den Wertebereich [−1, 1] oder [0, 1]. In der Konfiguration Ω = β(Ω, t)besetzen die Knoten I ∈ 1, . . . ,M die Plätze mit Koordinatenvektoren xI(t) =(xI(t), yI(t), zI(t))T ∈ R3.

Isoparametrischer Ansatz

Die Geometrie eines Elements Ω wird nun approximiert durch einen sog. parametri-schen Ansatz

x ≈ xh(ξ, t) def=M∑I=1

NI(ξ)xI(t) = N (ξ)x(t) , (4.2.17)

mit xI(t) = xh(ξI , t), ξIdef= ξ(I) und

xdef= (x1, . . . ,xM)T = (x1, y1, z1, . . . , xM , yM , zM)T , (4.2.18)

Ndef= (N1, . . . ,NM) def=

N1 0 0 . . . NM 0 00 N1 0 . . . 0 NM 00 0 N1 . . . 0 0 NM

. (4.2.19)

Die NI heißen Ansatzfunktionen und sind Interpolationsfunktionen für jeden lokalenElementknoten I ∈ 1, . . . ,M, welche die Koordinaten von Punkten zwischen den be-kannten Knotenkoordinaten interpolieren. Welcher Ansatz und welche Ansatzordnung(linear, quadratisch etc.) sinnvoll sind, hängt von dem betrachteten Problem ab. DieAnsatzfunktionen haben die Eigenschaften

NI(ξJ) = δIJ undM∑I=1

NI(ξP ) = 1 (4.2.20)

für alle I, J ∈ 1, . . . ,M und alle P ∈ Ω, d.h. sie haben den Wert 1 am zugeord-neten Knoten und den Wert 0 an allen übrigen Knoten des Elements, und die Summe

62 KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER FINITE ELEMENTE METHODE

der Werte aller Ansatzfunktionen innerhalb oder auf dem Rand des Elements ergibtimmer 1.

Neben der Geometrie müssen auch für die primären Unbekannten u und deren Varia-tion δu Ansätze gemacht werden. Diese Ansätze können im Allgemeinen verschiedensein. Sind die Ansätze für u und δu jedoch identisch, so bildet die FEM ein Galerkin-Verfahren. Werden darüber hinaus auch für u, u sowie für die Zeitableitungen vonδu dieselben Ansätze gewählt wie für die Geometrie, so spricht man von einem isopa-rametrischen Ansatz. Die Verwendung eines isoparametrischen Ansatzes zählt zu denStandard-Konzepten der FEM und ist für viele Problemstellungen aus dem Ingenieur-wesen geeignet.

Im Folgenden verwenden wir einen isoparametrische Ansatz und definieren daher

u(x, t) ≈ uh(xh(ξ, t), t) = uh(ξ, t) def=M∑I=1

NI(ξ)uI(t) = N (ξ)u(t) , (4.2.21)

mit NI ,N wie in (4.2.17) und uI def= (uxI , uyI , uzI)T, uI(t) = uh(ξI , t) sowie

udef= (u1, . . . ,uM)T = (ux1, uy1, uz1, . . . , uxM , uyM , uzM)T . (4.2.22)

Gleiches gilt für u, u etc. Man beachte, dass der Ansatz die Orts- und Zeitabhängig-keit des Verschiebungsfeldes multiplikativ aufspaltet in die ausschließlich ortsabängigenInterpolationsfunktionen und die zeitabhängigen Knotenverschiebungen.

4.2.3 Semi-Diskrete Schwache Form

Für ein einzelnes finites Element Ω definieren wir nun den Dehnungsoperator (auch:B-Matrix) durch

Bdef= LN = (LN1, . . . ,LNM) def= (B1, . . . ,BM) , (4.2.23)

mit

BI =

∂NI

∂x0 0

0 ∂NI

∂y0

0 0 ∂NI

∂z∂NI

∂y∂NI

∂x0

0 ∂NI

∂z∂NI

∂y∂NI

∂z0 ∂NI

∂x

, und I ∈ 1, . . . ,M . (4.2.24)

Substitution von (4.2.21) und (4.2.23) in (4.2.12) liefert für Ω dann

W h = δuT(∫

ΩBTσ dv −

∫ΩNTρg dv −

∫∂σΩ

NTt da+∫ΩNTρNu dv

)= 0 .

(4.2.25)

4.2. RÄUMLICHE DISKRETISIERUNG 63

Diese Gleichung soll für alle möglichen virtuellen Verschiebungen δu gelten, also mussder Klammerausdruck verschwinden. Es folgt daher die semi-diskrete schwache Formder Impulsbilanz

f in − f ex +Mu = o , (4.2.26)

mit der Spaltenmatrix der Knotenverschiebungen u, der Spaltenmatrix der innerenKräfte

f in def=∫ΩBTσ dv , (4.2.27)

der Spaltenmatrix der äußeren Kräfte

f ex def= f g + f t def=∫ΩNTρg dv +

∫∂σΩ

NTt da , (4.2.28)

bestehend aus der Spaltenmatrix der Volumenkräfte f g und der Spaltenmatrix der Ober-flächenkräfte f t, sowie mit der Massenmatrix

Mdef=∫ΩNTρN dv . (4.2.29)

4.2.4 Transformationsregeln und numerische Integration

Die Gradienten sowie die Volumen- und Oberflächenintegrale in der schwachen Formder Impulsbilanz (4.2.12) sind ebenso wie die Ableitungen der Ansatzfunktionen in(4.2.24) bezüglich der globalen kartesischen Koordinaten xi formuliert. Das Arbeitenmit den natürlichen Koordinaten ξα ∈ ξ1, ξ2, ξ3 = ξ, η, ζ des Einheitselementserfordert daher entsprechende Transformationsvorschriften.

Wir hatten in (4.2.15) die Konfigurationsabbildung

β : Ω × [0, T ]→ Ω (4.2.30)

eingeführt, die zu jedem Zeitpunkt t ∈ [0, T ] dem Einheitselement Ω eine bestimmteKonfiguration Ω = β(Ω, t) ⊂ R3 zuordnet. Die Jacobi-Matrix bzw. FunktionalmatrixFξ und die Jacobi-Determinate Jξ = detFξ dieser Abbildung stellen die gesuchtenTransformationsvorschriften bereit. Basierend auf (4.2.17) sind die Komponenten vonFξ bezüglich der natürlichen Koordinaten gerade die partiellen Ableitungen

(Fξ)αi = ∂xi(ξ1, ξ2, ξ3)∂ξα

≈M∑I=1

xiI∂NI

∂ξα, (4.2.31)

so dass

∂NI

∂xi= ∂ξα∂xi

∂NI

∂ξαbzw.

∂NI

∂x

∂NI

∂y

∂NI

∂z

= F−1ξ

∂NI

∂ξ

∂NI

∂η

∂NI

∂ζ

. (4.2.32)

64 KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER FINITE ELEMENTE METHODE

Es seien nun dv die Volumendichte und da die Oberflächendichte des Einheitsele-ments Ω, dann gelten für eine beliebige Funktion pro Einheitsvolumen f(x) und einebeliebige Funktion pro Einheitsfläche g(x) die Transformationsregeln∫

Ωf(x) dv =

∫Ω

f(ξ, t) Jξ(ξ, t) dv , (4.2.33)∫∂Ωg(x) da =

∫∂Ω

g(ξ, t) ‖Jξ(ξ, t)F−Tξ (ξ, t) n(ξ)‖ da , (4.2.34)

worin n die Einheitsnormalen auf dem Rand ∂Ω bezeichnen, q(x) ≈ q(xh(ξ, t)) =q(ξ, t) und f(x) ≈ f(xh(ξ, t)) = f(ξ, t). Die Zeitabhängigkeit der Funktionen q und fbezüglich natürlicher Koordinaten kommt durch den Ansatz (4.2.17) beziehungsweisedurch die Konfigurationsabbildung (4.2.30) zustande.

Gemäß (4.2.33) und (4.2.34) werden die Integrale über ein Element in seiner aktuel-len Konfiguration ersetzt durch Integrale über das Einheitselement. Die Integrationauf dem Einheitselement erfolgt bezüglich der natürlichen Koordinaten ξα. Im Allge-meinen wird diese Integration numerisch mittels Gauss-Quadratur durchgeführt. Dieseapproximiert das Integral einer reellen Funktion f(ξ) auf dem Intervall [−1, 1] durch∫ 1

−1f(ξ) dξ ≈

nQ∑Q=1

wQ f(ξQ) . (4.2.35)

Hierin bezeichnet nQ die Anzahl der verwendeten Gausspunkte oder IntegrationspunkteQ mit Koordinate ξQ, und wQ ist die Gewichtung des jeweiligen Punkts. Gl. (4.2.35)ist exakt falls f(ξ) ein Polynom der Ordnung m ≤ 2nQ − 1 ist.

Für die Gauss-Quadratur z.B. in drei Dimensionen wird (4.2.35) bezüglich des Para-meterraums der natürlichen Koordinaten ξ1, ξ2, ξ3 = ξ, η, ζ ausgewertet. Unter derAnnahme, dass das natürlichen Koordinatensystem kartesisch ist und jede der Koor-dinaten im Wertebereich [−1, 1] liegt, dann ist dv = dξ dη dζ und mit (4.2.33) folgt∫

Ω

fJξ dv =∫ 1

−1

∫ 1

−1

∫ 1

−1fJξ dξ dη dζ

≈nQ1∑Q1=1

nQ2∑Q2=1

nQ3∑Q3=1

wQ1wQ2wQ3 f(ξQ1 , ηQ2 , ζQ3) Jξ(ξQ1 , ηQ2 , ζQ3) .(4.2.36)

Tabellen mit Auflistungen der natürlichen Koordinaten der Gausspunkte und der zu-gehörigen Gewichtungen für verschiedene Elementtypen findet man in allen Standard-werken zur FEM.

4.2.5 Ebene und rotationssymmetrische Probleme

Allgemeine Bemerkungen

Reale geotechnische oder bodenmechanische Problemstellungen sind immer dreidimen-sional, und die Spannungs- und Dehnungstensoren besitzen sechs unabhängige Kom-ponenten (drei Normal- und drei Scherkomponenten). Unter bestimmten Umständen

4.2. RÄUMLICHE DISKRETISIERUNG 65

kann diese Anzahl jedoch im Modell reduziert werden, z.B. wenn Verzerrungen vorwie-gend in einer Ebene auftreten (ebene Verzerrungen; engl. „plane strain“) oder wenndas System rotationssymmetrisch (engl. „axisymmetric“) ist.

Näherungsweise ebene Verzerrungen liegen bei Bauwerken wie z.B. einem Tunnel odereiner Baugrube vor, deren Dimension in einer Richtung sehr viel größer ist als in denanderen Richtungen. Die Annahme der Rotationssymmetrie kann z.B. bei Rechenmo-dellen für Einzelpfähle, Kreisfundamente oder Brunnen sinnvoll sein. Demgegenübersind ebene Spannungszustände (engl. „plane stress“) in der Geotechnik vergleichswei-se selten anzutreffen. Sie spielen vor allem bei Scheibentragwerken im KonstruktivenIngenieurbau eine Rolle.

Ebene Verzerrungszustände in der x-y-Ebene sind dadurch gekennzeichnet, dass räum-liche Ableitungen in z-Richtung verschwinden, aber die Normalspannungskomponentein diese Richtung im Allgemeinen ungleich null ist. Es gilt also

∂z= 0 und σzz 6= 0 . (4.2.37)

Die linke Gleichung ist gleichbedeutend mit der Aussage, dass alle Feldgrößen als Funk-tionen unabhängig von der z-Koordinate ausgedrückt werden können. Mit (2.3.15) er-geben sich bei ebenen Verzerrungszuständen drei Dehnungskomponenten (εxx, εyy, εxy)und vier Spannungskomponenten (σxx, σyy, σzz, τxy) ungleich Null. Die Spannungskom-ponente σzz folgt aus den übrigen Spannungskomponenten unter Ausnutzung der Be-dingung εzz = 0.

Rotationssymmetrische Zustände lassen sich am besten in den Zylinderkoordinatenr, θ, z erläutern, wobei r die radiale Richtung, z die Richtung der Achse (üblicherweisenach oben positiv) und θ den Polarwinkel oder Azimut bezeichnet. Wählt man einkartesisches Koordinatensystem gerade so, dass die z-Achsen zusammenfallen und diex-Achse mit der r-Achse bei θ = 0, so erhält man die Transformationsformeln

x = r cos θ , (4.2.38)y = r sin θ , (4.2.39)z = z . (4.2.40)

Die Volumendichte bzw. das infintesimale Volumenelement sich dabei aus

dv = dx dy dz = r dr dθ dz . (4.2.41)

worin r die Jacobi-Determinante der Transformation r, θ, z → x, y, z darstellt.

Bei rotationssymmetrischen Zuständen verschwinden die räumlichen Ableitungen inθ-Richtung, jedoch sind die Normaldehnungskomponente und die Normalspannungs-komponente in diese Richtung im Allgemeinen ungleich null:

∂θ= 0 und εθθ = ur

rund σθθ 6= 0 . (4.2.42)

Die infinitesimale Ringdehnung oder Tangentialdehnung εθθ ergibt sich hierbei aus ei-ner algebraischen Gleichung, in welche die Verschiebungskomponente ur in radialer

66 KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER FINITE ELEMENTE METHODE

Richtung eingeht. Es ergibt sich daher genau eine Dehnungskomponente mehr als beiebenen Verzerrungszuständen.

Ein Rotationskörper bzw. rotationssymmetrisches Gebiet U ⊂ R3 mit Querschnittsebe-ne U ′ ⊂ R2 besitzt die Darstellung

U = U ′ × [0, 2π] ⊂ R3 . (4.2.43)

Die Querschnittsebene wird durch die Zylinderkoordinaten r > 0 und z beschrieben,und θ ∈ [0, 2π]. Ist nun f(r, z) eine Funktion, die unabhängig von θ ist, so liefert ihrIntegral über U∫

Uf dv =

∫U ′

∫ 2π

0f(r, z) r dr dθ dz =

∫U ′f(r, z) 2π r dr dz . (4.2.44)

Aufgrund der Unabhängigkeit vom Polarwinkel θ lassen sich rotationssymmetrischealso genauso wie ebene Problemstellungen durch Funktionen von nur zwei Koordinatenbeschreiben. Darüber hinaus kann die Darstellung beider Problemtypen vereinheitlichtwerden, denn für r →∞ folgt εθθ = 0, d.h. ein ebener Verzerrungszustand.

Vereinheitlichte Matrixschreibweise

Für eine vereinheitlichte Darstellung ebener und rotationssymmetrischer Probleme defi-nieren wir ein pseudo-kartesisches Bezugsystem (O, e1, e2) im Euklidischen UnterraumR2. In Letzterem werde jeder Punkt mit der Spaltenmatrix seiner Koordinaten

x = x1e1 + x2e2 =(x1x2

)∈ R2 (4.2.45)

identifiziert. Wir setzen dann

x1 = x und x2 = y im ebenen Fall,x1 = r und x2 = z im rotationssymmetrischen Fall.

(4.2.46)

Volumen- und Oberflächenintegrale werden im ebenen Fall pro Einheitsdicke definiertund im rotationssymmetrischen Fall auf den Gesamtumfang 2π r bezogen. Wir setzenalso

dv = dx dy im ebenen Fall,dv = 2π r dr dz im rotationssymmetrischen Fall,

(4.2.47)

beziehungsweise

dv = (2πx1)λ dx1 dx2 , mit λ def=

0 im ebenen Fall,1 im rotationssymmetrischen Fall.

(4.2.48)

In der bei Finite Elemente Programmen üblichen vereinheitlichten Darstellung ebenerund rotationssymmetrischer Probleme besitzen der Spannungs- und der Dehnungsvek-tor jeweils vier Komponenten:

σ = (σ11, σ22, σ33, σ12)T und ε = (ε11, ε22, ε33, γ12)T . (4.2.49)

4.3. ZEITLICHE DISKRETISIERUNG 67

Entsprechend dieser Konvention ist die Matrix-Darstellung eines Steifigkeitstensors ge-geben durch

C =

C1111 C1122 C1133 C1112C2211 C2222 C2233 C2212C3311 C3322 C3333 C3312C1211 C1222 C1233 C1212

. (4.2.50)

Man erhält den ebenen Fall durch ignorieren der dritten Zeile und Spalte.

Die Spannungsrandbedingung (4.2.9) reduziert sich zu

t =(t1t2

)=(n1 0 0 n20 n2 0 n1

)σ11σ22σ33σ12

= ITn σ , (4.2.51)

und (4.2.11) erhält die spezielle Form

ε =

ε11ε22ε33γ12

=

∂∂x1

00 ∂

∂x2

λ 1x1

0∂∂x2

∂∂x1

(u1u2

)= Lu . (4.2.52)

Der Faktor λ wurde in (4.2.48) definiert, und u1, u2 sind jeweils die infinitesimalenVerschiebungen in x1- und x2-Richtung.

Für die Finite Elemente Approximation und die semi-diskrete schwache Form der Im-pulsbilanz ebener und rotationssymmetrischer Probleme gelten die Ausführungen inden Abschnitten 4.2.2 und 4.2.3 sinngemäß, jedoch sind die Ansätze lediglich für zweiRaumrichtungen und zwei Verschiebungskomponenten zu formulieren.

4.3 Zeitliche Diskretisierung

Das mechanische Anfangsrandwertproblem hatten wir in Abschn. 4.1.1 über ein kon-tinuierliches Zeitintervall [0, T ] ∈ R definiert. Eine Zerlegung

[0, T ] def=nT−1⋃n=0

[tn, tn+1] (4.3.1)

dieses Zeitintervalls führt auf eine Sequenz (t0 = 0, t1 = t0 + ∆t1, . . . , tn+1 = tn +∆tn+1, . . . , tnT

= T ). Darin bezeichnet

tn+1 = tn + ∆tn+1 (4.3.2)

eine inkrementelle Zerlegung der Zeit, und ∆tn+1def= tn+1 − tn heißt (variabler) Zeit-

schritt. Der Zeitschritt wird häufig als konstant angesetzt, so dass ∆tn+1 ≡ ∆t undtn+1 = (n+ 1)∆t für t0 = 0.

68 KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER FINITE ELEMENTE METHODE

Der Parameter „Zeit“ muss nicht unbedingt eine physikalische Bedeutung besitzen. Beizeitunabhängigen oder statischen Problemstellungen dient er beispielsweise nur dazu,eine Abfolge von Lastschritten oder Bauzuständen im numerischen Modell darzustellen.Der Zeitpunkt tn markiert in diesem Fall den Beginn und der Zeitpunkt tn+1 das Endedes Lastschritts.

Die Diskretisierung in der Zeit ist für zeit- und pfadunabhängige Randwertproblememit der Zerlegung (4.3.1) zusammen mit (4.3.2) abgeschlossen. Handelt es sich jedochum zeitabhängige, transiente Anfangsrandwertprobleme oder ist das zugrundegelegteMaterialverhalten pfadabhängig, z.B. elasto-plastisch, so müssen die zugehörigen Varia-blen entlang der diskreten Zeitschritte mit geeigneten Verfahren integriert werden. DieIntegration elasto-plastischer Materialmodelle wird in Abschn. 5.1.4 und die Lösungtransienter Probleme in Abschn. 5.2 näher behandelt.

4.4 Lineare statische Probleme

4.4.1 Elementgleichungssystem

Ohne Massenträgheitsterme reduziert sich die semi-diskrete schwache Form der Im-pulsbilanz (4.2.26) auf die Gleichgewichtsaussage

f ine = f ex

e . (4.4.1)

Der Index e soll darauf hinweisen, dass die Gleichgewichtsaussage bisher nur für einElement, nicht jedoch für das Gesamtsystem formuliert wurde. Setzt man bei deninneren Kräften ein lineares Materialmodell ein, so erhält man mit (4.2.27), (4.2.11)und (4.2.23)

f ine =

∫ΩBTe Ceεe dv =

(∫ΩBTe CeBe dv

)ue

def= Keue . (4.4.2)

Die so definierte Matrix Ke heißt Elementsteifigkeitsmatrix. Man beachte, dass dieElementknotenverschiebungen ue gemäß (4.2.21) unabhängig vom Ort sind und da-her aus dem Integralausdruck herausgezogen werden können. Das entstandene lineareGleichungssystem

Keue = f exe (4.4.3)

kann problemlos nach den unbekannten Knotenverschiebungen aufgelöst werden.

4.4.2 Zusammenbau des Gesamtgleichungssystems

Die vorangegangenen Abschnitte beschäftigten sich mit den Gleichungen für ein Ein-zelelement. In einem Finite Elemente Netz, formalisiert durch (4.2.13), müssen dieBeiträge der Knoten jedes Elements kompatibel sein mit den Beiträgen der Knoten derbenachbarten Elemente. Dies wird mathematisch durch Boolesche Operatoren sicher-gestellt.

4.4. LINEARE STATISCHE PROBLEME 69

Wir stellen zunächst fest, dass die Integrale in der schwachen Form der Impulsbilanzüber das Gesamtgebiet, (4.2.12), als Summe der Integrale über die Elementgebiete Ωe,mit e ∈ 1, . . . , nel, geschrieben werden können. Das zu (4.4.3) kompatible globale Fi-nite Elemente Gleichungsystem bzw. Gesamtgleichungssystem eines linearen statischenProblems besitzt daher die Form

Kgug = f exg , mit Kg =

nel∑e=1Ke und f ex

g =nel∑e=1f

exe . (4.4.4)

Der Index g bezieht sich auf globale Größen. Die Dimension der SteifigkeitsmatrizenKg und Ke ist neq×neq, und neq×1 ist die Dimension der Spaltenmatrizen der äußerenLasten f ex

g and f exe , wobei neq die Anzahl der Gleichungen bezeichnet.

Die maximale Anzahl von Gleichungen ist die maximale Anzahl von Freiheitsgraden desGesamtsystems. Letztere ist gegeben durch die Anzahl der Knotenpunkte im Netz nnpmultipliziert mit der Anzahl der Freiheitsgrade pro Knoten ndof . Allerdings sind nichtalle davon aktiv (d.h. unbekannt). Beispielsweise sind Freiheitsgrade an Knoten inaktiv,für die Randbedingungen gesetzt sind. Daher können die zugeordneten Gleichungendieser Freiheitsgrade aus dem Gesamtsystem eliminiert werden:

neq = nnpndof − (inaktive Freiheitsgrade) . (4.4.5)

Demgegenüber beträgt die maximale Anzahl der Elementgleichungen nee = ndofM ,worin M die Anzahl der Elementknoten ist.

Die Beiträge Ke und fexe beinhalten dieselben Informationen wie die zugehörigen Ele-

mentmatrizen Ke und f exe in (4.4.3). Der Unterschied besteht darin, dass Erstere be-

züglich der globalen Anordnung der neq Systemgleichungen definiert sind, wohingegensich Letztere auf die lokale Anordnung nee Elementgleichungen beziehen. Daraus folgt,dass die meisten Einträge von Ke und f

exe Null sind. Daher werden bei der program-

miertechnischen Umsetzung die kompakten Matrizen Ke und f exe zusammen mit einer

Booleschen Anordnungsmatrix bzw. Konnektivitätsmatrix verwendet. Der i-te Eintragdieser eindimensionalen Matrix enthält entweder die globale Gleichungsnummer, dieder i-ten Zeile des Elementgleichungssystems zugeordnet wird, oder ist Null, falls essich um einen inaktiven Freiheitsgrad handelt. Alternativ kann eine AnordnungsmatrixAe für das Element e auch durch

Kedef= AT

eKeAe (4.4.6)

definiert werden.

70 KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER FINITE ELEMENTE METHODE

Kapitel 5

Methoden für spezielle Probleme

5.1 Nichtlineare statische Probleme

5.1.1 Iteration des Gleichgewichts

Wir betrachten die semi-diskrete schwache Form der Impulsbilanz (4.2.26) für dasGesamtsystem ohne Massenträgheitsterme, also die globale Gleichgewichtsaussage

f in − f ex = o . (5.1.1)

Den Index g lassen wir zur Vereinfachung der Schreibweise weg. Bei linearen Problemengalt f in = Ku aufgrund der linearen Beziehung zwischen der Spannung und der Deh-nung im verwendeten Materialmodell (s. Abschn. 4.4). Falls diese Beziehung jedochnichtlinear ist, wie z.B. bei elasto-plastischen Materialmodellen, so sind die innerenKräfte f in(u) nichtlineare Funktionen der Knotenverschiebungen. Die Impulsbilanzkann dann dargestellt werden als

Ψ (u) def= f in(u)− f ex = o , (5.1.2)

wobei die äußeren Kräfte wie schon im linearen Fall verformungsunabhängig angenom-men wurden.

Aufgrund der Nichtlinearität der Problemstellung müssen die Nullstellen der Funk-tion Ψ (u) über ein iteratives Verfahren ermittelt werden. Hierfür definiert man eineIndexmenge I ∈ N, mit i, i + 1 ∈ I, und setzt setzt ui als gegeben voraus. Das Itera-tionsschema besitzt dann die Form

ui+1 = ui + dui , mit dui = αisi . (5.1.3)

s ∈ Rneq bezeichnet die Suchrichtung (engl. descent direction) an der Stelle u, neq istdie Anzahl der Gleichungen und α heißt Dämpfungsparameter oder Schrittweite. Sofernein Startpunkt ui=0, eine Schrittweite αi=0 > 0 sowie eine Toleranz ε > 0 festgelegtsind, wird ein Abbruchkriterium

‖Ψ (ui)‖ < ε‖Ψ (ui=0)‖ (5.1.4)

72 KAPITEL 5. METHODEN FÜR SPEZIELLE PROBLEME

oder vergleichbare abgefragt. Falls das Abbruchkriterium erfüllt ist, dann bilden dieui die Nullstellen von Ψ . Falls das Abbruchkriterium nicht erfüllt ist, dann wird dieSuchrichtung si durch ein geeignetes Verfahren bestimmt. Im Anschluss daran wirdein Liniensuchverfahren (engl. line search) angewandt um die Schrittweite αi so zubestimmen, dass

‖Ψ (ui + αisi)‖ < ‖Ψ (ui)‖ . (5.1.5)Wichtiger Bestandteil der Liniensuche ist eine effektive Schrittweiten-Regel, so dass dieNullstellen möglichst zügig ermittelt werden. Die Iteration wird dann mit wiederholterAuswertung des Abbruchkriteriums fortgesetzt, wobei nun jedoch die aktualisiertenVerschiebungen ui+1 = ui + αisi eingesetzt werden.

Zusammengefasst enthält das Iterationsschema also die folgenden Schritte:

1. Setze ui=0, αi=0 > 0 und ε > 0.

2. Falls ‖Ψ (ui)‖ < ε‖Ψ (ui=0)‖ ist ui die gesuchte Nullstelle, anderenfalls

(a) Bestimme die Suchrichtung si.

(b) Berechne die Schrittweite αi.

(c) Berechne die neue Lösung ui+1 = ui + αisi.

(d) Setze i← i+ 1 und wiederhole Schritt 2.

5.1.2 Newton-Raphson-Verfahren und Linearisierung

Das Newton-Raphson-Verfahren gehört zu den Standard-Verfahren der Nullstellensu-che in (5.1.2), mit der die primären Lösungsvariablen (hier: Knotenverschiebungen) inder nichtlinearen FEM bestimmt werden. Es basiert auf der Linearisierung der Glei-chung Ψ (u) = o gemäß (2.2.105). Sei ui die bekannte Lösung im i-ten Iterationsschritt,dann liefert die Linearisierung von Ψ an ui in Richtung dui die Gleichung

Ψ (ui+1) ≈ LINui(Ψ ; dui) = Ψ (ui) +DΨ (ui) dui = o , (5.1.6)

worin

ui+1 = ui + dui = un + ∆ui+1 und ∆ui+1 =i∑

k=0duk . (5.1.7)

Sofern die Jacobi-Matrix DΨ (ui) regulär und positiv definit ist, also invertierbar, dannhandelt es sich bei der sog. Newton-Richtung

si = −(DΨ (ui))−1Ψ (ui) (5.1.8)

tatsächlich um eine Suchrichtung, die in dem zuvor erläuterten Iterationsschema ein-gesetzt werden kann.

Zur Bestimmung der Jacobi-Matrix nutzen wir die Identität (2.2.108):

DΨ (u) u = Ψ (u) = ∂Ψ (u)∂u

u = ∂f in(u)∂u

u = f in(u) . (5.1.9)

5.1. NICHTLINEARE STATISCHE PROBLEME 73

Mit (4.2.27) und der allgemeinen Raten-Form

σ(u) = C(σ(u),κ(u)) ε def= C(u) ε (5.1.10)

eines nichtlinearen Materialmodells erhalten wir

f in(u) = ddt

∫BBTσ(u) dv =

∫BBTσ(u) dv =

∫BBTC(u) ε dv

=(∫BBTC(u)B dv

)u

def= K(u) u .(5.1.11)

Man bemerke die Analogie zu (4.4.2). Der Unterschied besteht darin, dass die Steifig-keitsmatrix K bei einem nichtlinearen Materialmodell indirekt von der Verformungs-geschichte abhängt. Der Vergleich mit (5.1.9) führt dann auf

DΨ (u) = K(u) . (5.1.12)

Einsetzen in (5.1.6) liefert zusammen mit (5.1.2) nach kurzen Umformungen schließlichdas linearisierte Gesamtgleichungssytem

Kidui = ri , (5.1.13)

mitKi def= K(ui) und ri

def= f ex − f in(ui) = −Ψ (ui) , (5.1.14)aus dem das Verschiebungsinkrement dui des aktuellen Iterationsschritts berechnetwerden kann. Die Spaltenmatrix ri heißt rechte Seite oder Vektor der Residuen.

Das Iterationsschema (5.1.3) mit der Newton-Richtung

si = (Ki)−1ri (5.1.15)

heißt vollkommenes (engl. full) Newton-Raphson-Verfahren, falls die Steifigkeitsmatrixin jedem Iterationsschritt i neu berechnet wird. In diesem Fall besitzt dass Verfahreneine quadratische Konvergenzrate. Um Rechenzeit einzusparen, kann auch ein modi-fiziertes Newton-Raphson-Verfahren eingesetzt werden, bei dem die Steifigkeitsmatrixz.B. nach einer festgelegten Anzahl von Iterationsschritten aktualisiert wird. Häufigverwenden Finite Elemente Programme auch dann ein modifiziertes Newton-Raphson-Verfahren, wenn die Steifigkeitsmatrix nicht regulär ist, d.h. wenn detKi < δ mit einerfestgelegten Toleranz δ > 0.

5.1.3 Liniensuchverfahren (Line Search)

Die Schrittweite αi im Iterationsschema (5.1.3) definiert die sogenannte Dämpfung derIteration. Kombiniert man das Newton-Raphson-Verfahren mit einem Liniensuchver-fahren, so erhält man ein gedämpftes (engl. damped) Newton-Raphson-Verfahren. Einezu große Schrittweite könnte dazu führen, dass die Nullstellensuche über das Ziel hin-ausschießt und zu keiner Konvergenz führt. Eine sehr kleine Schrittweite verlangsamthingegen das Verfahren. Die jeweils optimale Schrittweite kann u.U. exakt bestimmt

74 KAPITEL 5. METHODEN FÜR SPEZIELLE PROBLEME

werden, meistens wendet man jedoch eine Schrittweiten-Regel an. Eine weit verbreiteteSchrittweiten-Regel ist die Armijo-Regel

‖ri+1‖ − ‖ri‖ ≤ χ 12‖K

isi‖ , (5.1.16)

mit ri+1 = −Ψ (ui + χsi) und χ > 0. Die Liniensuche heißt dann auch BacktrackingLine Search. Dabei wird für gegebene ri, Ki, si und χ = 1.0 die Bedingung (5.1.16)ausgewertet. Falls diese erfüllt ist, so setzt man

αi = χ und ui+1 = ui + αisi . (5.1.17)

Falls die Bedingung nicht erfüllt ist, dann wird ri+1 mit der halbierten Schrittweiteχnew = χold/2 erneut abgeschätzt.

5.1.4 Integration elasto-plastischer Materialmodelle

Betrachtung als Anfangswertproblem

Die inneren Kräfte f in in der semi-diskreten schwachen Form der Impulsbilanz (4.2.26)sind Funktionen der Spannung an den Gausspunkten der finiten Elemente. Sofern dasMaterialmodell wie in (5.1.10) in Raten-Form gegeben ist, müssen die Spannung undZustandsvariablen in der Zeit bzw. Belastungsgeschichte integriert werden. Die Wahleines geeigneten Integrationsalgorithmus spielt für die Stabilität und Genauigkeit derFinite Elemente Berechnung eine wichtige Rolle.

Im Folgenden betrachten wir ein inkrementelles, eventuell fiktives Zeitintervall [tn, tn+1] ⊂R mit Inkrement ∆t def= tn+1 − tn. Mit den Definitionen aus Abschn. 3.3 kann die Evo-lution der Spannung bei elasto-plastisches Materialverhalten dann durch die Gleichung

σ(t) = C(t,σ(t),κ(t)) : ε(t) , mit t ∈ [tn, tn+1] , (5.1.18)

beschrieben werden; eine analoge Beziehung gelte für κ(t). Infolgedessen stellt die In-tegration des Materialmodells über das inkrementelle Zeitintervall bei bekannten An-fangsbedingungen ein Anfangswertproblem dar:

Bestimme den Materialzustand (σ,κ)|t=tn+1 zum Zeitpunkt t = tn+1 aus(5.1.18) und den Evolutionsgleichungen für die Zustandvariablen bei gege-benen Anfangsbedingungen (σ,κ)|t=tn = (σn,κn).

Hierbei ist σn def= σ(un), κn def= κ(un) und un def= u(tn). Man beachte, dass wir indiesem Abschnitt wie in Kap. 3 die symbolische Tensorschreibweise verwenden. Fürdie Implementierung im Rahmen der Finite Elemente Methode müssen die tensoriellenBeziehungen in entsprechende Beziehungen zwischen Matrizen gemäß den Definitionenaus Abschn. 4.2 übersetzt werden.

Um die Unterschiede der numerischen Verfahren zur Lösung eines Anfangswertpro-blems näher zu erläutern, ersetzen wir (5.1.18) durch die allgemeine Form

y(t) = f(t,y(t)) , (5.1.19)

5.1. NICHTLINEARE STATISCHE PROBLEME 75

mit der Anfangsbedingung (tn,yn). Eine Lösung dieses Anfangswertproblems ist eineFunktion y, welche die Differentialgleichung (5.1.19) für alle t ∈ [tn, tn+1] löst undy(tn) = yn erfüllt. Für gewöhnlich wird y(tn) = yn selbst als Anfangsbedingung be-zeichnet.

Man unterscheidet zwischen expliziten und impliziten Algorithmen zur numerischen In-tegration in der Zeit. Explizite Integrationsalgorithmen verwenden Größen am Anfangdes Inkrements. Speziell wird beim Euler-vorwärts-Verfahren die Rate y(t) approxi-miert durch

y(t) ≈ y(tn + ∆t)− y(tn)∆t

. (5.1.20)

Man beachte, dass die rechte Seite eine Funktion von tn ist, dem Beginn des Inkrements.Setzt man y(tn) def= yn und beachtet, dass definitionsgemäß y(tn) = f(tn,y(tn)), soerhält man

yn+1 = yn + ∆tf(tn,yn) . (5.1.21)

Implizite Integrationsalgorithmen verwenden im Gegensatz expliziten Algorithmen Grö-ßen, die am Ende des Inkrements definiert sind. Da diese zunächst unbekannt sind,müssen diese iteriert bzw. zunächst vorgeschätzt und anschließend korrigiert werden.Speziell verwendet das Euler-rückwärts-Verfahren die Approximation

y(t) ≈ y(tn+1)− y(tn+1 − ∆t)∆t

, (5.1.22)

wodurchyn+1 = yn + ∆tf(tn+1,yn+1) . (5.1.23)

Durch die Kombination beider Gleichungen (5.1.21) und (5.1.23) erhält man die gene-ralisierte Mittelpunktsregel

yn+1 = yn + ∆tfn+θ , (5.1.24)

worin

fn+θdef= θf(tn+1,yn+1) + (1− θ)f(tn,yn) , mit θ ∈ [0, 1] . (5.1.25)

Das Crank-Nicolson-Verfahren folgt aus der generalisierten Mittelpunktsregel durchSetzen von θ = 1

2 .

Wir kehren nun zu unserem eigentlichen Problem zurück und betrachten einen typi-schen Vertreter der in Abschn. 3.3 behandelten elasto-plastischen Materialmodelle. DerZustand des Materials zum Zeitpunkt t = tn ∈ [tn, tn+1] sei gegeben durch (σn,κn).Darüber hinaus sei εn die infinitesimale totale Dehnung und εp

n die plastische Deh-nung zu diesem Zeitpunkt. Die zulässigen Zustände im Spannungsraum werden durchdie Menge Aσ = (σ,κ) | f(σ,κ) ≤ 0 mit einer Fließfunktion f(σ,κ) definiert. Dieelastische Dehnung und die Spannung bei t = tn sind bekanntermaßen Funktionen desMaterialzustands:

εen = εn − εp

n und σn = Ce : εen . (5.1.26)

Ce sei die konstante isotrope elastische Steifigkeitsmatrix.

76 KAPITEL 5. METHODEN FÜR SPEZIELLE PROBLEME

Ein Integrationsalgorithmus für elasto-plastische Materialmodelle bestimmt sodannden Zustand zum Zeitpunkt t = tn+1 = tn + ∆t basierend auf den Evolutionsglei-chungen

εdef= ∇symu , εp = γm(σ,κ) , und κ = −γ l(σ,κ) , (5.1.27)

mit ∇symu = 12(∇u+ ∇uT), und erfüllt die Karush-Kuhn-Tucker-Bedingungen

γ ≥ 0 , f(σ,κ) ≤ 0 , und γ f(σ,κ) = 0 , (5.1.28)

ebenso wie die Konsistenzbedingung

γ f(σ,κ) = 0 , (5.1.29)

mit f = Dσf : σ +Dκf : κ, und der Anfangsbedingung

σ,κ|t=tn = σn,κn . (5.1.30)

Durch die zeitliche Diskretisiertung (Abschn. 4.3) werden alle wesentlichen Variableninkrementell zerlegt, z.B.

σn+1def= σn + ∆σ , mit σn+1

def= σ(tn+1) und σndef= σ(tn) . (5.1.31)

Die Genauigkeit der Spannungsintegration hängt dann ab von der Genauigkeit bei derBerechnung des Spannungsinkrements definiert durch

∆σdef=∫ tn+1

tnσ(t) dt , (5.1.32)

welches als konstant über das Intervall [tn, tn+1] angenommen wird. Die Abhängig-keit der Spannung vom betrachteten Punkt bzw. Partikel wird hierbei stillschweigendhingenommen. Gleiches gilt für die Zustandsvariablen.

Für die Berechnung des Spannungsinkrements (5.1.32) auf der Grundlage von (5.1.18)nehmen wir an, dass sich aus der in den vorangegangenen Abschnitten behandelteniterativen Lösung des Gleichgewichtsproblems im Iterationsschritt i ein Verschiebungs-inkrement ∆ui ergeben hat. Hierbei handelt es sich um das kumulierte Verschiebungs-inkrement gemäß (5.1.7) und nicht um das Verschiebungsinkrement dui des aktuellenIterationsschritt, denn dieses steht in keiner Beziehung zu einem Gleichgewichtszu-stand. Zur Abkürzung der Schreibweise lassen wir den hochgestellten Index i weg unddefinieren das totale Dehnungsinkrement durch

∆εdef= ∇sym(∆u) = 1

2

(∇(∆u) + (∇(∆u))T

). (5.1.33)

Darüber hinaus sei die zeitliche Ableitung der Verschiebung im Intervall [tn, tn+1] kon-stant, so dass ∆u = u∆t.

5.1. NICHTLINEARE STATISCHE PROBLEME 77

Explizite Integration (Substepping Algorithmus)

Die Anwendung des Euler-vorwärts-Verfahrens (5.1.21) auf das oben gestellte elasto-plastische Anfangswertproblem liefert

εn+1 = εn + ∆ε , (5.1.34)εpn+1 = εp

n + ∆γm(σn,κn) , (5.1.35)κn+1 = κn − ∆γ κ(σn,κn) , (5.1.36)

mit ∆γ def= γn∆t.

Wir betrachten nun den Fall einer plastischen Belastung, bei dem laut (3.3.13) dieBedingungen f(σn+1,κn+1) = 0 und ∆γ > 0 eingehalten werden müssen. In explizitenAlgorithmen kann die erste Bedingung jedoch nicht exakt erfüllt werden. Stattdes-sen wird die Fließbedingung approximiert, nämlich durch ihre Linearisierung um denZustand (σn,κn) zum Zeitpunkt tn:

f(σn+1,κn+1) ≈ f(σn,κn) + ∆f(σn,κn) = 0 , (5.1.37)

mit ∆fdef= f∆t. Man definiert dann fn

def= f(σn,κn), mndef= m(σn,κn) sowie ln def=

l(σn,κn) und nimmt darüber hinaus an, dass der Zustand zum Zeitpunkt tn auf derFließfläche liegt, also fn = 0 erfüllt ist. Unter Beachtung von

∆σ = Ce : ∆εe = Ce : (∆ε− ∆γmn) (5.1.38)

infolge (5.1.26) und (5.1.35) erhält man die diskrete bzw. inkrementelle Konsistenzbe-dingung

∆f = Dσfn : ∆σ +Dκfn : ∆κ= Dσfn : Ce : (∆ε− ∆γmn)− ∆γ Dκfn : ln= 0 .

(5.1.39)

Der plastische Multiplikator folgt daraus zu

∆γ = Dσfn : Ce : ∆εDσfn : Ce : mn +Dκfn : ln

. (5.1.40)

Einsetzen in (5.1.38) ergibt nach kurzer Umformung die folgende Aktualisierungsvor-schrift für die Spannung:

σn+1 = σn +Cepn : ∆ε , (5.1.41)

also

∆σ = Cepn : ∆ε , mit Cep

ndef= Ce − Ce : mn ⊗Dσfn : Ce

Dσfn : Ce : mn +Dκfn : ln(5.1.42)

als elasto-plastischer Steifigkeitstensor. Dieser ist eine Tangente an (σn, εn) und kon-zeptionell identisch zur analytischen elasto-plastischen Tangentensteifigkeit definiertdurch (3.3.29). Der Tensor Cep

n wird daher oft als Kontinuumstangente bezeichnet.

Man beachte, dass die oben durchgeführte Herleitung des Steifigkeitstensors vollkom-men analog zur analytischen Herleitung im Abschn. 3.3.3 ist mit dem Unterschied, dass

78 KAPITEL 5. METHODEN FÜR SPEZIELLE PROBLEME

Zeitableitungen von Größen durch Inkremente dieser Größen ersetzt wurden. Für fini-te, d.h. endlich große Inkremente ist diesem Fall jedoch nicht sichergestellt, dass sichder aktualisierte Zustand (σn+1,κn+1) im zulässigen Bereich, d.h. auf oder innerhalbder Fließfläche befindet. Der mögliche Fehler kann reduziert werden, sofern das Zeitin-krement bzw. das totale Dehnungsinkrement in msub sog. Subinkremente oder Substepszerlegt wird:

∆ε =∑msub

dε , mit dεdef= m−1

sub ∆ε . (5.1.43)

Die Spannung im (i+ 1)-ten Subinkrement im inkrementellen Zeitintervall [tn, tn+1] istdann gegeben durch

σi+1n+1 = σin+1 + dσin+1 = σn + ∆σin , wobei ∆σin

def=i∑

k=0dσkn+1 (5.1.44)

und i ∈ 0, . . . ,msub − 1 ⊂ N. Die Substepping-Prozedur wird mit σi=0n+1 = σn initia-

lisiert und durch das Setzen von σn+1 = σmsubn+1 beendet.

Implizite Integration (Cutting-Plane Algorithmus)

Die Anwendung des Euler-rückwärts-Verfahrens (5.1.23) auf das elasto-plastische An-fangswertproblem liefert

εn+1 = εn + ∆ε , (5.1.45)εpn+1 = εp

n + ∆γmn+1 , (5.1.46)κn+1 = κn − ∆γ κn+1 , (5.1.47)

worin ∆γdef= γn+1∆t, mn+1

def= m(σn+1,κn+1) und ln+1def= l(σn+1,κn+1). Die beiden

Gleichungen (5.1.46) und (5.1.47) sind so nicht lösbar, weil beide Seiten Funktionen vont = tn+1 sind. Zur Lösung wird meistens ein elasto-plastischer Operator-Split vorge-nommen. Dabei wird in einem elastischen Prädiktor-Schritt der neue Materialzustandelastisch vorgeschätzt und dieser anschließend in einem plastischen Korrektor-Schrittkorrigiert.

Der elastisch vorgeschätzte Zustand (engl. trial state) ist definiert durch (σtrn+1,κ

trn+1),

wobeiσtrn+1

def= σn +Ce : ∆ε und κtrn+1

def= κn . (5.1.48)

Ce ist wiederum der konstante isotrope Elastizitätstensor. Bei elastischer Belastunggemäß (3.3.13) gilt

f(σtrn+1,κ

trn+1) < 0 und ∆γ = 0 , (5.1.49)

so dass εn+1 = εn + ∆ε, εpn+1 = εp

n, κn+1 = κn und σn+1 = σtrn+1.

Im Falle einer plastischen Belastung gilt konsequenterweise

f(σtrn+1,κ

trn+1) > 0 und ∆γ > 0 , (5.1.50)

5.1. NICHTLINEARE STATISCHE PROBLEME 79

d.h. bei plastischer Belastung liegt der elastisch vorgeschätzte Zustand außerhalb derFließfläche und ist daher unzulässig. Zur Wiederherstellung der Konsistenz wird nundieser vorgeschätzte Zustand zurück auf die Fließfläche projiziert (plastischer Korrek-tor). Das sich daraus ergebende Problem wird durch die Bestimmung der Größe desplastischen Multiplikators ∆γ bestimmt und besitzt die folgende Form:

Finde ∆γ ∈ R+ , so dass f(σ(∆γ),κ(∆γ)) = 0 . (5.1.51)

Sofern ∆γ bekannt ist, wird der Materialzustand durch das Setzen von σn+1def= σ(∆γ)

und κn+1def= κ(∆γ) aktualisiert. Die Funktionen σ(∆γ) und κ(∆γ) sind darin gegeben

durch

σ(∆γ) = σtrn+1 − ∆γCe : mn+1 und κ(∆γ) = κn − ∆γ ln+1 . (5.1.52)

Das nichtlineare Problem (5.1.51) kann z.B. mit Hilfe des Newton-Raphson-Verfahrensanalog zu dem im Abschn. 5.1 gelöst werden. Die hier vorgestellte Alternative, dersog. Cutting-Plane Algorithmus, integriert hingegen die Gleichungen

dσ(∆γ)d(∆γ) = −Ce : m(σ(∆γ),κ(∆γ)) , (5.1.53)

dκ(∆γ)d(∆γ) = −l(σ(∆γ),κ(∆γ)) , (5.1.54)

über ein Intervall der Länge ∆2γ in Abhängigkeit von

σ(∆γ),κ(∆γ)|∆γ=0 = σtrn+1,κ

trn+1 . (5.1.55)

∆2γ ist dabei gegeben durch die inkrementelle Zerlegung

∆γi+1 def= ∆γi + ∆2γ . (5.1.56)

Man setzt nun σin+1def= σ(∆γi), κin+1

def= κ(∆γi) und definiert f in+1def= f(∆γi) def=

f(σin+1,κin+1). Die Initialisierung bei i = 0 bezieht sich auf den vorgeschätzten Zustand,

und zwar ist

(εpn+1)i=0 = εp

n , κi=0n+1 = κn , σi=0

n+1 = σtrn+1 , und ∆γi=0 = 0 . (5.1.57)

Basierend auf (5.1.53) und (5.1.54) errechnen sich die Spannung und Zustandsvariablenim nächsten Iterationsschritt jeweils aus

σi+1n+1 = σin+1 − ∆2γ Ce : mi

n+1 , (5.1.58)κi+1n+1 = κin+1 − ∆2γ lin+1 . (5.1.59)

Die Fließbedingung in (5.1.51) wird an der Stelle ∆γi linearisiert:

f i+1n+1 ≈ f in+1 +Df in+1∆

= f in+1 +(Dσf

in+1 : dσ(∆γ)

d∆γ +Dqfin+1 : dq(∆γ)

d∆γ

)∆2γ

= 0 .

(5.1.60)

80 KAPITEL 5. METHODEN FÜR SPEZIELLE PROBLEME

Daraus ergibt sich der Zuwachs des plastischen Multiplikators zu

∆2γ = f in+1

Dσf in+1 : Ce : min+1 +Dκf in+1 : lin+1

. (5.1.61)

Das Abbruchkriterium des so definierten Iterationsalgorithmus für den plastischen Mul-tiplikator lautet

|f(σin+1,κin+1)| ≤ ε , (5.1.62)

worin ε > 0 ein sinnvolles Toleranzmaß ist.

Der ermittelte Wert von ∆γ wird in (5.1.52) eingesetzt, um die Spannung und Zustands-variablen zum Zeitpunkt t = tn+1 zu ermitteln. Die Berechnung ihrer Inkremente istdann trivial, nämlich ∆σ = σn+1 − σn und ∆κ = κn+1 − κn.

Man bemerkt, dass sich bei der impliziten Integration im Gegensatz zur explizitenIntegration eines Materialmodells nicht automatisch der benötigte Steifigkeitstensorergibt. Zwar könnte man den Steifigkeitstensor aus der analytischen Formulierung desMaterialmodells verwenden (sog. Kontinuumstangente; siehe oben), dieser ist jedochnicht konsistent zum gewählten, notwendigerweise inkrementellen Algorithmus. Einkonsistenter bzw. algorithmischer Steifigkeitstensor berücksichtigt hingegen die finiteGröße der Inkremente in der algorithmischen Behandlung des Materialmodells undstellt darüber hinaus die quadratische Konvergenzrate des Newton-Raphson-Verfahrensim Abschn. 5.1 sicher. Dieser algorithmische Steifigkeitstensor ist allgemein definiertdurch die Fréchet-Ableitung

Caln+1

def= Dσ(ε)|ε=εn+1= ∂σ(εn+1)

∂εn+1, (5.1.63)

welche konsistent zum Integrationsalgorithmus für die Spannung ausgewertet werdenmuss.

Beispiel: von-Mises-Plastizität mit isotroper Verfestigung

Im Abschn. 3.3.3 hatten wir die wesentlichen Gleichungen der von-Mises-Plastizitätmit isotroper Verfestigung als Beispiel für ein elasto-plastisches Materialmodell her-geleitet. Im Folgenden soll auf dieses Materialmodell der zuvor erläuterte impliziteIntegrationsalgorithmus zur Aktualisierung des Materialzustands (Spannung und Zu-standsvariablen) angewendet werden.

Bekanntermaßen definiert die von-Mises-Plastizität die Fließgrenze als einzige Zu-standsvariable vom Spannungstyp und die Fließbedingung besitzt die einfache Formf(σ, σy) = q − σy. Die Verfestigungsregel ist linear und die Fließregel assoziiert, also

εp = γ∂f

∂σ= γ

√32 n , und σy = Ep εp = γ Ep , (5.1.64)

mit εp =√

23‖ε

p‖ und konstantem Ep.

5.1. NICHTLINEARE STATISCHE PROBLEME 81

Anwendung des Euler-rückwärts-Verfahrens (5.1.23) auf die Verfestigungsregel liefert

σyn+1 = σy

n + ∆γ Ep , (5.1.65)

mit ∆γ = γn+1∆t. Gemäß des elasto-plastischen Operator-Splits beginnt die Berech-nung mit dem elastischen Vorschätzen des neuen Materialzustands, (σtr

n+1, (σy)trn+1),

mitσtrn+1 = σn +Ce : ∇sym∆u und (σy)tr

n+1 = σyn . (5.1.66)

Dieser vorgeschätzte Zustand wird für die Evaluation der Fließbedingung verwendet,d.h.

f(σtrn+1, (σy)tr

n+1) = qtrn+1 − σy

n , (5.1.67)

worin qtrn+1

def=√

32 ‖(σ

trn+1)dev‖ .

Falls nun f(σtrn+1, (σy)tr

n+1) < 0, dann gilt ∆γ = 0 und die Belastung ist elastisch, also istauch εp

n+1 = εpn, σ

yn+1 = σy

n und σn+1 = σtrn+1. Falls andererseits f(σtr

n+1, (σy)trn+1) > 0

gilt, dann ist ∆γ > 0 und die Belastung ist plastisch. In diesem Fall liegt der vorge-schätzte Zustand außerhalb der Fließfläche.

Der plastische Korrektor-Schritt mit dem inkrementellen plastischen Multiplikator ∆γals unbekannte Größe projiziert im Falle einer plastischen Belastung den vorgeschätztenZustand zurück auf die Fließfläche. Die Verfestigungsregel ist linear in ∆γ. Darüberhinaus gilt

σn+1 = σn +Ce :(

∇symu− ∆γ√

32 nn+1

)= σtr

n+1 − ∆γ 2G√

32 nn+1 (5.1.68)

und definitionsgemäß (σn+1)dev = ‖(σn+1)dev‖nn+1, so dass

nn+1 ≡(σtr

n+1)dev

‖(σtrn+1)dev‖

. (5.1.69)

Daraus folgt, dass die inkrementelle Fließregel

∆εp = ∆γ

√32 nn+1 (5.1.70)

ebenfalls linear in ∆γ ist und somit der plastische Multiplikator in geschlossener Formohne Iteration berechnet werden kann. Die Rückprojektion nennt man in diesem Falleinen Radial-Return. Die inkrementelle Zerlegung (5.1.56) und die allgemeine Formul(5.1.56) liefern speziell

∆γ = qtrn+1 − σy

n

3G+ Ep . (5.1.71)

Dieses Ergebnis folgt auch direkt aus der Konsistenzbedingung. Durch Einsetzen in(5.1.68) und (5.1.65) werden jeweils die Spannung und Fließgrenze aktualisiert.

Zu dem Update der Spannung gehört ein konsistenter bzw. algorithmischer elasto-plastischer Steifigkeitstensor gemäß (5.1.63). Die Formel für die Spannung (5.1.68) ist

82 KAPITEL 5. METHODEN FÜR SPEZIELLE PROBLEME

wegen (5.1.66), (5.1.69) und (5.1.71) eine Funktion des totalen Dehnungsinkrements∆ε = εn+1 − εn. Daher ist sie auch eine Funktion von εn+1:

σ(εn+1) def= σtrn+1 − ∆γ 2G

√32 nn+1 , (5.1.72)

Aus Abschn. 2.2.4 wissen wir, dass jede Fréchet-differenzierbare Funktion zugleichGâteaux-differenzierbar ist. Folglich kann der algorithmische Steifigkeitstensor aus

Caln+1 : η = Dσ(ε)|ε=εn+1

: η = ddλ σ(εn+1 + λη)|λ=0 (5.1.73)

hergeleitet werden, worin η eine beliebige Richtung vom Dehnungstyp darstellt. Setztman hier (5.1.72) ein, dann führt eine längere aber ansonsten unkomplizierte Herleitungauf den Ausdruck

Caln+1 = Ce − 6G2

3G+ Ep nn+1 ⊗ nn+1 − 2G qtrn+1− σy

n

qtrn+1

(1dev− nn+1 ⊗ nn+1) , (5.1.74)

mit dem durch (2.2.84) definierten Deviator-Einheitstensor vierter Stufe 1dev. Gl. (5.1.74)gilt nur bei plastischer Belastung, wohingegen Cal

n+1 = Ce bei elastischer Belastung,Entlastung und neutraler Belastung gemäß (3.3.13).

Der durch (5.1.74) gegebene algorithmische Steifigkeitstensor Caln+1 enthält gegenüber

der KontinuumstangenteCep in (3.3.44) bzw. (5.1.42) einen zusätzlichen Term mit demFaktor (qtr

n+1−σyn). Geometrisch interpretiert stellt dieser Faktor den Abstand zwischen

dem elastisch vorgeschätzten Spannungszustand und der Fließfläche dar. Bei großenInkrementn (Zeitschritten) kann sich daher ein signifikanter Unterschied zwischen kon-sistent und inkonsistent ermittelter Steifigkeit einstellen. Für sehr kleine Inkrementegilt hingegen qtr

n+1 ≈ σyn und daher Cal

n+1 ≈ Cepn ≈ Cep.

5.2 Transiente Probleme

5.2.1 Implizite Zeitintegration

Wir betrachten die semi-diskrete schwache Form der Impulsbilanz (4.2.26) inklusiveTrägheitsterme, also

f in − f ex +Mu = o , (5.2.1)über eine gleichmäßige Sequenz (t0 = 0, t1 = t0 + ∆t, . . . , tn+1 = tn + ∆t, . . . , tnT

= T )von Zeitschritten. Sämtliche Terme in (5.2.1) seien zeitabhängig und globale Größen,wobei wir den Index g weglassen. Für den Zeitpunkt tn sei ein Gleichgewichtszustanddes materiellen Körpers, ϕ(B, tn) def= ϕn(B) ⊂ S, ermittelt worden. Ein Lösungsver-fahren für das mechanische Anfangsrandwertproblem ermittelt dann den Zustand zumZeitpunkt tn+1 = tn +∆t durch Lösen von (5.2.1) unter Berücksichtigung der Randbe-dingungen sowie der Anfangsbedingungen bei t = tn.

Im Allgemeinen können für die Lösung, wie schon bei der Integration des Materialmo-dells in Abschn. 5.1.4, explizite oder implizite Integrationsverfahren angewendet wer-den. Wir beschränken uns hier auf das implizite Newmark-β-Verfahren. Dieses schreibt

5.2. TRANSIENTE PROBLEME 83

die folgenden Integrationsregeln für eine zeitabhängigen Größe y und deren ersterZeitableitung y vor:

yn+1def= yn + ∆t

((1− γ) yn + γ yn+1

),

yn+1def= yn + ∆t yn + 1

2∆t2((1− 2β) yn + 2β yn+1

).

(5.2.2)

Die Newmark Parameter γ und β bestimmen das Verhalten des Integrationsverfahren.Das Newmark-β-Verfahren heißt unbedingt stabil falls

β ≥ γ

2 ≥14 . (5.2.3)

Sofern diese Bedingung eingehalten wird, gibt es keine Einschränkungen hinsichtlichder Größe des Zeitschritts ∆t.

Zur Lösung von (5.2.1) wird nun angenommen, dass der globale Vektor der Knotenver-schiebungen un+1 die primäre Unbekannte in jedem Zeitschritt ist. Unter Verwendungvon (5.2.2) sowie den Definitionen

a0def= 1

β∆t2, a1

def= γ

β∆t, a2

def= 1β∆t

, a3def= 1

2β − 1 ,

a4def= γ

β− 1 und a5

def= ∆t

2

β− 2

) (5.2.4)

können die Knotenbeschleunigungen und Knotengeschwindigkeiten jeweils durch

vn+1 = v∗n+1 + a0un+1 und vn+1 = v∗n+1 + a1un+1 , (5.2.5)

ausgedrückt werden, mit

v∗n+1def= −a0un − a2vn − a3vn und v∗n+1

def= −a1un − a4vn − a5vn . (5.2.6)

Sowohl v∗n+1 als auch v∗n+1 enthalten nur bekannte Größen. un+1 ist daher die einzigeUnbekannte. Daher kann (5.2.1) zum Zeitpunkt t = tn+1 als ein allgemein nichtlinearesGleichungssystem

Ψn+1def= Ψ (un+1) = Mv(un+1) +Dv(un+1) + f in(un+1)− f ex(un+1) = 0 , (5.2.7)

geschrieben werden, wobei v(un+1) def= vn+1, v(un+1) def= vn+1, f in(un+1) def= f inn+1 und

f ex(un+1) def= f exn+1. Die MatrixD bezeichnet hierbei eine zusätzliche Dämpfungsmatrix,

die dem Gesamtsystem häufig aus numerischen Gründen hinzugefügt wird. Einsetzenvon (5.2.5) liefert dann

Ψn+1 = a0Mun+1 + a1Dun+1 + f in(un+1)− f ex(un+1)−M (a0un + a2vn + a3vn)−D(a1un + a4vn + a5vn)

= 0 .(5.2.8)

Falls f in(un+1) = Kn+1un+1 linear ist und f exn+1 verformungsunabhängig, so folgt

Kn+1un+1 = rn+1 , (5.2.9)

84 KAPITEL 5. METHODEN FÜR SPEZIELLE PROBLEME

worinKn+1

def= a0M + a1D +Kn+1 (5.2.10)

die effektive Steifigkeitsmatrix bezeichnet, und

rn+1def= f ex

n+1 +M (a0un + a2vn + a3vn) +D(a1un + a4vn + a5vn) . (5.2.11)

Man vergleiche das Ergebnis mit (4.4.4) bzw. (5.1.13).

Im nichtlinearen Fall wird das Newmark-β-Verfahren mit dem Newton-Raphson-Verfahrenkombiniert, um auf iterativem Wege die Lösung un+1 zu bestimmen.