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Akupunktur Deutsche Zeitschrift für DZA Expertenforum | Clinician´s Corner M. Bijak Patientin mit Migräne und Cervicalsyndrom nach Hysterektomie Female Patient with Migraine and Cervical Spine Problems after Hysterectomy Dr. Michaela Bijak Akupunkturambulanz des Kaiserin Elisabeth Spitals Huglgasse 1 A-1150 Wien Tel.: +43 (0) 1 / 9 81 04 57 51 [email protected] Zusammenfassung Hintergrund: Im Jahr 2005 kam Frau ES, damals 54 Jahre alt, Verwaltungsmitarbeiterin in einem Krankenhaus, zum ers- ten Mal in die Akupunkturambulanz des Kaiserin Elisabeth Spitals. Damals litt sie schon seit sieben Jahren an intensiven Kopfschmerzen und permanenten Verspannungen im Schul- tergürtel und HWS Bereich. Die Beschwerden verschlechterten sich durch eine andauernde angespannte Arbeitssituation so- wie bei sonstiger Stressbelastung. Obwohl die Patientin schon sehr lange unter der Unzufriedenheit ihrer beruflichen Situati- on gelitten hatte, traten die Kopfschmerzattacken erst in einem zeitlichen Zusammenhang mit einer Hysterektomie auf. Zielsetzung: Schmerzreduktion und bessere Belastbarkeit in Situationen des Berufslebens Methodik: Akupunktur, Analyse der Lebenssituation und Maßnahmen zur Stressprophylaxe Ergebnisse: Besserung nach der vierten Therapiesitzung, bis zur zehnten Behandlung nur noch ein Migräneanfall nach Rotweingenuss. Anhalten des Therapieerfolges für insgesamt drei Jahre. Danach wieder langsame Zunahme der Muskelverspannungen und Kopfschmerzattacken. Schlussfolgerung: Lang andauernde emotionale Belastungen können aus Sicht der TCM zu einer Leberpathologie im Sinne einer Stagnation führen. Vor sieben Jahren zeigte sich diese Pathologie als Blutstagnation im Unteren Erwärmer (Uterus myomatosus). Die Hysterektomie brachte wohl aus Sicht der konventionellen Medizin eine Heilung, doch der Organismus fand ein anderes Zielorgan der Stagnation, in diesem Fall den Kopf. Während die „Schulmedizin“ als konventionelle Therapie für die Migräne und das Cervicalsyndrom haupt- sächlich symptomorientiert intervenieren kann, gelingt es der TCM, am Grundproblem zu arbeiten und damit, zumin- dest vorübergehend, die Situation zu entspannen. Schlüsselwörter Akupunktur, Migräne, Cephalea, Cervicalsyndrom, Leber-Qi- und Blutstagnation Abstract Background: In 2005, Mrs ES, a 54 year-old patient, con- sulted our acupuncture outpatient service for the first time, having suffered from intense headaches and permanent tensions in the shoulder and neck region for 7 years. The clinical symptoms were exacerbated by all kinds of stress. Although the patient had worked the same stressful job for years, the headaches only first manifested after she’d had a hysterectomy. Aim: Pain reduction and improvement of stress tolerance at the work place Methods: acupuncture, analysis of life style, means of stress prophylaxis Results: Between the 4th and 10th treatment session, only one migraine episode occurred which was related to the consumption of red wine. For the following three years, the patient remained free of symptoms. Then tensions and hea- dache attacks returned. Discussion: According to TCM, long-term exposure to emo- tional stress situations can lead to the stagnation of liver qi. 7 years ago, this manifested as a blood stagnation of the lower heater (myomatous uterus). From the point of view of western medicine, the problem was solved by hysterectomy – however, stagnation now came to appear elsewhere in the body, this time, in the head. In this case, western medicine could offer only symptom-oriented therapeutic interven- tions whereas TCM enabled us to work on the underlying problem and reach, if only temporarily, an improvement of the clinical situation. Keywords Acupuncture, migraine, cephalea, pain in cervical spine, stagnation of liver Qi and Blood DOI: 10.1016/j.dza.2009.10.018  42 Dt Ztschr f Akup. 52, 4/2009

Patientin mit Migräne und Cervicalsyndrom nach Hysterektomie

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Page 1: Patientin mit Migräne und Cervicalsyndrom nach Hysterektomie

AkupunkturD e u t s c h e Z e i t s c h r i f t f ü r

DZ

AExpertenforum | Clinician´s Corner

DOI : 10. 10 16/ j .dza .2009.10.0 18   42    Dt Z tschr f Akup. 52 , 4 / 2009

M. Bijak

Patientin mit Migräne und Cervicalsyndrom nach Hysterektomie

Female Patient with Migraine and Cervical Spine Problems after Hysterectomy

ZusammenfassungHintergrund: Im Jahr 2005 kam Frau ES, damals 54 Jahre alt, Verwaltungsmitarbeiterin in einem Krankenhaus, zum ers-ten Mal in die Akupunkturambulanz des Kaiserin Elisabeth Spitals. Damals litt sie schon seit sieben Jahren an intensiven Kopfschmerzen und permanenten Verspannungen im Schul-tergürtel und HWS Bereich. Die Beschwerden verschlechterten sich durch eine andauernde angespannte Arbeitssituation so-wie bei sonstiger Stressbelastung. Obwohl die Patientin schon sehr lange unter der Unzufriedenheit ihrer berufl ichen Situati-on gelitten hatte, traten die Kopfschmerzattacken erst in einem zeitlichen Zusammenhang mit einer Hysterektomie auf.Zielsetzung: Schmerzreduktion und bessere Belastbarkeit in Situationen des BerufslebensMethodik: Akupunktur, Analyse der Lebenssituation und Maßnahmen zur StressprophylaxeErgebnisse: Besserung nach der vierten Therapiesitzung, bis zur zehnten Behandlung nur noch ein Migräneanfall nach Rotweingenuss. Anhalten des Therapieerfolges für insgesamt drei Jahre. Danach wieder langsame Zunahme der Muskelverspannungen und Kopfschmerzattacken.Schlussfolgerung: Lang andauernde emotionale Belastungen können aus Sicht der TCM zu einer Leberpathologie im Sinne einer Stagnation führen. Vor sieben Jahren zeigte sich diese Pathologie als Blutstagnation im Unteren Erwärmer (Uterus myomatosus). Die Hysterektomie brachte wohl aus Sicht der konventionellen Medizin eine Heilung, doch der Organismus fand ein anderes Zielorgan der Stagnation, in diesem Fall den Kopf. Während die „Schulmedizin“ als konventionelle Therapie für die Migräne und das Cervicalsyndrom haupt-sächlich symptomorientiert intervenieren kann, gelingt es der TCM, am Grundproblem zu arbeiten und damit, zumin-dest vorübergehend, die Situation zu entspannen.

SchlüsselwörterAkupunktur, Migräne, Cephalea, Cervicalsyndrom, Leber-Qi- und Blutstagnation

AbstractBackground: In 2005, Mrs ES, a 54 year-old patient, con-sulted our acupuncture outpatient service for the fi rst time, having suff ered from intense headaches and permanent tensions in the shoulder and neck region for 7 years. The clinical symptoms were exacerbated by all kinds of stress. Although the patient had worked the same stressful job for years, the headaches only fi rst manifested after she’d had a hysterectomy.

Aim: Pain reduction and improvement of stress tolerance at the work placeMethods: acupuncture, analysis of life style, means of stress prophylaxisResults: Between the 4th and 10th treatment session, only one migraine episode occurred which was related to the consumption of red wine. For the following three years, the patient remained free of symptoms. Then tensions and hea-dache attacks returned.Discussion: According to TCM, long-term exposure to emo-tional stress situations can lead to the stagnation of liver qi. 7 years ago, this manifested as a blood stagnation of the lower heater (myomatous uterus). From the point of view of western medicine, the problem was solved by hysterectomy – however, stagnation now came to appear elsewhere in the body, this time, in the head. In this case, western medicine could off er only symptom-oriented therapeutic interven-tions whereas TCM enabled us to work on the underlying problem and reach, if only temporarily, an improvement of the clinical situation.

KeywordsAcupuncture, migraine, cephalea, pain in cervical spine, stagnation of liver Qi and Blood

Dr. Michaela BijakAkupunkturambulanz des Kaiserin Elisabeth SpitalsHuglgasse 1

A-1150 WienTel.: +43 (0) 1 / 9 81 04 57 [email protected]

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M. B i jak Patientin mit Migräne und Cervicalsyndrom nach Hysterektomie

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Einleitung

Anamnese und Krankengeschichte

Frau ES, geboren 1951, musste sich im Laufe ihres Lebensschon einigen Operationen unterziehen. Im Alter von 35Jahren erfolgte eine Cholecystektomie wegen rezidivie-render „Gallenkoliken“ bei Cholecystolithiasis. Gleichzeitigwurde auch die Appendix wegen einer chronischen Entzün-dung entfernt. Zwei Jahre später wurde eine nicht näher be-zeichnete Varizenoperation durchgeführt. 1998 begann dieKopfschmerzanamnese, kurz nachdem eine Hysterektomiebei Uterus myomatosus durchgeführt worden war.Die Kopfschmerzen traten eher linksseitig auf, begannenim Nackenbereich, strahlten über den Hinterkopf seitlichbis in die Schläfe aus und waren von Übelkeit und Er-brechen, manchmal auch von einer Diarrhoe begleitet.Die Attacken kamen zwei- bis dreimal pro Monat, häufi gam Wochenende, verstärkten sich bei Stressbelastung undnach dem Trinken von Rotwein.Medikamente zur Muskelrelaxation reduzierten die Kopf-schmerzattacken um ca. 50 %.

Weitere Beobachtung und Befragung

Vom Körperbau eher zart und gebrechlich wirkend, berich-tete die Patientin ohne Scheu von ihren Vorerkrankungenund psychischen Belastungen. Berufl ich fühlte sie sich alsMitarbeiterin in einer Krankenhausverwaltung überlastet,klagte über unangenehme Arbeitsbedingungen, fühlte sich„gemobbt“. Privat gab sie an, glücklich verheiratet zu seinund zwei erwachsene gesunde Kinder zu haben. Allerdingshatte sie noch ein drittes Kind geboren, das aber geistigbehindert war und von der Patientin nicht angenommenwurde. Anamnestisch waren noch eine Fehlgeburt undein Schwangerschaftsabbruch zu erheben. Die Verdauungwurde als träge und oft hartnäckig obstipiert beschrieben.Durstgefühl kannte sie kaum, bemühte sich aber um aus-reichend Flüssigkeitszufuhr. Wärme empfand sie als sehrangenehm und schmerzlindernd, Massage konnte unterUmständen auch den Schmerz verstärken. Sie beschriebsich als sehr sportlich, regelmäßiges Laufen, Schwimmenund Wandern taten ihr gut. Die Zunge zeigte Zahnimpressionen, erschien insgesamtgerötet, die Zungengrundvenen gestaut. An den Rändernkamen noch kleinste livide Stellen zur Darstellung.

Befunde

Vom Neurologen wurde eine cervicale Migräne diagnosti-ziert, ein Schädel-CT war ohne Befund, im EEG fanden sichlinks temporal mittelhohe monophasische Alpha und Thetazum Teil in kleineren Gruppen. Das HWS Röntgen zeigteeine Streckfehlhaltung mit einer Anterolisthese C5 gegen-über C4 von 2 mm bei Retrofl exion, sowie mäßiggradigeOsteochondrosen C5/6, C6/7. Blutbefunde zeigten keineerhöhten Parameter.

Medikamente

Sirdalud, Gladem, Thyrex

Diagnosen

Westliche Diagnose: Migräne mit Übelkeit und Erbrechen, ohne Aura, Cervicalsyndrom

An welche Akupunkturpunkte könnte man bei dieser Patientin denken? Welche anderen Therapieformen könnten für die Patientin hilfreich sein? Wie würden Sie konkret vorgehen?

Gemeinsame Antwort von Herrn Prof. Dr. Matthias

Karst, Facharzt für Anästhesiologie, spezielle Schmerz-

therapie, Psychotherapie, Akupunktur, Medizinische

Hochschule Hannover, Leiter der Schmerzambulanz,

[email protected], und

Dr. med. Hans Michael Koch, Facharzt für Allgemein-

medizin, Naturheilverfahren, Akupunktur, Chefarzt

Chinesische Medizin am Johanniter Krankenhaus

Bramsche, [email protected]

Entsprechend den Kriterien der International Headache Society (IHS) liegt hier eine Migräne ohne Aura vor. Un-gewöhnlich ist der späte Beginn im Alter von 47 Jahren. Üblicherweise liegt das Maximum der Lebenszeitprävalenz der Migräne im geschlechtsreifen Alter zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Der späte Beginn deutet auf neu aufge-tretene Risiken oder Faktoren hin, welche, wie Anamnese und Befunde nahe legen, vor allem in den psychosozialen Belastungen, den Funktionsstörungen der Halswirbelsäule und möglicherweise auch in den hormonellen Umstellun-gen (zu Beginn des Klimakteriums und nach Hysterekto-mie) gesehen werden können. Aus moderner Sicht wird Migräne als eine neurogene Ent-zündung im Bereich der Hirnhautgefäße konzeptionalisiert. In den Wänden dieser Blutgefäße befi nden sich Schmerz- und Dehnungsrezeptoren (freie Nervenendigungen) des N. trigeminus, die im Falle eines Migräneanfalles aktiviert werden. Die Migräne wird ausgelöst durch einen „Migrä-negenerator“ im Mittelhirn, der oftmals Mühe hat seine Homöostase aufrecht zu erhalten, welche durch größere Schwankungen allostatischer Systeme (z. B. Nervensystem oder Hormonsystem) gestört werden kann.Bedenkt man, dass alle Informationen, die vom N. trigemi-nus erfasst werden, auf ihrem Weg ins Gehirn im Hirnstamm auf ein sekundäres Neuron umgeschaltet werden, wundert es nicht, wenn andere Störungsquellen im selben Bereich die Weiterleitung von Signalen begünstigen und sich damit die Wahrscheinlichkeit einer Kopfschmerzattacke erhöht.Bei mehr als zwei bis drei Migräneattacken pro Monat ist auch eine medikamentöse Migräneprophylaxe gerechtfer-tigt. Die meiste Erfahrung hierzu gibt es mit Betarezep-torenblocker (z. B. Metoprolol), die einschleichend dosiert häufi g bereits in niedrigen Dosen die Frequenz und Inten-sität der Attacken reduzieren helfen. Hierzu gibt es pharmakologische Alternativen, wie etwa Topiramat oder Flunarizin, aber die Auswahl richtet sich

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nach der Studienlage, den Nebenwirkungsrisiken bezogen auf individuelle Faktoren sowie nach den persönlichen Er-fahrungen der Therapeuten.Da die Patientin ohnehin schon ein Antidepressivum (Ser-tralin [Gladem], ein selektiver Serotoninwiederaufnahme-hemmer) einnimmt, wäre zu empfehlen, auf eine niedrige Dosis eines Trizyklikums umzustellen (z. B. 10 bis 25 mg Amitriptylin), weil hierdurch zusätzlich ein migräneprophy-laktischer Eff ekt erwartet werden kann, und so Dosierungen des Betarezeptorenblockers eingespart werden können. Für Muskelrelaxantien (hier das Sirdalud) ist bei fehlender Nachhaltigkeit keine gute Indikation für einen Einsatz über längere Zeiträume erkennbar, weshalb es wünschenswert wäre, Sirdalud abzusetzen. Die Funktionsstörungen der HWS sollten zudem physika-lischen und manuellen Behandlungsmethoden zugeführt, auch ggf. mit TENS in Eigenbehandlung therapiert werden. Erfreulich ist, dass die Patientin sich regelmäßig sportlich engagiert, was als migräneprophylaktisch angesehen wird. Ergänzend ist das Erlernen und Praktizieren eines Üben-den Verfahrens (z. B. progressive Muskelrelaxation nach Jacobson) zu empfehlen, wobei neben der Regelmäßigkeit das „nichts denken“ während der Tiefenentspannung ent-scheidende Parameter darstellen.Zusätzlich kann es hilfreich sein, diätetische Maßnahmen zu beachten, indem kohlenhydratreiche Ernährung redu-ziert wird und Kohlenhydrate mit hoher glykämischer Last gemieden werden, um so stärkere Blutzuckerschwankun-gen zu vermeiden.In einer solchen Vorgehensweise kann nach etwa einem halben Jahr ein Auslassversuch der Prophylaxemedikati-on angestrebt werden (in Abhängigkeit des Verlaufs, der an Hand eines Migränekalenders beurteilt werden kann). Die Attackenbehandlung selbst kann mit einem Triptan, in leichteren Fällen auch mit einem nicht-steroidalen An-tirheumatikum ggf. in Kombination mit Metoclopramid (richtet sich gegen Übelkeit, beschleunigt die enterale Re-sorption) erfolgen, wobei darauf zu achten ist, dass ein solches Vorgehen nicht öfter als an sechs Tagen im Monat erfolgt, um das Risiko einer medikamenten-induzierten Symptomzunahme zu vermeiden.Die Patientin entspricht nach chinesischer Medizin am ehesten einer Holz-(Leber-) Konstitution mit Metall-Lun-gen-)Anteilen. Frau E.S. liebt Sport und Bewegung mit gleichmäßiger, monotoner Belastung, welche ihr bei einer Leber-Qi-Stagnation, unter welcher sie seit Jahren leidet, Linderung bringt (Holz-Anteil).Ihr Wesen ist zudem zart und gebrechlich, sie scheut, bei aller Off enheit, die Auseinandersetzung mit ihrem geistig behinderten Kind, welches sie nicht angenommen hat und präsentiert eine glückliche Familie (Metall-Anteil).In der Anamnese ergibt sich der Hinweis auf massive substanzielle Stagnation von Qi, Blut und Schleim im unteren Erwärmer (Uterusmyome). Nach Hysterektomie kommt es sicher durch operationsbedingte Narbenbil-dung zudem zu weiterer Qi- und Blutstagnation. Durch den unteren Erwärmer zieht auch der Chong Mai (Durch-dringungsgefäß).

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Der Chong Mai sorgt physiologischerweise dafür, dass Mens-truation (caudalwärts gerichtetes Qi) aber auch Schwanger-schaft und Milchbildung und -fl uss (cranialwärts gerichtetes Qi) gewährleistet werden. Stagnierendes Qi im Verlauf des Meridians kann zu aufsteigender Hitze und Erbrechen füh-ren (wie auch bei der Schwangerschaftsübelkeit).Eine weitere wichtige Komponente in der Entstehung der Migräne bei Frau ES ist die fortwährend bestehende Qi-stag-nierende berufl iche Tätigkeit. Sie fühlt sich an ihrem Arbeits-platz permanent belastet und gemobbt. Einzig Sport scheint für sie eine Einfl ussmöglichkeit ihr Qi wieder in Bewegung zu bringen. Der Zungenbefund zeigt Blut-Stasen und damit auch Qi-Stagnation im Leberareal. Bei Stagnation kommt es durch „Dauerreibung“ zu Hitze, welche dann cranialwärts steigt und sich über Fülle-Hitze im Jue-Yin (Leber-Pericard/ Kopfscheitel) lieber aber im Shao-Yang (Gallenblase, Dreier Erwärmer/ Temporale Region) als Migräneschmerz manifes-tiert. Der Zungenbefund zeigt das Schwelen von Hitze im gesamten Körper (roter Zungenkörper).Beide beschriebenen Mechanismen der Hitze-Entwicklung mit aufsteigender Leberhitze triggern sich gegenseitig und sind komplex verknüpft.Neben dieser „systemischen“ Genese gibt es den lokalen und segmentalen Einfl uss des Tai-Yang-Areals im Hals-Nacken-Bereich und Schultergürtel.Ein Zeichen der Leber-Qi-Stagnation ist die muskuläre Ver-spannung eben dort (Schulter-Hochziehen bei psychischer Belastung). Eine überbelastete und degenerativ veränderte HWS (Büro- und PC-Arbeit) führt zudem zu einer lokalen Qi-Stagnation, welche ebenfalls zu Verspannungen bei ver-schlechtertem Qi- und Blutfl uss führt. Aktivierte Trigger-punkte, welche bei Cervikalmigräne häufi g zu fi nden sind, sind aus chinesischer Sicht Ansammlungen von Qi, Blut und Schleim. Eine gelige Interzellularfl üssigkeit des Bindegewebes (Verklebungen und Verspannungen) im Hals-Nacken-Bereich deuten hier lokal auf einen verminderten Qi-Fluss mit Abla-gerungen von Nässe und Schleim im Dreier Erwärmer hin. Äußerer Pathogener Wind triggert des Weiteren in diesem Areal des Tai-Yang, welcher sehr anfällig für dieses Pa-thogen ist, viele „Wind-Punkte“ werden hier lokalisiert. In diesem Areal liegen neben den Tai-Yang-Meridianen Blase und Dünndarm auch die Meridiane von Gallenblase und Drei Erwärmer, die bei Aff ektion mit Wind zu Blockaden im anatomischen Nachbarareal der temporalen Zone des Kopfes führen können. Zudem zeigt die Patientin insgesamt Hinweise für eine ge-nerelle Belastung mit pathogener Nässe bei gleichzeitigem Yin-Mangel. Zeichen dafür sind der geringe Durst und die Neigung zu Obstipation bei gebrechlichem zarten Körper-bau und Zahneindrücke der Zunge. Dass die Zunge dafür nicht geschwollen ist, liegt wahrscheinlich an der „Gesamt-körper-Hitze“ die sich auch über den roten Zungenkörper zeigt und die Nässe der Zunge „schleimig“ eintrocknet.Vorgeschlagene Akupunktur-Punkte:Zunächst Öff nen zweier außerordentlicher Meridiane

Lu 7 rechts und Ni 6 links zur Tonisierung des Yin • (Ren-Mai), wechselweise mit SJ 5 (3E 5) rechts und Gb 41 links (Yang-Wei-Mai) zur Bewegung von Qi im tem-

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M. B i jak Patientin mit Migräne und Cervicalsyndrom nach Hysterektomie

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poralen Aspekt,auch als Fernpunkte an Hand und Fuß, welche sich so in ihrer Wirkung potenzieren.Und Mi 4 rechts und Pe 6 links zur Bewegung und Ab-• senkung von Qi im Chong Mai (auch Übelkeit reduzie-rend, weil absenkend)Dann Fernpunkte • Le 3 zur Absenkung des aufsteigenden Leber-Yang so-• wie zur Bewegung von Leber-Qi, Schmerzreduktion, ggf. mit Di 4 („4 Schmerztore“) im Anfall mit sedieren-der StimulationGb 34 bds. In Kombination mit Ren 12 (Bewegen des • Leber-Qi, Oberbauch) und Ma 21 bds. bei Erbrechen zum Abführen des Magen-Qi nach caudalGb 44 blutig bei akuter Symptomatik zum Ausleiten der • Hitze im Shao-YangGb 38 zur Klärung des Le- und Gb-Feuers• Le 8 und Mi 6 nähren das Yin und (Leber-)Blut, mit • Ma 36 als „Oberbauchpunkt“ (Nausea) und zur Blutbil-dung über eine verbesserte Milz-Funktion der Utilisati-on des Nahrungs-QiMi 10 und Ma 36, zur Blutbewegung• Gb 27 zum Ausleiten von Pathogenen im unteren • JiaoBei dorsaler Nadelung im Bereich des Blasenmeridians • auch Shu-Punkte der Leber, des Sanjiao (3E) und der Milz, Bl 18, 22, 20

Nahpunkte (im Anfall Gegenseite)Tai-Yang Extra, Gb 8, Gb 4–7 (einen davon nach Empfi nd-lichkeit und De Qi, im Bereich des M. temporalis (hier auch muskuläre Triggerpunkte), Gb 20Ggf. Fernpunkte zur Relaxation der Muskulatur im Hals-Nacken-Bereich Bl 58 und Dü 7, beide Luo-Durchgangs-PunkteZur Minderung des Tonus der Hals-Nacken-Muskulatur auch lokal und als Nahpunkte Gb 20, 21, SJ (3E) 15, emp-fi ndliche Dünndarm-Punkte lokalSegmental mindestens Du 14 mit seinen Huato-Jiaji-PunktenZur Verfl üssigung der bindegewebigen Interzellularsubs-tanz und zum Bewegen von Qi und Blut sollten thera-piebegleitend Gua-Sha-Massagen (entsprechen in etwa einer tiefen Bindegewebsmassage) regelmäßig durchge-führt werden.Da die Patientin selbst schon Wärme lokal anwendet, sollte sie zudem warme Leberwickel oder zumindest wärmende Getreide-Ingwer-Säcke im Bereich des Ober-bauches, um das Leber-Qi zu bewegen, in Erwägung ziehen. Weißes Tigerbalsam über dem Punkt Tai-Yang kühlt das Feuer der Leber über Verdunstungskälte der ätherischen Öle und regt den Stoff wechsel im Akupunk-turpunkt an. Eine Studie zeigte, dass die Anwendung von ätherischen Ölen in der Schläfen- und Stirnregion ähnlich eff ektiv war wie Paracetamol in üblicher Do-sierung, zumindest bei episodischen Spannungskopf-schmerzen [1].Zudem empfehlen wir die Einnahme von chinesischer Phytotherapie, hier die „erweiterte Rezeptur des freien und entspannten Wanderers“, Jia wei xiao yao san. Diese reguliert den Leber-Qi-Fluss, nährt und bewegt das Blut, Leber-Hitze kühlend und Milz-Qi nährend und Nässe lö-

send. Diese Rezeptur wird beispielsweise auch bei leich-ten Symptomen eines klimakterischen Syndroms und aufsteigender Hitze im Chong Mai verschrieben, wie sie auch bei der Patientin vorliegt.

Antwort von Frau Dr. Uta Binder, Fachärztin für

Physikalische Medizin, Referentin der ÖGA,

Bertha von Suttner Str. 21, A-2000 Stockerau

Die Anamnese der Patientin weist sowohl auf eine cervi-kale als auch auf eine stressassoziierte Migräne hin, die sich oft gerade in belastungsfreien Zeiten, wie hier am Wochenende, manifestiert. Die Schmerzlokalisation deu-tet auf eine Beeinträchtigung im Gallenblasen-Meridian-Bereich im Sinne eines Shao-Yang-Kopfschmerzes. Das Zungenbild (gestaute Zungenuntergrundvenen, livide Verfärbung der Zungenränder) aber auch zurückliegen-de Erkrankungen wie die Cholelithiasis und der Uterus myomatosus sind als Stauungs- bzw. Stagnationszei-chen zu interpretieren. Der psychoemotionale Stress, dem die Patientin im Beruf ausgesetzt ist, unterhält die Stauungssituation. Als Basis für die Behandlung sehe ich deshalb eine Auswahl von Akupunkturpunkten im Funktionskreis Leber-Gallenblase, die stagnationslösend, Qi bewegend und entspannend wirken. Wegen der zarten Konstitution der Patientin und der Mehrfach-Schwanger-schaften, die möglicherweise auf eine Beeinträchtigung der Nierenessenz hinweisen, würde ich zusätzlich einen nierenstärkenden Punkt auswählen. Da die Patientin als gebrechlich beschrieben wird, empfi ehlt sich zu Beginn der Therapie Qi bewegende Punkte vorsichtig zu nadeln und daneben emotional entspannende bis roborierende Punkte anzuwenden.Zusammenfassend schlage ich daher folgendes Punkte-Pro-gramm vor:Gb 20: Chin. Windpunkt, lokale Wirkung auf obere HWS und Occiput (eher nur an migränefreien Tagen zu nadeln)EX-KH 3 (PdM; Yintang): abgrenzender Punkt des Kopf-scherzes nach vorn, entspannende WirkungLG 14 (13 n. Bischko): breite Wirksamkeit auf die Schulter-Nacken-Regionweitere Punkte nach palpatorischer Druckdolenz: z. B.: 3E 15, Bl 44 (39 n. Bischko), die häufi g auch muskuläre Trig-gerpoints sindPe 6: Übelkeit, Brechreiz, psychoemotional entspannender PunktLe 3: Blut- und Qi bewegender Punkt, stagnationslösend, re-guliert aufsteigendes Leber YangMi 6: beeinfl usst Milz, Leber und Niere. Alle drei funktionel-len Organaspekte sind bei der Patientin von Bedeutung: Niere: zarte Konstitution, mehrfache SchwangerschaftenLeber: Shao-Yang-Kopfscherz, StagnationszeichenMilz: Zungenbild Zahnimpressionen, Varikositas und Neigung zur Diarrhö unter Stress weisen auf eine Milzschwäche hin.Über die Akupunkturbehandlung hinaus würde ich der Pati-entin zu Entspannungstechniken wie der progressiven Mus-kelrelaxation nach Jacobson oder autogenem Training zum Stressabbau raten.

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AkupunkturD e u t s c h e Z e i t s c h r i f t f ü r

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Antwort von Frau Dr. Angelika Volmer, Fachärztin

für Allgemeinmedizin, Akupunktur A und B Diplom,

Japanische Medizin, Referentin der Daegfa,

D-85598 Baldham, [email protected]

TCM-Diagnose (soweit anhand der Kurzanamnese möglich):Le-Qi-Stagnation mit aufsteigendem Le-Yang bei begin-nender Ni-Yin-LeereMi-Qi-Leere mit Nässe

TherapiezielSchmerzen beheben, Stressbelastbarkeit erhöhen

BehandlungsmethodenAkupunkturzur Auswahl: Le 3, Gb 20, 34, Gb 41/ 3E 5, 3E 3, Ni 3, 7, Ma 36, Mi 6 Ren 17, 12, 5, Du 20, 14, Bl 10, 18, 20, 21, 23Bewegungstherapie(s. Anamnese) Qigong, Yoga u. Ä.ErnährungstherapieGeschmacksüß-sauer, etwas salzigTemperaturneutral, warm, d. h. viele Suppen, Gemüsegerichte, Huhn, Fisch, heimische Obstsorten wie z. B. Boskopäpfel, auch ge-dünstet, gebacken, als KompottGetreidegerichte wie Hirsebrei; Kräutertees, Roibuschtee; Milchprodukte und Rohkost reduzieren!Phytotherapie: z. B. Gui Zhi Fu Ling Wanjapanisch: keishi bukuryo gan.

Wie wurde die Patientin tatsächlich behandelt?

Therapie 2005

Die Akupunkturtherapie erfolgte von Anfang Februar 2005 bis Ende April 2005 jeweils einmal pro Woche. Überlegungen, die schon in den Expertenmeinungen deutlich und einstimmig angesprochen wurden, führten zu Punkten des Funktionskrei-ses Gallenblase-Leber. Gestochen wurden die „4 Tore“ Di 4 und Le 3 in sedierender Technik. Ebenfalls sedierend und damit ge-gen den Meridianverlauf LG 14 (13 nach Bischko). Lokal sehr schmerzhaft zeigte sich 3E 15 beidseits. Als Luo (Durchgangs-punkt) und damit in Verbindung zum gekoppelten Partner 3E kam Pe 6 (KS 6) zur Anwendung, der gleichzeitig psychisch entspannend wirkt und als „Meisterpunkt der Übelkeit“ ange-sehen wird [2]. Ebenfalls gegen Übelkeit wurden KG 12 (Ren 12) und Le 13 in neutraler Stichtechnik gestochen. Lokal wur-den noch die beiden Extrapunkte: Tai-Yang und Yintang sehr oberfl ächlich genadelt. Da die Patientin sehr kraftlos erschien, wählte man Ma 36 und Mi 6. Mi 6 wirkt auch noch auf den Uterus [3]. Und um noch einen zusätzlichen Bezug zum ur-sächlichen zeitlichen Zusammenhang mit der Hysterektomie herzustellen, wurde Bl 31 gestochen. Da sich nach den ersten

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drei Behandlungen noch keine Besserung ergab, kamen ab der vierten Therapie noch die Ohrpunkte Polster, Sonne und Stirn zum Einsatz. Daraufhin ging es der Patientin deutlich besser. Die Therapie wurde bis zur zehnten Behandlung unverändert beibehalten. Nur einmal kam es noch nach der neunten Be-handlung zu einer leichten Migräneattacke, als die Patientin ein Glas Rotwein probiert hatte.

Verlauf und Therapie 2009

Für drei Jahre hielt die Beschwerdefreiheit an, erst im Jänner 2009 verspürte die Patientin wieder die gewohnten Schmer-zen in der Nackenregion, dann traten auch erneut Migränean-fälle auf. Seit 9. September 2009 wird die Patientin neuerlich akupunktiert. Seitdem sind keine Attacken mehr aufgetreten. Ihr Zungenbild zeigte diesmal neben den Stagnationszeichen noch eine deutliche Blässe (Abb. 1), sie klagte vermehrt über Schlafstörungen, weshalb an einen Blutmangel gedacht wur-de. Als Entsprechung kam Bl 17 zur Anwendung.

Diskussion

Die Meinung der vier ExpertInnen deckt sich in sehr vie-len Punkten auch mit der tatsächlich erfolgten Punkteaus-wahl. Wie immer bleibt aber die Frage der Punktespezifi tät unbeantwortet. Doch für jeden einzelnen Patienten zählt hauptsächlich die Tatsache, dass ihnen, entgegen der bis-her erfolgten Therapiemaßnahmen, erst die Akupunktur zu einer Schmerzfreiheit und damit zu einer besseren Lebens-qualität verhelfen konnte. In diesem Fall wurde zwar durch die Hysterektomie ein Teilaspekt der Probleme der Patientin beseitigt, aber die Ursache, die Stagnation, konnte erst durch die Beschäftigung mit den Krankheitsursachen aus Sicht der TCM erklärt und damit auch therapiert werden.

LiteraturGöbel H, Fresenius J, Heinze A. Dworschak M, Soyka D. Eff ectiveness of 1. Oleum menthae piperitae and paracetamol in therapy of headache of the tension type. Nervenarzt 1996;67(8):672–81Schlager A. Acupuncture in prevention of postoperative nausea and vom-2. iting. Wien Med Wochenschr. 1998;148(19):454–6Mi Kyeong L, Soon Bok C. Duck-Hee K. Eff ects of SP6 Acupressure on La-3. bor Pain and Length of Delivery Time in Women During Labor. The journal of Alternative and complementary medicine, 2004;10(6):959–965

Abb. 1: Stagnationszeichen und deutliche Blässe der Zunge.