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63. Jahrgang – ifo Schnelldienst 9/2010 3 Ordnungsökonomik als theoretische und angewandte Wissenschaft Wie in anderen Erfahrungswissenschaf- ten kann man auch in der Ökonomik zwi- schen einem theoretischen und einem angewandten Zweig unterscheiden. Ihr theoretischer Zweig, die Wirtschaftstheo- rie, bemüht sich um die Erklärung von Wirkungszusammenhängen in dem sie interessierenden Bereich »wirtschaftli- cher« Phänomene. Ihr angewandter Zweig, insbesondere die theoretische Wirtschaftspolitik, bemüht sich darum, auf der Grundlage theoretischer und em- pirischer Erkenntnisse Empfehlungen für die Lösung realweltlicher Probleme zu entwickeln. Wie in jeder anderen Erfah- rungswissenschaft ist auch in der Öko- nomik der Beitrag, den ihr angewandter Zweig zur Lösung praktischer Probleme leisten kann, ein wesentlicher Prüfstein für den empirischen Gehalt und die Er- klärungskraft ihres theoretischen Zwei- ges. Und wie jede andere angewandte Wissenschaft muss sich auch die Wirt- schaftspolitik auf ein normatives Kriteri- um stützen, nach dem beurteilt wird, was als Problem gilt, und an dem die Eignung von Vorschlägen zur Problemlösung ge- messen werden kann – so wie etwa ei- ne Ingenieurwissenschaft als »angewand- te Physik« ihre Aussagen nur auf der Grundlage einer praktischen Problemstel- lung (etwa den Bau einer Brücke mit be- stimmter Belastbarkeit) und einem Be- wertungskriterium (wie technische Effi- zienz) machen kann. Nur in diesem Sin- ne, nämlich in der Bestimmung des Pro- blemhorizontes, in dem sie agiert, ist (theoretische) Wirtschaftspolitik »norma- tiv«. Das macht sie selbst jedoch nicht, wie es bisweilen missverständlich ausge- drückt wird, zu einer Werturteile fällenden »normativen« Ökonomik. Es bedeutet le- diglich, dass der gewählte normative Maßstab die Auswahl und das Verständ- nis der praktischen Probleme bestimmt, zu deren Lösung die Wirtschaftspolitik mit ihren Aussagen einen Beitrag zu leisten sucht, mit Aussagen, die nicht weniger als die Aussagen der theoretischen Öko- nomik der empirischen Prüfung ausge- setzt sind. Unter Ordnungstheorie versteht man tra- ditionell das wirtschafts- und rechtswissen- schaftliche Forschungsprogramm der Frei- burger Schule und ihr verwandter Denkan- sätze, das das Augenmerk auf die Steue- rungswirkungen richtet, die die rechtlich- institutionellen Rahmenbedingungen auf die in ihnen stattfindenden wirtschaftlichen Prozessabläufe ausüben. Ordnungspoli- tik ist der angewandte Zweig dieses For- schungsprogramms, der sich darum be- müht, theoretisches und empirisches Wis- sen über die Zusammenhänge zwischen Ordnungsrahmen und Prozessabläufen in Empfehlungen für die Lösung politischer Gestaltungsprobleme umzusetzen. Das At- tribut »ordo-« oder »neoliberal«, das her- kömmlich mit dem ordnungspolitischen Ansatz verbunden wird, weist auf den nor- mativen Maßstab hin, der den Gestaltungs- empfehlungen zugrunde liegt. Dieser ist ganz allgemein ein für den klassischen Li- beralismus charakteristischer normativer Individualismus, der die individuelle Freiheit zum Ausgangspunkt von Wertungen nimmt und in sozialen Angelegenheiten das als wünschenswert oder gerechtfertigt an- sieht, worauf sich die beteiligten Perso- nen in freiwilliger Übereinkunft verständi- gen können. Mit der Hinzufügung der Kom- ponente »ordo« oder »neo« soll ausge- drückt werden, dass der Liberalismus des ordnungspolitischen Forschungspro- gramms, im Unterschied zur Akzentuie- rung eines Laissez-faire-Liberalismus, aus- drücklich die notwendige Rolle des Staa- tes bei der Gestaltung und Durchsetzung eines – im Sinne des unterstellten norma- tiven Maßstabs – geeigneten Ordnungs- rahmens betont. Was ist Neoliberalismus? Ordnungstheorie – Ordnungspolitik: Der Begriff Neoliberalismus ist angesichts der Finanzkrise in Misskredit geraten. Aber was be- deutet eigentlich Neoliberalismus? Viktor J. Vanberg* * Prof. Dr. Viktor J. Vanberg, em., leitet das Walter Eucken Institut, Freiburg im Breisgau.

Ordnungstheorie - Ordnungspolitik: Was ist Neoliberalismus? · Zur Diskussion gestellt Im heutigen Alltagsdiskurs dient der Begriff des Neolibera-lismus vornehmlich als abwertendes

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63. Jahrgang – i fo Schne l ld ienst 9/2010

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Ordnungsökonomik alstheoretische und angewandte Wissenschaft

Wie in anderen Erfahrungswissenschaf-ten kann man auch in der Ökonomik zwi-schen einem theoretischen und einemangewandten Zweig unterscheiden. Ihrtheoretischer Zweig, die Wirtschaftstheo-rie, bemüht sich um die Erklärung vonWirkungszusammenhängen in dem sieinteressierenden Bereich »wirtschaftli-cher« Phänomene. Ihr angewandterZweig, insbesondere die theoretischeWirtschaftspolitik, bemüht sich darum,auf der Grundlage theoretischer und em-pirischer Erkenntnisse Empfehlungen fürdie Lösung realweltlicher Probleme zuentwickeln. Wie in jeder anderen Erfah-rungswissenschaft ist auch in der Öko-nomik der Beitrag, den ihr angewandterZweig zur Lösung praktischer Problemeleisten kann, ein wesentlicher Prüfsteinfür den empirischen Gehalt und die Er-klärungskraft ihres theoretischen Zwei-ges. Und wie jede andere angewandteWissenschaft muss sich auch die Wirt-schaftspolitik auf ein normatives Kriteri-um stützen, nach dem beurteilt wird, wasals Problem gilt, und an dem die Eignungvon Vorschlägen zur Problemlösung ge-messen werden kann – so wie etwa ei-ne Ingenieurwissenschaft als »angewand-te Physik« ihre Aussagen nur auf derGrundlage einer praktischen Problemstel-lung (etwa den Bau einer Brücke mit be-stimmter Belastbarkeit) und einem Be-wertungskriterium (wie technische Effi-zienz) machen kann. Nur in diesem Sin-ne, nämlich in der Bestimmung des Pro-blemhorizontes, in dem sie agiert, ist(theoretische) Wirtschaftspolitik »norma-tiv«. Das macht sie selbst jedoch nicht,wie es bisweilen missverständlich ausge-drückt wird, zu einer Werturteile fällenden»normativen« Ökonomik. Es bedeutet le-

diglich, dass der gewählte normativeMaßstab die Auswahl und das Verständ-nis der praktischen Probleme bestimmt,zu deren Lösung die Wirtschaftspolitik mitihren Aussagen einen Beitrag zu leistensucht, mit Aussagen, die nicht wenigerals die Aussagen der theoretischen Öko-nomik der empirischen Prüfung ausge-setzt sind.

Unter Ordnungstheorie versteht man tra-ditionell das wirtschafts- und rechtswissen-schaftliche Forschungsprogramm der Frei-burger Schule und ihr verwandter Denkan-sätze, das das Augenmerk auf die Steue-rungswirkungen richtet, die die rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen aufdie in ihnen stattfindenden wirtschaftlichenProzessabläufe ausüben. Ordnungspoli-tik ist der angewandte Zweig dieses For-schungsprogramms, der sich darum be-müht, theoretisches und empirisches Wis-sen über die Zusammenhänge zwischenOrdnungsrahmen und Prozessabläufen inEmpfehlungen für die Lösung politischerGestaltungsprobleme umzusetzen. Das At-tribut »ordo-« oder »neoliberal«, das her-kömmlich mit dem ordnungspolitischenAnsatz verbunden wird, weist auf den nor-mativen Maßstab hin, der den Gestaltungs-empfehlungen zugrunde liegt. Dieser istganz allgemein ein für den klassischen Li-beralismus charakteristischer normativerIndividualismus, der die individuelle Freiheitzum Ausgangspunkt von Wertungennimmt und in sozialen Angelegenheiten dasals wünschenswert oder gerechtfertigt an-sieht, worauf sich die beteiligten Perso-nen in freiwilliger Übereinkunft verständi-gen können. Mit der Hinzufügung der Kom-ponente »ordo« oder »neo« soll ausge-drückt werden, dass der Liberalismus des ordnungspolitischen Forschungspro-gramms, im Unterschied zur Akzentuie-rung eines Laissez-faire-Liberalismus, aus-drücklich die notwendige Rolle des Staa-tes bei der Gestaltung und Durchsetzungeines – im Sinne des unterstellten norma-tiven Maßstabs – geeigneten Ordnungs-rahmens betont.

Was ist Neoliberalismus?Ordnungstheorie – Ordnungspolitik:

Der Begriff Neoliberalismus ist angesichts der Finanzkrise in Misskredit geraten. Aber was be-

deutet eigentlich Neoliberalismus?

Viktor J. Vanberg*

* Prof. Dr. Viktor J. Vanberg, em., leitet das WalterEucken Institut, Freiburg im Breisgau.

Zur Diskussion gestellt

Im heutigen Alltagsdiskurs dient der Begriff des Neolibera-lismus vornehmlich als abwertendes Etikett, das man miss-liebigen Ordnungsvorstellungen anheftet, wenn man sie alsapriori diskussionsunwürdig diskreditieren möchte. DieserSprachgebrauch hat den Begriff des Neoliberalismus jegli-chen greifbaren Gehalts entleert und seinen Bezug zu demursprünglich mit ihm verbundenen Forschungsprogrammvöllig verdunkelt. Will man ihm einen seinen Ursprüngengemäßen Sinn wiedergeben, so wird man freilich feststel-len müssen, dass die mit ihm umschriebene Tradition wirt-schaftspolitischen Denkens in sich keineswegs homogenist. Dieser Tradition üblicherweise zugerechnete Autoren –prominent etwa Eucken, Böhm, Müller-Armack, Rüstow oderRöpke – teilten zwar gewisse Grundauffassungen, insbe-sondere die Überzeugung, dass die Politik sich in ihren Ge-staltungsambitionen auf Korrekturen und Anpassungen desallgemeinen Regelrahmens (eben auf Ordnungspolitik) be-schränken und interventionistischer Eingriffe in den Wirt-schaftsprozess enthalten solle. Sie vertraten zum Teil aberauch recht unterschiedliche Auffassungen von der adäqua-ten Interpretation des liberalen Wertmaßstabs und der dar-auf zu gründenden spezifischen ordnungspolitischen Emp-fehlungen. Dies dürfte auch nicht weiter verwunderlich sein,da das ordnungsökonomische Forschungsprogramm – sowie jedes andere Forschungsprogramm auch – in seinerWeiterentwicklung natürlicherweise Fragen aufwirft, für diees im Vorhinein keine eindeutigen Antworten bereithält, diees vielmehr erst im Verlauf des wissenschaftlichen Diskur-ses durch kritische Prüfung konkurrierender Hypothesenzu klären gilt. Um den in diesem Klärungsprozess erfolgtenPräzisierungen Rechnung zu tragen und die mit dem heu-tigen Alltagsgebrauch des Begriffs »Neoliberalismus« ver-bundenen Missverständnisse zu vermeiden, empfiehlt essich, von Ordoliberalismus zu sprechen, wenn man auf dendiesem Forschungsprogramm zugrunde liegenden norma-tiven Maßstab Bezug nimmt.

Entscheidend beeinflusst wurde das ordnungsökonomi-sche Forschungsprogramm durch F.A. Hayeks Neuformu-lierung der Grundprinzipien des klassischen Liberalismusund seine Argumente zur Bedeutung der Beschränkun-gen menschlichen Wissens und des Wettbewerbs als Ent-deckungsverfahren für Fragen der zweckmäßigen Ordnungvon Wirtschaft und Gesellschaft. Hayeks Überlegungen zurDynamik kultureller Evolution und des Ordnungswettbe-werbs haben dabei insbesondere den Blick auf die Fragedes Zusammenspiels von planvoller Ordnungsgestaltungund spontaner Entwicklung gelenkt, eine Frage, zu der auchdie evolutorische Ökonomik wichtige Forschungsbeiträgeleistet. Deutliche Impulse erfuhr die Ordnungsökonomikschließlich in den vergangenen Jahrzehnten durch theore-tische Entwicklungen in der angelsächsischen Ökonomik,die – wenn auch ohne direkte Verbindung zur entsprechen-den deutschsprachigen Tradition – zu zentralen Fragen die-ses Forschungsprogramms wichtige Klärungen beigetra-

gen haben. Dazu gehören diverse Ansätze, die sich um ei-ne stärkere Berücksichtigung der in der Mainstream-Öko-nomik lange vernachlässigten institutionellen Dimensionwirtschaftlichen Geschehens bemühen, wie etwa die NewInstitutional Economics, die Property Rights Theorie oderdie Law and Economics Schule, Ansätze, die unser Wis-sen über die Wirkungseigenschaften unterschiedlicherrechtlicher Regelungen und institutioneller Arrangementsdeutlich vermehrt haben. Dazu gehört die Public ChoiceTheorie, die der ökonomischen Theorie marktlichen Ge-schehens eine mit ihren paradigmatischen Grundannah-men konsistente, bis dahin aber nur rudimentär vorhande-ne, ökonomische Theorie der Politik an die Seite gestellt hatund die damit ein besseres Verständnis der Umsetzungs-probleme ordnungspolitischer Empfehlungen vermittelt. Unddazu gehört vor allem die maßgeblich von James M. Buchanan beeinflusste Constitutional Economics, die inihrer theoretisch-methodologischen Ausrichtung wie auchin ihrem angewandten Zweig und dem ihr zugrunde lie-genden normativen Maßstab die größte Nähe zur ordoli-beralen Tradition aufweist. Moderne Ordnungsökonomikund -politik sind in diesem Sinne als ein Forschungspro-gramm zu verstehen, das diese Tradition mit relevanten Bei-trägen der genannten angelsächsischen Theorieentwick-lungen, insbesondere der Constitutional Economics, zueinem kohärenten Theorieansatz zu verbinden sucht.

Eine aus den genannten Quellen gespeiste ordo- (oder neo-)liberale Ordnungsökonomik steht eindeutig in der klas-sischen Smithschen Tradition wirtschaftswissenschaftlichenDenkens, unterscheidet sich jedoch in wichtigen Punkten vonder neoklassischen Orthodoxie, und zwar sowohl im theore-tischen wie auch im angewandten Zweig. Sie teilt mit ihr den– für die ökonomische Theorietradition generell charakteristi-schen – methodologischen Individualismus, kann sich abernicht mit dem neoklassischen Standardmodell eines homooeconomicus zufrieden geben, der von Entscheidungsfall zuEntscheidungsfall seine Nutzenfunktion maximiert, noch kannsie sich die generösen Abstraktionen hypothetischer Modell-welten erlauben, die der Befriedigung neoklassischer For-malisierungsambitionen dienen. Ihr Anspruch, zu realweltli-chen Ordnungsproblemen etwas sagen zu können, nötigt sie,den Besonderheiten konkreter institutioneller Regime Rech-nung zu tragen. Sie muss den Umstand ernst nehmen, dassdie diese Regime bevölkernden Individuen aufgrund ihrer ko-gnitiven Beschränkungen mit den Entscheidungsproblemen,denen sie in einer komplexen Welt gegenüberstehen, nurdadurch umgehen können, dass sie eben nicht als rationalkalkulierende homines oeconomici von Fall zu Fall ihren Nut-zen maximieren. Vielmehr sind die Akteure weitgehend dar-auf verwiesen, erlernte Regeln zu befolgen, deren »Rationa-lität« darin liegt, dass sie zu einem für bestimmte Problem-klassen typischerweise zweckmäßigen Verhalten anleiten. Dieserfordert, an die Stelle einer reinen Logik der rationalen Wahlerfahrungswissenschaftliche Verhaltensannahmen zu setzen

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Zur Diskussion gestellt

– wie dies F.A. Hayek bereits in seinem 1937 veröffentlichtenAufsatz »Economics and Knowledge« gefordert hat.

Analog zum methodologischen Individualismus, den dieOrdnungsökonomik in ihrem theoretischen Zweig mit derneoklassischen Orthodoxie teilt, sind beide in ihrem ange-wandten Zweig, der neoklassischen Wohlfahrtsökonomikeinerseits und der ordoliberalen Ordnungspolitik anderer-seits, einem normativen Individualismus verpflichtet in demSinne, dass beide die Wertungen der betroffenen Individu-en zum Ausgangspunkt der Bewertung kollektiver Arran-gements oder politischer Maßnahmen nehmen. Allerdingsbestehen auch hier grundlegende Unterschiede in der Artund Weise, in der dieses Bewertungskriterium in dem ei-nen und in dem anderen Kontext spezifiziert wird. So wiedas neoklassische Homo-oeconomicus-Modell Individuenauf Nutzenfunktionen reduziert, deren Maximierung untergegebenen Restriktionen als Erklärung beobachtbaren Ver-haltens dienen soll, so nimmt auch die Wohlfahrtsökono-mik auf Individuen nur als Träger von Nutzenwerten Be-zug, die die Ausgangsdaten für die Kalkulation der gesell-schaftlichen Nutzen- oder Wohlfahrtswerte liefern, nach de-nen politische Entscheidungsalternativen beurteilt werdensollen. Diese Variante des normativen Individualismus kannman als Nutzen-Individualismus bezeichnen, da er Indivi-duen lediglich als »Messstationen« für Nutzenwerte betrach-tet, die im politischen Entscheidungsprozess nicht mehr alsautonome Akteure befragt zu werden brauchen, wenn derWohlfahrtsökonom erst einmal, wie stillschweigend unter-stellt, über die Nutzendaten verfügt, die er für seine Berech-nungen benötigt.

Im Gegensatz dazu kann man den normativen Individua-lismus der ordoliberalen Ordnungsökonomik als Wahlhand-lungs- oder Entscheidungs-Individualismus kennzeichnen.Wie eingangs bereits angedeutet, werden Individuen hierals autonome Akteure betrachtet, aus deren freien Entschei-dungen gesellschaftliche Wertungen abgeleitet werden müs-sen und deren freiwillige Übereinkunft die letztendliche Quel-le ist, aus der institutionelle Arrangements und politischeMaßnahmen ihre Legitimation beziehen müssen. Der Un-terschied zwischen dem Nutzen-Individualismus der Wohl-fahrtsökonomik und dem Entscheidungs-Individualismusordoliberaler Ordnungsökonomik hat bedeutsame Konse-quenzen für die Ausrichtung, die er dem jeweiligen For-schungsprogramm gibt. Die Wohlfahrtsökonomik ist auf diekalkulatorische Frage konzentriert, wie die individuellen Nut-zenwerte zu ermitteln und angemessen zu einem gesamt-gesellschaftlichen Wohlfahrtsmaß zu aggregieren sind. Dieordoliberale Ordnungsökonomik richtet ihr Forschungsin-teresse auf die Frage, wie die institutionellen Rahmenbe-dingungen, unter denen Individuen agieren und kooperie-ren, in einer Weise gestaltet werden können, die ihnen best-mögliche Aussichten bietet, in wechselseitig kompatiblerFreiheit ihre eigenen Zwecke verfolgen und durch freiwilli-

ge Vereinbarungen wechselseitige Kooperationsgewinnerealisieren zu können. Der Markt wird aus dieser Perspek-tive als eine institutionell gesicherte Arena für freiwillige Zu-sammenarbeit zum wechselseitigen Vorteil analysiert undnicht als der Wohlfahrtsmaximierungsmechanismus, als derer in neoklassischer Sicht erscheint. In entsprechender Wei-se wird »der Staat« als Arena kollektiver Entscheidungenunter dem Gesichtspunkt betrachtet, inwieweit die institu-tionellen Rahmenbedingungen politischen Handelns dieAussichten begünstigen oder behindern, dass die gemein-samen Interessen der Mitglieder des staatlichen Verban-des, also der Bürger, zur Geltung kommen, statt als dieBlack-box-Agentur, von der die Wohlfahrtsökonomik dieUmsetzung der von ihr identifizierten wohlfahrtsfördern-den Eingriffe erwartet.

In den letzten Jahren ist im Zuge der Auseinandersetzungum die angemessene Ausrichtung wirtschaftswissenschaft-licher Ausbildung an unseren Universitäten eine Diskussi-on um die Frage in Gang gekommen, ob es überhaupt nocheinen sinnvollen Platz für Wirtschafts- und speziell Ord-nungspolitik als Lehrfach geben könne, da doch die Tradi-tion der Ordnungstheorie und -politik einen »deutschen Son-derweg« darstelle, der durch die moderne Entwicklung inder Ökonomik längst überholt, dessen Rückständigkeit imVergleich zur mathematisch und ökonometrisch hochge-rüsteten modernen Wirtschaftstheorie augenfällig und derzudem durch seine Verbindung zum Ordo- (oder Neo-)Li-beralismus ideologisch belastet sei. Wenn man den Ent-wicklungstrend des Faches, wie er sich in den einschlägi-gen Fachzeitschriften, den Beurteilungskriterien bei Beru-fungen, Habilitationen etc. niederschlägt, zugrunde legt, sohaben die Advokaten einer Verabschiedung von der Ord-nungsökonomik womöglich die stärkeren Regimenter hin-ter sich. Aber dies mindert in keiner Weise die faktische Be-deutung der Fragen, denen sich das oben skizzierte For-schungsprogramm einer modernen Ordnungsökonomikwidmet. Ob einer sich als empirische und anwendungsre-levante Wissenschaft verstehenden Ökonomik damit ge-dient ist, diese Fragen aus ihrem Untersuchungsbereichauszugrenzen, darf man mit Fug und Recht bezweifeln. Soll-ten diese Fragen aber thematisiert werden, so können dieVertreter der Ordnungsökonomik mit großer Gelassenheitdem Wettbewerb darum entgegensehen, wer dazu ge-haltvollere und für realweltliche Probleme relevantere Aus-sagen zu machen in der Lage ist.

Literatur

Ausführlichere Begründungen zu in diesem Beitrag skizzier-ten Argumenten finden sich in:

Vanberg, V.J. (2004). »The Rationality Postulate in Economics: Its Ambiguity, its Deficiency and its Evolutionary Alternative«, Journal of Economic Methodology 11, 1–29.

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Zur Diskussion gestellt

-,- (2005), »Market and state: the perspective of constitutional political economy«, Journal of Institutional Economics 1, 23–49.-,- (2008), »On the complementary of liberalism and democracy – a readingof F.A. Hayek and J.M. Buchanan«, Journal of Institutional Economics 4, 139–161.-,- (2008), »Markt und Staat in einer globalisierten Welt: Die ordnungsöko-nomische Perspektive«, ORDO – Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaftund Gesellschaft 59, 3–29.

»The market is always right« Der Neoliberalismus verurteilt den Staat zur Ohnmacht und führt damit die Marktwirtschaft an den Abgrund

Wie sich die Zeiten ändern. Vor zwei Jahren noch wäre einSzenario wie das folgende für jeden neoliberal orientiertenÖkonomen auf der ganzen Welt ein unvorstellbarer Albtraumgewesen: Der Staat sieht sich praktisch über Nacht gezwun-gen, mit Milliardensummen in Märkte einzugreifen. Er rettetBanken vor dem Bankrott, in den sie sich selbst durch ris-kante Geschäfte manövriert haben, er versucht mit Konjunk-turprogrammen, die abstürzenden Gütermärkte zu stützen,er engagiert sich sogar kurzfristig auf dem Arbeitsmarkt, in-dem er weit über die sonst übliche Frist hinaus Sozialversi-cherungsbeiträge für Kurzarbeiter übernimmt, damit die Un-ternehmen ihre Beschäftigten als Reaktion auf die beispiel-lose wirtschaftliche Talfahrt nicht sofort entlassen.

Um das alles zu stemmen, nimmt der Staat eine massiveVerletzung der Verschuldungskriterien des Maastricht-Ver-trags auf Jahre hinaus in Kauf, Kriterien, an deren korrekterEinhaltung angeblich das langfristige Wohl und Wehe derVolkswirtschaft hängt. Zwar bemüht sich die Politik, diesenoffenkundigen Verstoß gegen ihre jahrelang proklamiertePrioritätenliste durch die eilige Verankerung einer Schul-denbremse im Grundgesetz wieder gut zu machen, dochbleibt der fatale Eindruck zurück, dass hier im Interesse kurz-fristiger Schadensbegrenzung gegen hehre ordnungstheo-retische Grundsätze verstoßen wird.

Der Albtraum ist Wirklichkeit geworden. Und schlimmer: erist bei weitem noch nicht zu Ende, wie man an den ver-

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Heiner Flassbeck* Friederike Spiecker**

* Dr. Heiner Flassbeck ist Chefvolkswirt der UNCTAD und Direktor der Ab-teilung Globalization and Development Strategies sowie Honorarprofes-sor an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik.

** Friederike Spiecker ist Diplom-Volkswirtin und freie Wirtschaftspubli-zistin.

Zur Diskussion gestellt

zweifelten und zweifelhaften Bemühungen der EWU-Staa-ten sehen kann, der seit Jahren absehbaren1 und nun aus-gebrochenen Eurokrise Herr zu werden, ohne sich an dieLösung des ihr zugrunde liegenden Problems zu machen.Jean-Claude Trichet, der Chef der Europäischen Zentral-bank (EZB), bekräftigte auf der Pressekonferenz der EZB am8. April mit den Sätzen »The market is always right. ... It isthe truth at that moment in time.«2, dass die neoliberaleMarktgläubigkeit trotz aller Kapriolen der Finanzmärkte wei-terhin fest verankert ist in den Köpfen der führenden Wirt-schaftspolitiker.

Das neoliberale Marktdogma

Das neoliberale Gedankengebäude räumt den Märkten oh-ne Rücksicht auf ihre spezifischen Bedingungen absolutePriorität vor staatlicher Einflussnahme ein, weil dem Preis-mechanismus eine systematische Objektivität in der Spie-gelung von Ressourcenknappheiten zugesprochen wird, dieder Staat in den Augen neoliberaler Ökonomen nie zustan-de bringen kann. Dementsprechend empfiehlt der Neolibe-ralismus, die Rolle des Staates in der Wirtschaft darauf zureduzieren, für Rahmenbedingungen zu sorgen, die freienund fairen Wettbewerb auf freien Märkten gewährleisten. Aufdiesem Ansatz basierten alle Bemühungen zur Liberalisie-rung der Finanzmärkte seit der Jahrtausendwende, derenErgebnis wir heute in Form der größten Finanz- und Wirt-schaftskrise seit 80 Jahren erleben. Mögen viele wirtschafts-politische Entscheidungen der vergangenen zwei Jahre demDruck der Ereignisse geschuldet sein, so wird es jetzt höchs-te Zeit zu diskutieren, welche Substanz die vorherrschendeWirtschaftstheorie für die Erklärung der Abläufe in der rea-len Welt hat.

Unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten muss der Maß-stab für eine brauchbare Wirtschaftstheorie sein, dass sichaus ihr eine Ordnungspolitik und gegebenenfalls weitereHandlungsfelder des Staates ableiten lassen, die nicht nurzu Schön-Wetter-Zeiten, sondern auch und gerade in Kri-senzeiten eine konsistente Wirtschaftspolitik ermöglichen.Einen Kompass braucht man in der Regel dann, wenn mansich auf unbekanntem Terrain bewegt. Das ist in Krisen im-mer der Fall, sonst wären sie keine. Welche Kerngedankendes Neoliberalismus werden auch zukünftig zu einem sol-chen Kompass gehören?

Reicht hoher Wettbewerb, damit Preise realwirtschaftliche Knappheiten anzeigen?

Die Grundidee des freien und fairen Wettbewerbs auf ei-nem einzelnen Markt ist, dass er einen Preismechanismus

in Gang setzt, der Angebot und Nachfrage in Einklang bringt.Dabei sorgt der Wettbewerb nicht nur für eine effiziente Res-sourcenverwendung, sondern setzt auch mittels vorüber-gehender Pionier-Monopolrenten Anreize für innovatives unddamit Produktivität und Wohlstand steigerndes Investitions-verhalten. Der Preismechanismus ist die Grundlage jeder er-folgreichen Marktwirtschaft und kann deshalb von keinemBefürworter dieses Wirtschaftssystems generell zur Dispo-sition gestellt werden, ob er sich nun als neoliberal betrach-tet oder irgendeiner anderen »Schule« der marktwirtschaft-lichen Theorie zurechnet. Die beiden interessanten Fragensind, unter welchen Voraussetzungen Wettbewerb frei undfair ist und ob diese Voraussetzungen bereits hinreichenddafür sind, dass der Preismechanismus so funktioniert wieerhofft.

Zur ersten Frage gibt es eine Vielfalt wissenschaftlicher Ar-beiten, die Monopol-, Monopson- und Kartellstrukturen undihre Kontrolle behandeln. Jeder Verfechter der Marktwirt-schaft muss privatwirtschaftliche Machtpositionen ableh-nen, weil sie einem freien und fairen Wettbewerb im Wegestehen. Insofern nimmt es Wunder, weshalb in der durch dieFinanzkrise ausgelösten Debatte um die maximal zulässigeGröße von Banken und anderen Finanzinstituten (Stichwort»too big to fail«) gerade die Vertreter ansonsten neolibera-ler Auffassungen so zurückhaltend reagieren. Hier wird sichmit dem Hinweis auf die internationale Konkurrenzfähigkeitheimischer Finanzinstitute vor einer klaren Ablehnung kar-tellartiger Strukturen gedrückt.

Wichtiger jedoch, weil grundlegender und wegweisenderfür die Verhinderung von Finanzkrisen, ist die zweite Fra-ge: Leisten Preise eine optimale Steuerung von Angebotund Nachfrage schon dann, wenn freier und fairer Wett-bewerb gewährleistet ist? Preise sollten zu jedem Zeitpunktrealwirtschaftliche Knappheiten ausdrücken. Die signali-sieren sie aber nur, wenn auf atomistischen Märkten An-bieter und Nachfrager mit voneinander völlig unabhängi-gen Informationen aufeinander treffen. Das heißt, jederMarktteilnehmer kommt mit seinen individuellen Vorstel-lungen über das, was er heute kaufen oder verkaufen will,an den Markt, wo sich daraus der Marktpreis bildet. Ha-ben fast alle Teilnehmer eines Marktes hingegen identischeoder zumindest ähnliche Informationen und reagieren siebei einer Änderung der Informationslage in ähnlicher Wei-se, führt das dazu, dass Preisveränderungen auf solchenMärkten – egal ob ihr auslösendes Moment realer Naturoder lediglich durch Gerüchte bedingt ist – in der Regelselbst verstärkend wirken.3 Rennen alle in die gleiche Rich-tung, erreichen sie – im Sinne einer sich selbst erfüllenden

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1 Vgl. Flassbeck (1997); Flassbeck und Spiecker (2005).2 http://www.ecb.europa.eu/press/pressconf/2010/html/is100408.en.html.

3 Das gilt auch dann, wenn viele Anbieter und Nachfrager am Markt aufein-ander treffen, der Markt also atomistisch und insofern unter Wettbewerbs-gesichtspunkten »lupenrein« ist. Noch stärker wird dieser Effekt allerdings,wenn einige große »Spieler« durch ihre schiere Marktmacht solche Trendsinitiieren können, auf die die kleineren Marktteilnehmer dann aufspringen.

Zur Diskussion gestellt

Prognose – durch ihr Herdenverhalten genau das erwar-tete Ergebnis. Das Verhalten der Marktteilnehmer ist da-bei durchaus nicht irrational, denn es kann sehr wohl sinn-voll sein, auf einen spekulativen Preistrend zu setzen, auchwenn man dessen langfristige Unhaltbarkeit klar erkennt.Denn es kommt nur darauf an, dass man selbst sein En-gagement in dem betroffenen Markt »rechtzeitig« beendet,also aus dem Markt aussteigt, bevor die spekulative Preis-blase platzt.

Diese Zusammenhänge haben enorme Konsequenzen fürdie Ordnungstheorie. Sie bedeuten nämlich, dass Preise,die auf Märkten bestimmt oder von Märkten beeinflusstwerden, auf denen fast alle Teilnehmer durch ähnliche In-formationen miteinander verbunden sind, für lange Zeit kei-ne realwirtschaftlichen Knappheiten anzeigen müssen. Sol-che Märkte sind oft über Jahre hinweg spekulationsge-trieben. Zwar brechen die Spekulationen irgendwann insich zusammen und führen dann zu unterschießendenPreisreaktionen. Aber die Phase der Entstehung solcherPreisblasen wie auch die Phase nach ihrem Platzen sindgekennzeichnet von verzerrten, eben falschen Preisen aufdiesen Märkten – mit allen Rückwirkungen auf die restli-chen Märkte.

Finanzmärkte funktionieren anders

Auf welchen Märkten gibt es für alle Marktteilnehmer prak-tisch identische Informationen, ja sogar weitgehend glei-che und gleichzeitige Informationsverarbeitung und -ge-schwindigkeit? Auf den Finanzmärkten! Das wäre unpro-blematisch, stellten die Finanzmärkte eine Welt für sich dar.Dann könnten die Marktteilnehmer dort in einem immer-währenden Nullsummenspiel auf Trends setzen und ge-winnen oder verlieren wie im Kasino. Wichtig wäre ledig-lich, dass jeder Marktteilnehmer seine Wettspiele mit 100%Eigenkapital ausführen müsste, für derartige Spielereien al-so keine Kredite aufnehmen dürfte. Denn weil Nullsum-menspiele für alle Teilnehmer insgesamt betrachtet keineErträge abwerfen, können aus ihnen heraus auch keineZinsen bezahlt werden, ohne dass jemand pleite geht. Dadas Kreditwesen einerseits im wahrsten Sinne des Wor-tes von der Glaubwürdigkeit der Kreditnehmer lebt und an-dererseits der Realwirtschaft dienen soll, darf es nicht durchden Bankrott von Kasinospielern so in Verruf gebracht undan den Rand der Illiquidität manövriert werden, dass diemonetären Bedürfnisse der Realwirtschaft nicht mehr be-dient werden können.

Doch eine 100%ige Eigenkapitalhaftung für Wettspiele al-lein löst das Problem freier Finanzmärkte nicht.4 Denn in

Wirklichkeit stellen die Finanzmärkte gerade kein isolier-tes Kasino dar, wird auf ihnen nicht mit Spielgeld agiert undwerden keine Preise auf fiktiven Märkten wie bei einem Mo-nopoly-Spiel bestimmt. Denn die Finanzmärkte haben re-alwirtschaftliche Märkte zum Gegenstand: Immobilienmärk-te, Rohstoffmärkte, Märkte für ganze Unternehmen (Ak-tienmärkte) und solche für ganze Volkswirtschaften (Devi-senmärkte). Das ist so, weil auf Finanzmärkten mit der Wa-re »Geld« im weitesten Sinne gehandelt wird. Geld seiner-seits ist aber das Spiegelbild der vorhandenen realwirt-schaftlichen Größen. Die Anbindung der Finanzmärkte andie Realwirtschaft ist eben eine conditio sine qua non fürdie Existenz der Finanzwelt. Zwar ist jede arbeitsteilige,technischen Fortschritt generierende Realwirtschaft auchauf bestimmte Einrichtungen der Finanzwirtschaft ange-wiesen. Aber die Realwirtschaft kann nicht per se, also ein-fach durch das freie Schalten und Walten der Marktkräf-te, Macht über die Finanzwelt gewinnen, wie das umge-kehrt sehr wohl der Fall ist. Denn alle in der Realwirtschaftablaufenden Transaktionen haben eine güterwirtschaftli-che Komponente, d.h. neben dem Finanzstrom findet einRealtausch statt, der nicht durch Herden von Marktteilneh-mern beliebig oft nachgeahmt werden kann wie bei reinenFinanztransaktionen.

Die auf freien, d.h. unkontrollierten Finanzmärkten syste-matisch auftretenden Preisverzerrungen spielen für die Re-alwirtschaft eine verheerende Rolle. Sie zerstören die für ei-ne erfolgreiche Marktwirtschaft lebensnotwendige realwirt-schaftliche Signalfunktion von Preisen, weil nicht mehr zujedem Zeitpunkt realwirtschaftliche Knappheiten angezeigtwerden. Auf diesem Wege kommt es zu massiver Fehlal-lokation von Ressourcen durch eben die Marktkräfte, dieauf »normalen« Märkten gerade für Effizienz und Innovati-on sorgen.

Durch Spekulation verzerrte Preise schaden derRealwirtschaft

Auf den Finanzmärkten lässt sich durch Preisverzerrun-gen vorübergehend enorm viel Geld verdienen, obwohlkeine tatsächlichen Werte geschaffen werden. Wenn sichHerden von Zockern auf ein bestimmtes Papier stürzenund dadurch den Preis dieses Papiers nach oben trei-ben, ist noch kein einziger realer Wert geschaffen wor-den. Es ist nur die Illusion eines Wertes entstanden. Wennes den professionellen Zockern gelingt, rechtzeitig vomfahrenden Zug abzuspringen, d.h. das Papier an »düm-mere« Marktteilnehmer zu verkaufen, haben sie unglaub-liche Summen in kurzer Zeit in ihre Taschen gesteckt. DieFrage, wer die Zeche bezahlt, wenn sich herausstellt,dass die Preisentwicklung mit den sog. Fundamental-daten der realen Welt nichts mehr zu tun hat, interes-siert sie nicht.

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4 Dieses Argument geht über das praktische Problem, Wettspiele zu iden-tifizieren, weit hinaus.

Zur Diskussion gestellt

Das Argument, niemand sei gezwungen, an solch einemSchneeballsystem teilzunehmen, und daher genüge einehohe Eigenkapitalquote, um derartige Geschäfte nicht aus-ufern und die Finanzwelt destabilisieren zu lassen, igno-riert die Tatsache, dass es sehr wohl Wirtschaftsakteuregibt, die ihre Teilnahme an von Spekulationsattacken be-troffenen Märkten nicht zur Disposition stellen können.Ein armer Reiskonsument, der buchstäblich von der Handin den Mund lebt, kann seinen Reisbedarf weder antizy-klisch decken noch auf andere Märkte ausweichen. Er mussalle spekulativen Preisbewegungen am Reismarkt Tag fürTag mitmachen, die ihn in den Hunger und im Extremfallauch in den Tod treiben können. Ihm ist nicht damit ge-holfen, dass eines Tages ein Spekulant am Ende derSchneeballkette pleite geht. Der lapidare Hinweis, steigen-de Preise regten das Angebot an und führten so automa-tisch zu einer Dämpfung der Preisentwicklung, Spekulati-on beschleunige also nur die Beseitigung realwirtschaftli-cher Knappheiten, ist menschenverachtend. Denn nichteinmal das Versprechen der Anregung realwirtschaftlichenAngebots kann der Neoliberalismus einlösen: Ist die Preis-blase am Reismarkt erst einmal geplatzt, sind alle Klein-bauern, die sich auf den Preistrend verlassen, ihre An-bauflächen ausgedehnt und dafür in Geräte und teuresSaatgut investiert haben, ruiniert, weil sie dank unterschie-ßender Preise ihre Ernte nicht einmal zum Einkaufspreisdes Saatgutes verkaufen können. In der Folge sinkt dasReisangebot sogar.

Aber auch nicht so lebensbedrohlich direkt den Spekulati-onskräften ausgelieferte Marktakteure leiden unter denPreisverzerrungen, die die freien Finanzmärkte produzieren:Jeder im Außenhandel tätige Unternehmer muss zu Trans-aktionszwecken am Devisenmarkt direkt oder indirekt z.B.über seine Bank teilnehmen. Zwar kann er seine Geschäf-te gegen Wechselkursschwankungen absichern. Doch kos-tet ihn das Geld. Außerdem muss er feststellen, dass sei-ne realwirtschaftlichen Bemühungen trotz Risikobereitschaftweniger rentierlich sind als die kurzfristigen Zinsarbitrage-Geschäfte, die etwa carry trader unternehmen. Selbst wenner sich aus Gründen der Vorsicht, Moral oder Unkenntnistrotzdem nicht auf Devisenspekulationsgeschäfte einlässt,trägt er an den Folgen der Preisverzerrungen auf den De-visenmärkten mit: Seine Absatzmöglichkeiten in Ländernmit unterbewerteter Währung sind schlechter, aus Län-dern mit überbewerteter Währung importierte Vorleistungs-güter sind teurer, und bei Kreditbedarf können seine Pro-jekte nicht mit den Renditen der Spekulationsgeschäfte mit-halten. Daher findet der Unternehmer bereits beim Aufbauspekulativer Preisblasen schwerer Kreditgeber bzw. mussschlechtere Kreditkonditionen hinnehmen; erst recht ver-schlechtern sich die Finanzierungsbedingungen, wenn dasFinanzsystem beim Zusammenbruch spekulativer Preisbla-sen ins Wanken gerät und sich die klammen Banken beiKreditanfragen extrem risikoavers verhalten.

Die Eurokrise – jüngstes Beispiel für die Auswüchse des Neoliberalismus

Ein aktuelles Beispiel für die immensen Schäden, die neo-liberale Marktgläubigkeit anrichtet, ist die Eurokrise. In dergesamten aberwitzigen Diskussion um einen Staatsbank-rott Griechenlands hat es Europa nicht geschafft, das Pro-blem vor dem Hintergrund der Andersartigkeit der Finanz-märkte im Vergleich zu allen übrigen Märkten ruhig undsachlich zu diskutieren. Zwischenzeitlich hatte man sogareinen »Plan« in die Welt gesetzt, der wiederum den Her-den an den Finanzmärkten sehr viel Gewinn versprochenhätte. Deutschland war es wohl, das sich lange geweigerthatte zuzugestehen, dass Griechenland keine »Marktzin-sen« zahlen kann. Dass »Marktzinsen« die Zinsen sind, dievon den Herden selbst, von den Ratingagenturen und dermedialen Hetze gegen Griechenland gemacht werden, woll-te man nicht zur Kenntnis nehmen. »Marktzinsen« sugge-rieren, hier hätten sich Angebot und Nachfrage objektiv ge-troffen und zum »richtigen« Preis geführt. Dass man andiesen Märkten den Preis durch gezielte Informationen ma-nipulieren und in eine bestimmte Richtung drängen kann,will die Politik nicht wahr haben, weil sie auf die »Objektivi-tät« der Märkte fixiert ist.

Es steht zu befürchten, dass sich die Unkenrufe der Geg-ner der finanziellen Unterstützung Griechenlands, der deut-sche Steuerzahler werde von seinem Geld nichts wieder-sehen, weil es keinen Sinn habe, sich gegen die Markt-kräfte zu stemmen, bewahrheiten werden, wenn auch auseinem ganz anderen Grund, als ihn die Skeptiker anfüh-ren. Diese meinen ja entweder, dass Griechenland nichtsparsam genug sein werde, oder – etwas weitsichtiger –,dass die geplanten Sparorgien, wenn umgesetzt, eine sostarke Depression in Griechenland auslösen werden, dassan ein Begleichen der Staatsschulden mangels Steuerein-nahmen auf Jahre hinaus nicht zu denken sei. Jedoch wirddie eigentliche Ursache für die außenwirtschaftliche Über-schuldung Griechenlands wie die anderer südeuropäischerLänder nicht sinnvoll angegangen, nämlich das lohnbeding-te Auseinanderdriften der Wettbewerbsfähigkeit der Län-der der Eurozone. Denn der Versuch der Defizitländer, dieWettbewerbslücke durch deflationäres Abwürgen der Kon-junktur zu schließen, wird nicht nur ein Herauswachsen ausden Schuldenbergen verhindern, sondern die seit Jahrenvon Deutschland betriebene Lohndeflationspolitik auch nochbefeuern. Damit setzt ein Hase-Igel-Wettlauf innerhalbEuropas ein, bei dem keiner gewinnen kann, auch der IgelDeutschland nicht. Letzten Endes wird die von Deutsch-land durchgesetzte Spar- und Deflationspolitik dazu führen,dass ganz Europa in Depression versinken und sich mit denWährungsräumen der großen Weltwährungen – Yen, Dol-lar und Renminbi – einen Abwertungswettlauf liefern wird,bei dem ebenfalls niemand gewinnen kann, aber alle ver-lieren werden.

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Zur Diskussion gestellt

Kompass aus der Krise

Wie muss ein wirtschaftspolitischer Kompass aussehen, deruns aus dieser Misere heraushilft? Gibt es theoriegeleiteteund praktisch umsetzbare Wege, das Phänomen der durchFinanzmärkte verzerrten Preise abzustellen? Der Neolibe-ralismus weiß hier keinen Rat, da er den Glauben an die Rich-tigkeit der Preisbildung auf freien Märkten über alles stellt.Er räumt zwar ein, dass es spekulative Entwicklungen gibt,aber ihm genügt ihre langfristige Korrektur, auch wenn siekrisenhafte Züge tragen sollte. Das kann für Menschen, dieunter diesen Krisen leiden, obwohl sie sie nicht verursachthaben, keine zumutbare Antwort sein. Wären die unbestreit-baren Errungenschaften der Marktwirtschaft nur um denPreis immer wieder auftretender massiver Krisen mit all ih-ren ungerechten, ja inhumanen Verteilungsfolgen zu ha-ben, könnte sich keine Demokratie der Welt ein solches Wirt-schaftssystem auf Dauer leisten.

Die Alternative zum ohnmächtigen neoliberalen Marktdog-ma besteht in einer sorgfältigen Analyse, wie spekulativePreisentwicklungen von realwirtschaftlich bedingten unter-schieden und abgestellt werden können. Die hohe Korrela-tion täglicher Preisbewegungen auf Märkten, die in keinerrealwirtschaftlichen Beziehung zueinander stehen, stellt ei-nen ersten zuverlässigen Indikator für spekulative, alleinvon Finanzakteuren hervorgerufene Preisentwicklungen dar(vgl. Flassbeck und Boffa 2010). Da der Staat über die glei-chen exogenen Informationen verfügt wie Finanzspekulan-ten, kann er sich über die Angemessenheit einer Preisent-wicklung auf einem von Spekulation dominierten Markt einUrteil erlauben, das nicht systematisch »dümmer« und da-mit schädlicher ist als das Ergebnis, das ein unkontrollierterMarkt zustande bringt. Das gilt vor allem für Devisenmärk-te. Hier lädt das »freie Spiel« der Marktkräfte zu Zinsarbitra-gegeschäften ein, die Währungen wie etwa die isländischeKrone oder den ungarischen Forint über Jahre hinweg ein-deutig in die falsche Richtung treiben, weil sie zu Aufwertun-gen der Währungen von Hochinflationsländern führen. Da-mit werden die Wettbewerbsfähigkeit von Volkswirtschaftenund die Wirkungen des gesamten internationalen Handels-systems massiv verzerrt. Hier ist die Lösung einfach: Mankann diesen Teil des Finanzkasinos austrocknen, indem einWeltwährungssystem installiert wird, das man strikt an derRegel möglichst konstanter realer Wechselkurse ausrichtet(vgl. UNCTAD 2009).

Viele Finanzprodukte leisten keinerlei produktiven volks-wirtschaftlichen Beitrag. Ihre Existenz wird normalerweisedamit begründet, dass behauptet wird, nur so könnten un-terschiedliche Risiken hinreichend durchmischt und jedemFinanzinvestor der ihm gemäße Mix an Risiko und Renditeangeboten werden. Jedem Finanzinvestor steht es aber frei,durch unterschiedlich hohe direkte Beteiligung an unter-schiedlich riskanten Sachinvestitionsprojekten seine Anla-

gestrategie zu optimieren. Dazu bedarf es nicht des Um-wegs über undurchsichtige Finanzprodukte, die das Finanz-system destabilisieren, weil sie unabhängig von ihrer Versi-cherungsfunktion wegen kurzfristiger Wertänderungen spe-kulativ gehandelt werden. Ihrer Abschaffung stehen keiner-lei ordnungspolitische Bedenken im Wege.

Komplexer ist die Kontrolle der Rohstoffpreisspekulation,aber gerade auf den Lebensmittelrohstoffmärkten ist sie vonzentraler Bedeutung für die Akzeptanz des marktwirtschaft-lichen Systems in ärmeren Ländern. Eine systematische Un-terscheidung in »commercial« und »non-commercial trader«,wie vom amerikanischen Parlament vorgeschlagen, wärehier ein erster Schritt in die richtige Richtung. Antizyklischekonzertierte Nachfragepolitik der Staatengemeinschaft zurStabilisierung von Preistrends ist aber der auf Dauer erfolg-versprechendste Weg.

Der Neoliberalismus ist mit seiner undifferenzierten Vorstel-lung, den Staat auf ein ordnungspolitisches Minimum zurOrganisation des freien Wettbewerbs auf freien Märkten zureduzieren, grandios gescheitert. Dennoch scheint die Zeitnicht reif, die Krise noch nicht heftig genug gewesen zu sein,um – dem neoliberalem Zeitgeist zum Trotz – der Wirtschafts-politik ein klares Primat gegenüber spekulationsanfälligenMärkten einzuräumen und die Finanzwirtschaft konsequentauf ihre der Realwirtschaft dienende Funktion zu begrenzen.Die Marktgläubigkeit hat, wie etwa im Fall der Eurokrise zubeobachten, schon wieder eingesetzt, noch ehe die Zecheauch nur annährend berechnet, geschweige denn bezahltwäre, die dieser Irrglaube in Form der Finanz- und Wirt-schaftskrise angerichtet hat.

Literatur

Flassbeck, H. (1997), »Und die Spielregeln für die Lohnpolitik? – Über Ar-beitnehmereinkommen und Wettbewerbsvorsprünge einer Volkswirtschaft inder Europäischen Union«, Frankfurter Rundschau, 31. Oktober.Flassbeck, H. und S. Boffa (2010), »The Wisdom of the Herd«, Swiss Deri-vatives Review (42), Spring, 28–30. Flassbeck, H. und F. Spiecker (2005), »Die deutsche Lohnpolitik sprengt dieEuropäische Währungsunion«, WSI-Mitteilungen 12.UNCTAD (2009), Trade and Development Report 2009, UNCTAD, Genf 2009.

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Zur Diskussion gestellt

Neoliberalismus

Der Begriff Neoliberalismus wurde in den dreißiger Jahrendes vorigen Jahrhunderts geprägt. Er sollte gegenüber demPaläoliberalismus abgrenzen. Heute wird die Bezeichnungeher als politischer Kampfbegriff gebraucht. In der Sachedeckt er sich weitgehend mit dem Terminus »Soziale Markt-wirtschaft«. Diese hatte zwar – nach einem Bonmot von Ar-min Gutowski – von Anfang an ein Problem, nämlich ihr Ad-jektiv. Doch wies dieses im Gegensatz zu Laissez-faire-Ansätzen auf eine Rolle hin, welche einem Staat, gegebe-nenfalls einem starken Staat, zukommen sollte. In diesemSpannungsverhältnis ist der Begriff Neoliberalismus ange-siedelt.

Strukturmerkmale einer liberalen Wirtschaftsordnung

Eine liberale Wirtschaftsordnung lässt sich am einfachstenin Kategorien der Entscheidungstheorie kennzeichnen (vgl.Möschel 1975; Wissenschaftlicher Beirat 2010). Entschei-dungsträger sind die Einzelnen. Es gibt keinen kollektivenFunktionszuweiser von außen, etwa den Staat. Die Entschei-dungsgegenstände sind beliebig. Die in solcher Ordnung le-benden Menschen können einander entgegengesetzte Zwe-cke anstreben. Niemand fragt dabei nach ihrer Gesinnung.Das Entscheidungsverfahren ist der Vertrag, das friedlicheSich-einigen mit betroffenen Dritten. Wie bei solchen Vorga-ben eine Ordnung im Gegensatz zum Chaos entstehen kann,war bekanntlich die Frage der englischen Klassiker, und siefanden auch die grundsätzliche Antwort, nämlich den Markt.In dieser spontanen Ordnung koordinieren die Teilnehmerihre Tätigkeiten dezentral in Lieferung und Erhalt von Infor-mationen durch wechselseitige Anpassung. Bereits die Art

ihres Zustandekommens legitimiert dabei die Ergebnisse. Inden lapidaren Worten Olaf Sieverts: »Was von selbst ge-schieht, ist vorteilhaft. Was vorteilhaft ist, geschieht vonselbst« (Deregulierungskommission 1991, Tz 5). Dies ist nichtnur eine Frage der Systemlogik. Dahinter verbirgt sich derGegensatz zwischen interventionistischen Einflussnahmenund normativ-funktionalen Methoden bzw. Spielregeln. Dementspricht ein Gegensatz zwischen vertragstheoretischenund utilitaristischen Auffassungen von Recht und Gerech-tigkeit, der sich wiederum im Gegensatz von klassischerbzw. neoklassischer Wirtschaftstheorie einerseits und derreinen Wohlfahrtstheorie andererseits widerspiegelt (vgl.Mestmäcker 1975, 416 f.).

Werturteile

Eine Präferenz für eine in diesem Sinne neoliberale Wirt-schaftsordnung beruht auf Werturteilen. Sie lassen sich sys-tematisieren (vgl. Möschel 1974, 10 f.; 1975, 13 f.):

– Handlungsfreiheit im Bereich des Ökonomischen ist einwesentlicher Teil der Freiheit des Individuums schlechthin(Freiheitsargument). Die Gewährung wirtschaftlicher Frei-heitsrechte lässt sich dabei nicht in der Dimension einesVerzichts aus der Sicht des Staates erfassen, sie werdenauch nicht in eine Sphäre des Vorrechtlichen entlassen (vgl.Mestmäcker 1975, 411 f.). Solche Handlungsfreiheit spie-gelt sich in Grundrechten der Verfassung (allgemeine Hand-lungsfreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgewährleistung, In-vestitionsfreiheit, Freiheit zur Verbandsbildung). Die Funk-tionszusammenhänge zwischen diesen Grundrechten sindunbestritten. Die missverständliche Redeweise des Bun-desverfassungsgerichts, das Grundgesetz gewährleistekeine bestimmte Wirtschaftsordnung, besagt nur, es gibt– anders als in der Weimarer Reichsverfassung – keine ei-gene Prüfungskategorie der Wirtschaftsordnung. Das Ge-richt prüft hoheitliche Maßnahmen auf ihre Verfassungs-mäßigkeit hin vielmehr direkt anhand der einzelnen Grund-rechte (vgl. BVerfG 1954).

– Eine dezentral und nichtautoritär sich im Wettbewerb ko-ordinierende Wirtschaftsordnung führt allgemein zu öko-nomischen Ergebnissen, die überwiegend als positiv be-wertet werden (Allokationseffizienz, Wachstum, Induzie-rung und Entfaltung des technischen Fortschritts). Diesist das Effizienzargument. Als unverfänglicher Beobach-ter sei insoweit Karl Marx zitiert: »Erst sie (sc. die Bour-geoisie) hat bewiesen, was die Tätigkeit der Menschenzustande bringen kann. Sie hat ganz andere Wunderwer-ke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Was-serleitungen und gotische Kathedralen… Die Bourgeoi-sie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produkti-onsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kom-munikationen alle, auch die barbarischsten Nationen indie Zivilisation« (Marx und Engels 1969, 26, 28).

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* Prof. Dr. Wernhard Möschel ist emeritierter Ordinarius für Wirtschafts-recht an der Universität Tübingen.

Wernhard Möschel*

Zur Diskussion gestellt

– Die Überantwortung wirtschaftlicher Austauschvorgän-ge in den Bereich der Gesellschaft vermag einen wesent-lichen Beitrag zu einer Art Gewaltenteilung in einem Ge-meinwesen darzustellen. Die Chance, auf diese Weiseökonomische Macht zu dezentralisieren und mit den Mit-teln des Rechts zu bändigen, erscheint höher, als wennsich zentrale politische Macht und zentralisierte ökono-mische Macht vereinigen (vgl. Mestmäcker 1973, 191 f.).Die marxistische These, dass die Akkumulation privaterökonomischer Macht zu einer Usurpation politischerMacht führe, gilt nicht weniger für den Staat selbst.

– Schließlich werden auf diese Weise die Konfliktlösungs-mechanismen zwischen den Individuen dezentralisiert(Rechtsstaatsargument). Ein System inhaltlich konkreti-sierbarer subjektiver Rechte – Beispiel Privateigentum –wird ermöglicht und zugleich abstrakt-genereller Rege-lung zugänglich. Zwischen rechtlich gebundener Markt-wirtschaft und Rechtsstaat besteht eine strukturelle Kom-plementarität (vgl. Mestmäcker 1975, 416 f.).

Funktionsbedingungen

Schon im theoretischen Ansatz ist eine marktwirtschaftli-che Ordnung nicht denkbar ohne inhaltliche Normierun-gen. Dafür kommen neben Public Ordering auch Private Ordering und Mischformen von beiden in Betracht. Dochliegt das Schwergewicht bei staatlicher Setzung von Rah-menbedingungen. Das gilt unbestritten für die Gewährleis-tung und Anpassung der formalen Spielregeln, nach denensich die inhaltlich unbestimmten Einzelpläne koordinierenkönnen. Die Deregulierungskommission spricht von »kons-titutiven Regulierungen« (Deregulierungskommission 1991, Tz 4). Hierher gehören Gewerbefreiheit, Vertragsfreiheit, ei-ne Rechtsordnung, die subjektive Rechte anerkennt undihre Verwirklichung ermöglicht. Eigentum an Produktions-mitteln ist ein Teilaspekt der Gewerbefreiheit selbst, ermög-licht Zielautonomie der Unternehmen gegenüber dem Staatund ist in der darin eingeschlossenen Anreizfunktion mitder Möglichkeit zugeordneter Gewinne und Verluste ein Ins-trument zur Deckung von Entscheidungszuständigkeit undVerantwortung (vgl. Möschel 1975, 7). Weitere zentrale Funk-tionsbedingung ist die Erhaltung der Teilnahmefreiheit derEinzelnen, der Versuch, das Ordnungssystem vor endoge-nen Pervertierungen zu schützen. Marktteilnehmer verlas-sen die Legitimationsbasis ihrer Freiheitsrechte, wenn dieWirkungen ihres freien Handelns die Funktionsbedingungender Freiheitsrechte zerstören. Das ist das Problem zu gro-ßer privater wirtschaftlicher Macht und die bislang nur be-grenzt gelöste Aufgabe des Rechts der Wettbewerbsbe-schränkungen, die Entstehung solcher Machtstellungen zuverhindern bzw. sie in Rechtsregeln zu bändigen. Dabei han-delt es sich um Maß- und Gradfragen. Schneidige Antwor-ten sind selten am Platze. Die Schwierigkeiten liegen imGegenstand selbst. Versuche, hier Antworten zu finden un-

ter direkter Anknüpfung an beobachtbare Marktergebnisse(more economic approach), missachten diese Zusammen-hänge. Nach welchem Maßstab auch immer als »gut«be-wertete Marktergebnisse erlauben keinen Rückschluss auffunktionierenden Wettbewerb. Sie können auch bei Vorhan-densein von Wettbewerbsbeschränkungen entstanden sein.Das Werturteil eines Betrachters hinsichtlich »guter« Markt-ergebnisse gibt nur die Präferenz des Betrachters für diesichtbare Realität wieder im Unterschied zu den prinzipiellunbekannten Ergebnissen wettbewerblicher Prozesse.

Ergänzende und korrigierende Politiken

Eine solche Perspektive ermöglicht es, staatliche Maßnah-men auf einen ordnungspolitischen Prüfstand zu nehmen,ob Konformität, Neutralität, Beeinträchtigung oder gar Zer-störung im Hinblick auf einen allgemeineren Ordnungsrah-men vorliegen. Sie erzwingt indes nicht die Entscheidungvon Zielkonflikten in einer bestimmten Richtung. Auch beieinem neoliberalen Ansatz bleibt Raum für ergänzende undfür korrigierende Politiken. Für Ersteres steht ein bekannterDreiklang aus Wohlfahrtsökonomik, Stabilitätspolitik und Ver-teilungspolitik (vgl. Möschel 1988, 891 f.). Auf wohlfahrts-ökonomischer Ebene ist an die Sachverhalte des natürlichenMonopols, zum Beispiel bei der leitungsgebundenen Ener-gieversorgung, der ruinösen Konkurrenz, angeblich auf denMärkten für abhängige Arbeit, und der externen Effekte, zumBeispiel beim Zusammenbruch einer Bank, zu erinnern. Invielen Fällen – sie sind Gegenstand der Regulierungsdiskus-sion – geht es um die allgemeinere Frage, wie man durcheine positive Gestaltung von Rahmenbedingungen Markt-prozesse überhaupt erst möglich macht (vgl. Möschel 1992,74 f.). Die Schaffung von Emissionsrechten im Bereich desUmweltschutzes ist ein wichtiges Beispiel. Dies geht überein traditionelles Wettbewerbsrecht, das sich negativ mitdem Wegräumen von Wettbewerbsbeschränkungen begnü-gen kann, weit hinaus.

Die stabilitätspolitische Ebene betrifft die Frage, ob eine neo-liberale Ordnung in dem Sinne instabil ist, dass es immerwieder zu Ungleichgewichten kommt (vgl. Wissenschaftli-cher Beirat 1973). Exogene Störungen, Störungen, die vomGeldkreislauf ausgehen, Folgen eines Nachfragemangels,Friktionen auf der Angebotsseite kommen als Ursache inBetracht. Keynesianische Auffassungen bejahen dies be-kanntlich im Gegensatz zu ihren monetaristischen, stärkeran Regelmechanismen orientierten Opponenten. Wer denStaat in der Verantwortung für Preisstabilität, Vollbeschäfti-gung, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und angemes-senes Wachstum sieht, öffnet die Tür zu gegebenenfalls weit-reichenden Eingriffen. Die Bandbreite reicht dabei von einermittelfristigen Verstetigung des Konjunkturprozesses durchGlobalsteuerung (im Wesentlichen Mittel der Geld- und Fis-kalpolitik) bis hin zu perfektionistischer Feinsteuerung.

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Zur Diskussion gestellt

Staatliche Eingriffe unter dem Aspekt der Einkommensver-teilung sind nicht mit ökonomischem Marktversagen be-gründbar. Es handelt sich bereits um eine Korrektur vonErgebnissen. Soweit sie sich nicht anreizanalytisch recht-fertigen lässt, haben wir im hier verfolgten Gedankengangeine Form korrigierender Politik. Ein Marktsystem ohne je-des Umverteilungselement könnte dazu führen, dass zwardie Katzen der Reichen genügend Milch haben, Kinder derArmen dabei aber verhungern (H. Giersch). Dies ist eineextreme Entgegensetzung. Die oben genannten Wertur-teile, die für ein liberales Ordnungskonzept sprechen, las-sen sich durch weitere, auch gegenläufige Ziele ergän-zen. Entsprechende Konflikte können auftreten. Ein Ge-setzgeber mag nach politischer Opportunität entscheiden.Die hier benannte neoliberale Sicht kann ihm Orientierunggeben. Zwingend gebunden ist er nur durch die Verfas-sung. Zu dieser gehört heute faktisch auch das Europäi-sche Gemeinschaftsrecht.

Literatur

Bundesverfassungsgericht (1954), Urteil vom 20. Juli 1954 – 1 BvR 459/52,Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 4, 7–27.Hoppmann, E. und E.-J. Mestmäcker (1974), Normenzwecke und System-funktionen im Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, Mohr, Tübingen.Deregulierungskommission (1991), Marktöffnung und Wettbewerb, Poeschel,Stuttgart.Marx, K. und F. Engels (1969), Manifest der Kommunistischen Partei, Reclam, Stuttgart.Mestmäcker, E.-J. (1973), Markt – Recht – Wirtschaftsverfassung, in: H.K. Schneider und Chr. Watrin (Hrsg.), Macht und ökonomisches Gesetz,1. Band, Duncker & Humblot, Berlin, 183–201.Mestmäcker, E.-J. (1975), Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, in: H. Sauermann und E.-J. Mestmäcker (Hrsg.), Festschrift zum 80. Geburts-tag von Franz Böhm, Mohr, Tübingen, 383–419.Möschel, W. (1974), Der Oligopolmissbrauch im Recht der Wettbewerbsbe-schränkungen, Mohr, Tübingen.Möschel, W. (1975), Rechtsordnung zwischen Plan und Markt, Mohr, Tübingen.Möschel, W. (1988), »Privatisierung, Deregulierung und Wettbewerbsord-nung«, JuristenZeitung 43, 885–893.Möschel, W. (1992), »Wettbewerbspolitik vor neuen Herausforderungen«,in: Ordnung in Freiheit, Symposium aus Anlass des 100. Jahrestages desGeburtstages von Walter Eucken, am 17. Januar 1991, Mohr, Tübingen,61–78.Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft (1973),Grundfragen der Stabilitätspolitik, in: Wissenschaftlicher Beirat beim Bundes-ministerium für Wirtschaft (1987), Sammelband der Gutachten von 1973–1986, Otto Schwartz, Göttingen, 619–660.Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Tech-nologie (2010), Akzeptanz der Marktwirtschaft: Einkommensverteilung, Chan-cengleichheit und die Rolle des Staates, Gutachten Nr. 01/10, Berlin.

Neoliberalismus

Zur Entstehungsgeschichte und zum Bedeutungswandel eines verqueren Begriffes

Seit geraumer Zeit ist der Begriff Neoliberalismus in der öf-fentlichen Debatte national wie international zu einem meistpejorativ verstandenen, politischen Kampfbegriff verkommen.Er wird synonym mit Marktradikalismus oder Laissez-faire-Kapitalismus verwendet und soll in der Regel, alle der Markt-wirtschaft bzw. dem Kapitalismus zugeschriebenen Übel aufeinen einfachen Nenner bringen. So heißt es z.B. im Bun-destagswahlkampfprogramm der Partei »Die Linke« vom Ju-ni 2009 einleitend: »Der Marktradikalismus hat versagt.« Vie-le Bürgerinnen und Bürger sind »enttäuscht von neoliberalerPolitik und dem kapitalistischen System … Der Kapitalismushat die Welt in die schwerste Finanz- und Wirtschaftskrise seit80 Jahren getrieben … Die Politik des Sozialabbaus, der De-regulierung und Privatisierung, der entfesselten Finanzmärk-te, der einseitigen Ausrichtung auf den Export und der Ver-nachlässigung von Kaufkraft und Binnenmärkten – diese Po-litik dient dem Profit von Wenigen und geschieht auf demRücken und auf Kosten der Mehrheit der Bevölkerung.«

Diese unreflektierte Begriffsverwendung greift schon seit ge-raumer Zeit um sich und dient vor allem – so sogar der »SPIE-GEL« – »der Diffamierung des politischen Gegners, gleich-gültig ob innerhalb oder außerhalb der eigenen Partei. Dasgilt für den (damaligen, Anm. der Redaktion) CSU-Vize HorstSeehofer genauso wie für die SPD-Vizin Andrea Nahles undderen ehemaligen Parteigenossen und jetzigen OberlinkenOskar Lafontaine.« Wie zur Bestätigung hat soeben HeinerGeissler das Leipziger Programm seiner eigenen Partei als»kapitalen Fehler«, weil »neoliberal«, verdammt.1

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Peter Hampe*

* Prof. Dr. Peter Hampe lehrt an der Technischen Universität Dresden undan der Münchner Hochschule für Politik.

1 Spiegel online vom 8. Februar 2008; Heiner Geissler, Interview im »Tages-spiegel« vom 7. Mai 2010.

Zur Diskussion gestellt

Unabhängig davon, inwieweit die jeweilige Beschreibungder Inhalte »neoliberaler« Politik und ihrer Folgen sachadä-quat ist, liegen einer derartigen Begriffsverwendungdrei Missverständnisse zugrunde, die ich im Folgendenaufzeigen möchte. (1) Der Begriff ist zum einen keine Er-findung der letzten zwei bis drei Jahrzehnte, obwohl sichin diesem Zeitraum in der Tat liberale Tendenzen der De-regulierung und Privatisierung, der Steuersenkung und derAußenwirtschaftspolitik weltweit durchgesetzt haben. (2)Inhaltlich war das ursprüngliche neoliberale Konzept ge-rade nicht auf Laissez-faire-Politik ausgerichtet, sondernauf Reformüberlegungen, die dem Staat wichtige Funk-tionen bei der Gestaltung der wirtschaftlichen Rahmenord-nung zuwiesen. (3) Allerdings ist bei seinen Vertretern ei-ne breite Meinungsvielfalt zu registrieren. Neoliberalismuskann also nicht auf einen einfachen Nenner reduziert wer-den, wie es die aktuelle Diskussion vortäuscht.

Die Entstehung des Begriffs Neoliberalismusin der Zwischenkriegszeit

Die wirkliche Geschichte des Begriffs Neoliberalismus be-ginnt in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts.Vermutlich benutzte ihn der schwedische Ökonom Eli F.Heckscher 1921 in seiner Schrift »Alter und neuer ökono-mischer Liberalismus« zum ersten Male. 1925 veröffentlich-te dann der Züricher Ökonom Hans Honegger sein Buch»Volkswirtschaftliche Gedankenströmungen«, in dem einKapitel mit »Neoliberalismus« überschrieben ist. 1932 ver-trat Alexander Rüstow auf einer Tagung des »Vereins fürSocialpolitik« einen »neuen Liberalismus«. In Frankreich ent-warf Louis Rougier das Konzept eines »konstruktiven Li-beralismus«. Als die eigentliche Geburtsstunde des Neoli-beralismus gilt aber ein Kolloquium, das auf Initiative desamerikanischen Ökonomen Walter Lippmann 1938 in Pa-ris stattfand. Die 23 teilnehmenden Liberalen aus Deutsch-land, Österreich, Frankreich und den USA entwickelten Ide-en eines zeitgemäßen Liberalismus, den sie nicht zuletzt aufVorschlag Alexander Rüstows »Neoliberalismus« nannten,obwohl nicht alle Teilnehmer über diese Wortwahl glück-lich waren. Um den Ideenaustausch unter Gleichgesinntenfortzusetzen und in der Hoffnung, die Praxis freier Gesell-schaften stärken zu können, gründeten nach dem 2. Welt-krieg 35 liberale Denker auf Einladung Friedrich A. von Hayeks am Genfer See die »Mont Pèlerin Society« (unterihnen Walter Eucken, Wilhelm Röpke, Milton Friedman, Karl Popper; später stieß auch Ludwig Erhard dazu).

Anlass und Grundidee des Neoliberalismus

Nach dem 1. Weltkrieg und verstärkt nach der Weltwirt-schaftskrise von 1929 stand der Liberalismus mit dem Rü-cken zur Wand. Sozialismus und Nationalsozialismus bzw.

Faschismus beherrschten die Szene. Die sozialen Proble-me des 19. Jahrhunderts, die Konzentrations- und Mono-polisierungs- bzw. Kartellierungstendenzen, aber auch dieKrisenerfahrungen bis hin zur »Great Depression« hatten denKapitalismus diskreditiert. Eindrucksvoll beschrieb Ludwigvon Mises 1922 den Zeitgeist. »Sozialismus ist die Losungunserer Tage… Eine grundsätzliche Gegnerschaft findet derSozialismus nirgends. Es gibt heute keine einflussreiche Par-tei, die es wagen dürfte, frank und frei für das Sondereigen-tum an den Produktionsmitteln einzutreten.« (von Mises1922, 1 f.; Sondereigentum meint Privateigentum).

Für liberale Denker galt daher die Devise: Wenn man, wiesie, von den politischen und wirtschaftlichen Vorteilen einesfreiheitlichen, also dezentralen Wirtschaftssystems über-zeugt war und dieses für die Zukunft erneut propagierenwollte, wenn man also weder im Sozialismus, noch in staats-interventionistischen Einzelmaßnahmen zur Bekämpfung dergenannten Probleme bessere Alternativen sah, konnte mandennoch nicht einfach zur Laissez-faire-Strategie des19. Jahrhunderts zurückkehren. Man musste vielmehr einneues Konzept entwickeln, das die Vorteile eines markt-wirtschaftlichen Systems zu erhalten, die offenkundigenSchwächen aber auszumerzen versprach. Wilhelm Röpke(1942) nannte folglich sein Konzept einen »Dritten Weg zwi-schen Liberalismus und Kollektivismus«, Müller-Armack(1956, 390) sprach von einer »neuartigen Synthese«: »Mitdem Neoliberalismus teilen die Vertreter der sozialen Markt-wirtschaft die Überzeugung, dass der Altliberalismus zwardie Funktionsbedeutung des Wettbewerbs richtig gesehenhat, die sozialen und soziologischen Probleme jedoch nichtausreichend beachtet. Im Gegensatz zum Altliberalismus er-streben sie keine Wiederherstellung einer Laissez-faire-Wirt-schaft; ihr Ziel ist eine neuartige Synthese.« (Vgl. auch Bes-ters 1993) Im Kern ist daher der Neoliberalismus als Reform-modell entwickelt worden. Wer dagegen, wie insbesonde-re Ludwig von Mises, wenig Reformbedarf sah und schlichtzum »Nachtwächterstaat« zurückkehren wollte, wurde nichtals Neo-, sondern als »Paleoliberaler« charakterisiert.

Die Schulen des Neoliberalismus

Worin bestand nun aber die Reform? Schon auf dem Lipp-mann-Kolloquium wurde deutlich, dass es einen Pluralismusvon Denkrichtungen gab und damit kein einheitliches Pro-gramm. Gemeinsam traten die Neoliberalen vor allem für diemarktwirtschaftlichen Grundprinzipien ein, für die Garantiedes Privateigentums, für Wettbewerb, freie Preisbildung undFreihandel. Die legitime Rolle des Staates, gerade in Abgren-zung gegenüber dem Laissez-faire-Denken, war stärker um-stritten. Man sprach sich aber zumindest für einen »starkenStaat« aus, der die marktwirtschaftlichen Rahmenbedin-gungen schaffen und schützen, aber nicht in die Wirtschafts-prozesse eingreifen sollte. Mit der Formel vom »starken Staat«

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Zur Diskussion gestellt

war kein autoritäres, diktatorisches Regime gemeint, son-dern ein »Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Inte-ressenten, da, wo er hingehört.« (Rüstow 1932, 69)

Angesichts der konzeptionellen Unterschiede ist es üblichgeworden, verschiedene Richtungen des Neoliberalismuszu unterscheiden, insbesondere die österreichische Schu-le, die Freiburger Schule des Ordo-Liberalismus und dieChicago School. Als prominente Vertreter der österrei-chischen Schule gelten Ludwig von Mises und (sein Schü-ler) Friedrich A. von Hayek; zur Chicago School zählenvor allem Walter Lippmann, Frank H. Knight, Henry C. Si-mons, Gustav Stigler und last but not least Milton Fried-man. Repräsentanten der Freiburger Schule bzw. – brei-ter gefasst – des deutschen Ordo-Liberalismus sind ne-ben Alexander Rüstow vor allem Walter Eucken, FranzBöhm, Wilhelm Röpke, Friedrich A. Lutz, Leonhard Miksch,schließlich Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard, diefür die Umsetzung des ordoliberalen Denkens in die Pra-xis der Sozialen Marktwirtschaft stehen (vgl. Grossekett-ler 1999, 50). Daneben gab es natürlich auch neoliberaleDenker in anderen Ländern. Ohne Anspruch auf Vollstän-digkeit erwähne ich Edwin Cannan und seine Kollegen bzw.Schüler von der London School of Economics, die wieder-um von v. Mises und v. Hayek beeinflusst waren. Der letz-tere lehrte ja von 1935–1950 an der LSE und beeinfluss-te dann auch Karl Popper, der nach dem 2. Weltkrieg andie LSE kam. In Frankreich sind Louis Rougier und JacquesRueff, in Italien Luigi Einaudi zu nennen.

Die Konzepte der einzelnen Denker sind allerdings zu eigen-ständig, um sie bestimmten neoliberalen Schulen eindeutigund befriedigend zuordnen zu können. Am deutlichsten wirddas bei von Hayek, der zunächst in Wien studierte und lehr-te, dann, wie erwähnt, nach London ging, anschließend andie University of Chicago (1950–1962), bis er schließlich inFreiburg den Lehrstuhl von Walter Eucken übernahm. Ersteht sozusagen mit seinem Denken für alle drei Schulen.Wirklich gerecht wird man den Neoliberalen daher nur, wennman sich die konkreten Überlegungen einzelner Autoren vorAugen führt, zumal diese sich ja auch während der jeweili-gen Lebensspanne teilweise verändert haben.

Walter Eucken

Zur Demonstration konkreter neoliberaler Konzepts wäh-le ich zwei Autoren aus. Zunächst Walter Eucken mit sei-ner »Politik der Wettbewerbsordnung«. Dies bietet sich zumeinen an, weil Eucken als Vater der Freiburger Schule, vorallem im Hinblick auf die spätere Gestaltung der westdeut-schen Wirtschaftsordnung eine herausragende Rolle ge-spielt hat. Zum anderen ist seine »Wettbewerbsordnung«eine besonders klare Konzeption, die aus sieben konsti-tuierenden und vier regulierenden Prinzipien besteht (vgl.

Eucken 1950, Kap. XVI–X). Sie lassen vor allem deutlicherkennen, worin bei Eucken neben grundsätzlichen markt-wirtschaftlichen Rahmenbedingungen (Privateigentum, Ver-tragsfreiheit und offene Märkte) das »Neue« besteht: (1) DieWirtschaftspolitik hat sich an der Herstellung eines funk-tionsfähigen Preissystems basierend auf der Marktform dervollständigen Konkurrenz zu orientieren. Dabei hat sie dieEntstehung von Monopolen zu verhindern bzw. diese zukontrollieren. (2) Via Währungsverfassung ist die Stabilitätdes Geldwertes zu sichern. Sie sollte möglichst automa-tisch funktionieren, da Eucken die Träger einer staatlichenGeld- und Kreditpolitik mit der Aufgabe der Währungssi-cherung wegen potentieller Interessenkonflikte überfordertsieht. Er präferiert daher eine »Waren-Reserve-Währung«.(3) Die Wirtschaftspolitik soll Konstanz aufweisen, um ei-ne ausreichende Investitionstätigkeit zu gewährleisten. (4)Das Prinzip der Haftung ist einzuhalten. »Wer den Nutzenhat, muss auch den Schaden tragen« – ein sehr aktuellesThema. Eucken hatte hierbei zunehmende Haftungsbe-schränkungen insbesondere im Gesellschaftsrecht im Au-ge und sprach sich z.B. für die Haftung des Vorstands ei-ner AG aus, soweit dieser eigenverantwortliche Entschei-dungen trifft. Bei den regulierenden Prinzipien ist neben derMonopolkontrolle erwähnenswert, dass Eucken für eineprogressive Einkommensteuer eintritt, um die Verteilunggerechter zu machen, dass er das Problem externer Effek-te aufgreift (am Arbeitsmarkt und im Umweltbereich!), diestaatliche Eingriffe erfordern und dass er bei anomalemAngebotsverhalten (z.B. am Arbeitsmarkt) für Mindestprei-se eintritt.

Alles in allem zeigt schon diese komprimierte Darstellung,dass Eucken dem Staat bzw. der Wirtschaftspolitik weit mehrAufgaben zuweist, als es der Idee des Nachtwächterstaa-tes entspricht.

Milton Friedman

Milton Friedman als einflussreichsten Vertreter der ChicagoSchool in den Blick zu nehmen, lohnt sich nicht nur, weil ihnals Amerikaner von vorneherein besondere Skepsis gegen-über staatlicher Einflussnahme auf die Wirtschaft auszeich-net, sondern auch weil seine Rezepte beim Paradigmen-wechsel von keynesianischer Nachfragepolitik zur angebots-orientierten Wirtschaftspolitik der Industrieländer Ende dersiebiger Jahre, die von den angelsächsischen Ländern aus-ging (»Reagonomics and Thatcherism«), eine federführen-de Rolle gespielt hat. Und die spätere Kritik am »marktradi-kalen Neoliberalismus« nahm und nimmt oft auf Friedmanund die Chicago School Bezug.

Friedman selbst war aber kein direkter Laissez-faire-Prota-gonist. Wie die übrigen Neoliberalen war er der Ansicht, dassRegierungen zwar in ihren Aufgaben zu beschränken sei-

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en, aber daraus folge nicht, dass sie durch den Markt über-flüssig werden. Sie müssen die Rahmenregeln gestalten undihre Einhaltung überwachen. Das betrifft neben den klassi-schen »Nachtwächteraufgaben« vor allem die Wettbewerbs-politik, die allerdings auch auf Gewerkschaften anzuwendensei. Die Regierung müsse daneben für ein stabiles Geld-system sorgen, sollte aber nicht eine diskretionäre Geldpo-litik betreiben, sondern eine regelgebundene Geldmengen-politik (»Monetarismus«). Ähnlich sollten die Staatsausga-ben und die erforderlichen Steuereinnahmen mittelfristig aus-gerichtet, insbesondere keine schuldenfinanzierte antizykli-sche Politik betrieben werden. Staatlicher Umverteilungspo-litik z.B. via progressiver Einkommensteuern oder im Rah-men staatlicher Zwangsversicherungen erteilte er eine Ab-sage. Sozialpolitische Ziele könnten am besten durch einenegative Einkommensteuer erreicht werden. Daneben soll-te der Staat ein Mindestmaß an Ausbildung finanzieren (auchvia Bildungsgutscheine) (vgl. Friedman 1962).

Der neoliberale Begriffswandel

Vergleicht man Friedman mit Eucken, so zeigt sich eine deut-liche Spannbreite vor allem bei den konkreten wirtschafts-politischen Vorstellungen. Wenn man andere neoliberale Au-toren einbezieht, werden die Unterschiede zum Teil sogarnoch größer.2 Sie beschränken sich aber vor allem auf dasInstrumentelle, nicht auf den schon oben skizzierten grund-sätzlichen Reformansatz. Da die verschiedenen neolibera-len Denker mit ihren Überlegungen den ökonomischen Li-beralismus vor allem in der Nachkriegszeit wieder ins Ge-spräch bringen und damit eine der sozialistischen Planwirt-schaft oder interventionistischen Systemen gegenüber über-legene Ordnung präsentieren wollten, war der Begriff Neo-liberalismus entsprechend positiv besetzt. Er blieb auchweitgehend ein akademischer Begriff; in den öffentlichen De-batten scheint er keine wesentliche Rolle gespielt zu haben.3

Dazu trug auch bei, dass die Wirtschaftspolitik der westli-chen Länder in den fünfziger und sechziger Jahren immerstärker vom Keynesianismus geprägt wurde. Er wurde 1967sogar in die zunächst ordoliberal geprägte Soziale Markt-wirtschaft inkorporiert.4

In der Folge verschwand der Begriff Neoliberalismus fast völ-lig von der Bildfläche, bis ihn ein politisches Ereignis zu ei-nem neuen Leben erweckte: der Militärputsch in Chile un-

ter Pinochet. Er führte zu einer neuen liberalen Wirtschafts-politik, die federführend von Chilenen verantwortet wurde,die zuvor in Chicago studiert hatten (»Chicago boys«), undnun für einen weitgehenden Rückzug des Staates aus derWirtschaft sorgten. Die radikale Wirtschaftsreform wurdevon den Kritikern als »neoliberalismo« gebrandmarkt. Hierstartete die neue Karriere des Neoliberalismus, die sich an-schließend über die angelsächsische Welt weit verbreitete.Der Begriff wurde nunmehr hauptsächlich von den Kritikernder monetaristischen und angebotsorientierten Reformenbenutzt, die in den westlichen Ländern nach dem Vertrau-ensverlust des Keynesianismus seit Ende der siebziger Jah-re schrittweise durchgesetzt wurden. Er erfuhr damit eineverquere Inhaltsänderung – statt Neoliberalismus hätte eherder Paleoliberalismus, der Manchester-Kapitalismus oderder Laissez-faire-Kapitalismus als Zielscheibe der Kritik die-nen müssen –, verlor entsprechend an wissenschaftlicherSchärfe und verkam, wie schon eingangs beschrieben, zueinem antikapitalistischen Kampfbegriff.

Literatur

Besters, H. (1993), »Neoliberalismus«, in: R. Vaubel und H. D. Barbier (Hrsg.),Handbuch Marktwirtschaft, 2. Aufl., Stuttgart.Eucken, W. (1950), Grundsätze der Wirtschaftspolitik.Friedman, M. (1962), Capitalism and Freedom, Chicago.Grossekettler, H. (1999), »Der ›starke‹ Staat als Garant einer ›sozialen‹ Markt-wirtschaft«, in: P. Hampe und J. Weber (Hrsg.), 50 Jahre Soziale Mark(t)wirt-schaft, München.Mises, L. von (1922), Die Gemeinwirtschaft, Jena.Müller-Armack, A. (1956), »Soziale Marktwirtschaft«, in: Handwörterbuch derSozialwissenschaften, Bd. 6.Röpke, W. (1932), Krise und Konjunktur, Leipzig.Röpke, W. (1942) Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, Zürich.Rüstow, A. (1932), Freie Wirtschaft – starker Staat, Schriften des Vereins fürSocialpolitik, Bd. 187, München.

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2 Müller-Armack (1956, 391) z.B. befürwortete durchaus staatliche Sozial-leistungen zur Korrektur der Einkommensverteilung und bestimmte kon-junkturpolitische Maßnahmen zur Sicherung des Beschäftigungsstandes;ähnlich auch schon Röpke (1932). Ansonsten einte die Neoliberalen dieAblehnung prozesspolitischer Wirtschaftspolitik, insbesondere keynesia-nischen deficit spendings!

3 Eine heftige öffentliche Debatte gab es aber ab Ende der vierziger Jahrein Westdeutschland über die Frage der »Sozialen Marktwirtschaft«.

4 Karl Schiller feierte dies mit der berühmten Formel von der »Versöhnungdes Freiburger Imperativs mit der keynesianischen Botschaft«.

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Neoliberalismus – Wettbewerb mit Regeln und einem starken Staat*

Das deutsche Feuilleton wettert gegen den Neoliberalismus,dessen Geist angeblich die Hirne der Politiker vernebeltund sie zu den Deregulierungsaktionen veranlasst habe,die die Finanzkrise hervorbrachte. Der Nebel kommt abernicht von den Neoliberalen, sondern von den Neosozialis-ten, die in den vergangenen Jahren mit ihren Neiddebattenwieder die Lufthoheit im deutschen Medienhimmel gewon-nen haben. Das Feuilleton erzeugt in den Köpfen der Deut-schen eine neue Wirklichkeit, die mit den Fakten wenig ge-mein hat.

In Wahrheit ist der Neoliberalismus nämlich das genaueGegenteil dessen, was seine Kritiker behaupten. Der Neo-liberalismus betont den starken Staat und redet keinesfallseiner Deregulierung das Wort, sondern fordert eine wirksa-me staatliche Regulierung.

Der Begriff des Neoliberalismus wurde auf einer französi-schen Konferenz in Paris definiert, dem »Colloque WalterLippmann«. Die Konferenz wurde vom französischen Philo-sophen Louis Rougier vom 26. bis 30. August 1938 orga-nisiert. Die Teilnehmer – unter ihnen die beiden deutschenÖkonomen Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke – disku-tierten explizit über die richtige Bezeichnung für ihr neuesVerständnis von Liberalismus. Vorgeschlagen wurden un-ter anderem »Neo-Kapitalismus« und »positiver Liberalis-mus« doch am Ende setzte sich der Begriff »Neoliberalis-mus« durch.1 Noch im Bann der Weltwirtschaftskrise, ge-gen die ein schwacher Staat nichts hatte ausrichten kön-nen, formulierten Rüstow, Röpke und ihre Mitstreiter ihre

Grundaussage, dass Wettbewerbsprozesse nur innerhalbeines starken, staatlich gesetzten Ordnungsrahmens ge-deihlich funktionieren können.

Rüstow hatte seine Ideen übrigens schon im Jahr 1932bei der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik, des Fach-verbandes der deutschsprachigen Volkswirte, vorgetragen.Nach dem Protokoll der Sitzungen hatte er seine Stellung-nahme mit den folgenden Worten beendet: »Der neue Li-beralismus jedenfalls, der heute vertretbar ist, und den ichmit meinen Freunden vertrete, fordert einen starken Staat,einen Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interes-senten, da, wo er hingehört. Und mit diesem Bekenntniszum starken Staat im Interesse liberaler Wirtschaftspolitikund zu liberaler Wirtschaftspolitik im Interesse eines star-ken Staates – denn das bedingt sich gegenseitig – mit die-sem Bekenntnis lassen Sie mich schließen.«2

Die Betonung des Ordnungsrahmens und des dafür not-wendigen starken Staates ist das Kernelement, das denNeoliberalismus vom so genannten Paleoliberalismus, alsodem Alt-Liberalismus oder auch Manchester-Liberalismus,unterscheidet. Deswegen nennt man den Neoliberalismusin Deutschland auch meistens Ordoliberalismus. Der Paleo-liberalismus vertraut auf die Selbstregulierung der Wirtschaftund weist dem Staat kaum mehr als die Rolle des Eigen-tumsschutzes zu. Er hat durch seine Vertreter in Chicagound anderswo in der Tat der Deregulierung das Wort gere-det, aus der heraus der Kasino-Kapitalismus entstand, derin der Finanzkrise kollabierte und nun mit riesigen staatlichenHilfsprogrammen, die weltweit tausende von Milliarden Euroumfassen, gerettet werden muss (vgl. Sinn 2009).

Der Neo- oder Ordoliberalismus vertraut zwar auf die Selbst-steuerung der Wirtschaft innerhalb eines Ordnungsrahmens,glaubt aber nicht, dass dieser Ordnungsrahmen selbst vonder Wirtschaft geschaffen werden kann. Zu den Aufgabendes Staates gehört es deshalb nach der Auffassung der Neo-liberalen, die Märkte zu regulieren, wirtschaftliche Macht zubegrenzen und durch Sozialpolitik für Gerechtigkeit und Si-cherheit zu sorgen (vgl. Eucken 1952).

Leider gab es immer wieder Versuche, den Begriff Neoli-beralismus auch anders zu besetzen. So werfen linke Po-litiker die radikalen Konzepte der Chicagoer Schule um Mil-ton Friedman gerne mit dem deutschen Neoliberalismusin einen Topf, um alle, die anders argumentieren als sieselbst, gleichermaßen als »neoliberal« verteufeln zu kön-nen. Das erspart ihnen die inhaltliche Diskussion über gra-

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Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Werner Sinn,Präsident des ifo Instituts

* Eine gekürzte Version des Artikels erschien in Welt am Sonntag, 16. Mai2010.

1 Vgl. Compte-rendu des séances du Colloque Walter Lippmann, 26.–30. August 1938, Paris 1939, in: Travaux du Centre International d’ Etu-des pour la Renovation du Liberalisme. Cahier l, 7–29.

2 Vgl. Deutschland und die Weltkrise. Verhandlungen des Vereins für Soci-alpolitik in Dresden 1932, Duncker & Humblodt, München 1932, 62–69,hier 69. Der Verein für Socialpolitik (manchmal auch Verein für Sozialpoli-tik) wurde im Jahr 1873 gegründet, 1936 unter dem Druck der Nazis auf-gelöst und 1948 wieder neu gegründet. Er bereitete im 19. Jahrhundertdie Bismarckschen Sozialreformen vor, die noch heute die Basis der so-zialen Marktwirtschaft sind.

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duelle Reformen des marktwirtschaftlichen Systems undlässt die eigenen sozial-radikalen Ideen plausibler erschei-nen, als sie sind. Ein solches Verhalten ist entweder einZeichen von tiefer Ignoranz oder Unehrlichkeit im öffentli-chen Diskurs.

Meinen Studenten erkläre ich die die Position des Neolibe-ralismus gerne anhand eines Fußballspiels. Gute Spieler undein Ball allein sind noch keine Garantie für ein gelungenesSpiel. Damit das Spiel fair verläuft und nicht im Chaos en-det, müssen feste Regeln gelten, und ein Schiedsrichtermuss darüber wachen, dass diese Regeln eingehalten wer-den. Diese banale Erkenntnis kann der Zuschauer der Sport-schau jeden Samstag aufs Neue gewinnen.

Wenn schon ein Spiel von 22 Akteuren auf einem über-sichtlichen Sportplatz nur mit klaren Spielregeln funktioniert,so brauchen die Millionen Akteure einer Volkswirtschaft erstrecht einen Ordnungsrahmen, der Vertrauen schafft und Cha-os verhindert. Nur so kann der Wettbewerb auf den Märk-ten seine segensreichen Kräfte entfalten.

Dass wir alle von der Wirkung des Wettbewerbsprinzips pro-fitieren, liegt auf der Hand. Die geradezu astronomische Er-höhung des Lebensstandards der breiten Massen seit dem19. Jahrhundert ist dafür der beste Beleg. Das versuchteGegenkonzept zum Wettbewerb, die kommunistische Plan-wirtschaft, ist dagegen grandios gescheitert.

Wettbewerb funktioniert aber nicht von allein. Wie beim Fuß-ball bedarf er einer funktionierenden Wettbewerbsordnung,der die Spieler unterworfen sind. Dafür ist ein starker Staatvonnöten, der die Spielregeln definiert und ihre Einhaltungüberwacht. Markwirtschaft ist alles andere als Anarchie,wo jeder tun und lassen kann, was er will.

Allerdings ist die Marktwirtschaft auch kein Zentralpla-nungssystem. Jeder Versuch, Fußballern die Spielzügeim Einzelnen vorzuschreiben, würde den Spielfluss kaputtmachen. Genauso ist es, wenn der Staat den Unterneh-men und Konsumenten vorschreibt, was sie herstellen oderkaufen sollen, oder welche Unternehmen in der Krise zuretten sind, wie es manche linke Politiker heute wiederfordern. Das Setzen von Spielregeln ist nicht dasselbe wiedie Detailsteuerung des Spiels. Deshalb ist es kein Wider-spruch, wenn man die Selbstregulierung der Marktwirt-schaft verneint, doch die Selbststeuerung innerhalb einesOrdnungsrahmens bejaht.

Die Spielregeln der Marktwirtschaft umschließen das Preis-system, die Eigentumsordnung, das Geldwesen sowie ins-besondere das Bürgerliche Gesetzbuch, das festlegt, wel-che Vertragsformen erlaubt sind und welche nicht. Ergänztwird ein solches System durch eine Vielzahl von Spezial-gesetzen, die die freien Entscheidungen der Individuen

einengen. Nicht dazu gehören freilich Gesetze, die die freieBildung der Preise und Löhne einschränken, denn sol-che Gesetze würden zu Marktungleichgewichten im Sin-ne übermäßiger Lagerhalden bei den Verkäufern oder War-teschlangen bei den Käufern führen, die gravierende In-effizienzen mit sich bringen. Die schlimmste Form der La-gerhalden ist die Arbeitslosigkeit. Sie wird von der Politikin Kauf genommen, weil sie Verteilungspolitik auf dem We-ge von Lohndiktaten betreibt, anstatt ihre verteilungs-politischen Ziele auf dem Wege über Lohnzuschüsse zurealisieren.

Innerhalb eines gut gesetzten Ordnungsrahmes ist der Markt,konkret das freie Spiel der Preise und Löhne, gemäß denvorgegebenen Knappheiten in der Lage, die Handlungenvon Millionen von Menschen, die alle unkoordiniert ihren in-dividuellen Vorteil suchen, wie mit einer unsichtbaren Handzu einem geordneten Ganzen zusammenzufügen. DieseAussage geht bekanntlich auf Adam Smith (1976) zurückund wurde später von Kenneth Arrow und Gérard Debreumittels eines formal-mathematischen Modells nachgewie-sen, wofür sie mit dem Nobelpreis für Volkswirtschaftsleh-re geehrt wurden.3

In einem schlecht gesetzten Ordnungsrahmen führt das freieSpiel der Marktkräfte indes nicht zu einem befriedigendenErgebnis, wie die Finanzkrise ja eindringlich beweist. DieseKrise ist entstanden, weil es den Banken erlaubt war, ihr Ge-schäft mit viel zu wenig Eigenkapital zu betreiben. Wer nurwenig Eigenkapital einsetzt, hat wenig zu verlieren und neigtdeshalb zum Glücksspiel. In Normalzeiten erzielt er großeErträge, aber diese Erträge sind großenteils nur das Spie-gelbild der externen Kosten, die den Gläubigern der Bankoder dem Steuerzahler für die Rettungsaktionen in der Kri-se entstehen.

Nach dem Neo- oder Ordoliberalismus ist die Haftung ei-nes der konstitutiven Prinzipien einer funktionierendenMarktwirtschaft (vgl. Eucken 1952, 279–285). Diese Er-kenntnis hat die Politik sträflich missachtet, als sie mit demBasel-System der Bankenregulierung und der Lockerungder Eigenkapitalvorschriften für die amerikanischen Invest-ment-Banken im Jahr 2004 eine jeweils dramatische Ver-ringerung des haftenden Eigenkapitals zuließ. Wer nicht haf-tet, zockt, und wer zockt, baut darauf, dass andere dieWettschulden begleichen, wenn die Wette schiefgeht. DieZockerei hat die Krise maßgeblich verursacht. Eine drasti-sche Erhöhung der Mindestgrenzen für das Eigenkapital,das die Banken ihren Geschäften unterlegen müssen, ist

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3 Kenneth Arrow und John Hicks erhielten 1972 den Nobelpreis »für ihrebahnbrechenden Arbeiten zur allgemeinen Theorie des ökonomischenGleichgewichts und zur Wohlfahrtstheorie«, Gérard Debreu bekam ihn 1983»für die Einführung neuer analytischer Methoden in die volkswirtschaftli-che Theorie und für eine rigorose Neuformulierung der Theorie des allge-meinen Gleichgewichts der Märkte«.

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deshalb der Königsweg für die notwendige Schaffung ei-nes stabileren Bankensystems.

Speziell Deutschland muss zudem seine Staatsbanken andie Kandare nehmen, wo sich Bürokraten beim Glücksspielversucht haben, die ihr eigenes Geld nicht einsetzen muss-ten. Über Jahre hinaus wurde das Geld der Steuerzahlerfür spekulative Engagements in den entlegensten Teilen derWelt riskiert, und die Finanzierung des Mittelstands, die ei-gentliche Aufgabe der Landesbanken, geriet zu einer Ne-bensache.

Dass das neosozialistische Feuilleton heute den Neolibe-ralen den Schlamassel in die Schuhe schieben will, ist ver-logen, denn weder die Existenz von Staatsbanken nochdie lasche Regulierung der Privatbanken haben eine Ba-sis im neoliberalen Denken. Ich selbst werde von man-chen Medien wegen meiner Kritik an den Anreizstruktu-ren des Sozialstaates immer wieder als Neoliberaler ge-schmäht, obwohl mein Hang zu keynesianischen Rezep-ten zur Krisenbewältigung überhaupt nicht mit dem tra-ditionellen Neoliberalismus harmoniert. Aber sei es drum:Wenn ich denn ein neoliberaler Ökonom bin, so sollte dasFeuilleton zur Kenntnis nehmen, dass dieser Ökonom dieMissstände bei den Landesbanken schon 1997 und diezu lasche Regulierung der Privatbanken bereits 2003 inaller Schärfe angeprangert hat (vgl. Sinn 1997a, 2002,2003), ja dazu sogar eine wissenschaftliche Debatte mitpaleo-liberalen Ökonomen ausgelöst hat (vgl. Baltensper-ger 2003, Spencer 2003, Sinn 2003 und 2008). Ich ver-stehe nur allzu gut, warum Neosozialisten die Unterschie-de zwischen Neo- und Paleoliberalismus verwischen undsich selbst als Retter aus der Krise präsentieren wollen.Nur müssen Sie sich vorhalten lassen, mit gezinkten Kar-ten zu spielen und die Öffentlichkeit für dumm verkaufenzu wollen.

Die lasche Regulierung der privaten Banken ist übrigens, wieich seinerzeit ausgeführt habe, das Ergebnis eines Stand-ortwettbewerbs, dessen Versagen aus der Sicht des Neo-oder Ordoliberalismus keineswegs verwunderlich ist. Für dieInteraktion der Staaten gibt es schließlich keine übergeord-nete Instanz, die den Ordnungsrahmen definieren und sei-ne Einhaltung prüfen würde. Es ist noch nicht einmal klar,ob sich dafür überhaupt jemals geeignete Spielregeln findenlassen, die denen für das Innenleben einer Marktwirtschaftähneln. Im Gegenteil: Es gibt Anlass zu der Befürchtung,dass der staatliche Wettbewerb grundsätzlich nicht funk-tionieren kann, weil die Staaten die Ausnahmen des Wett-bewerbs verwalten. Da Staaten dort aktiv werden, wo derprivate Markt versagt, muss man befürchten, dass die Wie-dereinführung des Marktes durch die Hintertür des staatli-chen Wettbewerbs die alten Marktfehler, die den Staat ur-sprünglich auf den Plan riefen, von neuem hervorbringt. Die-

sen Zusammenhang habe ich mit dem Begriff »Selektions-prinzip« beschrieben (Sinn 1997b, 2002 und 2003).

Die Finanzkrise hat uns die Bedeutung des Selektionsprin-zips schmerzlich vor Augen geführt. In den Jahren vor derKrise hatten nämlich die nationalen Regulierungsbehördender Versuchung nicht widerstehen können, ihre Regulierungzurückzunehmen, um ihren Banken im Wettbewerb derBankplätze einen Vorteil zu verschaffen. So wie die einzel-ne Bank selbst ihre Eigenkapitalquote verringert, um mit demRisiko bessere Geschäfte machen zu können, versuchteauch die nationale Regulierungsbehörde durch die zuneh-mende Vernachlässigung der Eigenkapitalregulierung dennationalen Banken Vorteile zu Lasten ihrer internationalenGläubiger zu verschaffen. Es entstand eine Deregulierungs-wettbewerb, der letztlich für die Erosion der Eigenkapital-quoten der Banken verantwortlich war, aus der die Krisen-anfälligkeit und das Glücksrittertum entstanden, die wir nunalle beklagen.

Auch die aktuelle Krise des Euro passt in dieses Bild. DerStabilitätspakt war zwar ein Versuch, der Verschuldung derEuro-Staaten Grenzen zu setzen und so eine stabile Basisfür die gemeinsame Währung zu schaffen. Doch wie wir jetztwissen, war dieses Regelwerk völlig unzureichend. Indemder Ecofin-Rat als Schiedsrichter für die Festlegung von Stra-fen für Schuldensünder eingesetzt wurde, saßen die Sün-der über sich selbst zu Gericht. Kein Wunder, dass sich kaumjemand um die vereinbarten Defizitgrenzen scherte, und sicheinige Staaten auf Pump ein gutes Leben machten. Die süd-europäischen Schuldenstaaten und ihre Geldgeber speku-lierten darauf, dass die reichen Euro-Partner sie schon vordem Bankrott retten würden, und wie wir wissen, ist dieseSpekulation aufgegangen. Die Währungsunion wurde ent-gegen aller Verträge zur Transferunion – mit Deutschland alsgrößtem Zahlmeister. Nur ein neuer Stabilitätspakt, der die-sen Namen auch verdient, kann diese fatale Entwicklungstoppen.

Die mangelnde Regulierung des Bankensektors und die Kon-struktionsfehler der europäischen Währungsunion haben dieWeltwirtschaft in die Krise geführt. Sie sind jedoch kein Zei-chen für ein Scheitern des Neoliberalismus, sondern im Ge-genteil ein Beleg für die unveränderte Relevanz der neoli-beralen Forderung nach einem klaren Ordnungsrahmen undeinem starken Staat.

Jetzt müssen wir uns freilich davor hüten, ins Gegenteil zuverfallen und den Wettbewerb grundsätzlich zu verdammen.Wenn die Regeln klar sind und der Schiedsrichter aufpasst,ist Freiheit für die Spieler noch immer die Voraussetzung fürein gutes und erfolgreiches Spiel. Das gilt für die Fußball-WM in ein paar Wochen genauso wie für den permanentenWettbewerb um die Weltmeisterschaft auf den internationa-len Märkten.

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Literatur

Baltensperger, E. (2003), »Competition of Bank Regulators: A More Optimis-tic View. A Comment on the Paper by Hans-Werner Sinn«, Finanzarchiv 59,330–335. Eucken, W. (1952), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Francke und Mohr,Bern und Tübingen, hier nach der 7. Auflage, Mohr Siebeck, Tübingen 2004,Kapitel 17, 291 ff., und Kapitel 18, 312 ff.Sinn, H.-W. (1997a), Der Staat im Bankwesen. Zur Rolle der Landesbankenin Deutschland, Beck, München.Sinn, H.-W. (1997b), »The Selection Principle and the Market Failure in Sys-tems Competition«, Journal of Public Economics 66, 247–274.Sinn, H.-W. (2002), »Der neue Systemwettbewerb«, Perspektiven der Wirt-schaftspolitik 3, 391–407.Sinn, H.-W. (2003), The New Systems Competition, Yrjö Jahnsson Lectu-res, Basil Blackwell, Oxford, Kapitel 1 und 7. Sinn, H.-W. (2008), Risk Taking, Limited Liability, and the Banking Crisis, Se-lected Reprints, ifo Institut, München.Sinn, H.-W. (2009), Kasino-Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam, undwas jetzt zu tun ist, Econ, Berlin, 3. Auflage 2010.Smith, A. (1976), An Inquiry into the Nature and Causes of Wealth of Nati-ons, Liberty Classics, Indianapolis.Spencer, P. (2003), »Can National Banking Systems Compete? A Commenton the Paper by Hans-Werner Sinn«, Finanzarchiv 59, 336–339.

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