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© Klaus Wiemann: Bewegungslehre und Methodik: 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens 1 Bewegungslehre und Methodik dargestellt am Beispiel des Gerätturnens Prof. Dr. Klaus Wiemann © 2013 3 Biomechanische Grundlagen des Turnens.................................................. 4 3.1 Einige Grundbegriffe der Mechanik.......................................................................4 3.1.1 Weg, Geschwindigkeit, Beschleunigung................................................... 4 3.1.2 Kraft, Masse, Trägheit............................................................................... 7 3.1.3 Gewichtskraft und Schwerpunkt...............................................................10 3.1.4 Kraftstoß, Impuls und Impulserhaltung.....................................................14 3.1.5 Impulsaddition und Impulsübertragung.....................................................19 3.1.6 Impulsübertragung bei den Kippen............................................................27

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Bewegungslehre und Methodik dargestellt am Beispiel

des Gerätturnens

Prof. Dr. Klaus Wiemann © 2013

3 Biomechanische Grundlagen des Turnens.................................................. 4

3.1 Einige Grundbegriffe der Mechanik.......................................................................4

3.1.1 Weg, Geschwindigkeit, Beschleunigung................................................... 4

3.1.2 Kraft, Masse, Trägheit............................................................................... 7

3.1.3 Gewichtskraft und Schwerpunkt...............................................................10

3.1.4 Kraftstoß, Impuls und Impulserhaltung.....................................................14

3.1.5 Impulsaddition und Impulsübertragung.....................................................19

3.1.6 Impulsübertragung bei den Kippen............................................................27

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3.2 Definition der Drehbewegung................................................................................31

3.3 Drehwinkel, Drehgeschwindigkeit und Drehbeschleunigung.................................33

3.4 Erzeugung einer Drehbewegung...........................................................................35

3.5 Drehmasse, Trägheitsmoment...............................................................................46

3.6 Drehkraftstoß, Drehimpuls, Drehimpulserhaltung..................................................49

3.7 Scheinrotation und Drehrückstoß...........................................................................61

3.8 Drehimpulsübertragung..........................................................................................66

3.9 Biomechanik des Beinschneppers (Courbet).........................................................74

3.10 Biomechanik des Schwingens...............................................................................82

3.10.1 Definition: Pendeln - Schwingen ...............................................................82

3.10.2. Erklärung des Schwingens durch den Energiesatz..................................83

3.10.3. Bewegungsgleichung des Pendels ..........................................................84

3.10.4 Verstärkung des Schwunges durch Pendelverkürzung.............................90

3.10.5 Schwingen eines physikalischen Pendels.................................................94

3.10.6 Schwingen im Sturzhang.........................................................................103

3.10.7 Modifizierende Bedingungen für das Schwingen im Langhang...............110

3.10.8 Ausnutzen der Elastizität der Reckstange...............................................115

3.10.9 Konterschwünge und „Power-Technik“....................................................118

3.10.10 Schwingen im Stütz..............................................................................120

3.10.11 Schwingen an den Ringen....................................................................122

3.11 Biomechanik „elastischer“ Sprünge.....................................................................124

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3.12 Systematisierung turnerischer Bewegungen nach biomechanischen Kriterien.......130

3.12.1 Schwünge..................................................................................................132

3.12.2 Rotationen..................................................................................................135

3.12.3 Kippen........................................................................................................140

3.12.4 Impulsschaffende Zusatzaktionen..............................................................144

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3 Biomechanische Grundlagen des Turnen des Turnens

Nahezu alle turnerischen Fertigkeiten stellen entweder als Ganzes oder in entscheidenden Bewegungsabschnitten eine Drehung des gesamten Körpers um irgendeine starre oder freie Achse dar oder enthalten zumindest in einzelnen Bewegungsphasen eine Drehung des Körpers oder eines Körperteiles. Aus diesem Grunde steht die Biomechanik von Drehbewegungen im Zentrum dieses Kapitels, wobei zuerst die Drehbewegung definiert wird (Kap. 3.2 und 3.3) und anschließend festzustellen ist, unter welchen Bedingungen der Turnerkörper in eine Drehbewegung versetzt wird (Kap. 3.4). Daran schließt sich die Erläuterung der Frage an, wie der Turner mit der vorhandenen Drehbewegung das Übungsziel erreichen kann, d.h. wie er mit der gewonnenen Drehbewegung haushalten muss (Kap. 3.5 und 3.6). Ob beim Turnen auch Körperdrehungen möglich sind, ohne dass der Turnerkörper einen „Drehimpuls“ besitzt, wird in Kap. 3.7 beantwortet, während sich das Kap. 3.10 mit einem „Spezialfall“ von Drehbewegungen befasst, nämlich dem Schwingen um starre Achsen.

Zuvor sind jedoch einige Grundbegriffe der Mechanik zu erläutern, für die im Folgenden nicht jeweils ein eigenes Kapitel vorgesehen werden kann, die jedoch bei der Besprechung der Drehbewegungen immer wieder auftreten (Kap. 3.1).

Dies soll mit einem vertretbaren Minimum an physikalischen Erläuterungen geschehen, um auch beim physikalisch Ungeschulten ein Verständnis zu erreichen und damit ein Interesse an den biomechanischen Zusammenhängen zu wecken und zu erhalten. Aus diesem Grunde können und sollen hier auch keine Dispute über die Berechtigung von Modellen, die die Wirklichkeit reduzieren und die physikalischen Zusammenhänge vereinfachen, geführt werden, obwohl man sich bewusst sein muss, dass eine Vereinfachung immer auch die Gefahr mit sich bringt, Unkorrektheiten zu riskieren.

3.1 Einige Grundbegriffe der Mechanik

3.1.1 Weg, Geschwindigkeit, Beschleunigung

Die Bewegung eines Turners erkennt man daran, dass sein Körper (oder ein Teil desselben) seine Position gegenüber der Umgebung von einem Zeitpunkt zum anderen verändert. Die räumliche Distanz von der ersten zur zweiten Position nennt man „Weg“.

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Alle physikalischen Größen, die die Grundgröße „Weg“ enthalten wie Geschwindigkeit, Beschleunigung, Kraft, Impuls u.a., sind ebenfalls gerichtete Größen. Hier und im Folgenden wird davon abgesehen, dass die einzelnen Körperabschnitte des Turners unterschiedliche Wege zurücklegen. Statt dessen wird der Turner auf einen Massepunkt reduziert.

Für das Zurücklegen des Anlaufweges benötigt der Turner eine bestimmte Zeit (t), die in Sekunden (s) gemessen wird. Nehmen wir an, der Turner möge für den 20 m langen Anlauf bis zum Sprungbrett 4 s benötigen, dann legt er den Weg in einer Durchschnittsgeschwindigkeit (v) von 5 m/s zurück. Allerdings ist seine Geschwindigkeit in einzelnen Zeitabschnitten des Anlaufes unterschiedlich groß, weil er zu Anfang langsamer läuft, dann seine Geschwindigkeit steigert und kurz vor dem Absprung wieder etwas verringert (Abb. 3.1).

In der Regel genügt es, die Durchschnittsgeschwindigkeiten in größeren oder kleineren Weg- oder Zeitabschnitten zu bestimmen. Will man die momentane Geschwindigkeit in einem Zeitpunkt ermitteln, muss das Differential v = ds / dt berechnet werden.

Die durchschnittliche Geschwindigkeit (v) eines Turners in einem Teilabschnitt des Anlaufes zum Sprung über den Kasten ergibt sich aus dem im Teilabschnitt zurückgelegten Weg (s), dividiert durch die dafür benötigte Zeit (t), v = s/t bzw. v = (s2-s1)/(t2-t1), gemessen in m/s (Meter pro Sekunde).

Läuft ein Turner an (Abb. 3.1), um einen Überschlag über einen Kasten auszuführen, legt er einen Weg (s) zurück, der sich in Metern (m, hier als Beispiel 20 m) messen lässt und dessen Richtung durch den Ablaufpunkt und die Absprungstelle definiert ist. Wege sind somit gerichtete Größen (= Vektoren). Gerichtete Größen werden als Vektorpfeile dargestellt, wobei die Pfeilspitze die Richtung und die Pfeillänge den Betrag des Weges wiedergeben.

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Abb. 3.1: Weg, Geschwindigkeit und Beschleunigung beim Anlauf zum Sprung über ein Gerät

Die Änderung der Geschwindigkeit im Beispiel Abb. 3.1, die Beschleunigung (a), gemessen in m/s², steigt erst langsam, nimmt dann stärker zu, um – beim Reduzieren der Geschwindigkeit – einen negativen Wert anzunehmen. In diesen Fällen der negativen Beschleunigung lässt sich auch von Verzögerung sprechen.

s [m]

a [m/s2]

v [m/s]

10

0

0

0

4

4

-4 t [s]

Die durchschnittliche Beschleunigung (a) in einem Teilabschnitt des Anlaufes ergibt sich aus der Geschwindigkeitsänderung (v2-v1), dividiert durch die dazu benötigte Zeit (t2-t1), a = (v2-v1)/(t2-t1), gemessen in m/s2 (Meter pro Sekunde zum Quadrat).

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Die Momentanbeschleunigung berechnet sich durch das Differential a = dv / dt.

Der Anlauf zum Sprung über ein Turngerät erfüllt mindestens zwei Ziele. Zum einen will der Turner genügend Geschwindigkeit erreichen, um nach dem Absprung das Gerät überfliegen zu können, bevor die Schwerkraft ihn wieder auf den Boden zieht. Zum anderen aber muss die Anlaufgeschwindigkeit dazu ausgenutzt werden, den Turner auch in eine – je nach Art des Sprunges kleinere oder größere – Drehbewegung zu versetzen. Dieses zweite Ziel, das auch bei einer Vielzahl anderer Turnübungen verfolgt werden muss, wird oft übersehen und vernachlässigt, was dann zum Misslingen der Übung führen kann (s. dazu Kap. 3.4).

3.1.2 Kraft, Masse, Trägheit

Wenn ein Turner seinen Körper in Bewegung setzen (beschleunigen) will, beispielsweise bei einem Strecksprung, müssen seine Muskeln aktiv werden, was dazu führt, dass zwischen dem Turnerkörper und dem Boden eine Kraft wirkt. Der Grund für diese Notwendigkeit ist die Tatsache, dass der Turnerkörper ein Gebilde aus Materie ist und sich somit durch die Eigenschaft aller materieller Körper, die Eigenschaft der Trägheit, auszeichnet.

Diese Eigenschaft „Trägheit“ ist die Grundlage des Impulserhaltungssatzes, der in Kap 3.1.4 besprochen wird.

Je mehr Materie ein Körper besitzt, je größer seine Masse (m), die in kg gemessen wird, ist, desto größer ist auch seine Trägheit.

Der Turner erfährt die Trägheit seines Körpers dann, wenn er diesen in Bewegung setzen (wenn er ihn beschleunigen) will und zwar durch seine Anstrengung, an der in erster Linie seine Muskeln teilhaben. Er nennt diese Anstrengung Kraft.

Die Eigenschaft der Trägheit bezieht sich darauf, dass Körper (so auch der Körper des Turners) bestrebt sind, den Zustand der Ruhe oder der geradlinig fortschreitenden Bewegung beizubehalten und sich Änderungen ihres Bewegungszustandes zu widersetzen. Die Änderung des Bewegungszustandes setzt die Wirkung einer Kraft voraus

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Schon hier ist anzumerken, dass die Kraft, die der Physiker am Turner durch die Bestimmung von Masse und Beschleunigung misst, nicht mit der Anstrengung, die der Turner empfindet, identisch ist (s. Kap. 6). Gleichwohl lässt sich feststellen, dass – in der Regel, aber nicht unter allen Bedingungen - dann, wenn der Turnerkörper eine wachsende Beschleunigung erfahren muss, die Anstrengung seitens des Turners auch wachsen muss. Wenn umgangssprachlich auf die Kraft eines Turners hingewiesen wird, ist in der Regel die Fähigkeit des Sportlers gemeint, große Kräfte zwischen sich und der Umwelt wirken zu lassen. Um mit dem physikalischen Begriff der Kraft nicht in Konflikt zu kommen, wird im Folgenden in diesem Zusammenhang (in der Regel, wenn auch aus sprachlichen Überlegungen nicht immer konsequent) von der Muskelkraft, der Arm- und Beinkraft oder generell der Stärke gesprochen.

Der Turner muss eine große Kraft erzeugen, wenn er große Teile seines Körpers oder gar seinen gesamten Körper (also eine große Masse) in Bewegung setzen will – im Gegensatz zur Beschleunigung kleiner Körperteile (einer kleinen Masse). Ebenso muss eine große Kraft erzeugt werden, wenn eine Masse in kurzer Zeit auf eine große Geschwindigkeit gebracht werden soll. Im Umgang mit seinem Körper erfährt der Turner den Zusammenhang von Kraft, Körpermasse und der Änderung des Bewegungszustandes der Masse, d.h., der Beschleunigung der Masse.

Eine weitere Eigenschaft der Kraft wird dem Turner bewusst, wenn er seinen Körper in eine bestimmte Richtung beschleunigen will. Dies setzt nämlich voraus, dass er die Kraft eben in dieser Richtung wirken lässt. Kräfte sind, wie der Weg, die Geschwindigkeit und die Beschleunigung, gerichtete Größen (= Vektoren), wobei sich die Richtung der Kraft durch die Richtung des Weges (s) offenbart, den der Körper durch den Beschleunigungsvorgang zurücklegt.

Der Turner kann seinen Körper in der Gesamtheit aber nur dann beschleunigen, wenn er sich von einem anderen Körper, vom Boden oder vom Gerät, abstoßen kann. Daraus wird deutlich, dass zu einer Kraft (F) zwangsläufig immer eine Gegenkraft (-F) gehört, die den gleichen Betrag hat wie die Kraft, dieser aber entgegengerichtet ist (Abb. 3.2 e).

Die Wirkung einer Kraft (F) erkennt man daran, dass eine Masse (m) eine Beschleunigung (a) erfährt, F = m * a bzw. F = m * s/t2 gemessen in kg*m/s2 bzw. in N (Newton).

Da beim Turnen die Masse des Turners durch seine Muskelkraft beschleunigt werden muss, ist es von Vorteil, wenn das Verhältnis der Masse zur Muskelkraft klein ist, d.h. wenn der Turner leicht, aber stark ist.

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Es gilt:

F = -F oder mt * at = me * -ae,

wobei mt und at Masse und Beschleunigung des Turners und me und -ae Masse und Beschleunigung der Erde darstellen. Da die Masse der Erde im Vergleich zur Masse des Turners überproportional groß ist, kann die Beschleunigung der Erde gleich Null gesetzt und vernachlässigt werden.

Abb. 3.2: Kräfte unterschiedlichen Betrages (a – c) und veränderter Richtung (d). Kraft bzw. actio, F, und Gegenkraft bzw. reactio, -F, (e und f)

Unter der Wirkung einer Kraft werden stets zwei Körper in entgegengesetzter Richtung beschleunigt: ein Strecksprung beschleunigt den Turnerkörper nach oben, den Boden mit der gesamten Erde in umgekehrter Richtung.

F

-F

F

-F

a cb d e f

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Welcher der beiden „Partnerkräfte“ als actio (F) und welcher als reactio (-F) bezeichnet wird, hängt vom Interpretierenden ab. Man kann bei einer Muskelaktion, beispielsweise bei einem Absprung vom Boden, die Kraft, die in Richtung der Beschleunigung des Sportlerkörpers weist, zur actio erheben und die Kraft, die dabei auf das Widerlager drückt, als reactio. Es lässt sich aber mit gleicher Berechtigung die Kraft, mit der die abspringenden Beine gegen den Boden drücken, als actio definieren und den Widerstand des Bodens als reactio.

Bewegt sich der Turner nach einem Absprung frei fliegend durch die Luft und führt er die gleiche Beinstreckbewegung mit der gleichen Anstrengung aus wie beim Sprung vom Boden, kann er seinen Körper in der Gesamtheit nicht beschleunigen, da die Aktion nicht auf einen zweiten, außerhalb des Turnerkörpers gelegenen Körper trifft. Die erzeugte Kraft ist in Bezug auf den Turnerkörper eine innere Kraft, sie kann nur Teilkörper des Turners beschleunigen, den Oberkörper nach oben und (durch die zwangsläufige Reaktionskraft) den Unterkörper nach unten (Abb. 3.2 f). Sieht man von Luftreibung und Schwerkraft ab, kann man den Turner in diesem Fall ein kräftefreies System nennen.

3.1.3 Gewichtskraft und Schwerpunkt

Neben der Trägheit ist die Schwere eine zweite Eigenschaft der Masse. Diese resultiert aus dem Phänomen, dass sich Massen untereinander anziehen bzw. sich aufeinander zu beschleunigen. Die Beschleunigung zwischen der Masse der Erde und der Masse von Körpern, die sich auf der Erde befinden, die Erdbeschleunigung bzw. Gravitationskonstante, beträgt g = 9,81 m/s2.

In einem kräftefreien System (z.B. im Körper des Turners beim Flug nach dem Absprung) können nur innere Kräfte wirken. Diese bewegen zwar Teilkörper des Systems gegeneinander, können das System insgesamt jedoch nicht beschleunigen.

Das Gewicht eines Körpers wird durch die Kraft, die Gewichtskraft (FG), bestimmt, mit der seine Masse (m) durch die Gravitation in Richtung des Erdmittelpunktes beschleunigt wird.

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Ein Turner mit der Masse von m = 60 kg besitzt somit die Gewichtskraft (das „Gewicht“) von FG = 60 kg * 9,81 m/s2, also 588,6 kg*m/s2 oder 588,6 N.

Obwohl die Erdbeschleunigung auf alle Massenteile (oder Massenteilchen) eines Körpers einwirkt, ist es zweckmäßig, einen Punkt zu benutzen, der als gedanklicher Vertreter der gesamten Körpermasse dienen kann. Dies ist der Schwerpunkt (= Massenmittelpunkt) eines Körpers.

Diese Definition wird in physikalischen Lehrbüchern generell verwendet. Sie wird hier zum Zweck des besseren Verständnisses seitens der physikalisch weniger geschulten Leser beibehalten, auch wenn man dagegen Bedenken anmelden könnte.

Da der Körper des Turners kein starres System darstellt, hat der Körperschwerpunkt keinen festen Platz im Körper, sondern seine Lage verändert sich in Abhängigkeit von der Formveränderung des Körpers und von der Stellung der Gliedmaßen. Unter Umständen kann er sogar außerhalb des Körpers liegen (Abb. 3.3), was den ideellen Charakter des Massenmittelpunktes deutlich macht. Er ist außerdem derjenige Punkt, um den sich ein frei in der Luft befindlicher Körper dreht. Bei einem Salto vorwärts beispielsweise stellt der Körperschwerpunkt den einzigen Punkt dar, der sich auf einer Wurfparabel bewegt (Abb. 3.3 e).

Die Lage des Schwerpunktes in Bezug zur Unterstützungsfläche bzw. zum Aufhängepunkt bestimmt das Gleichgewicht eines Körpers. Da sich im Schwerpunkt die Schwerkraftmomente (s. Kap. 3.4) aller Massenteilchen zu Null addieren, strebt der Schwerpunkt eine stabile Lage senkrecht unter dem Aufhängepunkt an (Abb. 3.3 d, stabiles Gleichgewicht). Andererseits ist ein Körper nur dann standfest, wenn der Schwerpunkt senkrecht über der Unterstützungsfläche (oder dem Unterstützungspunkt, labiles Gleichgewicht) liegt (Abb. 3.3 a und b)

Der Schwerpunkt eines Körpers ist dadurch definiert, - dass er sich so bewegt, als wäre die gesamte Masse des Körpers auf ihn konzentriert, bzw. - dass man ihn sich als Angriffspunkt der Schwerkraft denken kann.

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Abb. 3.3: Lage des Körperschwerpunktes (KSP) bei unterschiedlichen Körperpositionen (a – c) sowie beim stabilen Gleichgewicht (d) und beim labilen Gleichgewicht (a – b). Bewegung des KSP auf der Wurfparabel (e) beim Salto vorwärts.

Die Bedeutung von Kraft und Schwerkraft im Turnen ist allgegenwärtig. Wie in kaum einer anderen Sportart liegt der Reiz im Turnen bzw. im akrobatischen sich-Bewegen darin, die Schwerkraft zu überlisten und sich bei der Ausführung der akrobatischen Elemente leicht und quasi schwerelos zu fühlen. Das Kraft/Last-Verhältnis – genauer – das Verhältnis der Kraft, die von der Muskulatur erzeugt und zwischen Umwelt und Turnerkörper zur Wirkung gebracht werden kann, zur Schwerkraft des Turnerkörpers

= KSP

a b c ed

Befindet sich der Schwerpunkt des Turners – z.B. im ruhigen Hang – senkrecht unter dem Aufhängepunkt, besitzt der Turner ein stabiles Gleichgewicht. Befindet sich der Schwerpunkt oberhalb des Unterstützungspunktes – z.B. im aufrechten Stand oder im Handstand - , spricht man von einem labilen Gleichgewicht. Die Standfestigkeit im labilen Gleichgewicht steigt mit der Größe der Unterstützungsfläche und sinkt mit zunehmender Höhe des Schwerpunktes über der Unterstützungsfläche.

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bestimmt, welche Geschwindigkeit dem Körper bei Sprüngen vermittelt werden kann und prägt auf diese Weise die Flughöhe und damit die Zeit für das Erlebnis der „Schwerelosigkeit“. Die Kraft der Arm und Schultermuskulatur beeinflusst den Anstrengungsgrad beim Stützen und Hängen und damit das Gefühl der Mühelosigkeit. Um so wichtiger ist es, bei ungünstigem Kraft/Last-Verhältnis die mechanischen Bedingungen, die sich nicht außer „Kraft“ setzen lassen, zu berücksichtigen, um sich die Ausführung turnerischer Elemente nicht überflüssig zu erschweren.

Abb. 3.4: Günstige (a – e) und ungünstige, überflüssige Anstrengung erfordernde (f – h) Zuordnung von Körperschwerpunkt, Schultergelenk und Unterstützungspunkt bzw. Aufhängepunkt.

a b c d e

f g

h

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Wer beim Handstand den Körperschwerpunkt senkrecht über die Unterstützungsfläche und senkrecht über das Schultergelenk bringt (Abb. 3.4 a-b), benötigt kaum Stützkraft, um die Körpermasse zu trage, im Gegensatz zu dem Fall, bei dem bei vorgeschobener Schulter in den Handstand aufzuschwingen versucht wird (Abb. 3.4 f). Gleiches gilt für das Rad am Boden (Abb. 3.4 c), das bei richtiger Ausführung kein besonders günstiges Kraft/Lastverhältnis erfordert. Wer beim Schwingen im Langhang Aufhängepunkt, Schultergelenk und Körperschwerpunkt auf einer Linie hält (Abb. 3.4 d), kann ohne große Anstrengung den Schwung zu Ende führen, ohne befürchten zu müssen, unter der Wirkung der Schwerkraft senkrecht unter dem Aufhängepunkt den Griff zu verlieren wie derjenige, der den Schwung mit gebeugten Armen und „Hohlkreuzhaltung“ beginnt (Abb. 3.4 g). Auch beim Unterschwung wird die Zuordnung von Schwerpunkt und Reckstange schon in der Anschwungphase darüber entscheiden, ob die Bewegung zu einem schwunghaften wenig Anstrengung erfordernden Bewegungserlebnis führt oder nicht (Abb. 3.4 e und h).

3.1.4 Kraftstoß, Impuls und Impulserhaltung

In den bisherigen Betrachtungen wurde außer Acht gelassen, dass sich ein Turner, will er seinem Körper durch einen Absprung eine Aufwärtsgeschwindigkeit vermitteln, nicht nur Kraft auf die Absprungstelle wirken lassen muss, sondern dass diese Kraft auch eine bestimmte Zeit wirken muss, bis der Körper die gewünschte Aufwärtsgeschwindigkeit erreicht hat.

Erfolgreiches und freudvolles Turnen ist vielfach keine Frage der Muskelkraft, sondern der Fähigkeit, die vorhandene Muskelkraft physikalisch richtig einzusetzen.

Lässt der Turner eine Kraft (F) eine bestimmte Zeit (t) lang wirken, produziert er einen Kraftstoß (p). Dieser ist direkt dafür verantwortlich, mit welcher Geschwindigkeit (v) sich die Körpermasse - z.B. nach einem Absprung - aufwärts bewegt. Das Produkt aus Masse (m) und Geschwindigkeit wird „Bewegungsgröße“ bzw. Impuls (p) genannt. Es gilt die Beziehung: Kraftstoß = Impuls, F * t = m * v = p.

Da die vorhandene Muskelkraft zur Änderung des Bewegungszustandes des Turners begrenzt ist, kann auf dem Wege über die Vergrößerung der Wirkungszeit (t) der Kraft (F) versucht werden, den erforderlichen Kraftstoß zu erzielen.

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In der Regel wird der Kraftstoß in Newton mal Sekunde (N * s bzw. Ns), der Impuls in Kilogramm mal Meter pro Sekunde (kg * m/s) gemessen.

Da beide Maßeinheiten identisch sind, kann man auch Kraftstoß und Impuls als identische Größen ansehen. Somit überrascht es nicht, dass häufig – sowohl in der Physik als auch in der Umgangssprache - der Begriff des Impulses auch für den Kraftstoß verwendet wird. Im Folgenden soll jedoch aus Gründen der besseren Unterscheidung die Beziehung „Kraft mal Zeit“ Kraftstoß, die Beziehung „Masse mal Geschwindigkeit“ Impuls (ersatzweise Bewegungsgröße oder – wie in der Umgangssprache – Wucht oder Schwung) genannt werden.

Der Impuls ist eine gerichtete Größe (ein Vektor), wobei die Richtung des Impulses von der Richtung der Geschwindigkeit bestimmt wird. Gleiches gilt für den Kraftstoß, der seine Richtung durch die Richtung der Kraft erhält.

Abb. 3.5: Darstellung von Geschwindigkeiten und Impulsen unterschiedlicher Größe und Richtung

Die Bedeutung von Betrag und Richtung von Impulsen soll an folgendem Beispiel erläutert werden: Drei Turner springen im Rahmen eines Synchronturnens gleichzeitig vom Minitrampolin (Abb. 3.5) Die Aufgabe dabei ist natürlich, nicht nur zum gleichen Zeitpunkt abzuspringen, sondern auch gleich weit zuspringen und zum gleichen Zeitpunkt zu landen, was natürlich nur geschehen kann, wenn

v1 v2 v3

p1 p2 p3

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die drei Turner bei gleichem Absprungwinkel gleiche Absprunggeschwindigkeiten erzeugen. Da nun die Turner unterschiedlich schwer sind, Turner 1 = 60 kg , Turner 2 und Turner 3 jeweils 70 kg, müssen die Turner 2 und Turner 3 einen größeren Kraftstoß am Minitrampolin erzeugen als Turner 1. Dies möge Turner 2 auch gelingen, so dass er zusammen mit Turner 1 eine Absprunggeschwindigkeit von v1 = v2 = 4 m/s in exakt der gleichen Richtung erreicht, in Abb. 3.5 verdeutlicht durch die gleich langen und gleich gerichteten Vektorpfeile v1 und v2. Trotz gleich großer und gleich gerichteter Geschwindigkeiten besitzt Turner 2 nach dem Absprungkraftstoß jedoch einen größeren Impuls als Turner 1, weil seine Masse größer ist. Turner 1 hat den Impuls p1 = 240 kg*m/s und Turner 2 den Impuls p2 = 280 kg*m/s, in Abb. 3.5 erkennbar an den unterschiedlich langen Vektorpfeilen p1 und p2. Die Voraussetzung für die unterschiedlich großen Impulse waren natürlich unterschiedlich große Kraftstöße auf der Absprungstelle, wobei Turner 1 einen Kraftstoß von 240 Ns und Turner 2 einen Kraftstoß von 280 Ns erzeugen mussten. Die hier im Beispiel angenommenen Beträge und Richtungen der Impulse gelten nur für den Augenblick, in dem die Turner die Absprungstelle verlassen. Sobald die Turner den Flug beginnen, kommt die Erdbeschleunigung zur Wirkung und verändert Betrag und Richtung der Impulse ständig, und zwar unabhängig von der unterschiedlichen Masse der Turner, so dass beide Turner zum gleichen Zeitpunkt landen – wie von ihnen geplant.

Im vorliegenden angenommenen Beispiel gelingt Turner 3 () die Aufgabe des synchronen Turnens weniger gut. Sein Absprung-Kraftstoß gerät zu groß (315 Ns) und zielt zusätzlich steiler nach oben, so dass Turner 3 nach Verlassen der Absprungstelle eine zu große (4,5 m/s) und zu steile Absprunggeschwindigkeit besitzt. Die Folge ist, dass er wesentlich höher springt und demgemäß deutlich später landet.

Aus diesem Beispiel wird deutlich, dass die Aufgabe, sich mit anderen Turnern zusammen synchron zu bewegen, recht anspruchsvoll ist. Die Frage ist, welche Kriterien die Turner heranziehen, um den Absprung-Kraftstoß auf das zutreffende Maß begrenzen zu können. Turner 2 nützt es nicht zu wissen, dass er 10 kg mehr wiegt als Turner 1 und dass er deshalb einen stärkeren Absprung-Kraftstoß als Turner 1 ausführen muss. Dazu müsste er abschätzen können, welche Kraft Turner 1 erzeugt, und seine eigene Absprungkraft derart darauf abstimmen, dass er die gleich Abfluggeschwindigkeit bekommt. Auch die Bewegungsgeschwindigkeiten oder gar Impulse können Turner weder an sich, noch am Partner abschätzen. Die einzige brauchbare Information ist die Flugzeit. Diese müssen die Sportler untereinander absprechen bzw. festlegen, am einfachsten unter Vorgabe eines Bewegungsrhythmus. Dann sind die Bewegungen so lange zu üben, bis den Turnern es gelingt, unter Antizipation der Flugzeit den Absprungkraftstoß in der verlangten individuellen Größe (und Richtung) zu treffen, und somit gleichzeitig abspringen und gleichzeitig wieder landen (Näheres zur Bewegungswahrnehmung, -vorstellung und Koordination s. Kap 6).

Käme im oben genannten Beispiel der Synchronturner nach dem Absprung vom Trampolin nicht die Schwerkraft zur Wirkung, würden sich Turner 1 und 2 mit der durch den Absprung-Kraftstoß erzeugten Geschwindigkeit von 4 m/s nebeneinander geradlinig und stetig

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weiter bewegen, Turner 1 mit dem Impuls 240 kg*m/s, Turner 2 mit dem Impuls 280 kg*m/s. In dieser Bewegung käme der Impulserhaltungssatz zum Ausdruck.

Abb. 3.6: Verdeutlichung des Impulserhaltungssatzes

Dies kann selbstverständlich nur im Zustand der Schwerelosigkeit geschehen, beispielsweise dann, wenn - in einem Gedankenexperiment – die Turner im Weltraum ihr Trampolin an der Außenwand einer Weltraumstation befestigt hätten (Abb. 3.6). Würde in diesem Fall ein Absprung-Kraftstoß den Turnern einen Impuls vom oben angeführten Betrag vermitteln, würden sich die Turner als kräftefreie Systeme mit konstanter Geschwindigkeit und konstanter Richtung von der Raumstation weg bewegen. Selbst

Der Impulserhaltungssatz – kurz auch: Impulssatz - besagt, dass in einem System, auf das keine äußeren Kräfte wirken, also in einem abgeschlossenen (kräftefreien) System, die Summe aller Impulse konstant (unveränderlich) ist.

p1

p2

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heftigste Aktionen von Armen und Beinen könnten den Gesamtimpuls des Körpers nicht beeinflussen, sondern nur zu Massenverlagerungen innerhalb des Körpers führen. Selbst die größten Anstrengungen würden nicht verhindern können, dass sich der Schwerpunkt unbeirrt von der Raumstation fort bewegen würde.

Auf der Erdoberfläche kann ein solches Ereignis nicht stattfinden, da der Körper des Turners stets der Wirkung äußerer Kräfte (Schwerkraft, Reibungskräfte, Muskelaktionen, sofern letztere zwischen Turnerkörper und Umwelt zur Wirkung kommen) ausgesetzt ist.

Abb. 3.7: Beispiel für die Beeinflussung der Bewegung des Körperschwerpunktes durch äußere Kräfte im Ablauf einer Hocke über den Kasten. Folgende Impulse bzw. Kraftstöße sind dargestellt: pab Absprung; paf Abfedern bei der Landung; pan Anlauf; pas Abstützen auf dem Kasten; pf1 bis pf7 Flugbewegung; pg Schwerkraft (rot)

Am Beispiel einer Hocke über den Kasten (Abb. 3.7) soll dies verdeutlicht werden. Der durch den Anlauf gewonnene Impuls pan in horizontaler Richtung wird durch den Absprung-Kraftstoß (pab) in einen nach vorn schräg aufwärts gerichteten Impuls der Flugbewegung (pf1) umgeändert. Dieser unterliegt dem Einfluss der Schwerkraft (pg), wobei seine horizontale Komponente - wenn

pan pan

pab pf1

pf1

pf2

pg pg

pg pf3

pas pf4 pf4

pf5

pf5

pf6

pf7

paf

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man den geringen Einfluss des Luftwiderstandes vernachlässigt – gemäß dem Impulssatz erhalten bleibt, seine vertikale Komponente aber unter der Wirkung der Schwerkraft nach Größe und Richtung verändert wird (pf1 wird zu pf2). Erst durch den Kraftstoß des Aufstützens des Turners auf dem Kasten (pas) kann die Bewegungsrichtung des Schwerpunktes geändert werden zur zweiten Flugbewegung (pf4). Nach Verlassen des Kasten bewegt sich der Schwerpunkt wieder auf der nur durch die Schwerkraft bestimmten Wurfparabel (pf5, pf6). Aktionen des Turners wie beispielsweise das Anhocken der Beine oder Bewegungen des Kopfes und der Arme erzeugen innere Kräfte, da sie nicht auf einen Körper, der außerhalb des Turnerkörpers gelegen ist, wirken können. Sie verlagern lediglich Teilmassen des Turnerkörpers gegeneinander, ohne den Gesamtimpuls des Turnerkörpers, vertreten durch den Impuls des Schwerpunktes, beeinflussen zu können. Erst mit dem Aufsetzen der Füße auf den Boden kann der Kraftstoß der Landeaktion (paf) den Impuls des Schwerpunktes (pf7) aufheben.

Generell lässt sich feststellen:

3.1.5 Impulsaddition und Impulsübertragung

Immer dann, wenn sich im Laufe von Muskelaktionen Körperteile gegeneinander bewegen, findet eine Addition bzw. Übertragung von Impulsen statt. Aus diesem Grunde muss der Begriff „Impulsübertragung“ für die Erklärung aller möglichen Bewegungsphänomene insbesondere im Gerätturnen herhalten, ohne dass damit eine Falschaussage riskiert wird. Eine brauchbare Erklärung wird damit meistens nicht geliefert, weshalb dieses Thema hier und in Kap. 3.8 ausführlich behandelt werden muss.

Die Körperaktionen der in diesem Kapitel besprochenen Beispiele stellen unterschiedliche Drehbewegungen um Gelenkachsen dar. Somit man müsste streng genommen mit dem Begriff des Drehimpulses argumentiert werden. Um die Sache aber nicht über Gebühr zu komplizieren, wird hier zuerst nur mit der translatorischen Komponente gearbeitet und erst in Kap. 3.8 die Rotation mit eingeführt.

Nach einem Absprung frei sich im Raum bewegend kann der Impuls eines Turnerkörpers, dessen Masse durch seinen Körperschwerpunkt vertreten wird, durch innere Kräfte (Muskelkräfte) nicht geändert werden, sondern Richtung und Geschwindigkeit der Bewegung des Körperschwerpunktes werden allein durch die Schwerkraft verändert.

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Das Beispiel von Abb. 3.7 zeigt, wie der Impuls des Körperschwerpunktes unter der Wirkung eines Kraftstoßes nach Betrag und Richtung geändert werden kann. So addiert sich beispielsweise zum Impuls des Anlaufes (pan), der während und nach dem Absprung erhalten bleibt, der Absprungimpuls (pab), so dass der Gesamtimpuls des Turners einen neuen Betrag und eine neue Richtung erhält. Es handelt sich hier um eine vektorielle Addition. Die vektorielle Addition von Impulsen ist eine Konsequenz des Impulssatzes und muss immer dann berücksichtigt werden, wenn auf einen Körper mit vorhandenem Impuls ein zweiter (oder dritter) Impuls (bzw. Kraftstoß) einwirkt oder wenn zwei oder mehrere Kraftstöße gleichzeitig auf einen Körper einwirken. Vektorielle Addition veranschaulicht man mit Hilfe des Vektoren-Parallelogramms.

Abb. 3.8: Beispiele der Addition von Einzelimpulsen im Körperschwerpunkt.

ps

pl

pG pl+s

pa pa

pl+s

pG

pa

pa

pk

pb

pkpb

pG

pl+s

pa pa

pl+s

a) b) c)

Erzeugt ein Turner zwei oder mehrere Impulse gleichzeitig oder wirkt auf den Turnerkörper mit einem bereits vorhandenen Impuls ein zweiter Impuls, addieren sich die Einzelimpulse vektoriell.

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Die turnpraktische Bedeutung der vektoriellen Addition soll am Beispiel des Absprunges zum Salto vorwärts (Abb. 3.8) verdeutlicht werden. Anlauf (pl) und Sprungkraftstoß (ps) vermitteln dem Turner einen schräg nach vorn oben gerichteten Absprungimpuls (pl+s). Jeder hat erfahren, dass er durch einen kräftigen beidseitigen Armschwung den Absprung unterstützen kann. Dabei drehen sich die Arme im Schultergelenk aus einer Rückhalte mit steigender Geschwindigkeit nach vorn oben, wobei sich die Richtung des Impulses ständig ändert. Wie müssen nun der Absprungimpuls (pl+s) und der Impuls der Armbewegung (pa) zueinander koordiniert sein, damit bei vektorieller Addition ein möglichst großer Gesamtimpuls zustande kommt?

Da der Gesamtimpuls des Körpers nur so lange durch Teilimpulse beeinflusst werden kann, wie der Körper Kontakt mit der Umwelt (Boden) besitzt, ist für den Betrag und die Richtung des Gesamtimpulses die Richtung und die Beträge der Teilimpulse unmittelbar vor Verlassen des Bodens von Bedeutung. Durchlaufen in diesem Augenblick die Arme gerade die Waagerechte, hat der Armschwungimpuls (pa) die gleiche Richtung wie der Absprungimpuls (pl+s), so dass ein recht großer Gesamtimpuls (pG) zustande käme (Abb. 3.8). Aber der Betrag des Armschwungimpulses (pa) könnte noch anwachsen, wenn die Arme weiter über die Waagerechte hinaus nach oben geschwungen würden (Abb. 3.8 b). Allerdings fällt in diesem Fall die Richtung des Armschwungimpulses (pa) derart ungünstig aus (Abb. 3.8 b), dass die Addition zum Absprungimpuls (pl+s) eine für das Ziel der Übung ungünstige Richtung des Gesamtimpulses ergäbe (Abb. 3.8 b). Die günstigste zeitliche Zuordnung beider Impulse muss man somit dann erwarten, wenn kurz vor dem Augenblick, in dem die Füße den Kontakt mit dem Boden verlieren, die Arme um wenige Grad die Waagerechte durchschwungen haben.

Das biomechanische Prinzip der zeitlichen Koordination von Einzelimpulsen (HOCHMUTH 1982) verlangt somit:

Ein Beispiel der Addition von drei Teilimpulsen zeigt Abb. 3.8 c (Kippstrecken aus der Nackenkipplage in den Handstand).

Sollen zwei (oder mehrere) Teilimpulse zu einem möglichst großen Gesamtimpuls führen, müssen die Teilimpulse so koordiniert werden, dass sie möglichst zum gleichen Zeitpunkt ihren maximalen Betrag durch maximale Geschwindigkeiten erreichen. Sie sollten in diesem Augenblick auch in die gleiche Richtung zielen.

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Man erkennt, dass es nicht notwendig ist, stets die Vektorenparallelogramme zu zeichnen. Es genügt, die Vektorpfeile, die die drei Kraftstöße aus den Aktionen Strecken der Hüfte (pb), Abdruck des Kopfes vom Boden (pk) und Strecken der Arme (pa) symbolisieren, derart aneinander zu setzen, als würden sie nacheinander auftreten. Der Verbindungspfeil des Startpunktes des ersten Kraftstoßes mit dem Endpunkt des letzten Kraftstoßes stellt dann den Gesamtimpuls (pG) dar. In der Turnpraxis werden diese drei Kraftstöße, die im übrigen auch im Laufe der Rolle rückwärts in den Handstand ausgeführt werden, nicht völlig simultan, sondern in der hier besprochenen Reihenfolge zeitlich etwas versetzt realisiert. Da die Aktionen mehr oder weniger in senkrechter Richtung erfolgen, müsste streng genommen noch der Einfluss der Schwerkraft als vierter Kraftstoß mit berücksichtigt werden.

Häufig findet man die Behauptung, man müsse am Ende des Absprunges den Armschwung aktiv abbremsen, damit der Impuls der Arme auf den Körper übertragen, die „Bodenreaktionskräfte“ erhöht und somit der Absprung unterstützt würde. Um zu prüfen, ob diese Aussage richtig ist, sollen zuerst zwei einfache Experimente (Abb. 3.9 und Abb. 3.10), die man selbst leicht nachvollziehen kann, besprochen werden.

Abb. 3.9: Beispiel der Impulserhaltung durch actio-reactio

pt1 pt2 = - pt1

KSPt1

KSPG

KSPt2

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Zwei Turner sitzen hintereinander auf je einem Skateboard, wobei Turner 1 die Füße der gewinkelten Beine auf den Rücken von Turner 2 plaziert. Beide Turner (und beide Skateboards) sind gleich schwer. Somit bildet KSPt1 den Körperschwerpunkt von Turner 1 (+Skateboard), KSPt2 den Körperschwerpunkt von Turner 2 (+Skateboard) und KSPG den Schwerpunkt des gesamten aus zwei Turnern und zwei Skateboards bestehenden Systems.

Sind die Skateboard-Rollen optimal geölt, kann man annehmen, dass die Rollreibung gegen Null strebt. Diese Bedingung ist (zumindest die gedankliche) Voraussetzung für dieses Experiment, damit das System, das aus beiden Turnern (+ Skateboards) gebildet wird, in horizontaler Richtung als kräftefrei gelten kann.

Führt nun Turner 1 eine heftige Beinstreckbewegung aus, wirkt zwischen beiden Turnern ein Kraftstoß (actio+reactio), der Turner 1 den Impuls pt1 nach links und Turner 2 den Impuls pt2 nach rechts vermittelt. Da das System in horizontaler Richtung als kräftefrei gelten kann und außerdem beide Turner gleiche Massen besitzen, bewegen sich beide Turner mit gleicher Geschwindigkeit, aber umgekehrter Richtung vom Ausgangspunkt weg. Die Impulse beider Turner sind gleich groß, aber entgegengerichtet. Es gilt: pt2 = - pt1. Die Konsequenz ist, dass das Gesamtsystem unbewegt (unbeschleunigt) bleibt, weil sich in einem kräftefreien System die Teilimpulse (hier: pt1 und pt2 ) zu Null addieren. Der Schwerpunkt des Gesamtsystems (KSPG) bleibt am ursprünglichen Ort, so weit sich auch die Turner voneinander entfernen mögen.

Letzteres würde auch gelten, wenn beide Turner unterschiedlich schwer wären, beispielsweise Turner 1 das Gewicht 75 kg und Turner 2 das Gewicht 60 kg besitzen würden. Nähme man an, Turner 1 bekäme durch den Kraftstoß eine Geschwindigkeit nach links von 2 m/s (und somit den Impuls von 150 kg*m/s), dann bekäme Turner 2 die Geschwindigkeit nach rechts von (-) 2,5 m/s (und somit den Impuls von (-) 150 kg*m/s). Auch hier bliebe das Gesamtsystem, weil kräftefrei, unbewegt, sein Impuls bliebe unverändert (= erhalten).

In einem zweiten Experiment wird die Ausgangsbedingung nur dadurch geändert, dass das Skateboard von Turner 2 direkt vor einer Wand steht (Abb. 3.10). Außerdem sind beide Skateboards durch ein stabiles, etwa 1 m langes Seil miteinander verbunden. In der Ausgangsstellung liegt das Seil lose zwischen den beiden Skateboards auf dem Boden (Abb. 3.10 a).

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Abb. 3.10: Beispiel der Impulsübertragung

KSPt1 KSPG KSPt2

pt2

vG

vt1 vt2

vt2vGvt1

vt1

pt1 pG

pt1

vG

pG

pG

- pt1 = - pG

pt2

F*t - F*t

a)

b)

c)

d)

pt1

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Führt nun Turner 1 die schon bekannte Beinstreckbewegung aus (Abb. 3.10 b), bewegt sich Turner 1 mit der Geschwindigkeit (vt1) nach links, er erthält somit den Impuls pt1. Turner 2 bleibt im Gegensatz zum ersten Experiment unbewegt – zwangsläufig, weil sein Skateboard von der Wand, vor der es steht, an einer Bewegung nach rechts gehindert wird. Es scheint so, als ob Turner 2 keinen Impuls bekäme. Aus Kap. 3.1.2, in dem das Actio-reactio-Prinzip besprochen wurde, wissen wir, dass in jedem Fall ein gleich großer, entgegen gerichteter Impuls auftreten muss. Dieser entsteht in demjenigen Körpersystem, das aus Turner 2, der Wand und der daran fest verbundenen Erde besteht. Da die Masse dieses Körpersystems im Vergleich zu der Masse von Turner 1 nahezu unendlich groß ist, ist die Geschwindigkeit, mit der sich dieses System (Turner 2+Wand+Erde) nach rechts bewegt, praktisch gleich Null.

Betrachtet man jetzt dasjenige Körpersystem, das aus den beiden (gleich schweren) Skateboardern mit ihren Skateboards besteht, müssen wir feststellen, dass dieses System, im Gegensatz zum ersten Experiment auch einen Impuls bekommen hat, der im Grunde genau so groß ist wie pt1 (Abb. 3.10 b). Da die Masse dieses Gesamtsystems, vertreten durch seinen Schwerpunkt KSPG, aber doppelt so viel Masse besitzt wie das Teilsystem KSPt1 (Turner 1 + Skateboard), ist seine Geschwindigkeit (vG) nach links zwangsläufig nur halb so groß wie diejenige von Turner 2 (Abb. 3.10 b).

Was passiert nun in demjenigen Zeitpunkt, in dem sich Turner 1 so weit nach links bewegt hat, dass sich das Seil zwischen den beiden Skateboards spannt? In Bezug auf Turner 1 (vertreten durch seinen Schwerpunkt KSPt1) ist die Kraft, die von der Spannung des Seiles herrührt, eine äußere Kraft, denn sie wirkt auf einen zweiten Körper, nämlich auf Turner 2 (bzw. KSPt2). In Bezug auf das Körpersystem Turner 1+Turner 2, vertreten durch den Schwerpunkt KSPG, ist diese Kraft (mit ihrer Gegenkraft) aber eine innere Kraft, da sie auf kein Körpersystem wirken kann, das sich außerhalb dieses Körpersystems befindet. Aus diesem Grunde vermindert der Kraftstoß (F*t), der das Seil spannt, den nach links gerichteten Impuls pt1 von Turner 1 und sein Gegenkraftstoß (– F*t) vermittelt Turner 2 einen – ebenfalls nach links gerichteten Impuls (pt2). Der Impulsverlust von Turner 1 entspricht vom Betrag her dem Impulsgewinn von Turner 2. Deshalb lässt sich sagen: Ein Teil des Impulses von Turner 1 wird auf Turner 2 übertragen. Der Impuls des Gesamtsystems Turner 1+Turner 2 wird jedoch nicht verändert. Die Folge ist, dass sich das Gesamtsystem bzw. sein Schwerpunkt KSPG nach der Spannung des Seiles, d.h., nach der Impulsübertragung (Abb. 3.10 c und.Abb. 3.10 d), mit der gleichen Geschwindigkeit (vG) nach links bewegt, wie vor der Impulsübertragung (Abb. 3.10 b). Sind beide Turner – wie vorausgesetzt – gleich schwer, hat die Impulsübertragung lediglich bewirkt, dass sich die Geschwindigkeit (vt1) von Turner 1 auf die Hälfte verringert hat, während Turner 2 sich jetzt mit der gleichen Geschwindigkeit wie Turner 1 (und wie das Gesamtsystem) nach links bewegt.

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Vernachlässigt man den Impuls, der durch die Beinstreckbewegung von Turner 1 an die Umwelt abgegeben wird, gilt vor der Seilspannung: pt1 = pG. Da mt1 = ½ * mG , gilt: vt1 = 2 * vG , pt2 = 0, vt1 = 0. Nach der Seilspannung (Impulsübertragung) gilt: pt1 + pt2 = pG, vt1 = pt2 = vG .

Aus diesem Experiment folgt dreierlei:

1. Impulse erscheinen nicht einfach aus dem Nichts, sondern: wenn ein Körper einen Impuls erhalten hat, ist dieser durch einen Kraftstoß einem anderen Körper „weggenommen“. Das heißt: ein Kraftstoß vermittelt stets zwei Körpern Impulse von gleichem Betrag, aber entgegengesetzter Richtung.

2. Impulse verschwinden nicht im Nichts, sondern: wenn der Impuls eines Körpers „verlorengeht“, hat ein anderer Körper ihn „übernommen“. Das heißt: Impulse gehen nicht verloren, sondern werden von Körper zu Körper weitergegeben.

3. Der Begriff „Impulsübertragung“ stellt eine Bezeichnung der unter 1. und 2. genannten Regeln dar, und zwar speziell für den Fall, dass der Beobachter in einem Teilkörper einen Impulsverlust und in einem anderen Teilkörper einen Impulsgewinn erkennt.

Das, was am Skateboard-Experiment gezeigt wurde, lässt sich auf das Blockieren des Armschwunges beim Absprung zum Salto übertragen. Dabei ist der Armschwung beim Absprung zum Salto mit der Bewegung des Skateboarders 1 nach der Beinstreckung, der restliche Körper (Kopf+Rumpf+Beine) des Turners beim Absprung zum Salto mit Skateboarder 2 und die den Armschwung abbremsenden Muskeln mit dem Seil zwischen den Skateboards gleichzusetzen.

Wird im Körper des Turners durch innere Kräfte ein Impuls von einem Teilkörper (z.B. Rumpf) auf einen anderen, zweiten Teilkörper (z.B. Arm) übertragen, ändert sich der Impuls (und damit die Geschwindigkeit) des Gesamtsystems nicht, denn der Impulsgewinn des zweiten Teilkörpers wird durch den Impulsverlust des ersten Teilkörpers ausgeglichen.

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Natürlich gilt diese Schlussfolgerung für alle Absprungbewegungen, gleichgültig, ob diese einbeinig oder beidbeinig erfolgen. Der Sinn des Abbremsen des Armschwunges kann nur darin liegen, die Arme an einem Weiterschwingen zu hindern oder die Arme in eine Position oder eine Bewegung zu bringen, die für die Ausführung der folgenden Aktionen des turnerischen Elementes verlangt werden. Beim Salto vorwärts werden nach dem Absprung häufig die Hände in Richtung der Schienbeine gebracht, um die Hockbewegung der Beine zu unterstützen. Das verlangt natürlich eine Armbewegung, die in eine dem Armschwung entgegengesetzte Richtung weist, was zwangsläufig ein mehr oder weniger heftiges Abbremsen des Armschwunges erfordert. Beim Absprung zu allen Pferdsprüngen ist dagegen kein heftiges Blockieren des Armschwunges erforderlich. Hier genügt es, wenn die Arme dosiert abgebremst werden bis sie sich in einer für die erste Flugphase günstigen Hochhalte befinden.

3.1.6 Impulsübertragung bei den Kippen

Insbesondere bei der Oberarmkippe am Barren wird nach einer kräftigen Hüftstreckbewegung („Beinschlag“ oder „Kippschlag“, unzutreffender Weise auch „Kippstoß“; s. Kap. 6.1.2.4) der Schwung der Beine muskulär abgebremst, um das Aufstemmen der Arme von der Oberarmlage in den Stütz zu erleichtern (Abb. 3.11). Dies wird in der Regel mit dem Begriff der Impulsübertragung begründet.

Die Muskelaktionen zum Blockieren des Armschwunges erzeugen (in Bezug zum Gesamtkörper des Turners) innere mechanische Kräfte und können somit die „Bodenreaktionskräfte“ nicht erhöhen.

Durch das Blockieren des Armschwunges beim Absprung zum Salto wird der Impuls der Arme auf den restlichen Körper übertragen. Dabei erleiden die Arme einen Impulsverlust und der restliche Körper einen Impulsgewinn. Der Impuls des Gesamtkörpers bleibt durch diese Impuls“verlagerung“ unbeeinflusst. Somit kann ein Blockieren des Armschwunges die Absprungbewegung zum Salto vorwärts nicht unterstützen.

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Durch die Hüftstreckbewegung bekommen die Beine des Turners einen Impuls (pb1), der nach vorn oben gerichtet ist (Abb. 3.11, unten links). Da die zur Erzeugung des Impulses notwendigen Kräfte äußere mechanisch Kräfte sind, erfährt der Rumpf des Turners, verbunden mit dem Barren und der Erde, aufgrund der Impulserhaltung einen gleich großen, aber entgegengerichteten Impuls (-pb1).

Abb. 3.11: Impulsübertragung im Laufe der Oberarmkippe. oben: Gesamtablauf. unten links: Einzelphase direkt vor der Impulsübertragung. unten rechts: Einzelphase direkt nach der Impulsübertragung

pb1 pb1

pb2

püb

-

pG pG

F- F

-

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Sofern man den restlichen Körper des Turners als ruhend betrachtet (prest = 0), ist der Impuls (pG) des Gesamtkörpers mit dem Impuls der Beine (pb1) gleichzusetzen (pG = pb1 + prest = pb1). Die Muskelaktion zum „Blockieren“ der Hüftstreckbewegung erzeugt in Bezug auf den Turnerkörper innere mechanische Kräfte (F und – F). Das bedeutet: Innerhalb des Gesamtkörpers wird kein zusätzlicher Impuls geschaffen, sondern ein Teil des Impulses der Beine auf den restlichen Körper „verlagert“, so dass der Gesamtimpuls (pG) des Turners nicht verändert wird. Der Impuls(pb1) des Teilkörpers „Beine“ verkleinert sich um den Impuls – püb , wodurch der Teilkörper „Rumpf“ einen Impuls von gleicher Größe, aber entgegengesetzter Richtung (püb) erhält (Abb. 3.11, unten rechts).

Die Betrachtung dieses Geschehens als translatorische Bewegung ist zwangsläufig ungenau. Aus diesem Grund muss diese Thematik in Kap. 3.8 noch einmal aufgegriffen werden.

Die Impulsübertragung von den Beinen auf den Rumpf ist ein charakteristisches biomechanisches Merkmal der Kippen. Dabei muss das Blockieren der Hüftstreckung nicht ausschließlich durch Muskelaktionen erfolgen, sondern kann auch durch andere innere mechanische Wirkungen, z.B. durch Bänder- oder Knochenhemmung geschehen.

Dies soll jedoch erst in Kap. 3.8 erläutert werden. Hier muss allerdings jetzt schon ein Fall angesprochen werden, bei dem gelegentlich auch mit dem Begriff der Impulsübertragung argumentiert wird, bei dem eine Impulsübertragung, wie sie bei der Oberarmkippe abläuft, aber keinen mechanischen Nutzen bringen kann, nämlich bei der „Kippe“ am Reck (Abb. 3.12).

Würde während des Ablaufes der Kernphase der Kippe vorlings vorwärts eine ähnlich heftige Hüftstreckbewegung (pb1) wie bei der Oberarmkippe erfolgen und diese muskulär blockiert werden, würde die Impulsübertragung im Rumpf einen Impuls (püb) erzeugen, der der gewünschten Schwungrichtung entgegen gerichtet wäre. Dies ergäbe im Hinblick auf das Bewegungsziel keinen Sinn. Daraus lassen sich im Hinblick auf eine Systematisierung der Turnelemente schwerwiegende Konsequenzen ziehen:

Durch das muskuläre Blockieren der Hüftstreckbewegung (des „Kippstoßes“) wird ein Impuls von den Beinen auf den Rumpf übertragen. Die Folge ist, dass sich - nach der Impulsübertragung – die Beine langsamer, der Rumpf aber schneller nach vorn oben (in Richtung der Hüftstreckbewegung) bewegen. Dieser Impulsgewinn des Rumpfes reicht aus, diesen für den Turner spürbar zu „entlasten“, so dass es dem Turner möglich ist, die Arme von der Oberarmlage in den Stütz umzusetzen.

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Abb. 3.12: Kernphase der Kippe (des Felgaufschwunges vorlings vorwärts) am Reck. oben: Gesamtablauf der Kernphase. unten: Mögliche Wirkung einer Impulsübertragung

pb1

- pb2

püb

Die Hüftstreckbewegung bei der Kippe vorlings vorwärts am Reck besitzt – im Zusammenspiel mit weiteren Aktionen – eine andere biomechanische Wirkung, als die Hüftstreckbewegung bei der Oberarmkippe. Der Bewegungserfolg wird bei der Kippe am Reck nicht primär durch Impulsübertragung von den Beinen auf den Rumpf erreicht.

Nicht alle Übungen, bei denen gemäß einer rein morphologischen Betrachtung aus einer starken Hüftbeugestellung eine Hüftstreckung erfolgt, die im weiteren Verlauf der Bewegung wieder zum Stillstand kommt, unterliegen den gleichen biomechanischen Grundbedingungen und dürfen somit nicht ohne weiteres gleichen Bewegungsverwandtschaften (Strukturgruppen) zugewiesen werden.

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Die biomechanischen Grundlagen der Kippe vorlings vorwärts (des „Kippaufschwunges“ bzw. Felgaufschwunges vorlings vorwärts) werden in Kap. 3.10.4 behandelt. Die Einteilung der turnerischen Bewegungsabläufe in Strukturgruppen gemäß den biomechanischen Grundlagen erfolgt in Kap. 3.12.

Abb. 3.13: Translation = fortschreitende Bewegung (links) und Rotation = Drehbewegung (rechts). D: Drehachse

3.2 Definition der Drehbewegung

In der Physik wird die Drehbewegung Rotation genannt und von der fortschreitenden Bewegung, der Translation, abgegrenzt.

D

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Die Definition der Translation bedeutet, dass sich in einem bestimmten Zeitpunkt alle Massenpunkte des Körpers mit gleicher (Bahn-) Geschwindigkeit in die gleiche Richtung bewegen. Bei der Rotation bewegen sich alle Massenpunkte eines Körpers mit gleicher Winkelgeschwindigkeit.

In der Turnpraxis kommen jedoch reine Translationsbewegungen und reine Rotationen so gut wie überhaupt nicht vor. Immer überlagern sich translatorische und rotatorische Anteile bzw. es führt der Körper gleichzeitig eine Translation und eine Rotation aus wie Abb. 3.14 verdeutlichen soll.

Abb. 3.14: Zusammensetzung einer turnerischen Fertigkeit (Salto rückwärts gestreckt) aus einer Translation und einer Rotation

Die Drehbewegung eines Turnerkörpers erkennt der Physiker daran, dass einzelne Massenpunkte des Turnerkörpers Raumwege zurücklegen, die konzentrische Kreise um eine Achse (Drehachse) bilden (Abb. 3.13, rechts). Bei einer Translation dagegen überstreichen die einzelnen Körperpunkte Raumwege, die parallel und deckungsgleich sind (Abb. 3.13, links).

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In der Regel wird bei der Besprechung der bewegungstheoretischen Grundlagen jedoch eine der beiden Komponenten, entweder die Translation oder die Rotation, vernachlässigt. Wenn man beispielsweise den Salto rückwärts gestreckt am Boden zu den Drehbewegungen rechnet, akzeptiert man stillschweigend, dass er auch eine translatorische Komponente enthält, die jedoch in der gerade vorliegenden Betrachtung von geringerem Interesse ist. Die translatorische Komponente wird meistens nur dann angesprochen, wenn man - wie z.B. bei dem in Abb. 3.14 dargestellten Salto - die Flugbahn des Körperschwerpunktes betrachtet. Die Rotation kommt immer dann zur Sprache – und das ist der weitaus häufigste Fall in der Bewegungslehre des Turnens - , wenn die Drehung des Körpers um eine starre Achse (wie bei der Riesenfelge am Reck) oder um eine freie Achse (z.B. die quere Schwerpunktachse wie beim Salto rückwärts am Boden) analysiert wird.

Eine reine Translation eines Turners ist schon deshalb kaum möglich, weil sich die Gliedmaßen um Gelenke drehen. Die Flugphase nach dem Absprung in Abb. 3.13, links, kann nur deshalb als Translation gelten, weil sie eine idealisierte Bewegung darstellt, bei der alle Gelenke des Körpers unbewegt gehalten werden. Aus dem gleichen Grunde werden immer dann, wenn der Turner während einer Rotation Gelenke bewegt und somit Körperteile gegeneinander verschiebt, keine reinen Rotationen, sondern zusammengesetzte Bewegungen realisiert.

3.3 Drehwinkel, Drehgeschwindigkeit, Drehbeschleunigung

Der Drehwinkel (ϕ) ist, wie der Weg bei der Translations-Bewegung, eine gerichtete Größe und wird aus diesem Grunde auch als Vektorpfeil dargestellt. Allerdings muss dabei beachtet werden, dass die Vektoren aller Größen von Drehbewegungen in der Achse der Drehbewegung verlaufend dargestellt werden. Die Richtung des Vektorpfeiles wird durch die Rechte-Hand-Regel bestimmt (Abb. 3.16): Weisen die leicht gekrümmten Finger der rechten Hand in Drehrichtung, zeigt der abgespreizte Daumen in die Richtung, in die auch die Spitze des Vektorpfeiles zeigt. Dadurch ist gewährleistet, dass Drehbewegungen in entgegengesetzter Richtung auch durch entgegengesetzt gerichtete Pfeile dargestellt werden. Die Länge des Vektorpfeiles symbolisiert den Betrag. Dies verdeutlicht Abb. 3.16, auf der zwei Turner an einem Reck eine Riesenfelge rückwärts in entgegengesetzter Richtung turnen.

Dreht sich ein Turner bei einer Riesenfelge um die Reckstange als starre Drehachse (Abb. 3.15), überstreicht die Verbindungslinien eines ausgewählten Körperpunktes mit der Drehachse einen Winkel, den Drehwinkel (ϕ, phi), der in Grad (°) gemessen wird.

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Abb. 3.15: Drehwinkel (ϕ1 und ϕ2) in zwei aufeinander folgenden Zeitabschnitten der Riesenfelge vorlings rückwärts. D: Drehachse

Abb. 3.16: Verdeutlichung der Lage von Vektoren von Drehbewegungen in der Drehachse und deren Richtungsbestimmung durch die Rechte-Hand-Regel

ϕ1

ϕ2

D

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In Abb. 3.15 wird deutlich, dass der Turner im ersten Zeitabschnitt einen kleineren Drehwinkel überstreicht als im zweiten Zeitanschnitt. Das bedeutet, dass der Turner anfangs eine kleinere Drehgeschwindigkeit besitzt, dann eine größere.

Für die Bestimmung der momentanen Winkelgeschwindigkeit in einem Zeitpunkt ist das Differential ω = dϕ / dt zu bilden. Gleiches gilt für die Bestimmung der momentanen Winkelbeschleunigung: α = dω / dt. Die Bestimmung von Drehwinkel, Winkelgeschwindigkeit und Winkelbeschleunigung wird im Folgenden der besseren Verständlichkeit wegen auf die Grundeinheit des Winkelgrad bezogen. In der Mechanik ist die vorgeschriebene Einheit jedoch das Radiant, das sich aus der Gradangabe durch Multiplikation mit dem Faktor π/180 ergibt.

Die Änderung der Winkelgeschwindigkeit (in Abb. 3.15 die Vergrößerung der Winkelgeschwindigkeit vom ersten zum zweiten Zeitabschnitt) nennt man Drehbeschleunigung bzw. Winkelbeschleunigung.

3.4 Erzeugung einer Drehbewegung

Absprung aus dem ruhigen Stand: Die Voraussetzung zur Erzeugung einer Drehbewegung ist – wie schon bei der Translation (Kap. 3.1.2) besprochen wurde – die Wirkung einer Kraft. Diese darf jedoch, wenn sie eine Drehbewegung auslösen soll, das Drehzentrum (den Drehpunkt, die Drehachse) nicht treffen, sondern muss unter einem bestimmten Betrag an ihm vorbei zielen. Man sagt, sie muss eine exzentrische Kraft sein. Dies soll am Beispiel eines Absprunges vom Boden verdeutlicht werden: Trifft die Kraft,

Die durchschnittliche Drehgeschwindigkeit bzw. Winkelgeschwindigkeit (ω, omega) wird durch das Verhältnis des überstrichenen Drehwinkels (ϕ) zur dafür benötigten Zeit (t), gemessen in °/s (Grad pro Sekunde), bestimmt: ω = ϕ / t bzw. ω = (ϕ2 - ϕ1) / (t2 – t1)

Die durchschnittliche Winkelbeschleunigung (α, alpha) in einem Teilabschnitt einer Drehbewegung beschreibt die Änderung der Winkelgeschwindigkeit und wird bestimmt durch den Quotienten aus der Änderung der Winkelgeschwindigkeit und der dazu benötigten Zeit: α = (ω2 - ω1) / (t2 – t1), gemessen in °/s2 (Grad pro Sekunden zum Quadrat).

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die die Beinmuskulatur erzeugt, exakt auf den Körperschwerpunkt, der hier als Drehzentrum gilt, resultiert aus der Absprungaktion eine Beschleunigung des Körpers nach oben in Form etwa eines Strecksprunges ohne jede Drehung des Körpers (Abb. 3.17 a). Neigt sich dagegen der Turner beim Absprung etwas nach vorn und/oder winkelt er den Körper in der Hüfte leicht an, können die Voraussetzungen für eine exzentrische Kraft gegeben sein, indem der Kraftvektor hinter dem Körperschwerpunkt vorbei zielt, er also einen kleineren oder größeren senkrechten Abstand vom Drehzentrum, dem KSP, besitzt. Die Folge dieser exzentrischen Kraft ist, dass der Körper in eine Vorwärtsdrehung versetzt wird und der Turner unter Umständen einen Salto vorwärts ausführen kann (Abb. 3.17 b).

Exzentrischer Absprung oder Abstoß aus dem Anlauf: Jeder, der den Salto vorwärts geturnt hat, weiß, dass es leichter ist, diesen aus einem Anlauf auszuführen, als ihn aus dem Stand zu springen. Der Grund liegt darin, dass der Anlauf für die Erzeugung der Vorwärtsdrehung ausgenutzt werden kann: In dem Augenblick in dem der Turner die Füße nach dem Anlauf zum Absprung auf den Boden setzt, werden diese unter der Wirkung der Haftreibung abgebremst. Die dabei wirkende Kraft (Haftreibung, FR) ist dem Anlauf entgegen gerichtet, weist somit nicht auf das Drehzentrum, sondern besitzt einen recht großen senkrechten Abstand (d) von diesem und versetzt den Körper in eine Vorwärtsdrehung (Abb. 3.17 c). Da in diesem Fall sich die Absprungaktion ganz auf die Erzeugung einer großen Sprunghöhe konzentrieren kann, ist der Salto aus dem Anlauf leichter als der aus dem Stand.

Eine exzentrische Kraft, also eine Kraft, die nicht auf das Drehzentrum bzw. die Drehachse trifft, sondern um einen bestimmten senkrechten Abstand (d) an ihr vorbei zielt, kann den Körper in eine Drehung versetzen. Im Turnen sind vier Grundsituationen der Erzeugung einer Drehbewegung des Körpers zu berücksichtigen: 1. Exzentrische Absprung aus dem ruhigen Stand, 2. exzentrischer Absprung oder Abstoß aus dem Anlauf, 3. exzentrische Abstoß mit den Händen vom Gerät, 4. exzentrische Wirkung der Schwerkraft beim Hang oder Stütz am Gerät, 5. exzentrische Kräfte durch Helfergriffe.

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Abb. 3.17: Zentrische Kraft (a) und exzentrische Kräfte (b – d). F: Kraft. d: Senkrechter Abstand der Wirkungslinie der Kraft vom Körperschwerpunkt (KSP) als Drehzentrum

Den gleichen Effekt nutzt man z.B. auch bei den gestützten Überschlägen aus. Das Aufsetzen der Hände auf den Boden beim Handstandüberschlag vorwärts, verbunden mit einem Stemmen der gestreckten Arme gegen den Boden (Abb. 3.17 d), erzeugt eine Kraft (FR), die die vorhandene Vorwärtsdrehung des Körpers verstärken kann.

= KSP

d

FR

d

FR

d

F F

a) b) c) d)

Bei einem Absprung aus einem Anlauf oder bei einem Abstützen der Hände vom Boden nach einem Anlauf werden die Füße (bzw. Hände) zwangsläufig durch Reibungskraft abgebremst. Die Reibungskraft wirkt exzentrisch in Bezug zum Körperschwerpunkt entgegen der Anlaufrichtung und kann zur Erzeugung einer Drehbewegung im anschließenden Flug genutzt werden.

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Häufig wird für den Kraftarm eines Drehmomentes auch das Symbol „r“ verwendet. Da dieses Symbol hier aber in einem anderen Zusammenhang eingesetzt werden soll, muss am Symbol d festgehalten werden – dies insbesondere auch deshalb, weil die Größe r gelegentlich auch als Abstand der Drehachse vom Angriffspunkt der Kraft definiert wird und somit mit der Wirkungslinie der Kraft einen spitzen oder stumpfen Winkel (ϕ) bilden kann. In diesem Fall müsste die Formel für das Drehmoment die Form M = F *r * sin ϕ annehmen. In der Formel für das Drehmoment wird vielfach zuerst der Kraftarm (d oder r) und dann die Kraft (F) genannt, nämlich M = d* F bzw. M = r* F. , wobei jedoch bei der Maßeinheit stets die Nennung zuerst der Maßeinheit für die Kraft und dann der Maßeinheit für den Kraftarm, nämlich N*m, zu finden ist. Um hier Irritationen zu vermeiden, wird im Folgenden stets die Reihenfolge „Kraft mal Kraftarm“ beibehalten.

Turnpraktische Bedeutung: Die Größe der Drehbewegung (s. Kap. 3.6) hängt bei Drehungen, die durch einen Anlauf erzeugt werden, von der Geschwindigkeit des Anlaufes direkt vor dem Absprung ab. Turnanfänger neigen dazu, ihren Anlauf kurz vor dem Absprung abzubremsen oder in einen hohen Ansprung mit reduzierter Horizontalgeschwindigkeit auf die Absprungstelle übergehen zu lassen. Die Folge ist ein reduziertes bremsendes Drehmoment, so dass der folgende Salto vorwärts oder Handstandüberschlag vorwärts nicht bis zum Stand abgeschlossen werden kann (Abb. 3.18 und Abb. 3.19 b).

Damit beim Handstandüberschlag vorwärts die große Horizontalgeschwindigkeit auch eine entsprechend hohe Bremskraft erzeugt, müssen die Hände bei gestreckten Armen, die im Schultergelenk bis in die Hochhalte gebracht sind, kräftig nach vorn gegen den Boden stützen, als wolle man mit dieser Stützaktion den Vorwärtstrieb tatsächlich abbremsen (Abb. 3.19 a). Im anderen Fall würde die Trägheit den Körper nach vorn über den Stützpunkt hinaus treiben und keine ausreichende Bremskraft entstehen lassen (Abb. 3.19 b). Die Folge wäre ein Überschlag mit geringer Vorwärtsrotation.

Die drehende Wirkung einer exzentrischen Kraft steigt mit der Größe der Kraft und mit der Größe des Abstandes der Kraft (des Kraftarmes) von der Drehachse. Das Produkt aus Kraft (F) und Kraftarm (d) wird „Drehkraft“ und in der Physik offiziell Drehmoment (M) genannt. Da die Kraft in Newton (N) und der Kraftarm in Meter (m) gemessen wird, ist die Maßeinheit für das Drehmoment: Newton*Meter (Nm). M = F * d, gemessen in Nm

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Abb. 3.18: Fehlerhafter Anlauf zum Salto vorwärts mit Verminderung der Anlaufgeschwindigkeit (vh) kurz vor dem Absprung durch einen ungeeigneten hohen Ansprung. d: „Kraftarm“ der Bremskraft. Fb: Bremskraft.

Abb. 3.19: Handstandüberschlag vorwärts a) mit großer einleitender Horizontalgeschwindigkeit und somit mit großer Bremskraft in der Stützphase, b) mit geringer Horizontalgeschwindigkeit und geringer Bremskraft. d: „Kraftarm“ der Bremskraft. Fb: Bremskraft.

Fb Fb

d d

a) b)

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Das gleiche Prinzip gilt auch für Rückwärtsüberschläge und Rückwärtssalti. Hier müssen die einleitenden Radwenden oder Flick-Flacks für die notwendige Horizontalgeschwindigkeit sorgen, damit eine hohe horizontale Bremskraft zu einem entsprechend hohen Drehmoment (Fb*d) führt (Abb. 3.20).

Selbstverständlich wird die durch den Absprung geschaffene Drehbewegung nicht allein durch das hier beschriebene Prinzip der Bremskraft bestimmt. Auch die von den Muskeln erzeugte Absprungaktion kann eine exzentrische Kraft produzieren, die sich vektoriell zur Bremskraft addiert, wobei dann die Richtung der Resultierenden über die Größe und Richtung des Drehmomentes entscheidet.

Abb. 3.20: Radwende, gefolgt von Salto rückwärts als Beispiel der Erzeugung eines hohen Drehmomentes (Fb*d)

Der Vorteil der Nutzung einer hohen Horizontalgeschwindigkeit und deren Abbremsung zur Schaffung eines großen Drehmomentes, das die Auslösung der gewünschten Drehbewegung bewirkt, liegt darin, dass sich die muskuläre Absprungaktion (bzw. Abstützaktion) ganz auf die Schaffung einer großen Flughöhe konzentrieren kann. Allerdings muss ein Nachteil in Kauf genommen werden: Da beim Aufsetzen der Füße (oder Hände) auf den Boden die dadurch entstehende Bremskraft der allgemeine Bewegungsrichtung entgegen gerichtet ist, wird sie die Horizontalgeschwindigkeit des Körpers um einen gewissen Betrag verringern. Bei den hier besprochenen Beispielen wird das ohne Bedeutung sein. Bei Sprüngen jedoch, die sich außer durch Körperdrehung und Flughöhe zusätzlich noch durch eine entsprechende Flugweite auszeichnen sollen wie bei allen Sprüngen über den Sprungtisch, konkurrieren die Aufgaben der

Fb

d

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Erzeugung einer Drehbewegung und des Schaffens einer großen Flugweite miteinander. Da hier die Produktion der Flugweite durch den Absprung im Vordergrund steht, enthalten alle bisher bekannten Gerätsprünge in der ersten Flugphase, d.h., vom Absprung bis zum Stütz, allenfalls eine Vorwärtsdrehung (bzw. Rückwärtsdrehung bei Sprüngen mit Rondat) von nur rund 150° bis 170° um eine quere Achse.

Exzentrischer Abstoß vom Gerät: Neben den durch Absprünge geschaffenen Drehmomenten lässt sich auch durch einen exzentrischen Abstoß mit den Händen vom Gerät der Körper in Drehung versetzen, eine vorhandene Drehbewegung vergrößern oder verkleinern oder gar die Drehrichtung verändern.

Abb. 3.21: Erzeugung eines Drehmomentes durch Abstoß vom Gerät. links: Schwungstemme rückwärts und Vorgrätschen. rechts: Unterschwung und Salto vorwärts

Als Beispiel mögen die in Abb. 3.21 dargestellten turnerischen Elemente dienen. Das Abdrücken der Arme von den Holmen am Ende des Rückschwunges im Oberarmhang produziert ein so starkes rückwärts drehendes Drehmoment (Fa*d), dass die vom Oberarmschwung im Körper vorherrschende Vorwärtsrotation in eine Rückwärtsrotation umgeformt wird (Abb. 3.21, links). In ähnlicher Weise wird die vom Unterschwung stammende Rückwärtsdrehung des Körpers durch das Abdrücken vom Holm des Stufenbarrens in eine Vorwärtsdrehung überführt, so dass das Anschließen eines Salto vorwärts möglich ist (Abb. 3.21, rechts). Diese Form der

Fa

Fa d d

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Erzeugung von Drehbewegungen setzt eine heftige Beinschlagbewegung („Beinschnepper“) voraus, die in einem späteren Kapitel (Kap. 3.9) ausführlicher besprochen werden muss.

Abb. 3.22: Erzeugung eines Drehmomentes durch Abstoß vom Gerät. links: Stützkehre am Barren. mitte: Kreishockwende am Barren. rechts: Kreisflanken am Pauschenpferd. A: angenäherte Lage der Drehachse. F: Abstoßkraft. d: Kraftarm. Durch die perspektivische Verzerrung bei der räumlichen Darstellung kann der Winkel zwischen Kraft und Kraftarm kleiner oder größer als 90° erscheinen.

Durch einarmigen Abstoß können Drehmomente bezüglich der Körperlängsachse wie bei der Stützkehre am Barren (Abb. 3.22 links) geschaffen werden. Bei der Kreishockwende am Barren (Abb. 3.22, mitte) oder beim Kreisflanken am Pauschenpferd (Abb. 3.22, rechts) liegt eine eher aufrecht stehende Drehachse (A) vor.

Exzentrische Wirkung der Schwerkraft: Neben den durch Muskelaktionen bewirkten Drehmomenten wird im Schwungturnen vielfältig die Schwerkraft genutzt, um den Körper in Drehung zu versetzen. Da die Schwerkraft als im Körperschwerpunkt angreifend verstanden werden kann, muss in diesen Fällen das Drehzentrum in einer (meist) starren Achse außerhalb des Körperschwerpunktes liegen, da sonst die Schwerkraft keine exzentrische Wirkung hätte.

F

F F d A

A A

d

d

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Die Schwerkraft greift natürlich an allen Massenpunkten des Körpers an bzw. übt auf alle Massenpunkte die gleiche Beschleunigung in Richtung Erdmittelpunkt aus. Würde das Drehzentrum im Körperschwerpunkt liegen, würden sich alle rechtsdrehenden und alle linksdrehenden Schwerkraftmomente zu Null addieren. Nur wenn sich die Drehachse außerhalb des Schwerpunktes befindet, bleibt auf derjenigen Seite der Senkrechten durch den Drehpunkt, auf der sich der Körperschwerpunkt befindet, ein restliches, rechts- oder linksdrehendes Schwerkraftmoment (Abb. 3.23).

Nimmt man an, dass die in Abb. 3.23 dargestellten Sportler gleiches Gewicht (besser: gleiche Masse) besitzen, ist das Schwerkraftmoment (FG*d) im Beispiel e) eindeutig am größten. Aber selbst im Beispiel a) genügt der geringe Abstand der Wirkungslinie der Schwerkraft von der Drehachse, um den Turner am Ende des Bauchwellaufschwunges in den Stütz zu drehen. Durch hohes Stützen aus der Schulter heraus muss man zu Beginn des Umschwunges vorlings vorwärts (b) den Schwerpunkt möglichst weit von der Senkrechten durch die Drehachse entfernen, damit ein großes Drehmoment dem Körper die notwendige Vorwärtsdrehung besorgt. Im ruhigen Winkelsturzhang (d) befindet sich der Schwerpunkt senkrecht unter der Drehachse, so dass kein Drehmoment wirken kann. Hier liegt ein stabiles Gleichgewicht vor (s. Kap. 3.1.3).

Abb. 3.23: Beispiele für Drehmomente der Schwerkraft.

FG

d

= Drehachse = KSP

a) b) c) d) e)

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Der Bauchwellaufschwung, eine Übung für Turnanfänger; wird unglücklicherweise auch Hüftaufschwung genannt. Dies erweckt bei manchen Übenden die Vorstellung, die Hüfte (etwa die Leistenbeuge) müsse an die Reckstange geführt werden. In Bewegung umgesetzt würde dieses Verhalten aber noch kein Schwerkraftmoment produzieren, das den Körper in den Stütz drehen könnte, weil sich der Körperschwerpunkt in der Senkrechten durch die Reckstange oder sogar noch davor befindet. Erst wenn der Bauch (fast in Höhe des Bauchnabels) die Stange berührt, liegt der Körperschwerpunkt um einen gewissen Betrag hinter der Senkrechten durch den Drehpunkt (= Reckstange), und ein aufrichtendes Drehmoment kann entstehen (s. Abb. 3.23a). Diese Forderung verliert natürlich bei Geübteren an Gewicht, die gelernt haben, die nötige Drehbewegung durch einen kräftigen Anschwung zu garantieren.

Aus den Beispielen resultiert:

Beim Balancieren kommt dem Schwerkraftmoment ebenfalls eine Bedeutung zu. In Kap. 3.1.3 wurde festgestellt, dass ein Körper dann standfest ist, wenn sich der Schwerpunkt senkrecht über der Standfläche befindet (Abb. 3.3 a-b). Ist das nicht der Fall, weist die Schwerkraft auf einen Punkt außerhalb der Standfläche, bildet sie zusammen mit dem Abstand dieses Punktes vom Rand der Standfläche ein Drehmoment, das den Körper zu dieser Seite umkippen lässt. Beim Balancieren auf dem Schwebebalken ist es von Bedeutung, diesen Zustand möglichst früh zu erkennen, d.h., zu einem Zeitpunkt, zu dem der Kraftarm dieses Schwerkraftmomentes noch sehr klein ist, um durch Ausgleichsmaßnahmen die Standfestigkeit wieder herzustellen (s. Kap. 3.7).

Exzentrische Kräfte durch Helfergriffe: Die Aufgabe eines Helfers beim Ausführen turnerischer Fertigkeiten kann unter anderem darin liegen, beabsichtigte Drehbewegungen zu unterstützen oder Drehbewegungen zu verzögern oder abzubremsen.

Da die Schwerkraft (FG) für jeden Turner eine individuelle konstante Größe darstellt, kann ein großes Drehmoment der Schwerkraft (FG*d) nur dadurch geschaffen werden, dass die Masse des Körpers, bzw. der Körperschwerpunkt, möglichst weit (bzw. so weit, wie es die spezifische Situation der Übung zulässt) von der Senkrechten durch die Drehachse entfernt und somit der Kraftarm (d) möglichst groß gestaltet wird.

Soll ein Helfergriff eine vom Übenden beabsichtigte Drehbewegung zweckmäßig unterstützen, muss der Griff möglichst weit (bzw. so weit, wie es die Situation erlaubt) von der Drehachse entfernt ansetzen, um einen möglichst großen Kraftarm für die exzentrische Kraft zu erreichen (Abb. 3.24).

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Abb. 3.24: Erzeugung von Drehmomenten durch Helfergriffe. links: Kreishockwende am Barren. mitte: Handstandüberschlag vorwärts. rechts: Endphase der Oberarmkippe am Barren. A: angenäherte Lage der Drehachse, in der mittleren und rechten Abbildung sind die Drehachsen als schwarze Punkte angedeutet. F: Abstoßkraft. d: Kraftarm.

Diese Regel für die Anwendung von Helfergriffen gilt hier nur aus biomechanischer Sicht zum vorliegenden Thema. Sie kann mit anderen Zielen und Aufgaben der Bewegungsunterstützung konkurrieren. Dies wird in Kap. 7.3.4.4 ausführlich dargestellt.

Beim Ansetzen von Helfergriffen ist zu berücksichtigen, dass die Kraft, die der Helfer aufbringt, unter Umständen in Bezug auf mehrere Achsen gleichzeitig exzentrisch wirkt. So beeinflusst das Abbremsen der Kippbewegung an den Waden bei der Oberarmkippe (Abb. 3.24) sowohl das Kniegelenk, als auch das Hüftgelenk und das Schultergelenk. Der Einfluss auf das Kniegelenk wird durch die natürliche Bänderblockade in der Kniestreckung neutralisiert, so dass die Kraft (Fr) des Helfers beugend auf das Hüftgelenk wirken würde. Da aber die andere Hand des Helfers den Rücken des Übenden unterstützt (Fl), wird diese Wirkung gemildert. Beide Griffe zusammen verzögern das durch den drehenden Einfluss der Schwerkraft im Schultergelenk ausgelöste Abwärtsdrehen des Körpers.

F

F

Fl d

d

Fr A

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3.5 Drehmasse, Trägheitsmoment

Wie bei der Translation ein Körper einer Kraft seine Masse als Widerstand entgegensetzt (s. Kap. 3.1.2), widersetzt sich ein Körper auch der Wirkung eines Drehmomentes. Dieser Widerstand wird „Drehmasse“ oder Trägheitsmoment (I) genannt.

Abb. 3.25: Trägheitsmoment punktförmiger Massen. A: Drehachse. m: Masse. r: Abstand der Masse von der Drehachse

Der Widerstand eines Körpers gegen ein Drehmoment, das Trägheitsmoment (I), wird einerseits durch die Größe der Masse (m), andererseits durch das Quadrat des Abstandes (r) der Masse von der Drehachse bestimmt: I = m * r², gemessen in kg * m²

m

r

AA

ra, rb

rc

rd

mb

ma

mc

md

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Die Trägheitsmomente der in Abb. 3.25 dargestellten „Reckturner“ mit punktförmigen Massen sind unterschiedlich groß, obwohl je zwei Turner gleiche Massen (ma = md, mb = mc) und zwei Turner gleiche Abstände von der Drehachse (ra = rb) besitzen. In die richtige Reihenfolge gebracht ergäben sich folgende Trägheitsmomente: Ic > Ib > Ia > Id .

Da der menschliche Körper eine ausgedehnte Masse mit vielen einzelnen Massenteilen darstellt, ist es schwer, das Trägheitsmoment z.B. eines Turners im Langhang zu bestimmen. Hinzu kommt, dass sich die Körperhaltung (bzw. die Körperform) innerhalb einer turnerischen Fertigkeit ständig ändert. Damit verändert sich zwangsläufig der Abstand der einzelnen Massenpunkte von der Drehachse und somit auch der Drehwiderstand.

Es bestehen nur zwei wesentliche Möglichkeiten, das Trägheitsmoment eines Turners in einer bestimmten Körperhaltung zu bestimmen. Entweder man reduziert die einzelnen Körperabschnitte auf einfache geometrische Körper ( Walzen, Kegelstümpfe u.a.) mit bekanntem Trägheitsmoment bzgl. definierter Achsen und berechnet daraus (u.a. mit Hilfe des STEINERschen Satzes) das gesamte Trägheitsmoment (s. Abb. 3.26). Oder man bestimmt das Trägheitsmoment experimentell.

Abb. 3.26: Beispiel von Trägheitsmomenten in unterschiedlichen Körperstellungen und bezüglich unterschiedlichen Drehachsen einer Person von 1,6m Körpergröße und 50kg Körpergewicht. A = Drehachse. KSP = Körperschwerpunkt.

A=KSP

A A

A=KSP A

A

I ≈ 1 kg m²

I ≈ 3,5 kg m²

I ≈ 85 kg m² I ≈ 32 kg m²

I ≈ 9 kg m²

I ≈ 7 kg m²

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Abb. 3.26 zeigt die Trägheitsmomente des menschlichen Körpers in verschiedenen Körperhaltungen und bzgl. unterschiedlicher Drehachsen. Bei der Berechnung ist eine Körpergröße von 1,6 m und ein Körpergewicht von 50 kg zugrunde gelegt worden. Die angegebenen Werte dürfen nur als Schätzgrößen gewertet werden. Sie ändern sich vor allem bei einer Veränderung des Abstandes der Körpersegmente von der Drehachse. Aufschlussreich sind die Unterschiede in den Beträgen der Trägheitsmomente in den diversen Körperpositionen. Streckt man aus dem aufrechten Stand die Arme und ein Bein seitlich waagerecht ab, nimmt das Trägheitsmoment in Bezug zur Körperlängsachse den 7-fachen Wert an. In gestreckter Körperhaltung mit seitlich angelegten Armen ist das Trägheitsmoment in Bezug zur queren Schwerpunktachse 9-mal so groß wie das Trägheitsmoment in Bezug zur Längsachse. Hockt man den Körper aus der gestreckten Körperposition zusammen, verkleinert sich das Trägheitsmoment in Bezug zur queren Schwerpunktachse fast auf ein Drittel. Im Langhang an der Reckstange als Drehachse ergibt sich offensichtlich das größte Trägheitsmoment des menschlichen Körpers. Es beträgt fast das 85-Fache des Trägheitsmomentes des gestreckten Körpers in Bezug zur Längsachse.

Körper mit kleinem Trägheitsmoment lassen sich durch ein Drehmoment leichter in eine Drehbewegung versetzen, als Körper mit großem Trägheitsmoment. Es ergibt sich die Beziehung:

M = I * α (Drehmoment gleich Trägheitsmoment mal Winkelbeschleunigung)

Diese Gleichung entspricht der Gleichung F = m * a bei der Translation.

Spätestens jetzt wird deutlich, dass – in Ergänzung von Kap. 3.4 - das Drehmoment (M) wie auch der Drehwinkel, die Winkelgeschwindigkeit und die Winkelbeschleunigung gerichtete (vektorielle) Größen sind. Die Richtung wird durch die Richtung des Drehwinkels bestimmt, den der Körper während der Beschleunigung überstreicht. Die Richtung des Drehmomentvektors erfolgt ebenfalls durch die Rechte-Hand-Regel (s. Kap. 3.3).

Das Trägheitsmoment des Turners wird durch den Abstand der einzelnen Körperabschnitte von der Drehachse bestimmt. Im Laufe vieler turnerischer Fertigkeiten ist es von Bedeutung zu entscheiden, durch welche Körperaktionen das Trägheitsmoment am wirkungsvollsten verändert (in den meisten Fällen verkleinert) werden kann.

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3.6 Drehkraftstoß, Drehimpuls, Drehimpulserhaltung

Wirkt ein Drehmoment über eine bestimmte Zeit auf einen Körper, wird dieser aus der Ruhe in eine Drehbewegung versetzt, oder eine vorhandene Drehbewegung wird um einen bestimmten Betrag verändert, d.h., vergrößert, verkleinert oder in ihrer Drehrichtung geändert. Dabei entspricht der „Drehmomentstoß“ (M * t) der Größe der durch ihn erzeugten Drehbewegung, dem Drehimpuls (L = I * ω).

Die Begriffe „Drehkraftstoß“, „Drehstoß“ oder „Drehabstoß“ werden in der Physik selten benutzt. Statt dessen wird in der Regel das Synonym „Drehimpuls“ sowohl für die Beziehung M * t als auch für das Produkt I * ω verwendet. Aus diesem Grunde wird auch im folgenden hauptsächlich der Begriff des Drehimpulses benutzt.

Der Drehimpuls ist eine gerichtete (vektorielle) Größe. Der Vektorpfeil wird – gemäß Übereinkunft - in die Drehachse verlegt. Die Richtung des Vektors wird durch die Recht-Hand-Regel (Kap. 3.3 und Abb. 3.16 und Abb. 3.27) bestimmt.

Das Produkt aus dem Drehmoment (M) und der Wirkungszeit (t) des Drehmomentes heißt Drehkraftstoß (Drehmomentstoß, Drehstoß). Dieser ist direkt dafür verantwortlich, mit welcher Winkelgeschwindigkeit (Drehgeschwindigkeit) sich ein Körper mit einem bestimmten Trägheitsmoment (der Drehmasse, I) um eine definierte Achse dreht. Das Produkt aus Trägheitsmoment (I) und Winkelgeschwindigkeit(ω) wird Drehimpuls (L) genannt. Der Drehimpuls definiert die Größe der Drehbewegung nach Betrag und Richtung. Es gilt die Beziehung: Drehkraftstoß = Drehimpuls, M * t = I * ω = L, gemessen in kg*m²*°/s.

Aufgelöst nach M und I geht die Formel in folgende Form über:

F * d * t = m * r² * ω = L

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Abb. 3.27: Unterschiedlich große Drehimpulse (L) bei angenommener gleicher Winkelgeschwindigkeit aber unterschiedlich großem Trägheitsmoment (I)

Besitzen zwei oder mehrere Körper die gleiche Winkelgeschwindigkeit um die gleiche Drehachse, haben sie aber unterschiedliche Trägheitsmomente, besitzen sie zwangsläufig auch unterschiedlich große Drehimpulse (Abb. 3.27).Da das Trägheitsgesetz (s. Kap. 3.1.2) auch für Drehbewegungen gilt, bleibt der Drehimpuls eines Körpers erhalten, solange er nicht mit einem zweiten Körper in Kontakt kommt, der auf ihn eine exzentrische Kraft wirken lässt. Man folgert:

Ia

Ib Ic

Id

La

Lb Lc

Ld

Gemäß dem Drehimpulserhaltungssatz – kurz auch: Drehimpulssatz - bleibt in einem System, auf das keine äußeren Drehmomente wirken, also in einem abgeschlossenen (kräftefreien) System, die Summe aller Drehimpulse konstant (unveränderlich).

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Abb. 3.28: Erhaltung des Drehimpulses (L) beim „Yurchenko“ (Radwende und Überschlag rückwärts und Salto rückwärts)

Beim Sprung kann – wenn man vom Einfluss der Schwerkraft absieht (s. Abb. 3.7) – der Körper während des freien Fluges als kräftefrei angesehen werden. Aus diesem Grunde bleibt der Drehimpuls (L), der durch die Drehmomente der einleitenden Radwende gewonnen wurde, in der ersten Flugphase des „Yurchenko“ (Abb. 3.28) erhalten, bis die Füße auf die Absprungstelle setzen. Nimmt man an, dass die Absprungaktion eine zentrisch wirkende Kraft erzeugt, bleibt der Drehimpuls (L) auch in der zweiten Flugphase mit gleichem Betrag und gleicher Richtung bestehen. Dasselbe gilt für die dritte Flugphase, sofern angenommen wird, dass das Stützen auf dem Pferd (Sprungtisch) zentrisch wirkt. Allerdings muss schon hier angemerkt werden, dass die Körperbewegung beim Stützen im Laufe dieser Übung durchaus in der Lage ist, ein Drehmoment zur Beeinflussung des Drehimpulses zu bewirken, und zwar wird der Drehimpuls hier vergrößert. Die biomechanische Wirkungsweise wird jedoch erst in Kap. 3.9 besprochen.

Erst mit der Landung müssen Muskelaktionen ein Drehmoment schaffen, das den vorhandenen Drehimpuls „vernichtet“ (d.h., an den Boden abgibt), damit der Turner zum sichern Stand kommt.

1. Flugphase

2. Flugphase

3. Flugphase

F

d

Absprung Aufstützen

L

L

L F

d

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Als Gegenbeispiel dazu kann die Hocke über das quer gestellte Pferd (Abb. 3.29) dienen. Hier wird zwar durch den Anlauf und den Absprung eine Drehimpuls mit Vorwärtsdrehsinn erzeugt, der den gestreckte Körper in der ersten Flugphase um rund 100° um die quere Schwerpunktachse rotieren lässt, mit der Stützaktion muss dieser Vorwärtsdrehimpuls (Lv) aber nicht nur „vernichtet“, sondern sogar ein Drehimpuls mit Rückwärtsdrehsinn (Lr) geschaffen werden, der den Körper in der zweiten Flugphase wieder um rund 100° rückwärts rotieren lässt, damit eine aufgerichtete Körperhaltung eine sichere Landung gewährleistet.

In diesem Beispiel wird davon ausgegangen, dass Rotationen nur durch die Schaffung oder Änderung von Drehimpulsen durch „Drehabstoß“ von der Umwelt (Boden, Gerät) möglich sind. Es wird noch zu zeigen sein, dass im kräftefreien System auch Drehungen möglich sind, ohne dass der vorhandene Drehimpuls geändert wird. Diese „Scheinrotationen“ werden in Kap. 3.7 behandelt.

Abb. 3.29: Hocke über das quer gestellte Pferd als Beispiel zur Schaffung unterschiedlicher Drehimpulse durch Drehabstoß

F d

F

d Lv

Lr

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Die Körperstreckung in der zweiten Flugphase nach dem Abstützen bei der Hocke über das Pferd (Abb. 3.29) kann den Gesamtdrehimpuls des Körpers nicht beeinflussen. Zwar führen einzelne Körperabschnitte Drehbewegungen um Gelenkachsen aus, aber zu jedem Einzeldrehimpuls eines Körperabschnittes (Li) entsteht zwangsläufig im benachbarten Körperabschnitt oder im ganzen restlichen Körper ein gleich großer aber entgegen gerichteter Drehimpuls (- Li). Beide addieren sich zu Null.

Dies soll an zwei Beispielen verdeutlicht werden:

Das erste Beispiel (Abb. 3.30) stellt eine fiktive Situation aus dem Turnunterricht dar. Der Turnlehrer – bereit zur Hilfestellung – beobachtet einen Schüler bei der Hocke über den Kasten und bemerkt in dem Augenblick, in dem der Schüler auf dem Kasten abstützt, dass dieser eine zu große Vorlage besitzt und bei der Landung auf die Nase zu fallen droht (Abb. 3.30a). Der Schüler selbst – in Erinnerung an frühere schlechte Erfahrungen - spürt dies auch und plant (eher unwillkürlich als wohl überlegt) Aktionen, um den drohenden Sturz abzuwenden (Abb. 3.30b). Aber bevor der Schüler diese Verhaltensabsicht in die Tat umsetzen kann, kommt der Lehrer wieder ins Spiel und ruft dem Schüler eine Bewegungsanweisung zu (Abb. 3.30c), in der Hoffnung, seine Befolgung würde den Schüler vor größerem Schaden bewahren. Letzterer - schon im Absturz in Richtung Boden befindlich – reagiert augenblicklich in ungetrübtem Vertrauen auf die Unfehlbarkeit der Autorität (Abb. 3.30c) und muss die Konsequenzen ertragen (Abb. 3.30d).

Es sei vorsorglich darauf hingewiesen, dass diese fiktive Situation Reaktionszeiten voraussetzt, die in der Realität nicht möglich sind; denn zum Wahrnehmen und Verarbeiten der Anweisung des Lehrers sowie zur Planung eines Bewegungsentwurfes als Reaktion auf die Anweisung und letztlich zur Realisation einer Korrekturbewegung werden deutlich längere Zeitspannen benötigt, als dem Schüler hier zur Verfügung stehen (s. Kap. 5.4 und Kap. 6.1).

Während man durch Abstoßaktionen vom Boden oder vom Gerät Drehimpuse schaffen oder verkleinern oder vergrößern kann, ist der Drehimpuls des Körpers in den Phasen des freien Fluges durch Körperaktionen nicht veränderbar, da der Körper in Bezug auf Drehbewegungen um Körperachsen (Schwerpunktachsen) als kräftefrei gelten muss.

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Abb. 3.30: Beispiel aus der Unterrichtspraxis zur Drehimpulserhaltung

a)

b)

c)

d)

„Kopf hoch!“

zu starke Vorlage

L

- L

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Was mag hier geschehen sein? Die Bewegungsanweisung des Turnlehrers war gut gemeint, indem erwartete wurde, dass das Hochreißen des Kopfes dem Körper eine Rückwärtsdrehung im Sinne eines Aufrichtens vermitteln würde. Da sich aber der Schüler schon frei in der Luft fliegend befand und deshalb ein kräftefreies System darstellte, hatte das schnelle Hochnehmen des Kopfes in den Nacken – verbunden mit einem reflektorischen Überstrecken der Brustwirbelsäule (s. Kap. 5.3) – keinen Einfluss auf den vorherrschenden Gesamtdrehimpuls des Körpers. Statt dessen musste zwangsläufig zu dem in Kopf und Oberkörper entstandenen Drehimpuls mit Rückwärts-Drehsinn (L) im restlichen Körper ein gleich großer Drehimpuls mit Vorwärts-Drehsinn (- L) auftreten. Beide Drehimpulse (L und –L) addierten sich zu Null, d.h., ließen den Gesamtdrehimpuls unbeeinflusst. Die Folge war, dass die Beine - anstatt zum Abfangen des Körpers in Richtung Boden geführt zu werden - sich noch weiter vom Boden weg drehten. in diesem Fall hätte das, was sich der Schüler selbst vor der Bewegungsanweisung des Lehrers vorgenommen hatte (Abb. 3.30b), sicher eher zum Erfolg geführt, nämlich ein noch weiteres Herunterdrehen des Kopfes und damit ein entsprechendes Gegendrehen der Beine nach unten in Richtung Boden. Ob das den Sturz völlig vermieden hätte, muss dahin gestellt bleiben. Vielleicht hätte aber das heftige Armkreisen vorwärts, das zusätzlich Inhalt der Verhaltensabsicht des Schülers war (Abb. 3.30b), noch etwas helfen können. Dies wird aber erst in Kap. 3.7 entschieden.

Das zweite Beispiel stellt einen wesentlich konkreteren Fall aus der Turnpraxis dar:

Gelegentlich meinen Turner oder Turntrainer, die etwas über die Steuerungsfunktion des Kopfes auf die Körperhaltung und -bewegung gehört haben, sie könnten nach einem Absprung vom Boden oder nach einem Abstoß vom Gerät zu einem Salto oder freien Überschlag durch eine Bewegung des Kopfes in Drehrichtung die gewünschte Rückwärts- oder Vorwärtsrotation auslösen oder vergrößern. Aus dem oben aufgeführten Beispiel sollte klar geworden sein, dass dies nicht möglich ist; denn der Körper stellt ohne Kontakt zum Boden oder zum Gerät ein kräftefreies System dar, dessen Drehimpuls konstant, also unveränderbar, erhalten bleibt. Hat der Turner durch den Absprung vom Boden zum Salto rückwärts (Abb. 3.31 links) einen Drehimpuls im Gesamtkörper (LG) gewonnen, kann er diesen in der Flugphase nicht verändern. Nimmt er nach dem Absprung den Kopf in den Nacken und überstreckt er dabei die Brustwirbelsäule, ist die Erzeugung des zusätzlichen Drehimpulses (Lk) in diesem Körperabschnitt zwangsläufig mit dem Entstehen eines gleich großen, aber entgegen gerichteten Drehimpulses (-Lk) im restlichen Körper verbunden. Der Gesamtdrehimpuls (LG) bleibt dadurch unbeeinflusst, d.h. in der ursprünglichen Größe und Richtung erhalten. Statt dessen bedeutet die durch das Rücknehmen des Kopfes bedingte Körperhaltung einen ungünstigen Einfluss auf die Drehgeschwindigkeit, wie im Folgenden noch zu zeigen ist.

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Abb. 3.31: Drehimpulse beim Salto rückwärts (links) und Trägheitsmomente beim Salto vorwärts (rechts). I1: Trägheitsmoment bzgl der queren

Schwerpunktachse bei gestrecktem Körper. I2: Trägheitsmoment bzgl. der queren Schwerpunktachse bei zusammengehocktem Körper. LG: Gesamtdrehimpuls. Lk, -Lk: Teildrehimpulse

Lk

- Lk

I 1 ≈ 14 kg*m²

I 2 ≈ 3,5 kg*m²

LG

Bei allen freien Flügen nach einem Absprung vom Boden oder nach Abstoß vom Gerät lässt sich durch eine Bewegung des Kopfes in die gewünschte Drehrichtung kein Drehimpuls erzeugen, noch lässt sich der vorhandene Drehimpuls vergrößern oder verkleinern. Das gilt generell - für Vorwärtsdrehungen und Rückwärtsdrehungen (um die Querachse) genauso wie für Schraubendrehungen um die Längsachse.

Hat der Turner durch den Absprung vom Boden keinen Drehimpuls gewonnen, kann er durch das Rücknehmen des Kopfes aus den gleichen Gründen auch keinen Drehimpuls gewinnen.

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Trotzdem lässt sich bei konstantem Drehimpuls die Drehgeschwindigkeit verändern!

Das wird bei Betrachtung der Formel für den Drehimpuls deutlich: L= I * ω bzw. L= m * r² * ω oder umgestellt nach ω: ω = L(konst) / (m *r² ).

Das bedeutet, dass bei konstantem Drehimpuls (Lkonst) sich die Drehgeschwindigkeit (ω) umgekehrt proportional wie das Trägheitsmoment verhält. Wird das Trägheitsmoment verkleinert, indem der Abstand der Körpermasse von der Drehachse verkleinert wird, vergrößert sich die Winkelgeschwindigkeit – und umgekehrt. Hockt man nach dem Anlauf und Absprung zum Salto vorwärts den Körper zusammen (Abb. 3.31 rechts), verkleinert man das Trägheitsmoment auf ¼ und vergrößert dadurch die Winkelgeschwindigkeit auf das Vierfache. Es wird deutlich: je besser man den Körper in der Flugphase zum Salto vorwärts zusammenhockt, desto besser kann man die Winkelgeschwindigkeit steigern. Dieses gute Zusammenhocken oder „Einrollen“ des Körpers lässt sich durch ein Beugen der Halswirbelsäule („Kinn auf die Brust nehmen“) einleiten und intensivieren. Wohl gemerkt: Nur das Einrollen des Körpers wird – beim Salto vorwärts - durch das Führen des Kopfes in Drehrichtung ausgelöst (s. dazu Kap. 5.3), nicht aber die Drehbewegung (der Drehimpuls).

Möglicher Weise hat diese Beobachtung beim Salto vorwärts (Kopf drehen in Drehrichtung vergrößert die Drehgeschwindigkeit) zu der irrigen Meinung geführt, die Kopfdrehung würde den Drehimpuls vergrößern oder gar „die Drehbewegung einleiten“ und Gleiches müsse auch beim Salto rückwärts geschehen. Das in Drehrichtung Drehen („in den Nacken nehmen“) des Kopfes beim Salto rückwärts zieht jedoch reflektorisch (Kap. 5.3) eine schlechte Hockstellung des Körpers nach sich. Das will heißen: Im Gegensatz zum Salto vorwärts wird das Trägheitsmoment des Körpers nur wenig verkleinert und somit die Drehgeschwindigkeit nur unzureichend vergrößert (s. Abb. 3.31 links, dritte Figur von links). Besser wäre es hier, den Kopf „auf die Brust“ zu nehmen, um das Anhocken zu intensivieren und somit die Drehgeschwindigkeit effektiv zu vergrößern (s. Abb. 3.31 links, vierte Figur von links). Das bedeutet zwar eine Bewegung des Kopfes gegen die geplante Drehrichtung, dies hat – da der Körper im Flug ein kräftefreies System darstellt – keinerlei Einfluss auf den bestehenden Drehimpuls (über die Bedeutung der visuellen Orientierung bei Rückwärtsdrehungen des Körpers s. Kap. 5.3).

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Anders jedoch beim gestreckten Salto rückwärts! Hier kann das Rücknehmen des Kopfes eine Überstreckung des gesamten Körpers nach sich ziehen (Abb. 32a). Dabei wird das Trägheitsmoment gegenüber einem völlig gerade gestreckten Körper von etwa 14 kg*m² auf etwa 8 kg*m² verkleinert. Dies bedeutet kaum eine Halbierung des Trägheitsmomentes, genügt aber, um eine entsprechende Vergrößerung der Drehgeschwindigkeit bei unbeeinflusstem Drehimpuls zu bewirken. Da man somit beim Salto rückwärts gestreckt in der Flugphase wesentlich langsamer dreht als beim Salto rückwärts gehockt, benötigt man bei ersterem mehr Zeit, um die verlangte Umdrehung um die quere Achse von fast 360° zu vollenden, was eine größere Sprunghöhe voraussetzt.

Damit dieser Effekt zur Wirkung kommen kann, ist das Vorhandensein eines Drehimpulses im Körper unbedingte Voraussetzung. Hat der Absprung oder Abstoß vom Gerät keinen oder einen zu geringem Drehimpuls geschaffen, kann auch das extremste Anhocken des Körpers nicht zu einer Drehbewegung führen oder keine nennenswerte Steigerung derselben bewirken. Denn der Verkleinerung des Trägheitsmomentes bezüglich der Schwerpunktachsen des Menschen sind anatomische Grenzen gesetzt.

Abb. 3.32 zeigt einige Turnübungen, bei denen im freien Flug die Winkelgeschwindigkeit durch Verkleinerung des Trägheitsmomentes vergrößert wird. Weitere Beispiele sind in Abb. 3.28 und Abb. 3.31 dargestellt. Der Betrag, um den die Winkelgeschwindigkeit im Einzelnen gesteigert werden kann, sind aus den Zahlenangaben der Trägheitsmomente von Abb. 3.26, Abb. 3.31 und Abb. 3.32 zu entnehmen. Es gilt: die Winkelgeschwindigkeit steigt in dem gleichen Verhältnis, in dem das Trägheitsmoment verkleinert wird. Zum Vergleich zeigt Abb. 3.32 auch eine einfache Rolle vorwärts am Boden, bei der das gleiche Prinzip zur Anwendung kommt, auch wenn hier noch andere Effekte (z.B. Abrunden des Körpers zur Bildung eines besseren Rollkörpers) zu berücksichtigen sind.

Bei allen Drehungen um eine Achse im freien Flug lässt sich die Winkelgeschwindigkeit durch Verkleinerung des Trägheitsmomentes, d.h., durch Annähern der Körpermasse an die Drehachse, die hier stets durch den Schwerpunkt verläuft, vergrößern. Dadurch kann – je nach Körperhaltung und Drehachse – die Winkelgeschwindigkeit auf den doppelten bis den vierfachen Wert gesteigert werden. Betrag und Richtung des Drehimpulses bleiben dadurch jedoch unbeeinflusst (Drehimpulserhaltungssatz).

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Abb. 3.32: Turnerische Elemente, bei denen im Verlauf des freien Fluges die Winkelgeschwindigkeit durch Verkleinerung des Trägheitsmomentes vergrößert wird. a) Salto rückwärts gestreckt. b) Überschlag vorwärts mit Anbücken (Yamashita). c) Salto vorwärts gebückt. d) Salto rückwärts gestreckt. e) Doppelte Stützfelge gehockt rückwärts (Guzcoghy). f) Salto vorwärts gehockt über der Stange (Gaylord). Zum Vergleich: g) Rolle vorwärts

So lohnenswert eine hohe Drehgeschwindigkeit zur rechtzeitigen Vollendung einer beabsichtigten Umdrehung ist, so wenig nützlich erweist sie sich bei einer visuellen Orientierung im Raum sowie für eine sichere Landung oder zu einem sicheren Wiederergreifen des Gerätes. Dazu ist es notwendig, die Winkelgeschwindigkeit rechtzeitig wieder zu vermindern, indem das Trägheitsmoment durch Entfernen der Körpermasse von der Drehachse - in der Regel durch eine einfache Körperstreckung – wieder vergrößert wird (Abb. 3.28 und Abb. 3.32f).

a) b) c)

d) e) f)

g)

I ≈ 8 kg*m²

I ≈ 4 kg*m²

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Es sollte jedoch niemand glauben, er könne die Drehgeschwindigkeit noch während des freien Fluges regeln, indem er nach rechtzeitigem Vermindern der Drehgeschwindigkeit sich über die Lage im Raum orientiert und abschätzt, wieviel Zeit bis zur Landung noch zur Verfügung steht und/oder welcher Betrag an Drehgeschwindigkeit für eine sichere Landung notwendig ist, um dann durch Anpassen des Trägheitsmomentes zu reagieren. Für solche bewussten Entscheidungen wird wesentlich mehr Zeit benötigt (s. Kap. 5.4), als bei den üblichen freien Flügen im Gerätturnen zur Verfügung steht. Es bleibt nur die Möglichkeit, durch intensives Üben zu lernen, welches Maß an Drehgeschwindigkeit in den einzelnen Phasen des Turnelementes unter Berücksichtigung der persönlichen Kraft- und Massensituationen erforderlich ist und welche Körperposition (bzw. welches Trägheitsmoment) diese Drehgeschwindigkeit garantiert. Somit muss vor der Ausführung des Elementes der Bewegungsplan erstellt werden – in der Hoffnung, dass während des Ablaufes des Elementes keine Störungen auftreten, die die Umsetzung des Bewegungsplanes beeinflussen könnten.

Einen wesentlichen Anwendungsbereich für die Vergrößerung der Drehgeschwindigkeit durch Verkleinerung des Trägheitsmomentes bilden Schwünge im Hang, Sturzhang oder Stütz, also Drehbewegungen um starre Achsen, die nicht durch den Körperschwerpunkt verlaufen.

Allerdings stellt hier der Körper des Turners kein kräftefreies System dar. Durch den Griff an der Reckstange bzw. am Barrenholm (= Drehachse) können vielfältige Kräfte zwischen Körper und Umwelt wirken, die den Drehimpuls des Körpers beeinflussen können und dadurch die Wirkung der Verkleinerung des Trägheitsmomentes weniger offensichtlich erscheinen lassen.

Die in Abb. 3.33 dargestellten Beispiele sollen dies belegen. Das Winkeln des Körpers im Vorschwung beim Schwingen im Langhang stellt eine recht mäßige Verkleinerung des Trägheitsmomentes dar. Für den enormen Effekt dieser Aktion in der Turnpraxis müssen somit zusätzliche Erklärungen gefunden werden. Ähnlich sieht es beim Sturzhangschwung rücklings vorwärts aus. Aus diesem Grunde soll hier nicht weiter auf die Mechanik des Schwingens eingegangen, sondern auf Kap. 3.10 verwiesen werden.

Im Laufe von Drehbewegungen im freien Flug lässt sich die Drehgeschwindigkeit (Winkelgeschwindigkeit) durch Veränderung des Trägheitsmomentes steuern. Insbesondere zur Vorbereitung der Landung oder des Wiederergreifens des Gerätes muss die Drehgeschwindigkeit durch Vergrößerung des Trägheitsmomentes (durch Strecken des Körpers) vermindert werden. Richtung und Betrag des Drehimpulses werden dadurch nicht beeinflusst.

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Abb. 3.33: Beispiele für die Veränderung des Trägheitsmomentes bezüglich starrer Achsen (A).

3.7 Scheinrotation und „Drehrückstoß“

Der Begriff Scheinrotation deutet darauf hin, dass ein Turner im kräftefreien Zustand Drehungen erzeugt, obwohl sich der Gesamtdrehimpuls des Körpers dabei nicht verändert. Ist das überhaupt möglich? Um diese Erscheinung zu beschreiben, eignet sich in besonderer Weise ein Element des Pferdsprunges, das heute nicht mehr allzu oft geübt wird, nämlich der „Hecht“ (Abb. 3.34).

Das Bewegungsziel beim Hecht besteht darin, nach Anlauf, Absprung und Flug mit gestrecktem Körper, wobei – wie bei der Hocke (Abb. 3.29) – der Körper durch das Drehmoment des Absprunges einen Drehimpuls in Vorwärtsdrehsinn erhält, durch das Abstützen dem Körper einen Rückwärts-Drehimpuls zu vermitteln, der den gestreckten Körper in der zweiten Flugphase zur Landung wieder aufrichtet (Abb. 3.34, oben). Da das Abstützen vom Pferd außer für die Erzeugung eines rückwärts drehenden Drehmomentes auch für die Überhöhung der zweiten Flugphase genutzt werden muss, kommt es in der Trainings- und Wettkampfpraxis häufig vor, dass der Turner in der zweiten Flugphase einen unzureichenden Drehimpuls besitzt oder sich überhaupt nicht rückwärts dreht und dass damit die Landung zu misslingen droht (s. auch Abb. 3.30). Als Reaktion darauf versucht der Turner, durch heftige Armkreise vorwärts seine Körperlage im Raum zu korrigieren, d.h., seinen Körper aufzurichten bzw. rückwärts zu drehen.

I ≈ 32 kg*m²

I ≈ 14 kg*m²

I ≈ 84 kg*m²

I ≈ 65 kg*m²

A

A

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Abb. 3.34: Scheinrotation beim Hecht. oben: Gesamtbewegung in der Übersicht. unten: Fiktive Einzelphasen der zweiten Flugphase zur Verdeutlichung der Drehimpulse. A: Querachse (schwarze Punkte). LA: Vektor des Drehimpulses der Arme. LR: Vektor des Drehimpulses des Rumpfes. Die Einzelphasen sind zur besseren Übersicht so dargestellt, dass die Querachse senkrecht auf der Zeichenebene steht. Da in diesem Fall die Vektorpfeile nicht sichtbar wären, sind diese etwas aus der Senkrechten herausgeklappt dargestellt.

Abb. 3.34 unten soll eine zweite Flugphase des Hechtes darstellen, in der der Turner das Gerät nach dem Abstützen ohne jeglichen Drehimpuls (LG = Null) verlässt. Dies ist an den Einzelphasen 1 bis 3 zu erkennen. Die Erzeugung eines Drehimpulses im Vorwärtsdrehsinn in den Armen (LA) hat nun – gemäß dem actio-reactio-Prinzip - zwangsläufig das Entstehen eines gleich großen, aber entgegengerichteten Drehimpulses im restlichen Körper (-LA) zur Folge, der sich zum Drehimpuls der Arme zu Null addiert; denn in dem kräftefreien System, das der Turner im freien Flug darstellt, bleibt der vorhandene Gesamtdrehimpuls (hier: LG = Null) erhalten.

LA

LR = – LA

A

1 2 3

4

5 6

7

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So lange der Turner also die Arme vorwärts kreist, dreht sich der restliche Körper mit dem Drehimpuls LR = - LA rückwärts. Sobald der Turner die Armbewegung stoppt (was er in der Turnpraxis natürlich nicht tut, bevor eine sichere Landung gewährleistet ist), stoppt auch das Rückwärtsdrehen des Rumpfes (s. Abb. 3.34 unten, Einzelphasen 5 bis 7). Der Turner bewegt sich ohne Drehung, aber in einer gegenüber dem ersten Teil der Flugphase gedrehten (aufgerichteten) Position auf der Wurfparabel weiter. Er scheint sich also, obwohl der Gesamtdrehimpuls während der zweiten Flugphase stets gleich Null war, gedreht zu haben: Scheinrotation.

Da diese Erscheinung gewisse Ähnlichkeiten mit dem Prinzip des Rückstoßes zeigt, kann sie auch Drehrückstoß genannt werden. Sie beruht auf dem actio-reactio-Prinzip (dem 3. Newtonschen Prinzip), nach dem zu jeder Kraft (jedem Drehmoment) eine gleich große, aber entgegen gerichtete Kraft (ein gleich großes, aber entgegen gerichtetes Drehmoment) gehört (s. Kap. 3.1.2 und 3.1.4).

Abb. 3.35: Scheinrotation beim Hecht. Fiktive Einzelphasen der zweiten Flugphase zur Verdeutlichung der Drehimpulse. A: Querachse (schwarze Punkte). LA: Vektor des Drehimpulses der Arme. LG: Vektor des Gesamtdrehimpulses. LR: Vektor des Drehimpulses des Rumpfes. (s. auch Bemerkungen Abb. 3.34)

A

LA

- LA

LG

LR

LG

LG

Im freien Flug nach Absprüngen oder bei Abgängen vom Gerät lässt sich die Körperlage im Raum in Bezug zur Querachse korrigieren, indem Körperteile (meistens die Arme) dem gewünschten Korrektur-Drehsinn entgegen gedreht werden. Der im Körper vorhandene Gesamtdrehimpuls bleibt dabei unbeeinflusst (Scheinrotation).

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Selbst dann, wenn der Turner beim Hecht nach Verlassen des Gerätes einen Drehimpuls mit Vorwärts-Drehsinn besitzen sollte (Abb. 3.35, Einzelphasen 1 bis 3), lässt sich durch entsprechend heftige Armkreise die Vorwärts-Drehung des Rumpfes anhalten oder sogar in eine Rückwärts-Drehung umwandeln (Abb. 3.35, Einzelphase 4). Voraussetzung ist nur, dass der Drehimpuls der Korrekturbewegungen (LA) den gleichen Betrag oder einen größeren Betrag und die gleiche Richtung wie der Gesamtdrehimpuls (LG) besitzt. Auch hier würde sich nach einem Anhalten der Korrekturdrehungen der Körper mit unverändertem Gesamtdrehimpuls (LG) weiter vorwärts drehen (Abb. 3.35, Einzelphasen 5 bis 7).

Korrigierendes Armkreisen kann vom Trainer und vom Kampfrichter als Indiz einer fehlerhaften Ausführung eines Elementes gewertet werden, wobei die Konsequenzen seitens des Trainers in methodische Maßnahmen zur Korrektur der Fertigkeiten des Turners münden sollten, während sich die Konsequenz seitens des Kampfrichters meistens in der Benotung ausdrückt.

Auch im Stand auf dem Boden oder auf dem Schwebebalken lässt sich durch kreisförmige Armbewegungen die Körperlage um eine Quer- oder Sagittalachse korrigieren. Allerdings stellt hier der Körper kein kräftefreies System dar, so dass bei der Erzeugung der Drehimpulse in den Armen der Gegendrehimpuls auf dem Weg über Rumpf und Beine im Boden entsteht.

Neben den Scheinrotationen um quere Achsen, die fast ausschließlich zur Korrektur der Körperlage im Raum genutzt werden, können Scheinrotationen auch um Körperlängsachsen produziert werde – hier jedoch vornehmlich nicht zur Lagekorrektur, sondern in der Regel zur Ausführung bestimmter turnerischer Elemente. Physiklehrer demonstrieren die Wirkung solcher Scheinrotationen oft mit Hilfe von Katzen (oder von Kaninchen), die bekanntlich bei einem Sturz stets auf den Beinen landen können. Dies wird in Abb. 3.36 a dargestellt:

Das Kaninchen, das – an den Beinen hoch gehalten und ohne jeglichen Drehstoß fallen gelassen wird - den Sturz also mit dem Gesamtdrehimpuls LG = Null beginnt, ist tatsächlich in der Lage, während der kurzen Zeit des Fallens den Körper um eine Längsachse um rund 180° zu drehen. Den Rumpf zuerst bauchwärts, dann seitwärts gebogen, verdreht es Vorder- und Hinterteil gegeneinander und „schraubt“ sich in die Landeposition („Katzenschraube“).

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Abb. 3.36: Katzenschraube als Scheinrotation um eine Körperlängsachse. a) Katzenschraube des Kaninchens. b) Katzenschraube an einem still hängenden Ring. c) Katzenschrauben im Laufe turnerischer Elemente. LH: Teildrehimpuls Hinterteil. LO: Teildrehimpuls Oberkörper. LU: Teildrehimpuls Unterkörper. LV: Teildrehimpuls Vorderteil (aus: WIEMANN 1987)

Physikalisch bedeutet dieses Verhalten die Erzeugung gleich großer, aber entgegen gerichteter Drehimpulse im Vorder- und Hinterteil – natürlich durch entgegengerichtete Drehmomente (actio-reactio). Da der Körper des Kaninchens während des Falls ein kräftefreies System bildet, addieren sich die Teildrehimpulse zu Null: Der Gesamtdrehimpuls bleibt unbeeinflusst, nämlich gleich Null.

a) b) c)

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Die Wirkung der Katzenschraube lässt sich leicht überprüfen, wenn man sich mit beiden Händen ruhig an einen Schaukelring hängt, die Beine langsam bis in die Waagerechte anhebt und dann in der Waagerechten nach links kreist (Abb. 3.36b). Als Konsequenz wird sich der Rumpf mit den Armen automatisch rechts herum drehen, so dass man über ein seitliches „Verschrauben“ in den gestreckten Hang gelangt, jedoch mit dem Blick entgegen der ursprünglichen Blickrichtung: Es wurde eine 180°-Drehung um die Längsachse durchgeführt, ohne dass dem Gesamtkörper ein Drehimpuls vermittelt werden konnte.

Die Katzenschraube wird in der Turnpraxis vielfach angewendet, am häufigsten bei gebückten Vorwärtssalti mit ½ Drehung am Boden, beim Sprung (Abb. 46c) oder als Abgang von den Geräten (Abb. 3.36c).

3.8 Drehimpulsübertragung

Aus den vorangegangenen Kapiteln wird deutlich, dass auch Drehimpulse von einem Körper auf den anderen übertragen werden. An dieser Stelle ist es somit notwendig, noch einmal das Problem der „Impulsübertragung“ bei den Kippen anzusprechen.

Während in Kap. 3.1.5 und 3.1.6 die translatorische Komponente des Kippstoßes (besser: des „Kippschlages“) besprochen wurde, soll hier die Wirkung der rotatorischen Komponente dargestellt werden:

In der Turnpraxis können 180°-Drehungen um die Längsachse – ohne Drehabstoß, d.h. ohne dem Gesamtkörper einen Drehimpuls um die Längsachse vermittelt zu haben – durch Scheinrotation (durch eine Katzenschraube) ausgeführt werden. Voraussetzung ist, dass zu Beginn der Erzeugung der Scheindrehung der Körper bei geschlossenen und gestreckten Beinen um rund 90° im Hüftgelenk gewinkelt (angebückt) ist und aus dieser Position Rumpf und Beine gegeneinander „verschraubt“ werden.

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Abb. 3.37: Drehimpulsübertragung bei der Oberarmkippe. Lb1: Drehimpuls der Beine beim „Kippstoß“. Lb2: Drehimpuls der Beine nach muskulärem Abbremsen des „Kippstoßes“. LG: Drehimpuls des Gesamtkörpers (Lb1 = LG). Lüb: Drehimpulsgewinn des Rumpfes durch muskuläres Abbremsen des „Kippstoßes“. –Lüb: Drehimpulsverlust der Beine durch muskuläres Abbremsen des „Kippstoßes“.

Durch die schlagartige Hüftstreckbewegung erhalten die Beine einen Drehimpuls (Lb1) bezüglich der Hüftgelenkachse (Abb. 3.37 links). Das bedeutet, dass man auch dem Gesamtkörper einen Drehimpuls (LG) zuweisen kann; denn die Hüftstreckaktion erzeugt ein äußeres Drehmoment, dessen Reaktions-Drehmoment auf die Umgebung (Barren, Erde) wirkt. In Kap. 3.1.6 wurde festgestellt, dass die Muskelaktion zum Abbremsen des Beinschlages in Bezug zum Körper innere Kräfte erzeugt. Somit sind auch die Drehmomente, die durch die Abbremsaktion aufgebracht werden, innere Momente, die den Gesamtdrehimpuls des Körpers (LG) nicht beeinflussen können. Statt dessen wird der Drehimpuls innerhalb des Gesamtkörpers von den Beinen (-Lüb) auf den Rumpf (Lüb) übertragen, so dass sich die Beine nur noch mit dem Drehimpuls Lb1 + (-Lüb) = Lb2 vorwärts drehen, während der Rumpf bei unverändertem Drehimpuls des Gesamtkörpers (LG = Lüb + Lb2) den Beinen mit dem Drehimpuls (Lüb) folgt und sich somit - vorwärts drehend – von den Holmen abhebt. Dieses Anheben versetzt den Turner in die Lage, die Arme vom Oberarmhang in den Stütz umzusetzen (Abb. 3.11).

Lb1

LG

LG

-Lüb

Lb1

Lüb

Lb2

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Welche Komponente (die translatorische oder die rotatorische) bei dieser Aktion die bedeutendere Rolle spielt, kann nicht ohne Weiteres geklärt werden. Würde nur die rotatorische Komponente von Bedeutung sein, wäre es besser, die Beine zur Erzeugung eines möglichst großen Drehimpulses annähernd bis zur Hüftstreckung zu schlagen, bevor sie abgebremst werden müssten. Da die Turnpraxis lehrt, dass ein Abbremsen bei leicht gewinkelter Hüfte zweckmäßiger ist, kann gefolgert werden, dass der translatorischen Komponente (Kap. 3.1.6) auch eine gewisse Bedeutung zukommt.

Es kann in Ergänzung zu Kap. 3.1.6 zusammengefasst werden:

Zwei weitere turnerische Elemente lassen eine ähnliche Übertragung des Drehimpulses erkennen, die Speichgriffkippe am Barren und die Kippe vorwärts aus dem Sturzhang in den Stütz an den Ringen (Abb. 3.38), die sich mit der Oberarmkippe am Barren zu den „Vorwärtskippen“ zusammenfassen lassen. Der Unterschied zur Oberarmkippe liegt darin, dass der Kippschlag der Speichgriffkippe geringfügig steiler nach oben geturnt werden muss als bei der Oberarmkippe, die Kippe an den Ringen einen fast senkrecht nach oben weisenden Kippschlag zeigt und zudem der Körper um zwei Armlängen nach oben transportiert werden muss. Das hat zur Folge, dass gerade bei der Kippe an den Ringen die Wucht des Kippschlages für das Erreichen des Bewegungszieles mit entscheidend ist.

Das Umsetzen der Arme vom Hang oder Oberarmhang in den Stütz gelingt am besten, wenn der Rumpf durch die Impulsübertragung eine große Wucht (Impuls, Drehimpuls) erhält. Das setzt voraus, dass in den Beinen durch die Kippbewegung ein großer Drehimpuls erzeugt wurde. Aus der Formel L = I *ω wird deutlich, dass dies durch eine große Winkelgeschwindigkeit (ω) und durch ein großes Trägheitmoment (I ) erreicht werden kann. Daraus lassen sich für ein effektives Ausführen der Vorwärtskippen unter Ausnutzung der Impulsübertragung folgende Regeln ableiten:

Durch das muskuläre Blockieren der Hüftstreckbewegung (des „Kippstoßes“) bei Kippen wird ein Drehimpuls von den Beinen auf den Rumpf übertragen. Die Folge ist, dass sich - nach der Drehimpulsübertragung – die Beine langsamer drehen, der Rumpf sich aber vorwärts (in Richtung der Hüftstreckbewegung) dreht. Dieser Drehimpulsgewinn des Rumpfes reicht aus, diesen für den Turner spürbar zu „entlasten“, so dass es dem Turner möglich ist, die Arme von der Oberarmlage in den Stütz umzusetzen.

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Abb. 3.38: Speichgriffkippe am Barren (oben) und Kippe vorwärts an den Ringen

Regeln für die Ausführung von Vorwärtskippen:

- Durch den Kippstoß (Kippschlag) ist in den Beinen eine möglichst große Wucht (= Impuls, Drehimpuls) zu erzeugen. - Dazu müssen die Beine mit möglichst großer Geschwindigkeit (Winkelgeschwindigkeit) und bei möglichst großem Trägheitsmoment vorwärts aufwärts geschlagen werden. - Das Trägheitsmoment der Beine ist bei völlig gestreckten Beinen am größten. - Die Wucht der Beine ist bei leicht gewinkelter Hüfte durch eine heftige Abbremsaktion der Hüftbeugemuskeln auf den Rumpf zu übertragen.

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Ein turnerisches Element, das gelegentlich im Zusammenhang mit der Impulsübertragung genannt wird, dessen korrekte Ausführung allerdings in keiner Weise von dem bei den Kippen beobachtbaren Effekt abhängig ist, stellt der Unterschwung am Barren (Abb. 3.39) dar. Möglicherweise hat der Umstand, dass diese Übung auch „Schwabenkippe“ genannt wurde und dass bei flüchtiger, rein phänographischer (d.h. die äußerlich sichtbare Struktur betreffender) Betrachtungsweise ähnliche Körperpositionen und Hüftwinkeländerungen wie bei den Kippen festgestellt werde können, mit zu dieser Fehleinschätzung beigetragen.

Abb. 3.39: Unterschwung („Schwabenkippe“) aus dem Stütz in den Oberarmhang am Barren. oben: perfekte Ausführung. unten: wenig schwungvolle Ausführung.

Dem Unterschwung liegt in der Kernphase ein Schwung im Sturzhang zugrunde. Deshalb unterliegt er vornehmlich den physikalischen Gesetzen der Pendelschwünge (s. Kap. 3.10). Sein Bewegungsablauf beinhaltet keine heftige Hüftstreckung, die dem Kippschlag ähneln würde. Statt dessen dient die Hüftstreckung lediglich der Unterstützung einer Schulteraktion, die die Masse des Körpers der Drehachse annähern und danach aufwärts beschleunigen soll. Sie ist zudem nicht explosiv auszuführen, sondern dosiert an die Dynamik des Schwunges anzupassen. Eine Übertragung des Drehimpulses der Beine auf den Rumpf ist bei optimaler

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Ausführung nicht erforderlich. Statt dessen soll sich der Hüftwinkel zügig öffnen, bis die Oberarme auf die Holmen aufgelegt werden, um dann fließend in den Oberarmschwung überzugehen.

Im Einzelnen sprechen gegen die Ausführung einer heftigen Hüftstreckung, eines Kippschlages, der im weiteren Verlauf des Unterschwunges zwecks Impulsübertragung abzubremsen wäre, drei Gründe:

1. Eine heftige Hüftstreckung könnte nur zu demjenigen Zeitpunkt ausgeführt werden. in dem der Turner sich senkrecht unter dem Drehpunkt befindet, damit das Reaktions-Drehmoment (-Lb) zur Hüftstreckung (Lb) als äußeres Drehmoment über die Arme auf den Barren wirken kann (Abb. 3.40). Dies würde aber gerade in demjenigen Augenblick, in dem bei Schwüngen die Körpermasse zwecks Steigerung der Schwunggeschwindigkeit der Drehachse anzunähern ist (s. Kap. 3.10), einen Teil der Körpermasse und somit auch den Gesamtschwerpunkt von der Drehachse entfernen (Abb. 3.40) und dadurch die Schwunggeschwindigkeit entscheidend verkleinern.

2. Durch die Hüftstreckung würde der Gesamtkörper einen Drehimpuls gewinnen, der dem durch den Sturzhangschwung vorgegebenen Drehimplus (LG) entgegengerichtet wäre und diesen entsprechend mindern würde.

Abb. 3.40: Wirkung einer unangemessenen Hüftstreckung im Laufe des Unterschwunges rückwärts am Barren

Drehrichtung Lb Drehrichtung -Lb

Drehrichtung LG

Drehachse: KSP:

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3. Dieser (unerwünschte) Effekt würde durch ein Abbremsen der Hüftstreckung nicht aufgehoben werden können, da die Kräfte zum Abbremsen der Hüftstreckung innere mechanische Kräfte (innere Drehmomente) wären.

Diese Argumente treffen im Übrigen großenteils auch für alle Kippen am Reck zu, wie in Kap. 3.10 noch aufzuzeigen ist. Unterscheiden sich zwei turnerische Elemente in ihren mechanischen Grundlagen derart massiv, müssen für ihre korrekte Realisation entsprechend unterschiedliche Muskelaktionen geplant und realisiert werden, was entsprechende Unterschiede in den Bewegungsentwürfen (Kap. 5.4) bzw. Bewegungsvorstellungen (Kap. 6.2) voraussetzt. Eine lehrmethodische Verknüpfung solcher Elemente verbietet sich somit von selbst (Kap. 7).

Allerdings kann bei schlechter Ausführung des Unterschwunges am Barren ein Verhalten beobachtet werden, dass an das Blockieren der Hüftstreckung der Kippen erinnert:

Hat der Turner in Folge eines schwachen Sturzhangschwunges eine so geringe Aufschwunghöhe, dass sich die Arme gegen Ende des Aufschwunges noch unter den Holmen befinden und die Gefahr droht, die Oberarme nicht auf die Holmen zum Oberarmhang auflegen zu können (Abb. 3.39 unten), hilft sich der Turner dadurch, dass er die Hüfte heftig beugt, um durch das Beschleunigen der Beine gegen Schwungrichtung eine reaktive Beschleunigung des Rumpfes in Schwungrichtung zu erreichen. Dieses Zusammenklappen des Körpers kann helfen, das Ziel der Übung trotz voraufgegangener technischer Mängel doch noch zu erreichen.

Häufig erscheint dieses Verhalten nicht so deutlich, wie in Abb. 3.39 (unten) dargestellt und im Text beschrieben. Vielfach überlagern sich die Aufschwungbewegung des gesamten Körpers und die oben beschriebene „Rettungsaktion“, so dass der Eindruck einer kippenähnlichen Drehimpulsübertragung entstehen kann. Obwohl auch hier physikalisch Drehimpulse innerhalb des Gesamtkörpers durch innere Drehmomente „übertragen“ werden, sind Voraussetzung und Ziel bei Kippe und Unterschwung jedoch völlig unterschiedlich. Daraus resultiert:

Bewegungsweisen, die aus bewegungstechnischem Unvermögen resultieren, sollten nicht als Basis für biomechanische Modellbildungen dienen.

Der Unterschwung am Barren („Schwabenkippe“) enthält zwar eine Hüftstreckbewegung, diese unterscheidet sich hinsichtlich Dynamik und Wirkungsweise von der Hüftstreckung (Kippstoß) bei Vorwärtskippen und braucht bei korrekter Ausführung nicht blockiert zu werden.

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(An diese Regel wird im Folgenden noch des öfteren erinnert werden müssen.)

Nicht bei allen turnerischen Elementen, die zu den Kippen gerechnet werden können, wird das Blockieren des Kippschlages der Beine durch Muskelkraft erzeugt, sondern kann auch passiv, z.B. durch Bänderhemmung des Gelenkes erfolgen. Als Vertreter dieser Gruppe von turnerischen Elementen soll die Kopfkippe am Boden dienen (Abb. 3.41).

Abb. 3.41: Drehimpulsübertragung bei der Kopfkippe am Boden. Lb1: Drehimpuls der Beine beim „Kippstoß“. Lb2: Drehimpuls der Beine nach Abbremsen des „Kippstoßes“. LG: Drehimpuls des Gesamtkörpers (Lb1 = LG). Lüb: Drehimpulsgewinn des Rumpfes durch Abbremsen des „Kippstoßes“.. –Lüb: Drehimpulsverlust der Beine durch Abbremsen des „Kippstoßes“. Nach dem Abbremsen des Kippstoßes gilt: Lb1 = LG = Lb2 + Lüb .

Biomechanische Analysen, die Regeln für lehr- und trainingsmethodische Maßnahmen liefern, sollten sich stets an der Idealform der Bewegung orientieren und nicht an Bewegungsweisen, die Folge eines mangelhaften oder gar fehlerhaften Verhaltens darstellen.

Lb1 Lüb

Lb1 = LG Lb2

-Lüb

LG

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Bei der Kopfkippe am Boden werden die gestreckten Beine aus einer gewinkelten Stellung des Hüftgelenkes mit großer Wucht in Bewegungsrichtung geschlagen (= Kippstoß, Kippschlag, s. Abb. 3.41). Das Abbremsen (Blockieren) erfolgt nun bei gestrecktem bzw. überstrecktem Hüftgelenk, vorwiegend durch die Gelenkkapsel des Hüftgelenkes. Eine muskuläre Beteiligung durch die Hüftbeuger ist natürlich nicht auszuschließen. Da das Drehmoment zur Erzeugung des Drehimpulses der Beine (Lb1) ein äußeres Drehmoment darstellt, bedeutet der Impulsgewinn der Beine gleichzeitig einen entsprechenden Impulsgewinn des Gesamtkörpers(Lb1 = LG). Da die Gelenkkapselspannung zum Blockieren der Hüftstreckung innere Kräfte darstellen, wird der durch den Kippschlag gewonnene Drehimpuls nicht beeinflusst, sondern der Drehimpulsverlust der Beine (-Lüb) hat einen gleich großen Impulsgewinn im Rumpf (Lüb) zur Folge. Letzterer folgt den Beinen, und die Arme werden entlastet, die jetzt die Bewegung des Körpers durch eine Streckbewegung unterstützen können. Man sieht: gleicher Sinn und gleicher Effekt wie bei der Oberarmkippe.

3.9 Biomechanik des „Beinschneppers“ (Courbet)

Im Zusammenhang mit der Frage der Erzeugung von Drehmomenten durch ein Abstoßen vom Gerät (Kap. 3.4) wurde der „Beinschnepper“ schon erwähnt und am Beispiel der Schwungstemme rückwärts mit Vorgrätschen der Beine und des Unterschwunges mit Salto vorwärts am Reck/Stufenbarren (Abb. 3.21) erläutert.

Das Grundprinzip und die wesentlichen Effekte des Beinschneppers sollen zuerst am Beispiel der Schwungstemme rückwärts am Barren (Abb. 3.42) besprochen werden:

[Als Beinschnepper wird hier und im Folgenden ein schlagartiges Peitschen der (meist) gestreckten Beine - vorwärts aus einer rückwärtigen Bogenspannung des Körpers oder - rückwärts aus einer leichten Hüftbeugung in eine rückwärtige Bogenspannung des Körpers verstanden, wobei Schultern und Arme für eine Übertragung der Wucht auf das Gerät oder den Boden verantwortlich sind.

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Ziel dieses turnerischen Elementes ist es, gegen Ende des Rückschwunges im Oberarmhang die Beine unter dem Körper hindurch nach vorn zu grätschen. Dazu ist ein Abdrücken von den Armen und – selbstverständlich – ein Lösen des Griffes und ein anschließendes Wiederergreifen der Holmen nötig. Voraussetzung ist außerdem, dass der Drehimpuls mit Vorwärtsdrehsinn (Abb. 3.42, Ls), den der Körper durch den Rückschwung im Oberarmhang bekommen hat, in einen Drehimpuls mit Rückwärtsdrehsinn (Abb. 3.42, La) umgeformt wird. Dazu ist ein nicht unbeträchtliches Drehmoment (Fa * da) zu erzeugen.

Abb. 3.42: Beinschnepper vorwärts im Laufe der Schwungstemme rückwärts mit Vorgrätschen. da: Kraftarm der Abdruckkraft. Fa: Abdruckkraft. La: Drehimpulsvektor nach dem Abdruck. Ls: Drehimpulsvektor vor dem Andruck. S: Körperschwerpunkt. Beachte: Die Rotation des Körpers während des freien Fluges ist der Rotation während des einleitenden Schwunges entgegengerichtet!

Dieses Drehmoment erreicht der Turner durch einen Abdruck von den Holmen, der durch ein kräftiges Schlagen der Beine aus einer überstreckten Körperhaltung in eine Körperhaltung mit gebeugter Hüfte unterstützt wird. Da die dabei erzeugte Kraft (Fa) in Bezug zum Körperschwerpunkt exzentrisch wirkt, also unter einem senkrechten Abstand (Kraftarm, da) an ihm vorbei zielt, wird die

Fa

Fa

da

La

Ls S

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Vorwärtsdrehung des Körpers aufgehoben und in eine Rückwärtsdrehung umgeformt. Da außerdem die Abdruckkraft (Fa) nach oben weist, wird zusätzlich der Körper nach oben beschleunigt, so dass im freien Flug die Beine unter dem Körper nach vorn gegrätscht werden können und sich zusätzlich der Körper in eine Position rückwärts dreht, in der die Holmen zum Stütz wieder ergriffen werden können.

Um das Vorpeitschen der Beine möglichst impulsiv gestalten zu können und dadurch einen möglichst kräftigen Abdruck zu erreichen, werden die Beine gegen Ende des Rückschwunges im Oberarmhang aus einer leichten Hüftwinkelstellung ausholend in die Überstreckung gepeitscht. Die damit verbunden heftige Vordehnung der Hüftbeugemuskulatur wird dort einen Dehnungreflex (Kap. 5.2.2) auslösen, der die anschließende Kontraktion der Hüftbeugemuskeln zwecks Ausführung des Beinschneppers unterstützt.

Auf Grund dieses peitschenartigen Streckens und Beugens der Hüfte spricht man bei dieser Aktion auch von einer „Beinpeitsche“. Hier und im folgenden soll jedoch der Begriff des „Beinschneppers“ beibehalten werden, weil bei manchen Beinschnepper-Bewegungen eine heftige Ausholbewegung fehlt und weil beim Beinschnepper rückwärts der Peitschencharakter nicht immer so deutlich erlebt wird.

Abb. 3.43 zeigt einen Vorwärts-Beinschnepper im Laufe des Handstandüberschlages rückwärts (Flick-Flack) am Boden. Hier hat der Beinschnepper die Aufgabe, neben einer Aufwärtsbeschleunigung des Körpers zur zweiten Flugphase die vom Absprung resultierende Rückwärtsrotation zu verstärken.

Bei einer Gruppe von turnerischen Elementen tritt eine Hüftbeugung aus einer gestreckten Körperhaltung in Erscheinung, die an einen Beinschnepper vorwärts erinnert, aber nicht dessen Effekte ausnutzt. Dies sind die gebückten (gehechteten oder gegrätschten) Vorwärts-Salti aus einem Rückschwung im Stütz oder Hang.

Der Beinschnepper vorwärts bewirkt - einen Drehabstoß vom Gerät mit Drehsinn rückwärts und - eine Beschleunigung des Körpers in Richtung des Abdruckes vom Gerät, also gegen Richtung des Beinschneppers.

Der Beinschnepper vorwärts kann durch ein ausholendes peitschenartiges Rückschlagen der Beine (aus einer Hüftbeuge- in eine Hüftstreckstellung) unterstützt werden.

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Abb. 3.43: Beinschnepper vorwärts im Laufe der Stützphase des Flickflacks. Fa: Abdruckkraft. S: Körperschwerpunkt

Abb. 3.44: Salto vorwärts gehechtet am Barren (links) und „Jägersalto“ am Reck (rechts) mit einem beinschnepperähnlichen Hüftbeugen. Beachte: Die Rotation des Saltos zeigt die gleiche Drehrichtung wie die Rotation des einleitenden Rückschwunges!

Fa

S

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Da hier der vom Rückschwung im Körper vorherrschende Drehimpuls mit Vorwärtsdrehsinn durch eine beinschnepperähnliche Bewegung nicht gemindert werden darf, sondern zur Ausführung des Salto vorwärts erhalten bleiben muss, ist die Hüftbeugeaktion nicht derart dynamisch wie beim Beinschnepper vorwärts (Abb. 3.44). Das hat zur Folge, dass bei diesen Übungen auch der beim Beinschnepper beschriebene zweite Effekt, die Aufwärtsbeschleunigung des Körpers, nur begrenzt ausgenutzt werden kann. Um trotz dieses Defizits noch eine annehmbare Flughöhe zu garantieren, wird der Beinschnepper statt dessen häufig zur Erzeugung eines Konterschwunges zur Vorspannung der Reckstange eingesetzt, damit die elastischen Rückstellkräfte der Reckstange für einen ausreichend hohen Flug beitragen (s. Kap. 3.10.9). In diesen Fällen wird der Beinschnepper nicht im Augenblick des Verlassens der Griff- bzw. Stützsituation, sondern in einem Sektor etwa senkrecht unter dem Aufhängepunkt realisiert (Abb. 3.47).

Abb. 3.45: Beinschnepper rückwärts im Laufe der Kontergrätsche („Tkatchev“) am Stufenbarren. da: Kraftarm der Abdruckkraft. Fa: Abdruckkraft. F‘a: Wirkung der Abdruckkraft auf den Körperschwerpunkt. KSP: Körperschwerpunkt. Beachte: Die Rotation des Körpers während des freien Fluges ist der Rotation während des einleitenden Schwunges entgegengerichtet!

Fa F‘a

da KSP

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Als Beispiel des Rückwärts-Beinschneppers soll der Tkatchev (die Kontergrätsche) am Stufenbarren dienen (Abb. 3.45). Am Ende eines Vorschwunges im Langhang werden die Beine aus einer leichten Hüftbeugestellung dynamisch in eine überstreckte Hüftgelenkstellung geschlagen. Dies ist natürlich nur möglich, wenn der Griff am Holm ein entsprechendes Widerlager herstellt, was als ein „Reißen“ des Holms nach unten empfunden wird. Die erzeugte Kraft Fa ist in Bezug zum Körperschwerpunkt eine exzentrische Kraft, so dass das Drehmoment Fa * da den im Körper vorhandenen Drehimpuls des Vorschwunges mit Rückwärtsdrehsinn in einen Drehimpuls mit Vorwärtsdrehsinn umformt. Zusätzlich beschleunigt F’a den Körper aufwärts zum freien Flug über den Holm.

Der Beinschnepper rückwärts wird nicht nur bei anspruchsvollen turnerischen Leistungsformen genutzt. Auch manche turnerische Grundformen können auf ihn nicht verzichten. So ist zum Beispiel der Niedersprung am Ende eines Vorschwunges im Hang ohne Ausführung eines Beinschneppers rückwärts nicht möglich, weil er dafür sorgt, dass sich der Turnende nach dem Loslassen des Gerätes vorwärts drehen und im aufrechten Stand landen kann (Abb. 3.46). Würde am Ende des Vorschwunges kein Beinschnepper ausgeführt, würde der vom Vorschwung gewonnene Drehimpuls des Körpers mit Rückwärtsdrehsinn nach Lösen des Griffes erhalten bleiben und der Turnende würde sich im freien Flug weiter rückwärts drehen. Eine sichere Landung auf den Füßen wäre dann nicht möglich.

Der Beinschnepper rückwärts bewirkt - einen Drehabstoß vom Gerät mit Drehsinn vorwärts und - eine Beschleunigung des Körpers in Richtung des Abdruckes vom Gerät, also gegen Richtung des Beinschneppers.

Der Beinschnepper rückwärts muss durch ein ausholendes Vorschlagen der Beine (= Beugen des Hüftgelenkes) vorbereitet werden.

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Abb. 3.46: Beinschnepper rückwärts am Ende eines Vorschwunges im Hang. La: Drehimpulsvektor nach Ausführen des Beinschneppers. Ls: Drehimpulsvektor des Vorschwunges im Hang. Beachte: Die Rotation des Körpers während des freien Fluges ist der Rotation während des einleitenden Schwunges entgegengerichtet!

Ähnlich wie beim Beinschnepper vorwärts kann auch der Beinschnepper rückwärts nicht in jedem Fall eingesetzt werden. Beim Salto rückwärts über die Reckstange („Kovacs“; Abb. 3.47) zum Beispiel würde ein Beinschnepper rückwärts mit dem Verlassen der Reckstange den Flug zwar nach oben treiben, gleichzeitig aber den für den Rückwärtssalto nötigen Drehimpuls verkleinern. Aus diesem Grunde muss hier ein Beinschnepper ausbleiben. Statt dessen kann ein Beinschnepper vorwärts genutzt werden, durch einen Konterschwung für eine höhere Flugkurve zu sorgen (Kap. 3.10.9)

Ls

La

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zum Drehabstoß zur Vordehnung der Reckstange

Beinschnepper rückwärts

a)

Tkatchev

b)

Jägersalto

Beinschnepper vorwärts

c)

Yamavaki

d)

Kovacs

Abb. 3.47: Einsatz des Beinschneppers rückwärts (a und b) sowie des Beinschneppers vorwärts (c und d) vorwiegend zum Drehabstoß (a und c) und vorwiegend zur Erzeugung eines Konterschwunges (b und d). Schwarze Figuren: Phase des Beinschneppers

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3.10 Biomechanik des Schwingens

"Schwingen“ ist Grundform und grundlegender Bestandteil der menschlichen Motorik: Beim Gehen und Laufen schwingen die Arme und das freie Bein (Schwungbein) um körpernahe Gelenke, viele Arbeitsbewegungen zeigen einseitige, gegengleiche oder gleichzeitige Schwünge der Arme, und im Hang schwingt der ganze Körper um den Griffpunkt. Dieses Schwingen im Hang ist zusammen mit dem Schwingen im Sturzhang und im Stütz Grundlage des Turnens an Geräten. Obwohl sich das Schwingen im Hang als einfach zu überschauende und leicht zu realisierende Fertigkeit präsentiert, stößt die umfassende physikalische Erklärung auf nicht geringe Schwierigkeiten, weil eine Vielzahl der in den vorangegangenen Kapiteln besprochenen sowohl grundlegenden als auch speziellen biomechanischen Problemen zu berücksichtigen sind.

Im Folgenden sollen die wesentlichen Grundlagen der Biomechanik des Schwingens Schritt für Schritt dargestellt werden, indem zuerst die physikalischen Grundlagen besprochen und dann zunehmend physikalische Zusatzbedingungen eingearbeitet werden. Dabei soll aus Gründen der Vereinfachung das durch den Turnerkörper gebildete Pendel auf ein „mathematisches" Pendel (mit punktförmig im Schwerpunkt konzentrierter Masse) reduziert und nur in Einzelfällen der Umstand berücksichtigt werden, dass der Turnerkörper eigentlich ein „physikalisches“ Pendel darstellt.

3.10.1 Definition: Pendeln - Schwingen

Das Schwingen im Hang unterliegt den physikalischen Pendelgesetzen. Ein Pendel ist jeder Körper, der sich unter dem Einfluss der Schwerkraft um eine feste Achse dreht, die nicht durch seinen Schwerpunkt verläuft. Wird ein Pendel aus der stabilen Gleichgewichtslage, bei der sich der Schwerpunkt des Pendels senkrecht unter dem Drehpunkt befindet, herausgedreht, strebt es unter der Wirkung der Schwerkraft wieder dieser stabilen Gleichgewichtslage zu und führt dabei periodische Hin- und Herbewegungen (Pendelbewegungen) aus, die in der Physik "Schwingungen" genannt werden.

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3.10.2. Erklärung des Schwingens durch den Energiesatz

Eine der am häufigsten verwendeten Beschreibungen des Schwingens im Gerätturnen stützt sich auf den Energieerhaltungssatz:

Ergreift man ein Fadenpendel, das ruhig aus der Senkrechten unter dem Drehpunkt hängt, und führt es von diesem Ruhepunkt bei gestrecktem Faden aus der Senkrechten heraus bis zu einem bestimmten Punkt (Abb. 3.48, P1), so wird die Pendelmasse gleichzeitig um einen bestimmten Betrag (h) angehoben, d. h., man investiert in das Pendel Arbeit. Lässt man das Pendel in P1 los, besitzt es aufgrund der investierten Arbeit eine Lageenergie (potentielle Energie), die sich allmählich in Bewegungsenergie (kinetische Energie) umsetzt und das Pendel abwärts schwingen lässt. Erreicht das Pendel den Punkt P2 senkrecht unter dem Drehpunkt, ist die potentielle Energie vollkommen in kinetische Energie umgesetzt. Diese treibt das Pendel in Bewegungsrichtung weiter und hebt es dabei an, wobei sich die kinetische Energie wieder in potentielle Energie umwandelt, bis das Pendel wieder bis zur Ausgangshöhe (h) über dem Ruhepunkt angehoben ist. Würde die Bewegungsenergie des Pendels keine Einbuße durch Reibungsenergie erfahren, müsste sich dieser Prozess ständig wiederholen.

Abb. 3.48: Mathematisches Pendel

Spricht man im Gerätturnen vom "Schwingen", meint man solche Pendelbewegungen des Turners um eine mit dem Händen ergriffene Drehachse, in deren Verlauf dem Körper durch körpereigene Aktionen periodisch Energie zugeführt wird, um entweder reibungsbedingte Energieverluste zu kompensieren oder - was wesentlich häufiger ist - die Schwingungsweite (Schwungamplitude) zu vergrößern.

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Das in Abb. 3.48 bis Abb. 3.50 dargestellte Pendel soll ein „mathematisches“ Pendel darstellen, das aus einer punktförmigen Masse und einem masselosen Faden mit der Länge l besteht und sich um den Aufhängepunkt bzw. Drehpunkt D dreht. Ändert sich im Laufe eines Pendelschwunges die Pendellänge l, muss zusätzlich noch ein Krümmungsmittelpunkt M festgestellt werden. Dieser ist das Zentrum des Krümmungskreises, den die Bahn des Pendels in demjenigen Punkt darstellt, in dem sich das Pendel gerade befindet. Bei konstanter Pendellänge fallen natürlich D und M zusammen.

Nun wird im Schwungturnen aber nicht etwa nur hin- und hergependelt, sondern der Turner führt seinem Körper (s. Definition) Energie zu, um seine Schwungamplitude zu erweitern bzw. um aus einer relativ niedrigen Abschwunghöhe zu einer großen Aufschwunghöhe zu gelangen und um zusätzlich reibungsbedingte Schwungverluste zu kompensieren. Diesen Prozess über den Energiesatz zu erläutern wäre zu unhandlich und unscharf, so dass andere Beschreibungsmöglichkeiten bevorzugt werden sollen.

3.10.3. Bewegungsgleichung des Pendels

Die Bewegungsgleichung des Pendels wird zwar in erster Linie auf "Kreispendel" angewendet, in modifizierter Form kann mit ihrer Hilfe jedoch auch die Bewegung „ebener Pendel“ - wie im vorliegenden Fall - erklärt werden:

Wird ein Pendel aus der Ruhelage bzw. der stabilen Gleichgewichtslage bis zum Punkt P1 ausgelenkt (Abb. 3.49a) und dann losgelassen, wirkt auf die Masse des Pendels die Schwerkraft FG. Zerlegt man die Schwerkraft FG in zwei Komponenten, Ft und Fl, wobei Fl in Richtung des Pendelfadens weist und Ft dazu senkrecht steht, wird deutlich, dass nur die Komponente Ft für die Beschleunigung des Pendels verantwortlich ist. Die Komponente Fl kann keine Beschleunigung bewirken, weil der Faden des Pendels dies verhindert.

Bei der Bewegung in Richtung der Senkrechten unter D wächst die Geschwindigkeit des Pendels an, die beschleunigende Komponente Ft nimmt jedoch beständig ab (s. Abb. 3.49, Punkt P2) und ist senkrecht unter dem Aufhängepunkt, also in P3, gleich Null. Aufgrund der Trägheit schwingt das Pendel jedoch weiter. Jetzt aber wirkt die Schwerkraft bzw. ihre Komponente Ft zunehmend verzögernd ( s. P4) bis im Punkt P5 das Pendel zum Stillstand gekommen ist und der Vorgang von neuem beginnt (= “Umkehrpunkt“). Der Winkel von der Senkrechten bis zum Umkehrpunkt heißt Schwingungsweite (Amplitude). Der Bewegungsabschnitt bis zur Senkrechten soll Abschwungphase, der Bewegungsabschnitt von der Senkrechten bis zum Umkehrpunkt Aufschwungphase genannt werden.

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Die Zeit, die Schwingungsdauer (T), die ein Pendel für eine Hin- und Herbewegung benötigt, ist von der Länge des Pendels (l) abhängig. Aus Erfahrung weiß man, dass ein kurzes Pendel „schneller“ schwingt als ein langes, d.h., die Schwingungsdauer eines kurzen Pendels ist kleiner als diejenige eines langen Pendels. Dem gegenüber ist die Schwingungsdauer von der Schwingungsweite weitgehend unabhängig.

Abb. 3.49: Mathematisches Pendel a) und Schaukeln an den Ringen b). D: Drehpunkt. FG: Schwerkraft. Fl: radiale Komponente der Schwerkraft. Ft: tangentiale Komponente der Schwerkraft. l: Pendellänge. P1-P5: Verschiedene Punkt auf der Bahn des Pendels., wobei P1 und P5 die Umkehrpunkte des Pendels darstellen.

Dies geht aus der Formel für die Schwingungsdauer (T) hervor:

glT π2= ,

wobei l die Pendellänge und g die Erdbeschleunigung darstellen. Allerdings gilt die Unabhängigkeit der Schwingungsdauer von der Amplitude des Pendels nur für kleine Amplituden. Mit größeren Schwingungsweiten wird auch die Schwingungsdauer geringfügig größer. Ein Pendel mit einer Schwingungsweite von 45°

D

D

FG

Ft Fl

FG

l

Ft

Fl

FG FG a)

b)

P1

P2 P3 P4

P5

Ft Fl

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benötigt etwa 4% mehr Zeit für einen Hin- und Hergang als ein Pendel mit der Schwingungsweite von1°. Dies kann im Folgenden jedoch unberücksichtigt bleiben.

Ein an den Schaukelringen Turnender (Abb. 3.49b) stellt eine für die vorliegenden Zwecke hinreichend gute Näherung eines mathematischen Pendels dar. Die Schwerkraft FG greift im Körperschwerpunkt an und lässt sich wie beim mathematischen Pendel in die Komponenten Fl und Ft zerlegen.

Für den Turnenden ist es nun von entscheidender Bedeutung, welche Kräfte auf seinen Körper während des Schwingens einwirken. Gemäß Abb. 3.49 sollte man meinen, im Punkt P3, also senkrecht unter dem Aufhängepunkt, würde nur die Schwerkraft zur Wirkung kommen. Jeder Turner weiß jedoch aus Erfahrung, dass er beim Schwingen an den Schaukelringen in demjenigen Augenblick, in dem er senkrecht unter dem Aufhängepunkt durch schwingt, wesentliche größere Muskelkräfte aufbringen muss, um sich an den Ringen festzuhalten, als wenn er ruhig, ohne Schwungbewegung an den Ringen hängen würde. Es scheint somit beim Schwingen zusätzlich zur Schwerkraft noch eine zusätzliche Kraft an seinem Körper zu „ziehen“. Und diese Kraft scheint umso größer zu sein, je größer die Amplitude seiner Pendelschwünge ist, d.h. je größer die Drehgeschwindigkeit senkrecht unter dem Aufhängepunkt ausfällt.

In der Abschwungphase eines Pendelschwunges an den Schaukelringen setzt die Schwerkraft (bzw. deren tangentiale Komponente) den Turnenden in Bewegung und beschleunigt ihn auf der Kreisbahn um den Aufhängepunkt bis zur Senkrechten unter dem Aufhängepunkt.

In der Aufschwungphase verzögert die Schwerkraft den Pendelschwung, der im Umkehrpunkt zum Stillstand kommt, so dass sich eine neue Abschwungphase anschließen kann.

Für einen Hin und Hergang benötigt der Turner unabhängig von der Schwingungsweite stets annähernd die gleiche Zeit (Schwingungsdauer), sofern er seine Körperposition nicht verändert.

Dem gegenüber ist die Schwingungsdauer beim Schwingen im Langhang aufgrund der größeren Pendellänge größer als beim Schwingen im Sturzhang.

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Abb. 3.50: Mathematisches Pendel (a) und Schaukeln an den Ringen (b). D: Drehpunkt. FG: Schwerkraft. Fl: radiale Komponente der Schwerkraft. Fr: Zentripetalkraft. -Fr: Gegenkraft zur Zentripetalkraft. Fz: Zentrifugalkraft (Fliehkraft). l: Pendellänge. (Zerlegung der Schwerkraft in eine radiale und eine tangentiale Komponente s. Abb. 3.49)

Immer dann, wenn sich eine Masse auf einer krummlinigen Bahn bewegt, muss die Wirkung einer Kraft vorausgesetzt werden, die die Masse daran hindert, sich gemäß dem Trägheitsgesetz geradlinig in Richtung der Tangenten an den Krümmungskreis weiter zu bewegen, und die Masse zwingt, ständig ihre Bewegungsrichtung zu ändern. Diese Kraft heißt Zentripetalkraft (Fr). Sie weist vom Massenpunkt in Richtung des Krümmungsmittelpunktes (Abb. 3.50a), der bei konstanter Pendellänge mit dem Aufhängepunkt (D) zusammenfällt. Die Gegenkraft (-Fr) zur Zentripetalkraft (Fr) greift am Aufhängepunkt an und ist ihr entgegengerichtet. Der Betrag der Zentripetalkraft ist von der Masse und von der Drehgeschwindigkeit abhängig. Ist die Drehgeschwindigkeit = Null wie im Umkehrpunkt des Pendels (Abb. 3.50a), ist auch die Zentripetalkraft = Null. Mit zunehmender Drehgeschwindigkeit in der Abschwungphase steigt der Betrag der Zentripetalkraft, während Ihr Betrag in der Aufschwungphase wieder abnimmt.

Fz

Fz

-Fr

Fr

Fl

Fz

Fl

FG Fz

Fl

Umkehrpunkt

D

D

a) b)

Umkehrpunkt

l

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Die Größe der Zentripetalkraft berechnet sich nach der Formel Fr = m * r * ω² , wobei m die Masse, r der Radius und ω die Winkelgeschwindigkeit darstellen. In den hier benutzten Beispielen (Abb. 3.49 bis Abb. 3.52) ist der Radius r durch die Pendellänge l zu ersetzen.

Für den Turnenden scheint die Zentripetalkraft jedoch von der Körpermasse weg in radialer Richtung nach außen gerichtet zu sein, indem er das Gefühl hat, sie würde ihn zusätzlich zur Wirkung der Schwerkraft vom Aufhängepunkt weg „ziehen“. Diese Kraft, die man auch an der Hand spürt, wenn man ein Maurerlot an einem Faden pendeln lässt oder im Kreis herum schwingt, wird Zentrifugalkraft bzw. Fliehkraft genannt.

Der von „außen“ eine Pendelbewegung oder einen schwingenden Turner beobachtende Physiker muss die Fliehkraft als Scheinkraft behandeln. Für den Turnenden selbst ist die Fliehkraft jedoch äußerst real, und er muss sich ihr durch Aufbringung von Muskelkraft widersetzen. Aus diesem Grunde wird im Folgenden auch weiter mit ihr argumentiert.

Abb. 3.51: Kippe vorwärts an den Schaukelringen in den Stütz (a) und Grätschüberschlag rückwärts an den Schaukelringen (b). D: Drehpunkt. Fr: Zentripetalkraft. -Fr: Gegenkraft zur Zentripetalkraft. Fz: Zentrifugalkraft (Fliehkraft).

b) a)

Fr KSP

-Fr

Fz

D D

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Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass es in der Turnpraxis unmöglich wäre, einen im Hang schwingenden Körper allein durch die Muskelkraft des Griffes vor einem Griffverlust zu schützen. Dazu ist in einem beträchtlichen Maß die Reibungskraft zwischen Hand und Gerät erforderlich, die durch entsprechende Maßnahmen (Griffleder, Magnesium) verbessert werden muss.

Da in den Umkehrpunkten beim Schwingen an den Schaukelringen auf den Turner nur die radiale Komponente der Schwerkraft wirkt, der Turner also hier recht „leicht“ ist, eignet sich dieser Schwungabschnitt am besten zur Ausführung von turnerischen Elementen, die den Turner in eine höhere Position in Bezug zum Griffpunkt transportieren, etwa ein Heben des Körpers aus dem Hang in den Sturzhang, eine Kippe aus dem Sturzhang in den Stütz (Abb. 3.51a) oder sogar eine Schwungstemme aus dem Hang in den Stütz. Generell gilt für alle Schwünge:

Löst der Turner – beispielsweise im Laufe der Aufschwungphase – den Griff, verschwinden augenblicklich die Zentripetalkraft und ihre Gegenkraft bzw. die Fliehkraft. Der Turner, bzw. sein Körperschwerpunkt, bewegt sich gemäß dem Trägheitsgesetz in Richtung der Tangenten an den Krümmungskreis (Abb. 3.51b) und kann auf diese Weise einen Abgang turnen.

[49] Im Umkehrpunkt zwischen zwei Schwüngen wirken die geringsten äußeren Kräfte auf den Turner, so dass er hier besonders mühelos Zusatzaufgaben wie Griffwechsel, Drehungen um die Längsachse, Anristen der Beine, Stemmen und Kippen ausführen kann.

Beim Schwingen allgemein sowie beim Schaukeln an den Ringen im Besonderen muss der Turnende zusätzlich zur Schwerkraft auch die Fliehkraft ertragen. Diese ist im Umkehrpunkt der Schwünge gleich Null, wächst in der Abschwungphase bis zur Senkrechten unter dem Aufhängepunkt und nimmt in der Aufschwungphase wieder ab.

Die Fliehkraft wird umso größer, je größer die Drehgeschwindigkeit während des Schwunges ist.

Der Turnende muss die Fliehkraft sowie die jeweilige radiale Komponente der Schwerkraft durch Aufbringen von Muskelkraft (Festhalten des Griffes) kompensieren.

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3.10.4 Verstärkung des Schwunges durch Pendelverkürzung

Das Ziel des Schwungturnens ist es nicht, einfach nur mit konstanter Schwingungsweite hin und her zu pendeln, sondern der Turnende ist bestrebt, seine Schwingungsweite von Schwung zu Schwung zu vergrößern. Diese Vergrößerung der Schwingungsweite soll im Folgenden Schwungverstärkung genannt werden. Wie diese zu bewerkstelligen ist, kann man sich an einem Fadenpendel, dessen Faden man - wie auf Abb. 3.52a dargestellt – über den Finger laufen lässt, leicht verdeutlichen:

Lässt man das Pendel, dessen Faden über den linken ortsfest gehaltenen Zeigefinger läuft, hin und her schwingen, kann man durch Zug mit der rechten Hand am Faden die Länge des Pendels verkleinern. Führt man diesen Zug aus, wenn das Pendel sich gerade im Umkehrpunkt befindet, bleibt die Schwingungsweite des Pendels unbeeinflusst. Zieht man jedoch genau dann am Pendelfaden, wenn das Pendel gerade die Senkrechte unter dem Aufhängepunkt durchläuft, schwingt das Pendel zu einer wesentlich größeren Aufschwunghöhe auf, d.h. die Schwingungsweite wird vergrößert.

Abb. 3.52: Pendelverkürzung am Fadenpendel (a) und am mathematischen Pendel mit Pendelverkürzung (b). D: Drehpunkt. Fa: Kraft der Verkürzungsaktion. Ft: tangentiale Komponente von Fa . Fr: radiale Komponente von Fa (Zentripetalkraft). l1 – l3: unterschiedliche Pendellängen. M: Krümmungsmittelpunkt. r: Radius

a) b)

P1

P2

P3

P4

P5 l1M

l2 l1 l3

FaFr Ft

r

Dl3

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Durch den Zug am Faden wirkt auf den Pendelkörper eine Kraft (Fa) in Richtung Drehpunkt (D). Diese beschleunigt den Pendelkörper in dieser Richtung und die Bahn des Pendels erfährt eine stärkere Krümmung, so dass der Krümmungsmittelpunkt (Abb. 3.52b, M) nicht mehr mit dem Aufhängepunkt (D) zusammenfällt. Somit zerlegt sich die auf den Aufhängepunkt gerichtete Kraft in eine radiale Komponente (Fr), die auf den Krümmungsmittelpunkt (M) gerichtete ist und eine Vergrößerung der Zentripetalkraft bedeutet, und eine tangentiale Komponente (Ft), die eine (zusätzliche) Bahnbeschleunigung des Pendels besorgt.

Für das Schwingen im Gerätturnen ergibt sich daraus die Forderung, für eine Schwungverstärkung Aktionen durchzuführen, die die Masse des Turners näher an die Drehachse bringen und auf diese Weise das Pendel, das der schwingende Turner darstellt, zu verkürzen. Dies muss ausgerechnet in dem Augenblick des Pendelschwunges geschehen, in dem die äußeren Kräfte, die am Turnerkörper „ziehen“, am größten sind (s. Abb. 3.50), nämlich im Augenblick des Durchschwingens der Senkrechten unter dem Aufhängepunkt. Je größer somit die Fliehkraft und die radiale Komponente der Schwerkraft sind, desto anstrengender wird es, einen bestimmten Anteil der Körpermasse dem Drehpunkt zu nähern.

Die Massenannäherung kann natürlich nicht punktuell erfolgen. Statt dessen wird für diese Aktion eine bestimmte Zeit benötigt, so dass die Massenannäherung in einem je nach der Dynamik der Aktion kleineren oder größeren Sektor, der sich jedoch senkrecht unter der Drehachse befinden soll, erfolgen muss.

Einige verschiedene Möglichkeiten, die Körpermasse zwecks Pendelverkürzung der Drehachse anzunähern, sind in Abb. 3.53 dargestellt.

Aus dem Langhang (Abb. 3.53a) lässt sich ein großen Anteil der Körpermasse durch die Arm- und Schultermuskulatur dem Aufhängepunkt nähern (Abb. 3.53b). Da diese Muskelgruppe aber relativ schwach ist, wird diese Möglichkeit selten zur Anwendung kommen, beispielsweise bei einem einleitenden Schwungholen am Reck. Bei größeren Schwüngen, d.h. bei höheren Fliehkräften,

[3.50] Eine Schwungverstärkung ist durch eine Pendelverkürzung zu erreichen. Die Wirkung der Pendelverkürzung ist um so größer, je größer die Drehgeschwindigkeit des Pendels um den Drehpunkt im Augenblick der Pendelverkürzung ist. Da die Drehgeschwindigkeit des Pendels senkrecht unter dem Aufhängepunkt am größten ist, hat hier eine Pendelverkürzung den größten Effekt. Eine Pendelverkürzung im Umkehrpunkt des Pendels ist im Hinblick auf die Vergrößerung der Schwingungsweite wirkungslos.

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können nur kleinere Massenanteile des Körpers, etwa die Beine, erfolgversprechend der Drehachse angenähert werden. Dazu sind außerdem kräftigere Muskelgruppen erforderlich, etwa die Rumpfstreckmuskulatur (Abb. 3.53c) oder die Rumpfbeugemuskulatur (Abb. 3.53d).

Abb. 3.53: Beispiele der Annäherung der Körpermasse (vertreten durch den Schwerpunkt) an die Drehachse zwecks Pendelverkürzung zur Schwungverstärkung

Im ersteren Fall (Abb. 3.53c) ist der Betrag der Massenannäherung derart gering, dass davon selten Gebrauch gemacht wird, während das Beugen der Hüfte (Abb. 3.53d) die gebräuchlichste Form der Schwungverstärkung im Langhang darstellt – dies allerdings nicht ausschließlich aus Gründen der Pendelverkürzung, wie weiter unten noch zu besprechen ist.

Im Sturzhang lassen sich relativ große Massenanteile durch die kräftige Körperstreckmuskulatur der Drehachse annähern (Abb. 3.53e und Abb. 3.53f), was bei den Sturzhangschwüngen an Reck, Barren und Stufenbarren, aber auch beim Sturzhangschwingen an den Schaukelringen (Abb. 3.54a) praktiziert wird. Für das Schwingen im Stütz (Abb. 3.53g und Abb. 3.5h) gelten ähnliche Bedingungen wie für das Schwingen im Hang (Abb. 3.53a bis Abb. 3.53d).

a) b) c) d)

e) f) g) h)

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Generell gilt für die Pendelverkürzung zur Schwungverstärkung:

Abb. 3.54: Pendelverkürzung und Pendelverlängerung beim Schwingen an den Schaukelringen. KSP: Körperschwerpunkt

KSP

KSP KSP

KSP

Pendel- verkürzung

Pendel- verkürzung

Pendel- verlängerung

Je größer der Schwung bei einem turnerischen Element ist, eine desto kräftigere Muskelgruppe muss für die Massenannäherung (= Pendelverkürzung) eingesetzt werden bzw. eine umso geringere Teilmasse des Körpers kann aufgrund der hohen Fliehkräfte an die Drehachse angenähert werden.

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Da eine Veränderung der Pendellänge im Umkehrpunkt eines Schwunges keinen Einfluss auf die Schwingungsweite hat, lässt sich im Umkehrpunkt das Körperpendel wieder verlängern, ohne einen Schwungverlust befürchten zu müssen.

Diese Pendelverlängerung ist notwendig, um einerseits der Schwerkraft Gelegenheit zu geben, dem Körper im folgenden Abschwung eine große Drehgeschwindigkeit zu vermitteln und um andererseits gegen Ende des Abschwunges erneut die Möglichkeit zu einer weiträumigen Pendelverkürzung zwecks weiterer Schwungsteigerung zu eröffnen (Abb. 3.54).

3.10.5 Schwingen eines physikalischen Pendels

Nur in wenigen Ausnahmen (Schwingen an den Schaukelringen) kann der schwingende Turner grob angenähert mit einem mathematischen Pendel verglichen werden. Im Allgemeinen stellt der Turner aufgrund seiner ausgedehnten Masse ein physikalisches Pendel dar.

Bei einem physikalischen Pendel muss neben der kreisförmigen Bewegung um den Aufhängepunkt zusätzlich die Rotation der Körpermasse um den Körperschwerpunkt beachtet werden. Die Pendelbewegung eines physikalischen Pendels bzw. eines Turners z.B. im Hang am Reck muss somit als eine aus einer Translation (Bewegung des Körperschwerpunktes auf einer Kreisbahn) und einer Rotation (Drehung des Körpers um den Körperschwerpunkt) angesehen werden (s. Kap. 3.2). Im Folgenden soll jedoch die Bewegung beim Schwingen auf eine Rotation des Turnerkörpers um den Aufhängepunkt als Drehachse vereinfacht und die translatorische Komponente vernachlässigt werden.

Zur Erläuterung soll das in Abb. 3.55 dargestellte Pendel dienen.

Dreht man das Pendel aus der stabilen Gleichgewichtslage heraus und lässt es los, wirkt auf seine Masse, vertreten durch den Schwerpunkt (KSP), die Schwerkraft (FG) unter einem Kraftarm (d1). Die Drehkraft (das Drehmoment) FG * d1 versetzt nun das Pendel in eine Drehbewegung um den Drehpunkt D. Die Drehgeschwindigkeit des Pendels wächst bis zum Punkt senkrecht unter der

Im Umkehrpunkt eines Schwunges ist natürlich die Körpermasse wieder soweit wie möglich bzw. soweit es das Ziel der Übung erlaubt von der Drehachse zu entfernen.

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Drehachse, wobei die Drehkraft ständig abnimmt, nämlich proportional zur Abnahme des Kraftarmes d (s. Abb. 3.55, Kraftarm d2). Schwingt das Pendel aufgrund der Trägheit unter dem Drehpunkt hindurch, entsteht für die Schwerkraft FG wieder ein Kraftarm (s. Abb. 3.55, Kraftarm d3), der sich jetzt "auf der anderen Seite“ der Schwerkraft befindet, was bedeutet, dass die Drehwirkung der Drehkraft FG * d3 derjenigen der Drehkraft FG * d1 entgegengerichtet ist: Die Bewegung des Pendels wird zunehmend stärker abgebremst, bis die Ausgangshöhe (= Umkehrpunkt) erreicht ist. Von hier wirkt die Schwerkraft wieder abwärts beschleunigend.

Abb. 3.55: Physikalisches Pendel. D: Drehachse. d1 – d4: Kraftarm der Schwerkraft bezüglich D in verschiedenen Phasen des Pendelschwunges. FG: Schwerkraft. KSP: Körperschwerpunkt

Allerdings bildet der Körper des Turners nicht ein derart starres Pendel wie in Abb. 3.55 dargestellt. Satt dessen besteht es aus mehreren gelenkig miteinander verbundenen Abschnitten. Dies kann für die Gestaltung des Schwingens Vorteile, aber auch Nachteile mit sich bringen.

Die Nachteile werden schnell deutlich, wenn man mit einem zweigliedrigen Pendel experimentiert:

FG

d1

d3 d2

d4 KSP

D

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Abb. 3.56: Zweigliedriges physikalisches Pendel. D: Drehachse. KSP1, KSP2: Teilschwerpunkte

Lenkt man ein zweigliedriges Pendel aus und lässt es aus einer gestreckten Position abwärts schwingen (Abb. 3.56a), kann man beobachten, dass das Pendel nicht in der gestreckten Form verharrt, sondern die beiden Glieder knicken im Laufe der Abschwungphase gegeneinander ab. Die Ursache liegt darin, dass die Erdbeschleunigung alle Massenteile mit gleichem Betrag beschleunigt, so dass die einzelnen Massenteile bestrebt sind, in gleichen Zeiten gleiche Strecken („Fallstrecken“) zurückzulegen (Abb. 3.56a). Durch die Art der Befestigung am Aufhängepunkt bzw. untereinander wird dies jedoch verhindert, so dass die dem Aufhängepunkt näher gelegenen Segmente in der Drehbewegung vorauszueilen scheinen, was den Körper in sich abknicken lässt.

Gleiches widerfährt demjenigen Turner, der in der Abschwungphase zum Schwung im Langhang seinem Körper keine Spannung verleiht. Unter der Wirkung der Erdbeschleunigung wird er „ins Hohlkreuz“ (in eine Überstreckung) gezwungen. Die Folge kann sein, dass – bedingt durch Schwerkraft und Fliehkraft – in der Senkrechten unter der Reckstange ein Konterschwung („Sackschwung“) auftritt, der Ursache für ein Verlieren des Griffes sein kann (Abb. 3.56b).

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Daraus resultiert eine erste Regel für das Schwungturnen im Hang:

Abb. 3.57: Unterschiedliche Körperhaltung in der Abschwungphase beim Vorschwung im Hang (a). Zweigliedriges physikalisches Pendel mit Pendelverkürzung (b). D: Drehachse. d1 – d3: Unterschiedliche Kraftarme der Schwerkraft. FG: Schwerkraft. KSP: Körperschwerpunkt.

In der Abschwungphase sollte der Körper des Turners durch aktive Muskelspannung in der für die jeweilige Übung günstigen Körperstellung fixiert werden.

a)

KSP

b)

D

D

KSP

FG d1

d2

d3

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Der Vorteil der Tatsache, dass das Körperpendel aus gegeneinander drehbaren Segmenten besteht, liegt darin, dass der Turner in der Lage ist, die Länge des Pendels zu verändern, d.h. seine Körpermasse – je nach Erfordernis – von der Drehachse zu entfernen bzw. ihr anzunähern und auf diese Weise sein Trägheitsmoment in Bezug zur Drehachse zu verändern.

Zur Beantwortung der ersten Frage mache man sich klar, dass die Größe der Drehbewegung, die der Turner (bzw. das Pendel) in der Senkrechten unter dem Drehpunkt besitzt, von der Größe der Drehkraft (des Drehmomentes der Schwerkraft) und der Größe der Wirkungszeit der Drehkraft abhängig ist. Die Wirkungszeit der Drehkraft lässt sich dadurch vergrößern, dass man das Pendel aus einer größeren Höhe abschwingen lässt, die Größe der Drehkraft lässt sich - da die Schwerkraft durch die Masse des Pendels vorgegeben ist - nur durch die Vergrößerung des Kraftarmes der Drehkraft erreichen. D. h., je weiter sich die Masse von der Drehachse entfernt befindet, was bei völlig gerade gestrecktem Körper der Fall ist (s. Abb. 3.57a), um so größer wird der Kraftarm der Drehkraft. Daraus lässt sich eine zweite Regel für das Schwungturnen ableiten:

Will der Turner im abschwingenden Teil einer Schwungbewegung einen möglichst großen „Schwung“ (eine möglichst große Drehbewegung) bekommen, sollte er den Abschwung aus einer möglichst großen Höhe beginnen und während des gesamten abschwingenden Teils der Schwungbewegung seine Körpermasse soweit wie möglich, bzw. so weit es die Struktur des Turnelementes erlaubt, von der Drehachse entfernt halten.

Für ein effektives Schwungturnen ergeben sich folgende Fragen:

1. Wie kann der Turner einen möglichst großen "Schwung“ (physikalisch richtig: eine möglichst große Drehbewegung, einen möglichst großen Drehimpuls) bekommen?

2. Wie kann der Turner seine Aufschwunghöhe gegenüber der Abschwunghöhe steigern?

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Das Erfüllen dieser Regel verhindert zusätzlich den oben beschriebenen Sackschwung bei Erreichen der Senkrechten unter der Drehachse. Das gilt insbesondere für die Grundschulung im Gerätturnen. Über abweichende Ausführungen der Abschwungphase beim Leistungsturnen muss noch in Kap. 3.10.9 gesprochen werden.

Nun zur Beantwortung der zweiten Frage! Die Schwerkraft, die dem Turner im abschwingenden Teil der Schwungbewegung den „Schwung" besorgt, ist in gleicher Weise für den Verlust an „Schwung“ im aufschwingenden Teil verantwortlich. Will demnach der Turner im aufschwingenden Teil der Schwungbewegung zu einer Aufschwunghöhe gelangen, die höher liegt als die Abschwunghöhe, muss er im aufschwingenden Teil in irgendeiner Weise die Schwerkraft „überlisten“: Er muss sich genau entgegengesetzt verhalten wie im abschwingenden Teil der Schwungbewegung, nämlich die Körpermasse der Drehachse annähern (s. auch Kap. 3.10.4). Die Wirkung dieses Verhaltens kann – je nach Sichtweise – unterschiedlich begründet werden:

1. Der Turner verkleinert den Kraftarm der Schwerkraft, so dass die Schwung bremsende Wirkung der Schwerkraft (d.h., das Schwerkraftmoment FG * d) kleiner wird. Aus diesem Grunde kann er zu einer größeren Höhe aufschwingen, bevor es der Schwerkraft gelingt, seine Drehbewegung zum Stillstand zu bringen.

2. Er nutzt den Drehimpulserhaltungssatz aus, indem er durch die Verkleinerung des Trägheitsmomentes seines Körpers (I = m * r²) seine Winkelgeschwindigkeit (ω) vergrößert (s. dazu Kap. 3.5 und 3.6 und Abb. 3.33).

Die Erläuterung über den Drehimpulserhaltungssatz stößt auf das Problem, dass der Drehimpuls des Pendels nicht konstant ist, sondern im Abschwingen wächst und im Aufschwingen abnimmt. Man kann sich jedoch vor und hinter der Senkrechten unter der Drehachse einen hinreichend kleinen Abschnitt mit näherungsweise konstantem Drehimpuls vorstellen, innerhalb dessen die Verkleinerung des Trägheitsmomentes eine Vergrößerung der Winkelgeschwindigkeit bedingt.

3. Der Turner vergrößert seine Drehgeschwindigkeit zusätzlich dadurch, dass er durch Muskelaktionen seinen Körper tangential in Schwungrichtung beschleunigt (s. Kap. 3.10.4 und Abb. 3.52).

4. Er vermittelt seinem Körper einen zusätzlichen Drehimpuls im Rückwärtsdrehsinn, indem er den Beinen durch die Hüftbeugeaktion einen Drehimpuls im Drehsinn rückwärts vermittelt.

Ein 5. Effekt wird erst in Kap. 3.10.7 beschrieben.

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Die Effekte Nr. 2 und 3 bewirken zusätzlich, dass die Wirkungszeit der Schwerkraft zum Abbremsen der Schwungbewegung noch weiter reduziert wird.

Wichtig ist noch zu wissen, zu welchem Zeitpunkt des Schwunges die Massenannäherung an die Drehachse erfolgen muss: natürlich – wie schon in Kap. 3.10.4 im Zusammenhang mit der Pendelverkürzung beschrieben - genau dann, wenn der Drehimpuls gerade seinen größten Wert erreicht hat, nämlich senkrecht unter der Drehachse. Eine Massenannäherung zu irgendeinem anderen Zeitpunkt hat einen geringeren Erfolg, eine Massenannäherung im Umkehrpunkt des Pendels hat überhaupt keine schwungverstärkende Wirkung.

Auch hier lässt sich die Massenannäherung in der Praxis nicht derart "punktuell" durchführen. Statt dessen wird für diese Aktion eine bestimmte Zeit benötigt, so dass die Massenannäherung in einem je nach der Dynamik der Aktion kleineren oder größeren Sektor, der sich jedoch senkrecht unter der Drehachse befinden soll, erfolgen muss (Abb. 3.58).

Aus all dem lässt sich nun eine dritte Regel für das Schwungturnen ableiten:

Will ein Turner seinen im abschwingenden Teil der Schwungbewegung gewonnenen „Schwung“ möglichst effektiv steigern, muss er in einem möglichst schmalen Sektor senkrecht unter der Drehachse seine Masse der Drehachse annähern und die dabei erlangte Körperposition im aufschwingenden Teil der Schwungbewegung beibehalten, bis das Erreichen der geplanten Aufschwunghöhe garantiert ist.

Vereinfacht könnten die beiden Regeln für das Schwungturnen zusammengefasst lauten:

„Im Abschwung weg von der Stange, im Aufschwung ran an die Stange!“

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Diese vereinfachte Regel kann natürlich nur eine grobe Orientierung geben und muss, wie im Folgenden gezeigt werden soll, auf die verschiedenen Schwungsituationen angepasst werden.

Abb. 3.58: Vorschwung im Langhang am Reck, korrekte Ausführung.. D: Drehachse. KSP: Körperschwerpunkt

Auf einige Möglichkeiten der Massenannäherung beim Übergang von der Abschwungphase zur Aufschwungphase und auf die damit verbundenen Schwierigkeiten wurde schon in Kap. 3.10.4 und Abb. 3.53 hingewiesen. Beim Vorschwung im Hang am Reck bleibt nur die Möglichkeit, in etwa senkrecht unter der Reckstange die Hüfte kräftig zu beugen in Form eines Nach-vorn-oben-Peitschens der Beine. Ein korrekter Vorschwung im Hang erhält damit die in Abb. 3.58 dargestellte Form. Der gestrichelte Kreisbogen stellt jeweils die theoretische Kreisbahn des Körperschwerpunktes um den Drehpunkt dar. Die ausgezogene Linie verdeutlicht die tatsächliche Schwerpunktbahn, an der man den Zeitpunkt und das Ausmaß der Massenannäherung an die Drehachse ablesen kann.

D

KSP

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Durch die Hüftbeugeaktion wird das Trägheitsmoment des Körpers zwar nur von I = 85 kg*m² auf rund I = 70 kg*m² (berechnet für eine Person mit den in Abb. 3.26 zugrunde gelegten Daten) verkleinert, auf Grund der oben beschriebenen zusätzlichen Effekte reicht es jedoch aus, den Schwung spürbar zu vergrößern.

Allerdings steht der konsequenten Befolgung der dritten Regel für das Schwungturnen die Tatsache entgegen, dass die Aktionen zur Massenannäherung gerade in derjenigen Phase der Schwungbewegung erfolgen müssen, in der die Schwerkraft und die Fliehkraft ihren höchsten Wert anstreben und gemeinsam von der Drehachse weg, senkrecht nach unten, also der verlangten Massenannäherung entgegen gerichtet sind.

Abb. 3.59: Schwingen im Langhang an der sprunghohen Stange (Einzelphasen nach Schmalfilm)

Turnende lassen gern diese Phase verstreichen und führen die Massenannäherung an die Drehachse erst dann aus, wenn der Körper wieder „leicht“ wird und sich die Pendelverkürzung mühelos realisieren lässt - in einer Phase also, in der die entgegengerichteten Kräfte schon wieder abgenommen haben (Abb. 3.59). Die Folge ist natürlich eine weniger optimale Aufschwunghöhe. Hier müssen

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Trainer und Lehrer auf die Übenden einwirken und ihnen bewusst machen, dass die Aktionen gerade dann zu realisieren sind, wenn die äußeren Kräfte am stärksten den Körper nach unten ziehen.

Es sei an dieser Stelle schon darauf hingewiesen, dass bei turnerischen Elementen, die durch den Langhang führen, je nach Gerätesituation und Schwungrichtung weitere Zusatzbedingungen zu berücksichtigen sind, die in Kap. 3.10.7 besprochen werden.

Sollte es das Bewegungsziel sein, nach einem Umkehrpunkt einen Rückschwung im Langhang anzufügen, ist es – wie schon in Kap. 3.10.4 festgestellt – notwendig, im Umkehrpunkt des Schwunges den Körper wieder zu strecken (die Körpermasse wieder von der Drehachse zu entfernen, den Körper wieder „lang zu machen“), um die oben aufgestellte erste Regel für das Schwungturnen zu erfüllen. Dabei wird die Hüfte nicht völlig gestreckt, sondern – wie auch bei der Abschwungphase des Vorschwunges (Abb. 3.58) - in eine „gebundenen“ Stellung (d.h. mit leicht fixierten Hüftmuskulatur) gebracht, um diese Haltung gegen die verformende Wirkung der Erdbeschleunigung während der gesamten Abschwungphase beibehalten zu können.

3.10.6 Schwingen im Sturzhang

Bei den Sturzhangschwüngen(Abb. 3.60) wird die Massenannäherung an die Drehachse durch koordinierte Aktionen sowohl im Hüft- als auch im Schultergelenk realisiert, wobei im Hüftgelenk eine Streckung, im Schultergelenk eine Retroversion (der Arme in Bezug zum Rumpf; Kap. 2.1) durchzuführen sind. Beide Aktionen müssen an die jeweilige Schwungrichtung (vorwärts oder rückwärts), an das Verhalten zum Gerät (vorlings oder rücklings) und an das Bewegungsziel angepasst werden.

Da das Erlernen der Kippe vorlings vorwärts einen Markstein in der Entwicklung eines jeden turnerischen Werdeganges darstellt und sie aus diesem Grunde in der Methodik mit der entsprechenden Ausführlichkeit behandelt wird, weil sie zudem als Grundtyp des Sturzhangschwunges angesehen werden kann, soll sie hier ausführlicher besprochen werden.

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Abb. 3.60: Schwünge durch den Sturzhang. a): Kippe (Kippaufschwung) vorlings vorwärts am Reck. b): Felgabgrätschen vorlings rückwärts am Reck. c): Ellgriffkippe am Barren. d): Felgumschwung rücklings vorwärts am Reck

Bei der Kippe vorlings vorwärts (Abb. 3.60) beginnt die Massenannäherung (Pendelverkürzung) schon zu einem Zeitpunkt, bevor die Masse des Körpers senkrecht unter der Drehachse hindurch schwingt. Dies ist aufgrund des Vorlingsverhaltens und der Bewegungsrichtung erforderlich, weil andernfalls die Fliehkräfte zu groß würden, um den Körper noch der Reckstange annähern zu können. Gleichwohl darf die Übung auf eine deutliche Abschwungphase nicht verzichten, um der Schwerkraft Gelegenheit zu geben, im Körper einen Drehimpuls zu schaffen, d.h. den Körper in eine deutliche Drehbewegung um die Reckstange zu versetzen. Der wesentliche Anteil der Massenannäherung erfolgt jedoch nach Durchschwingen der Senkrechten unter der Drehachse (Abb. 3.60a, Abb. 3.61c und Abb. 3.62). Die Verkleinerung des Trägheitsmomentes um fast 50% - mit der damit verbundenen Verdoppelung der Winkelgeschwindigkeit - garantiert, dass auch bei einer mäßig weiten Amplitude des Abschwunges das Bewegungsziel, der Stütz, erreicht werden kann.

a) d)c)b)

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Diese Forderungen an den Bewegungsablauf des Kippaufschwunges und die daraus resultierenden Maßnahmen für die Methodik werden zwar schon seit langem gestellt (s. z.B. WIEMANN 1968 und 1969), trotzdem wird immer wieder – selbst von versierten Turntrainern – die Forderung nach einer explosiven Bewegungsweise (Kippstoß oder Kippschlag) erhoben, was u.a. BRUNKE / ZAISS noch 2003 nach Computersimulationen zu der „neuen Erkenntnis“ über die korrekte Form des Kippaufschwunges ohne Kippstoß führt.

Die Kippstreckung erzeugt in Rumpf und Beinen Teildrehimpulse, die einander entgegengerichtet sind. Sie heben sich somit in Bezug zum Gesamtkörper gegenseitig annähernd auf. Schon dies ist ein Grund, die Forderung des Blockierens einer Kippstreckung zwecks Drehimpulsübertragung zu verwerfen (s. auch Kap. 3.8). Tatsächlich wird nicht nur hier, sondern bei den meisten turnerischen Elementen, bei denen der Körper durch den Sturzhang schwingt, die Hüftstreckbewegung nicht abrupt angehalten, sondern sie klingt in der Regel mit dem Erreichen des Bewegungszieles aus.

Um in den Sturzhangschwung vorwärts zu gelangen, der die Kernphase aller Kippen vorlings vorwärts bildet, stehen mehrere Möglichkeiten zur Verfügung, von denen im Folgenden die gebräuchlichsten genannt sind: - Absenken aus dem Stütz in den Sturzhang (Stützkippe), - Vorschwung im Langhang am hohen Reck oder am hohen Holm des Stufenbarrens (Schwungkippe, Abb. 3.61a), - Vorschweben im Schwebehang am Stützreck oder am niedrigen Holm des Stufenbarrens (Schwebekippe, Abb. 3.61b), - Vorlaufen aus dem Hangstand am Stützreck oder am niedrigen Holm des Stufenbarrens (Laufkippe).

Im Laufe der Kippe vorlings vorwärts kann die Aktion zur Annäherung der Körpermasse an die Drehachse, eine Verkleinerung des Arm-Rumpfwinkels und eine Vergrößerung des Hüftwinkels, Kippstreckung genannt werden, um sie vom Kippstoß bzw. Kippschlag der „echten“ Kippen (z.B. Oberarmkippe) abgrenzen zu können. Der Turner empfindet sie als ein dosiert dynamisches Schieben der Beine an der Reckstange entlang nach oben, unterstützt durch eine Zugbewegung aus der Schulter heraus.

Also: Kein Kippstoß beim Kippaufschwung!

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Abb. 3.61: Schwungkippe (a→c) und Schwebekippe (b→c)

Nun könnte man die Meinung vertreten, die Massenannäherung zur Schwungsteigerung (Pendelverkürzung) beginne schon in der Aufschwungphase des einleitenden Schwunges und würde sich im Sturzhangschwung fortsetzen. Aus folgenden biomechanischen, turntechnischen und lehrmethodischen Gründen sollte man jedoch beide Schwünge klar voneinander trennen:

1. Das Vorhochschwingen der Beine („Anristen“) beim Vorschwung im Langhang (Abb. 3.61a) verkürzt zwar das Langhangpendel und könnte aus den beschriebenen Gründen dessen Schwungamplitude erweitern. Aber bei einer turntechnisch gut gestalteten Schwungkippe werden die beiden Schwünge (Langhangschwung und Sturzhangschwung) sauber herausgeturnt, indem der Langschwung in der Aufschwungphase einen gestreckt gespannten Körper zeigt und das Anristen der Beine zum Sturzhangschwung

a)

b)

c)

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erst annähernd im Umkehrpunkt erfolgt (Abb. 3.61a). Ähnliches gilt auch für die Schwebekippe (Abb. 3.61b) und die Laufkippe. Somit kann das Anristen zwar das Körperpendel verkürzen, diese Aktion hat aber kaum einen schwungsteigernden Effekt.

2. Am Ende des Langhangschwunges (und des Anschwebens), also beim Übergang zum Sturzhangschwung, tritt wie zwischen jedem Hin- und Herschwung ein Umkehrpunkt auf, in dem der Drehimpuls des Körpers gegen Null strebt, um sich im Sturzhangschwung unter der Wirkung der Schwerkraft mit umgekehrtem Drehsinn wieder aufzubauen. Aus diesem Grunde wäre es sinnlos, zu Beginn des Sturzhangschwunges mit der Pendelverkürzung schon zu beginnen oder gar die Massenannäherung, mit der man gegen Ende des Langschwunges schon begonnen hat, hier ohne Pause weiterzuführen. Statt dessen muss in einer Abschwungphase , die um so deutlicher sein muss, je geringer die Schwungamplitude ist (Abb. 3.62), zuerst „Schwung“ gewonnen werden, der dann durch eine Pendelverkürzung, die Kippstreckung, gesteigert werden kann.

3. Turnanfänger, die schon gegen Ende des einleitenden Schwunges die Beine an die Reckstange angeristet haben, neigen dazu, schon im Umkehrpunkt zwischen einleitendem Schwung und Sturzhangschwung oder kurz danach, also zu einem Zeitpunkt, in dem der Körper noch keinen genügend großen Drehimpuls mit Vorwärtsdrehsinn erhalten hat, die für die Kippe vorlings vorwärts notwendige Massenannäherung durchzuführen. Da diese in diesem Fall zu keiner deutlichen Vergrößerung der Drehgeschwindigkeit beitragen kann, dreht sich der Körper nicht bis in den Stütz, sondern fällt hinter der Reckstange nach unten. In der lehrmethodischen Praxis ist deshalb großes Augenmerk auf das richtige Timing und die korrekte Dosierung der Kippstreckung zu legen. Die Wahrscheinlichkeit, dass wegen einer zu früh eingeleiteten Kippstreckung die Übung misslingt, ist ungleich größer als das bei einer vermeintlich zu spät eingeleiteten Kippstreckung der Fall ist.

Bei allen Formen der Kippe (des Kippaufschwunges) vorlings vorwärts sollten der einleitende Schwung (Hinschwung) und der Sturzhangschwung (Herschwung) sauber herausgeturnt werden und das Anristen annähernd im Umkehrpunkt zwischen beiden Schwüngen erfolgen. Die Pendelverkürzung des Sturzhangschwunges sollte deutlich von der Massenannäherung durch das Anristen getrennt sein und erst etwa senkrecht unter der Reckstange beginnen.

Ein Verwischen dieser Strukturen führt zu einem geringeren Erfolg und zu einem wenig ansehnlichen Bewegungsablauf.

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Abb. 3.62: Bahn des Körperschwerpunktes bei der Schwungkippe bei unterschiedlicher Dynamik des Langhangschwunges.

Wie bei der Kippe vorlings vorwärts wird auch bei den übrigen Schwüngen durch den Sturzhang die Aktion zur Massenannäherung nicht abrupt angehalten, sondern klingt mit Erreichen des Übungszieles aus. Dies ist insbesondere auch bei den Felgumschwüngen vorlings rückwärts zu erkennen, von denen in (Abb. 3.60 b) das Felgabgrätschen dargestellt ist. Die Hüftstreckbewegung, die das Heranbringen der Körpermasse an die Drehachse durch Verkleinerung des Arm-Rumpfwinkels (im Sinne einer Retroversion) unterstützt, klingt erst im Handstand oder - wie in Abb. 3.60 b – in der Hüftstreckung des freien Fluges aus. Die Retroversion im Schultergelenk kann, sobald abgeschätzt werden kann, dass das Übungsziel erreicht wird, in eine Anteversion umgeändert werden, um den Körper über der Drehachse weit nach oben zu transportieren. Eine spezifische Schwierigkeit der Felgen vorlings rückwärts liegt darin begründet, dass allein die Schultermuskeln, im Besonderen die Retroversoren, den Körper beim Übergang von der Abschwungphase in die Aufschwungphase der Reckstange annähern müssen. Damit sie bei dieser Aufgabe nicht überfordert werden, darf die Körpermasse gemäß der vorn genannten ersten Regel für das Schwungturnen in der Abschwungphase nicht einen allzu großen Abstand von der Drehachse zeigen - je nach Kraft und Geschick des Turnenden nur zwei bis drei Handbreiten zwischen Reckstange und Hüfte.

Langhangschwung

Sturzhangschwung

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Als Beispiel von turnerischen Elementen, denen ein Sturzhangschwung rücklings vorwärts zugrunde liegt, sind in Abb. 3.60 die Ellgriffkippe am Barren (Abb. 3.60 c) und der Felgumschwung rücklings vorwärts am Reck (Abb. 3.60 d) dargestellt. Bei beiden Elementen wird in der Abschwungphase Regel 2 des Schwungturnens dadurch berücksichtigt, dass die Hüfte bei gestreckten Beinen maximal gebeugt wird, wozu eine entsprechende Dehnfähigkeit der Hüftstreckmuskulatur nötig ist (s. Kap. 4.3). Zu Beginn der Aufschwungphase kann dann das Trägheitsmoment durch leichtes Strecken der Hüfte und Verkleinerung des Arm-Rumpfwinkels (in Sinne einer Retroversion) etwa halbiert werden, was eine Verdoppelung der Winkelgeschwindigkeit in der Aufschwungphase verspricht. Im Gegensatz zur Felge vorlings rückwärts wird – sobald der Körper sich oberhalb des Drehachsenniveaus bewegt – die Retroversion der Arme fortgesetzt, um den Körper möglichst weit nach oben zu treiben.

Abb. 3.63 gibt die gute und die schlechte Ausführung einer Felge am Barren wieder, gezeichnet nach Schmalfilmaufnahmen. Es ist leicht zu erkennen, welche Konsequenzen die Missachtung der vorn aufgestellten Regeln mit sich bringt: In der Abschwungphase hat Turner B einen deutlich geringeren Abstand der Körpermasse von der Drehachse, die im Griff an den Holmen zu finden ist (Abb. 3.63; vergl. Einzelfigur a bis c von Turner B mit Figur 1 bis 3 von Turner A). Damit versäumt er die Gelegenheit, sich von der Schwerkraft einen großen Drehimpuls beschaffen zu lassen. Er beraubt sich gleichzeitig der Möglichkeit, zu Beginn der Aufschwungphase einen großen Weg für die Massenannäherung zur Verfügung zu haben. Beim Durchschwingen der Senkrechten unter dem Drehpunkt beginnt Turner B nicht etwa schon mit der Massenannäherung, sondern lässt sich durch die Fliehkraft in eine noch stärkere Hüftbeugehaltung zwingen (Figur d), so dass die schwungverstärkende Aktion (Figur e) deutlich zu spät einsetzt – im Gegensatz zu Turner A, der diese Aktion in dem Augenblick durchführt, in dem der Körperschwerpunkt etwa senkrecht unter dem Griffpunkt (= Drehpunkt) durchschwingt.

Auch bei der Ellgriffkippe am Barren ist kein explosiver Kippstoß und kein Blockieren eines Kippstoßes zur Impulsübertragung erforderlich, sofern man die Regeln für das Schwungturnen richtig in die Praxis umsetzt

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Abb. 3.63: Felge in den Stütz am Barren, korrekte (A) und fehlerhafte (B) Ausführung

3.10.7 Modifizierende Bedingungen für das Schwingen im Langhang

Die Erfahrung aus der Turnpraxis lehrt, dass beim Riesenfelgumschwung rückwärts die Hüftbeugeaktion zur Schwungsteigerung zeitlich früher - nämlich unter oder sogar „vor“ der Reckstange – einsetzt als beim Riesenfelgumschwung vorwärts, bei dem der

21 34

6

5

f

e dcb

a

AufschwungphasAbschwungphase

A

B

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Turner den Eindruck hat, erst „hinter“ der Reckstange die Hüfte zu beugen. Um zu klären, ob hier biologische oder physikalische Gründe vorliegen, wurden Versuchsreihen mit einem mechanischen Modell durchgeführt (s. WIEMANN 1990 und 1993). Der Modellturner, dessen zweigliedriger Körper die gleichen Massen- und Längenproportionen besaß wie ein menschlicher Körper, begann seinen Schwung stets aus einer horizontalen Position (90° zur Senkrechten). Die Massenannäherung wurde in Reihentests manuell zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Schwungbewegung ausgelöst und die erreichte Aufschwunghöhe kinematografisch ermittelt.

Abb. 3.64: Abhängigkeit der Aufschwunghöhe vom Zeitpunkt des Beginns der Massenannäherung durch Hüftbeugebewegung (schwarze Punkte) und des Endes der Massenannäherung (Kreise) im Laufe eines Vorschwunges. Gestrichelte Senkrechte: Übergang von der Abschwungphase zur Aufschwungphase. Punktierte Senkrechte: 45° vor der Senkrechten durch die Drehachse.

Als Ergebnis konnte festgestellt werden:

0° 20°40°60° 60°

120%

100%

20° 40°Abschwungphase Aufschwungphase

110%

Aufschwung-höhe in % Abschwung-höhe

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Abb. 3.65: Abhängigkeit der Aufschwunghöhe vom Zeitpunkt des Beginns der Massenannäherung durch Hüftbeugebewegung (schwarze Punkte) und des Endes der Massenannäherung (Kreise) im Laufe eines Rückschwunges. Gestrichelte Senkrechte: Übergang von der Abschwungphase zur Aufschwungphase. Punktierte Senkrechte: 45° nach der Senkrechten durch die Drehachse

0° 20°40°60° 60°

120%

100%

20° 40°Abschwungphase Aufschwungphase

110%

Aufschwung-höhe in % Abschwung-höhe

Die Aufschwunghöhe am Ende eines Vorschwunges wird am größten, wenn die Hüftbeugebewegung rund 40° vor Erreichen der Senkrechten beginnt und bei Erreichen der Senkrechten abgeschlossen ist (Abb. 3.64), während bei einem Rückschwung aus gleicher Ausgangshöhe die höchsten Aufschwünge erreicht werden, wenn die Hüftbeugebewegung kurz vor der Senkrechten beginnt und etwa 50° nach Durchschwingen der Senkrechten vollendet wird (Abb. 3.65).

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Mit diesem Befund kann angenommen werden, dass die Differenzen zwischen den Zeitpunkten der Aktionen für die Massenannäherung bei Vor- und Rückschwüngen im Langhang primär auf rein physikalischen Verursachungen beruhen.

Zur physikalischen Erklärung dieses Phänomens sei an die Wirkung des Beinschneppers erinnert (s. Kap. 3.9). Das heftige Abwinkeln der Hüfte beim Vorschwung erzeugt (wie beim Beinschnepper vorwärts) einen Druck der Hände gegen die Reckstange, dessen Reaktion dem Körper einen (zusätzlichen) Drehimpuls mit Rückwärtsdrehsinn beschafft und ihn gleichzeitig entgegen der Beinschnepper-Richtung und somit entgegen der Schwungrichtung beschleunigt. Dies mag eine Verlängerung der Einwirkungszeit der Schwerkraft auf den Körper in der Abschwungphase bedeuten, was verständlich macht, dass die Ausführung der Hüftbeugeaktion nach Durchschwingen der Senkrechten unter der Reckstange, also in der Aufschwungphase, diesen Effekt nicht haben kann (Abb. 3.66 a).

Da die Hüftbeugeaktion beim Rückschwung gegen die Schwungrichtung erfolgt, somit den notwendigen Drehimpuls mit Vorwärtsdrehsinn vermindern würde, und zusätzlich den Körper in Schwungrichtung beschleunigt, wird deutlich, dass hier die Aktion erst nach Durchschwingen der Senkrechten unter der Reckstange, also in der Aufschwungphase, realisiert werden muss (Abb. 3.66 b). Auf diese Weise wird die Einwirkungszeit der Schwerkraft, die hier „bremsend“ auf den Körper wirkt, vermindert und somit ein höherer Aufschwung gewährleistet.

Im Gegensatz zum Vorschwung (bzw. zum Riesenumschwung rückwärts), bei dem der Ausführende bei der Hüftbeugeaktion die Bewegungsvorstellung eines kräftige Vor-Hochschlagens der Beine realisiert, herrscht beim Rückschwung (bzw. beim Riesenumschwung vorwärts) eher eine Vorstellung vor, die mit „Heranziehen bzw. Heranstemmen des Körpers in Richtung Reckstange bei gleichzeitigem Winkeln der Hüfte“ umschrieben werden kann. Diese unterschiedlichen Bewegungsvorstellungen sind Ausdruck der unterschiedlichen mechanischen Wirkungen des Hüftbeugens bei Vorschwung und Rückschwung.

Die Forderungen aus diesem physikalischen Phänomen sind bei der Realisation einfacher Riesenumschwünge rückwärts und vorwärts zu berücksichtigen (Abb. 3.66), sofern nicht Zusatzaufgaben andere Ausführungsvarianten (z.B. Konterschwünge, s. Kap. 3.10.6) erforderlich machen.

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Abb. 3.66: Riesenumschwung rückwärts (a) und Riesenumschwung vorwärts (b) am Reck

Weitere Ergebnisse, die durch Versuchsreihen zur Mechanik des Schwingens im Hang mit dem oben beschriebenen Turnmodell gewonnen wurden und weitgehend die theoretischen Überlegungen zur Mechanik des Schwingens bestätigen, sind:

1. Je stärker die Hüfte bei einem Schwung im Langhang gebeugt wird, d.h. je intensiver die Masse der Drehachse angenähert wird, desto größer ist der Gewinn an Aufschwunghöhe. Das gilt sowohl für den Vorschwung als auch für den Rückschwung.

a) b)

2. Die Aufschwunghöhe (beim Vorschwung im Langhang) ist größer, wenn die Hüftbeugebewegung aus einem überstreckten Hüftgelenk geturnt wird.

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Beim mechanischen Modell ist dieses Ergebnis allein durch den geringfügig größeren Beschleunigungsweg der Hüftbeugeaktion zu erklären, was zu einer größeren Wucht der Aktion führt. In der Turnpraxis kommt hinzu, dass die überstreckte Hüfte eine Vordehnung der Hüftbeugemuskulatur und – als Folge davon – eine kräftigere Hüftbeugeaktion bewirken kann.

Punkt 3 ist durch die Effekte zu erklären, die an Beinschnepperbewegungen geknüpft sind (s. Kap. 3,9). Im Zuge eines Riesenumschwunges rückwärts (s. Abb. 3.66 a) wird jedoch eine heftige Körperstreckbewegung im letzten Viertel des Umschwunges auf eine mangelhafte Ausführung der Abschwungphase und des „vortreibenden“ Hüftbeugens hinweisen. Ein guter Riesenumschwung kennzeichnet sich dagegen dadurch aus, dass die Körperstreckung im letzten Viertel des Umschwunges dosiert ausgeführt wird und mit Erreichen der Handstandposition ausklingt.

3.10.8 Ausnutzen der Elastizität der Reckstange

Will ein Turner seinen Abgang vom Reck zu einer besonders großen Flughöhe treiben, um genügend Zeit für die Ausführung mehrfacher Salti oder Schrauben zur Verfügung zu haben, wird er durch die Ausführung der vorbereitenden Riesenumschwünge einen Energieaustausch zwischen seinem Körper und Reckstange als elastischem Widerlager besorgen (ARAMPATZIS / BRÜGGEMANN 1999).

Dies soll am Beispiel eines Punktspur-Diagramms einer Riesenfelge rückwärts am Reck, die als Vorbereitung für einen Überschlag rückwärts mit ganzer Schraube diente (Abb. 3.67; Kinemotogramm der vorletzten Riesenfelge vor dem Abgang nach 16mm-Film), verdeutlicht werden. Das Diagramm ist bezogen auf den Nullpunkt des Koordinatenkreuzes im Ruhepunkt der Reckstange. Die folgenden Referenzpunkte sind während des Schwunges in 12 Bewegungsphasen beobachtet (von innen nach außen): a) die Reckstange in Höhe des Griffes, b) die Schlüsselbeingrube, c) der Trochanter und d) der äußere Fußknöchel. Für den Reckstangenpunkt (a) ist nur eine Punktspur ermittelt, die die Auslenkung der Reckstange wiedergibt. Für die restlichen Punkte sind jeweils 3 Bewegungsbahnen dargestellt: 1. ein Kreisbogen (gestrichelte Linie) um die Ruhelage der Reckstange mit dem Radius des Abstandes des jeweiligen Punktes von

3. Eine Hüftstreckbewegung kurz vor Ende der Aufschwungphase des Vorschwunges im Langhang bewirkt eine geringfügig größere Aufschwunghöhe. Es ist zu erwarten, daß dieser Effekt umso wirkungsvoller wird, je mehr sich der Aufschwung der Senkrechten über der Reckstange nähert.

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der Reckstange in Phase 1, 2. die reale Bewegungsbahn (ausgezogene Linie), 3. eine Bewegungsspur, die den hypothetischen maximalen Abstand in den 12 Bewegungsphasen vom zugehörigen (ausgelenkten) Reckstangenpunkt wiedergibt (punktierte Linie).

Abb. 3.67: Punktspurdiagramm eines Riesenumschwunges rückwärts (Erläuterungen im Text)

Auf diese Weise lässt sich erkennen, welche der realen Auslenkungen durch das Nachgeben der Reckstange und welche durch das Nachgeben oder ein aktives Verkürzen der Körpersegmente verursacht sind.

ba

c

d

2

4

3

5 6

7

8

1011

1

9

12

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Insbesondere die Spuren der Referenzpunkte b und c verdeutlichen, dass nicht nur die Reckstange unter der Wirkung der Fliehkraft nachgibt, sondern auch die Körpersegmente (Phase 3 bis Phase 6). Erst ab Phase 7 nähert sich Referenzpunkt b - etwa durch reflektorische und/oder willkürliche Kontraktion der Schultermuskulatur – wieder deutlich dem Griffpunkt an. Diese Aktion wird die elastische Vorspannung der Reckstange noch vergrößern. Da Referenzpunkt c diese Annäherung nicht mitvollzieht, lässt sich folgern, dass durch das Annähern der Schultern an die Reckstange einerseits und durch die gleichzeitig ablaufende Hüftbeugung andererseits sich der Rumpf elastisch auflädt. Erst ab Phase 8 kommt die elastische Rückstellkraft der Reckstange (und ab Phase 9 auch die des Rumpfes) zur Wirkung und vermittelt dem Körper des Turners eine zusätzliche Beschleunigung in (radialer und) tangentialer Richtung und vergrößert dadurch die Drehgeschwindigkeit des Riesenumschwunges.

Die Determinante für die Aktionen zur Vorspannung der Reckstange ist das Bewegungsziel. Es bestimmt, in welche Richtung die Rückstellkräfte den Körper beschleunigen sollen, etwa nach hinten oben zur Steigerung der Geschwindigkeit der Umschwünge (Abb. 3.67) oder nach vorn oben zur Erzeugung einer hohen Flugkurve für einen Abgang. Die gewünschte Richtung der Rückstellkräfte bestimmt ihrerseits den Zeitpunkt der Aktionen zum Vorspannen der Reckstange, der unter Umständen mit dem günstigsten Zeitpunkt für ihre Wirkung auf die Massenannäherung konkurriert oder abgestimmt werden muss. Welche Wirkung letzten Endes die vorrangige Bedeutung hat, wird durch die unterschiedlichsten Faktoren beeinflusst wie Übungsziel, Elastizität der Reckstange, Geschwindigkeit der Schwungbewegung und Gewicht, Größe, Kraft und Koordinationsvermögen des Turners.

Während eines Schwunges im Hang werden durch Fliehkräfte und Körperaktionen die Reckstange (die Barrenholme) und Körpersegmente elastisch verformt. Es gilt, die daraus resultierenden elastischen Rückstellkräfte für das Erreichen der jeweiligen Bewegungsziele zu nutzen.

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3.10.9 Konterschwünge und „Power-Technik“

Will eine Turnerin am hohen Holm des Stufenbarrens einen Riesenumschwung rückwärts turnen, ist es ihr nicht möglich, die in Kap. 3.10.4 aufgestellte zweite Regel für das Schwungturnen zu beherzigen. Statt dessen muss sie in der Abschwungphase die Hüfte so weit beugen, dass sich die Füße am niedrigen Holm vorbei nach unten bewegen (Abb. 3.68).

Abb. 3.68: Riesenumschwung rückwärts am Stufenbarren unter Ausnutzung eines Konterschwunges

Damit nun der Körper in der Senkrechten unter dem hohen Holm nicht ruckhaft gestreckt und die Gefahr des Griffverlierens heraufbeschworen wird (s. Abb. 3.56), muss die Turnerin rechtzeitig, d.h., sobald die Füße den niedrigen Holm passiert haben, den

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Körper aktiv überstrecken, um dann beim Durchschwingen der Senkrechten unter dem hohen Holm die Beine mit einer dem Beinschnepper (Kap. 3.9) ähnlichen Bewegung zur Massenannäherung nach vorn oben peitschen zu können.

Auf diese Weise wird der Kraftstoß der Fliehkraft (p = Fzf * t), den die Turnerin in der Senkrechten erfährt, zwar nicht verkleinert, aber durch eine Verlängerung der Zeitkomponente (= Vergrößerung der Wirkungszeit t) wird die Kraftkomponente (Fzf) abgeschwächt (= verkleinert). Trotzdem reicht die Fliehkraft aus, den hohen Holm genügend stark durchzubiegen, um im aufschwingenden Teil des Riesenumschwunges durch Rückstellkräfte die Bewegung zu unterstützen (s. Kap. 3.10.9).

Diese Konterschwünge eignen sich besonders, wenn am Ende des Aufschwunges ein Beinschnepper rückwärts (s. Kap. 3.9) z.B. zur Ausführung einer Kontergrätsche angeschlossen werden soll.

Abb. 3.69: Riesenumschwünge in Power-Technik (vergl. Abb. 3.66)

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Auch beim Turnen am Hochreck sind Konterschwünge nicht mehr wegzudenken, zumal die Reckriemen mit eingearbeitetem Röllchen die Gefahr reduzieren, in der Senkrechten unter dem Reck den Griff zu verlieren. Diese sogenannten Schwünge in Power-Technik lassen sich bei Rückwärts- und Vorwärtsriesen in ähnlicher Weise realisieren (Abb. 3.47 und Abb. 3.69).

3.10.10 Schwingen im Stütz

Insbesondere beim Rückschwung im Stütz am Barren ist es kaum möglich, durch eine Massenannäherung an die Drehachse, die hier im Schultergelenk zu suchen ist, eine wesentliche Vergrößerung des Schwunges zu erreichen; denn die im Aufschwung einzunehmende leichte Überstreckung des Körpers stellt im Vergleich zum völlig gerade gestreckten Körper nur eine geringfügige Pendelverkürzung dar.

Allerdings lässt sich durch eine zügige Verlagerung des Drehachse (= der Schulterachse) nach vorn (Abb. 3.70 a) eine tangentiale Beschleunigung des Körpers erreichen (vergl. Fadelpendel Abb. 3.70 b), die ausreicht, die Körpermasse bis zur Senkrechten über dem Stützpunkt schwingen zu lassen. Von hier aus kann dann der Körper durch Muskelkraft weiter z.B. bis in den Handstand gehoben werden.

Durch die Ausnutzung der elastischen Rückstellkräfte der Reckstange bzw. des hohen Holms des Stufenbarrens können an Riesenumschwünge in Powertechnik (mit einem Konterschwung) besonders hohe Flugteile als Abgänge oder zum Wiederergreifen des Gerätes angeschlossen werden.

Riesenumschwünge in Powertechnik eignen sich besonders als Vorbereitung eines Beinschneppers (s. Kap. 3.9) am Ende der Aufschwungphase.

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Dieses Prinzip kommt auch beim Stützschwingen seitwärts am Pauschenpferd zur Anwendung, z.B. bei den Scheren (Abb. 3.71). Durch den Abdruck des linken Armes bei der Schere links wird die Drehachse, die in sagittaler Richtung durch die Schulter verläuft, nach oben rechts verlagert und auf diese Weise das Pendel in tangentialer (und radialer) Richtung beschleunigt (vergl. Abb. 3.70 b). Zusätzlich wird vorher durch das seitliche Beugen des Körpers eine Massenannäherung an die Drehachse und eine Vergrößerung des Drehimpulses verwirklicht, was nach den besprochenen Gesetzen zu einer Vergrößerung der Drehgeschwindigkeit führt.

Abb. 3.70: Schulterverlagerung beim Rückschwingen im Stütz am Barren. ar: Radialbeschleunigung. at: Tangentialbeschleunigung. D: Drehpunkt = Aufhängepunkt. M: momentaner Krümmungsmittelpunkt.

at

Mar

D

a) b)

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Abb. 3.71: Schere „vorwärts“ links am Pauschenpferd als Beispiel eines Schwingens im Stütz seitwärts. KSP: Körperschwerpunkt.

3.10.11 Schwingen an den Ringen

Wie schon in Kap. 3.10.3 und 3.10.4 beschrieben, lässt sich an den Schaukelringen im Langhang und im Sturzhang schwingen, wobei die schwungsteigernden Aktionen denen beim Schwingen am Reck ähnlich sind.

KSPKSP

Beim Schwingen im Stütz wird die Schwungverstärkung – teilweise zusätzlich zur Pendelverkürzung - durch impulsive Verlagerung des Pendel-Aufhängepunktes entgegen der Fliehkraft realisiert.

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Beim Erreichen des Umkehrpunktes ist selbstverständlich der Körper wieder zu strecken. Ein entsprechend frühzeitiges Aufsetzen der Füße gilt in gleichem Maße auch für den Rückschwung, obwohl hier das anschließende Schwingen der Beine nach hinten in die überstreckte Körperhaltung nicht den gleichen schwungsteigernden Effekt verspricht, weil die Massenannäherung an die Drehachse durch Überstreckung des Körpers wesentlich geringer ausfällt als das beim Vorschwung durch Beugen der Hüfte der Fall ist.

(Weitere Bedingungen zum Schwingen an den Schaukelringen s. Kap. 3.10.3 und 3.10.4!)

Das Schwingen an den still hängenden Ringen kann entweder als eine Rotation des Körpers um den Körperschwerpunkt, der sich in der Senkrechten auf und ab bewegt, oder als ein Pendeln des Körpers um den Griffpunkt, der sich nach vorn und hinten verlagert, angesehen werden. Prinzipiell gelten hier die gleichen Bedingungen wie beim Schwingen im Langhang am Reck. Allerdings können sich einerseits durch das Fehlen der vom Reck bekannten Gleitreibung und andererseits durch die Auf- und Abwärtsbewegung des Körperschwerpunktes in der Senkrechten Unsauberkeiten in der Körperhaltung wesentlich nachhaltiger durch „Sackschwünge“ und durch ein Verlieren des Griffes bemerkbar machen als am Reck.

Wird an den Schaukelringen im Langhang mit Bodenkontakt geschwungen (Abb. 3.54), ist darauf zu achten, dass das Aufsetzen der Füße auf den Boden deutlich vor Erreichen der Senkrechten unter dem Aufhängepunkt der Ringe erfolgt, damit das Vorhochschwingen der Beine zur Pendelverkürzung noch rechtzeitig beim Durchschwingen der Senkrechten oder kurz danach durchgeführt werden kann.

Um beim Vorschwung im Hang an den stillhängenden Ringen ein ruckhaftes Durchschwingen der Senkrechten zu vermeiden, sind zu Beginn der Abschwungphase des Vorschwunges die Arme aus der Schulter heraus weit nach vorn zu strecken (Abb. 3.72 a, schwarzer Pfeil), und zusätzlich ist gegen Ende des Abschwunges der Körper von den Händen bis zu den Füßen in eine leichte kontrollierte Überstreckung (= Bogenspannung;) zu versetzen.

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Abb. 3.72: Schwingen an den still hängenden Ringen. a): Vorschwung. b): Rückschwung

Dieses Verhalten verkleinert zwar nicht den Betrag des abwärts gerichteten Kraftstoßes (F * t), den der Turner in der Senkrechten zu ertragen hat, verlängert (vergrößert) aber die Zeitkomponente (t), was eine proportionale Verkleinerung der Kraftkomponente (F) mit sich bringt: Der Turner braucht weniger Kraft aufzubringen, um sich gegen die Fliehkräfte, die ihn nach unten reißen wollen, durchzusetzen, und kann auf diese Weise seinen Griff beibehalten und die Bewegung sicher aussteuern.

Sinngemäß ist beim Rückschwung (Abb. 3.72 b) zu verfahren: Streckung der Arme zu Beginn des Abschwunges aus den Schultern heraus über den Kopf nach hinten und leichte „Bindung“ in der Hüfte gegen Ende des Abschwunges (= leichte Hüftbeugung durch Spannung der Hüftbeugemuskulatur; s. Abb. 3.72 b, zweite und dritte Einzelfigur). Die das Pendel verkürzenden Aktionen erfolgen in beiden Fällen nach Durchschwingen der Senkrechten dann nahezu reflektorisch-automatisch.

3.11 Biomechanik elastischer Sprünge

Neben den üblichen einbeinigen Sprüngen werden beim Turnen vermehrt beidbeinige Sprünge realisiert, die in der Bewegungslehre als Drop-Jumps bekannt sind und beim Turnen „prellende Absprünge“ genannt werden. Bestes Beispiel für einen Drop-Jump ist der beidbeinige Absprung zum Salto vorwärts aus dem Anlauf (Abb. 3.73 a). Hier lassen sich die Charakteristika des Drop-Jumps deutlich

a) b)

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erkennen:

.

Abb. 3.73: Prellende Absprünge (Drop-Jumps). a: Absprung zum Salto vorwärts. b: Absprung zum Salto rückwärts aus der Radwende

Aufgrund der kurzen Bodenkontaktzeit ist es der Sprungmuskulatur (hier vorwiegend: Wadenmuskulatur) nicht möglich, beginnend mit dem Aufsetzen der Füße auf den Boden einen kompletten Dehnungs-Verkürzungszyklus durchzuführen, um den Körper im Laufe der Muskelverkürzung aufwärts zu beschleunigen. Statt dessen wird die Muskulatur schon vor der Bodenberührung maximal vorgespannt. Beim Aufsetzen der Füße auf den Boden dehnen Gewichtskraft und Trägheitskraft sowie die Kontraktionskraft derjenigen

Beim Drop-Jump - werden die Ballen des Vorderfußes auf den Boden gesetzt, d.h. der Fuß rollt nicht von den Fersen bis zu den Zehen ab; - erfolgt die Absprungaktion vornehmlich aus dem Fußgelenk, ohne dass zwischenzeitlich die Fersen den Boden berühren; - ist die Kontaktzeit des Fußes mit dem Boden extrem kurz.

a) b)

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Beinmuskeln, die die Streckaktion schon vor der Bodenberührung beginnen, die angespannte Wagenmuskulatur wie eine elastische Feder, die danach durch elastische Rückstellkräfte den Körper aufwärts beschleunigt (Abb. 3.74).

Welchen Anteil die einzelnen serienelastischen Element des Muskels an dieser elastischen Reaktion haben, lässt sich nur vermuten. Möglicherweise spielt die Elastizität der Myosinmoleküle innerhalb der Sarkomere eine größere Rolle als die Elastizität der Achillessehne. Ist die Kontaktzeit nicht zu kurz (> 100 ms), werden auch Dehnungsreflexe, die sich zur Willkürkontraktion addieren (SCHMIDTBLEICHER u.a. 1978), den Absprung unterstützen.

Eine wichtige Kenngröße für elastische Körper ist die Schwingungsdauer, also die Zeit, die für den Hin- und Hergang einer Schwingung benötigt wird. Diese Schwingungsdauer steigt mit der Masse, bzw. mit der am elastischen Körper anliegenden Last und verkleinert sich mit steigender Federkonstanten (D), also mit der Federhärte. Da bei elastischen Sprüngen in der Regel die Last in Form der Masse des Turners konstant ist, hängt die Schwingungszeit hier nur von der Federhärte des kontrahierten Muskels ab. Diese lässt sich durch Variieren des Kontraktionsgrades an die vorliegende Aufgabe anpassen.

Abb. 3.74: Verdeutlichung der elastischen Reaktion der Wadenmuskulatur beim prellenden Absprung (Salto rückwärts): Dehnen der kontrahierten Muskulatur durch äußere Kräfte, Entdehnen durch elastische Rückstellkräfte

Bei prellenden Absprüngen (Drop-Jumps) nutzt der Turner die elastischen Rückstellkräfte der vorgespannten Muskulatur, insbesondere die der Wadenmuskulatur.

Dehnen

Entdehnen

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Die Schwingungszeit genügt der Formel:

DmT π2= . Dabei ist m die Masse und D die Federkonstante.

Bei prellenden Absprüngen hängt die Zeit, die für den Bodenkontakt zur Verfügung steht, oft von äußeren Bedingungen ab. Beim Absprung zum Salto vorwärts sinkt die Zeit, in der der Fuß Kontakt mit dem Boden hat, mit steigender Anlaufgeschwindigkeit. Deshalb muss bei einer hohen Anlaufgeschwindigkeit die Federhärte der Wadenmuskulatur durch einen erhöhten Kontraktionsgrad gesteigert werden. Steht einem Turnenden nicht die notwendige Muskelkraft zur Verfügung, tut er gut daran, eine niedrige Anlaufgeschwindigkeit zu wählen. Die Abstimmung zwischen Kontaktzeit und Muskelaktivitätsgrad wird durch ständiges Üben herausgebildet, ohne dass dem Übenden die physikalischen Zusammenhänge bewusst sein müssen. Lehrer und Trainer mit entsprechenden Physikkenntnissen können jedoch dem Übenden wertvolle Tipps geben z.B. über die günstigste individuelle Anlaufgeschwindigkeit beim Salto vorwärts. Selbstverständlich sind bei prellenden Absprüngen auch andere Muskeln beteiligt, insbesondere die Knie- und Hüftstreckmuskeln. Die Rumpfmuskulatur hat darüber hinaus die Aufgabe, den Rumpf zu stabilisieren, damit dieser sich unter der Wirkung des Absprungkraftstoßes nicht verformt oder der Kraft ausweicht. Für die Verdeutlichung des elastischen Prinzips genügt jedoch eine Konzentration auf die Wadenmuskulatur.

Die Abhängigkeit zwischen Schwingungsdauer und Federhärte (Elastizitätskonstante) ist besonders auch bei der Nutzung elastischer Sprunghilfen von Bedeutung. Da die im Turnen benutzten Sprunghilfen feststehende Federhärten besitzen (nur beim Wasserspringen vom Brett lässt sich die Federhärte regulieren), ist für die jeweilige Bewegungssituation die günstigste Sprunghilfe auszuwählen. Dies wird beim Vergleich zwischen Reutherbrett (als „kurzhubiger“ Sprunghilfe mit hoher Elastizitätskonstanten) und Minitramp (als „langhubiger“ Sprunghilfe mit niedriger Elastizitätskonstanten) deutlich (Abb. 3.75). Die große Schwingungsdauer des Minitramps verlangt beim „Einsprung“ eine niedrige Horizontalgeschwindigkeit des Turners, weil dieser eine vergleichsweise lange Zeitspanne benötigt, um die Sprunghilfe vorzudehnen und die Rückstellkräfte auszukosten. Zusätzlich ist die Masse des Turners zu berücksichtigen, denn ein schwerer Turner verlängert die Schwingungsdauer der Sprunghilfe im Vergleich zu einem leichten Turner.

Da im Gegensatz zu der Elastizitätskonstanten von Sprunghilfen das Gewicht von Turnern nur vergleichsweise geringfügig variiert, kann diese Abhängigkeit vernachlässigt werde. Unterscheidet sich das Gewicht zweier Turner um 10% (beispielsweise 60 kg und 66 kg), ist die Schwingungsdauer der Sprunghilfe beim schwereren Turner nur um rund 5% größer.

Bei prellenden Absprüngen sind die Absprungzeit und der Kontraktionsgrad der Sprungmuskeln (und somit die Schwingungsdauer und die Federhärte in der Elastizität des kontrahierten Muskels) durch ständiges Üben aufeinander und auf das Bewegungsziel abzustimmen.

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Abb. 3.75: Absprung mit hoher Horizontalgeschwindigkeit und kurzer Fußkontaktzeit von einer kurzhubigen Sprunghilfe (a) und Absprung mit niedriger Horizontalgeschwindigkeit und langer Fußkontaktzeit von einer langhubigen Sprunghilfe (b)

Bei der Auswahl und Konstruktion von Sprunghilfen beim Pferdsprung (Sprung am Sprungtisch) besteht ein Konflikt zwischen gewünschter Sprunghöhe und notwendiger Sprungweite. Eine große Sprungweite, z. B. über das längsgestellte Pferd oder den Sprungtisch, verlangt eine hohe Anlaufgeschwindigkeit, so dass die Kontaktzeit auf der Sprunghilfe nur kurz sein kann. Das erfordert ein „hartes“ Sprungbrett mit kurzer Schwingungsdauer. Soll dagegen der Sprung eher in die Höhe zielen oder ist die Sprungweite von geringerer Bedeutung, können weichere (und langhubige) Sprungbretter mit längerer Schwingungsdauer zum Einsatz kommen. Die Anlaufgeschwindigkeiten (und selbstverständlich die Vorspannung der Sprungmuskulatur) sind dabei entsprechend anzupassen.

Die Abhängigkeit der Schwingungszeit von der Elastizitätskonstanten erkennt man leicht beim Vergleich eines einfachen mit einem doppelten Reutherbrett (Abb. 3.76). Generell ist die Schwingungszeit vom Grad der Verformung unabhängig, was bedeutet, dass eine große Rückstellkraft F1 bei starker Verformung des einfachen Reutherbretts über die gleiche Zeitspanne (t1 = t2 = ½ T) auf den Springer wirkt wie eine kleinere Rückstellkraft F2 . Der größere Kraftstoß (F1 * t1) bedingt einen größeren aufwärts gerichteten Absprungimpuls. Wird ein doppeltes Reutherbrett mit der gleichen Kraft (F3) vorgedehnt wie das einfache Reutherbrett durch F2 , entsteht aufgrund der halbierten Elastizitätskonstanten ein doppelt so großer Verformungsbetrag. Dazu wird aber eine 1,4-fach größere Zeit (t3) benötigt, die ebenfalls zur „Entladung“ , d.h. zur Freisetzung der Rückstellkräfte, einzukalkulieren ist. Somit erhält der Kraftstoß am doppelten Reutherbrett einen entsprechend größeren Betrag.

a) b)

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Abb. 3.76: Rückstellkräfte (F1 – F3, schematisch) und deren Wirkungszeit (t1 – t3) bei einem einfachen und einem doppelten Reutherbrett.

F1

F3

F3

F2

F2

F1

t1 t2 t3

Bei gleicher Absprungkraft liefert das doppelte Reutherbrett einen 1,4-mal größeren Absprungimpuls als das einfache Reutherbrett. Zur Erzeugung des Absprungimpulses wird aber eine 1,4 mal längere Kontaktzeit der Füße mit der Absprungstelle benötigt.

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3.12 Systematisierung turnerischer Bewegungen nach biomechanischen Kriterien

Aufgrund der Vielzahl und Vielfalt turnerischer Fertigkeiten bestand schon immer das Bedürfnis, die im Turnen möglichen Bewegungsäußerungen nach den unterschiedlichsten Kriterien in ein System zu ordnen, um die Überschaubarkeit zu verbessern. Als Kriterien für eine solche Systematisierung könnten die physikalischen Grundlagen dienen.

Das Unterfangen einer systematisierenden Einordnung der turnerischen Fertigkeiten wird jedoch auf Probleme stoßen. Dies soll an folgender Übung an den Ringen, die gemäß den Wertungsvorschriften (2001) „doppelte Stützfelge rückwärts gehockt in den Hang“ (Abb. 3.77) lautet, verdeutlicht werden: Die Übung besteht aus mehreren Phase, nämlich aus einem Schwung im Langhang mit Rückwärtsdrehsinn (Abb. 3.77; graue Figuren links), einer anschließenden Phase mit einer doppelten Rotation rückwärts um eine quere Schwerpunktachse (Abb. 3.77; schwarze Figuren) und einem anschließenden Schwung im Langhang (Abb. 3.77; graue Figuren rechts). Welche dieser Phasen soll nun für die Einordnung der Übung maßgeblich sein? Der Schwung im Langhang stellt zwar die Basis der gesamten Fertigkeit dar und schafft die für die Ausführung nötige Dynamik, die in diese Schwungbewegung eingeschobene doppelte Rückwärtsrotation stellt aber das eigentliche „Kunststück“ dar. Dem gemäß könnte man die Übung zu den „Langschwüngen“ rechnen, aber auch mit denjenigen Elementen zusammenfassen, die ebenfalls Rückwärtsrotationen zeigen. Dieses Dilemma wird man bei dem Großteil der als Turnübungen bezeichneten motorischen Fertigkeiten am Boden und an Geräten finden. Es scheint demnach angebracht, nicht Gesamtübungen, sondern die Kernphasen, aus denen sie zusammengesetzt sind, nach biomechanischen Kriterien zu systematisieren.

Abb. 3.77: „Doppelte Stützfelge rückwärts gehockt in den Hang“ (Guzcoghy)

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Zu Kernphasen turnerischer Fertigkeiten sollen nicht solche Aktionen gerechnet werden, die der Alltagsmotorik entstammen wie Anläufe, Armschwünge, Beinschwünge u.a.

Andere Kriterien zur Systematisierung turnerischer Fertigkeiten können eigenmotorische Phänomene sein, etwa die Bewegungsempfindungen des Turners während der körperlichen Auseinandersetzung mit den mechanischen Gegebenheiten. Dies behandelt u.a. Kap. 6 mit einem weiteren Systematisierungsverfahren, wobei auch untersucht wird, inwieweit die beiden Verfahren Entsprechungen zeigen.

Eine Systematisierung von turnerischen Fertigkeiten sollte sich auch in der Übungsbezeichnung niederschlagen, indem Übungen mit gleichen mechanischen Voraussetzungen gleiche Bezeichnungen erhalten. Da dies insbesondere für die Bildung der Bewegungsvorstellung zur betreffenden Übung von Bedeutung ist, wird dieses Thema erst in Kap. 6 eingehender besprochen.

Gemäß den definitorischen Bestimmungen turnerischer Bewegungsabläufe (Kap. 1.1) und den biomechanischen Betrachtungen (Kap.3) lassen sich Kernphasen innerhalb turnerischen Fertigkeiten insbesondere nach drei Kriterien gliedern, nämlich - nach der Art der Drehung (Drehbewegung), die der Turnerkörper vollzieht, und - nach der Art des Kraftstoßes (des Drehmomentes), der den Turnerkörper (2a) in eine Drehbewegung versetzt bzw. (2b) die vorhandene Drehbewegung verstärkt oder die Drehrichtung ändert. Dazu kommt - eine weitere Gruppe von Aktionen der Schultern und Arme, die den Körper – meistens gegen Ende der Drehbewegung - gegen der Wirkung der Schwerkraft nach oben treiben (s. auch Kap. 4.2.1), um eine möglichst hohe Endposition oder zumindest das definierte Endziel einer Fertigkeit zu erreichen.

Innerhalb der ersten Gruppe, der Drehungen, ergeben sich weitere Unterteilungen nach der Art der Drehachse, der Drehrichtung und der Körperhaltung.

Bei den Drehachsen sind „feste“ und „freie“ Drehachsen zu unterscheiden. Die mechanischen Bedingungen unterscheiden sich prinzipiell bei Bewegungen um feste bzw. freie Drehachsen. Besteht die Kernphase einer Turnübung aus einer Drehung um eine feste

Kernphasen turnerischer Fertigkeiten sind solche Abschnitte im Bewegungsablauf, die sich durch ein einheitliches biomechanisches Wirkungsprinzip kennzeichnen lassen und der Übung ihre spezielle Charakteristik vermitteln.

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Drehachse, sollen im Folgenden diese Kernphasen „Schwünge“, bei Drehungen um freie Drehachsen „Rotationen“ genannt werden.

3.12.1 Schwünge

Innerhalb der Gruppe der Schwünge sind die Bewegungen nach mehreren Bedingungen zu unterscheiden und zwar a) nach der Körperhaltung (Langhang, Sturzhang oder Stütz), b)- nach dem Verhalten zum Gerät (vorlings oder rücklings) und c) nach dem Drehsinn (vorwärts oder rückwärts).

Im Rahmen des Gerätturnens sollen Schwünge solche Kernphasen turnerischer Fertigkeiten genannt werden, bei denen sich der Körper um eine solche Achse dreht, die nicht durch den Körperschwerpunkt verläuft. Bei Schwüngen unterliegt der Körper somit den Pendelgesetzen.

Im Hinblick auf die Körperhaltung bei Schwüngen wird hier von Langhang (Abb. 3.78) gesprochen, wenn die Masse der Beine weiter von der Drehachse entfernt ist als die Masse des Rumpfes. Schwünge im Sturzhang (Abb. 3.79) sind dann gegeben, wenn die Masse der Beine näher zur Drehachse positioniert ist als die Masse des Rumpfes.

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(M 1) Drehungen (Schwünge) um „feste“ Achsen (Langhang und Stütz) Bedingungen im Drehsinn vorwärts im Drehsinn rückwärts

Schwung

um eine Querachse

Langhang vorlings

Langhang rücklings

Langhang am Barren

Langhang an den Ringen

Oberarm-hang

Stütz

Schwung seitwärts Kreisen Schwung um

Tiefenachse bzw. nahezu senkrechte

Raumachse

Stütz

Abb. 3.78: Drehungen (Schwünge) um feste Achsen im Langhang und Stütz. Schwarze Figuren: schwungverstärkende Aktion

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(M 2) Drehungen (Schwünge) um „feste“ Achsen (Sturzhang)

Bedingungen im Drehsinn vorwärts im Drehsinn rückwärts

Schwung im Sturzhang vorlings mit

dosierter Hüft-Schulteraktion

Schwung im Sturzhanghang

rücklings mit

dosierter Hüft-Schulteraktion

Schwung im Sturzhang „quasi”

rücklings mit

dosierter Hüft-Schulteraktion

Schwung im Sturzhanghang

rücklings gegrätscht

mit dosierter Hüft-Schulteraktion

Abb. 3.79: Drehungen (Schwünge) um feste Achsen in unterschiedlichen Sturzhangformen. schwarze Figuren: schwungverstärkende Aktion

Zu den Definitionen des Verhaltens zum Gerät und des Drehsinns wird auf Kap. 2.2 verwiesen. Bei den Schwüngen an den Ringen lässt sich zwar im umgangssprachlichen Sinn nicht von „festen“ Drehachsen sprechen. Gleichwohl unterliegt der Turnerkörper den Pendelgesetzen, was insbesondere in derjenigen Phase deutlich wird, in der der Turner die Senkrechte unter dem Aufhängepunkt durchschwingt. Bei den Kreisflanken kann der Körper mit einem Kreispendel gleichgesetzt werden.

Da sich beim Sturzhangschwung am Barren im Querverhalten zwischen den Griffpunkten kein Teil des Gerätes befindet, entfällt hier die Trennung zwischen vorlings und rücklings. Das turntechnische Verhalten gleicht aber eher dem der Rücklingspositionen, weshalb hier von „quasi rücklings“ gesprochen werden soll.

Zur sprachlichen Trennung der Schwünge im Langhang und im Sturzhang bietet es sich an, die Übungen, die in der Kernphase einen Langhangschwung zeigen, Riesenschwünge (z.B. Riesenschwung rücklings rückwärts mit Stemmen in den Stütz) zu nennen, während man die Sturzhangschwünge als Felgen (z.B. Felgaufschwung vorlings rückwärts in den Stütz, Felgumschwung rücklings vorwärts gegrätscht mit Ausgrätschen in den Hand) bezeichnen sollte. (s. dazu auch Kap. 2).

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3.12.2 Rotationen

Von freien Drehachsen soll dann gesprochen werden, wenn sich der Turner ohne Kontakt zum Boden oder zum Gerät um eine Achse dreht, die durch den Massenmittelpunkt (Körperschwerpunkt) verläuft, der sich dabei in der Regel auf einer Wurfparabel bewegt. Der Körper stellt also einen „kräftefreien Kreisel“ dar. Solche Drehbewegungen sollen im Folgenden „Rotationsbewegungen“ (Abb. 3.80 bis Abb. 3.83) genannt werden

Gemäß den mechanischen Bedingungen müssen die Rotationsbewegungen untergliedert werden in eine Gruppe, in deren Verlauf die Drehgeschwindigkeit durch Verkleinerung des Trägheitsmomentes vergrößert wird, nämlich durch ein scharfes Anhocken oder Anbücken der Beine, und in eine weitere Gruppe, in deren Verlauf sich der Körper in völliger Streckung überschlägt. In der ersteren Gruppe werden alle Rollen zusammengefasst.

Dies sollte auch für die Kernphase der einfachen Rollen am Boden gelten. Zwar lässt sich hier – je nach Bezugsystem – die Drehachse auch im Bodenberührungspunkt sehen und das Anhocken der Beine als die Herstellung eines guten „Rollkörpers“ werten. Da aber auch hier zusätzlich das Prinzip der Verkleinerung des Trägheitsmomentes gilt und die Einrollaktion des Körpers mit derjenigen der freien Rollen identisch ist, soll an dieser Zuordnung festgehalten werden.

Natürlich gehört zu jeder Fertigkeit aus der Gruppe der Rollen eine Aktion, die die Rotationsbewegung erzeugt, und ebenso eine, die sie beendet. Beim Salto vorwärts am Boden wären dies der Anlauf mit Absprung sowie die Landung, also Bewegungen, die nicht spezielle turnerische Fertigkeiten darstellen. Dies muss aber nicht notwendigerweise sein. Zur Auslösung der Rotation kann gleichwohl eine andere turnerische Fertigkeit oder die Kernphase einer solchen dienen, etwa ein Handstützüberschlag vorwärts oder ein Schwung im Langhang rückwärts (wie beim Gaylord am Reck, Abb. 3.32). Der entscheidende Bewegungsabschnitt (die Kernphase) genügt nach wie vor den Bedingungen der gehockten Vorwärtsrotationen. Gleiches gilt auch für die „gehockte Stützfelge rückwärts“ an den Ringen (Abb. 3.32 und Abb. 3.77). Selbst die Tatsache, dass der Griff nicht vom Gerät (Ringe) gelöst wird, ändert nichts an der Zugehörigkeit der Kernphase zu den gehockten Rückwärtsrotationen, also den Rollen rückwärts.

Die „freien“ Rollen werden in der Turnsprache gelegentlich auch mit dem Begriff der „gehockten Überschläge“ bezeichnet. Dies wird hier aus Gründen des dynamisch-eigenmotorischen Informationsgehaltes verbaler Zeichen (Kap. 6.1.2.4) abgelehnt. Statt dessen wird dafür der Bergriff „Salto“ im Sinne von „Luftrolle“ reserviert und der Begriff „Überschlag“ den gestreckten Rotationen zugewiesen.

Im Rahmen des Gerätturnens sollen Rotationsbewegungen (oder kurz: Rotationen, Gruppe M 3) solche Kernphasen turnerischer Fertigkeiten genannt werden, bei denen sich der Körper um eine „freie“ Achse (eine Schwerpunktachse) dreht.

Rollen sind Rotationen um freie Achsen, in deren Verlauf zwecks Vergrößerung der Drehgeschwindigkeit die Beine an den Rumpf angehockt bzw. angebückt werden.

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Abb. 3.80: Blockschaltbild zur Kernphasengruppe „Rotationen“.

Nach biomechanischen Gesichtspunkten lassen sich die Kernphasen weiterer Übungen zu den Rotationen rechnen. Hier befindet sich der Körper zwar nicht im freien Flug, sondern dreht sich um eine ortsfeste Achse (Reckstange, Holm). Durch die Art der Bewegung tritt jedoch eine Situation auf, bei der die quere Schwerpunktachse mit der festen Achse zusammenfällt, so dass der Körper um die quere Schwerpunktachse rotiert und allein hierdurch die Bedingungen der Rollen erfüllt. Dies sind der Umschwung vorlings vorwärts und der Hüft- (bzw. Bauch-) Umschwung vorlings rückwärts (Abb. 3.82). Da hier die Drehgeschwindigkeit (Winkelgeschwindigkeit) durch eine Verkleinerung des Trägheitsmomentes des Körpers vergrößert wird, indem sich der Körper mit gestreckten Beinen „einrollt“ (anbückt, anhechtet), liegen die gleichen Bewegungskriterien vor wie bei den Rollen und es ist berechtigt, diese Fertigkeiten der Gruppe mit der Kernphase „Rollen“ zuzuordnen.

Von der zweiten Gruppe der Rotationen, in deren Verlauf sich der gestreckte Körper mindestens um rund 360° überschlägt, lässt sich eine Gruppe abtrennen, in der während der

Rotationen

Überschläge

Rollen

freie Überschläge

gestützte Überschläge

Luftrollen, Salti

Rollen

seitwärts

seitwärts

rückwärts/rück-wärts

vorwärts

vorwärts

vorwärts/vor-wärts

rückwärts

rückwärts

rückwärts

vorwärts

Mischformen

rückwärts

seitwärts/rück-wärts

vorwärts

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Überschlagbewegung mit den Händen am Boden bzw. Gerät abgestützt wird. Diese gestützten Überschläge werden den „freien“ Überschlägen gegenübergestellt. Allen Überschlägen ist jedoch gemeinsam, dass während der Rotation die Drehgeschwindigkeit nahezu konstant bleibt. Allenfalls lässt sich bei den gestützten Überschlägen durch eine während der Stützphase durchgeführte Schnepperbewegung der Drehimpuls des Körpers beeinflussen. Zusätzlich lassen sich gestützte Überschläge finden, die eine Kombination aus einer Überschlagbewegung und einer Rollbewegung erkennen lassen (Abb. 3.81). Dabei beginnt die Übung mit einer Überschlagbewegung, während mit der Stützphase aber die gestreckte Haltung aufgegeben und mit verkleinertem Trägheitsmoment (eingerolltem oder gebücktem Körper) weiter geturnt wird.

Auch im Laufe von „Schrauben“ dreht sich der Körper um eine Schwerpunktachse. Da dies in der Regel im Laufe von Rollen oder Überschlägen zusätzlich erfolgt, sollen Schrauben der Vollständigkeit halber an die Gruppe der Rotationen angeschlossen werden (Abb. 3.81).

Überschläge sind solche Rotationen, in deren Verlauf sich der gestreckte Körper ohne Veränderung des Trägheitsmomentes – also mit konstanter Drehgeschwindigkeit - um eine Schwerpunktachse dreht, dabei sind gestützte Überschläge durch ein zwischenzeitliches Abstützen der Hände vom Boden oder vom Gerät gekennzeichnet.

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(M 3a) Rotationen aus Absprüngen Bedingungen Trägheitsmoment

klein (Rollen/Salti) Kombination / Mischform Trägheitsmoment groß

(Überschläge) Vorwärts-drehsinn um die Quer-achse

gestützt

frei

Rückwärts-drehsinn um die Querachse

gestützt

frei

Drehung um die Tiefen-achse

gestützt

frei

Drehungen um die Längs-achse

Schrau-ben

Abb. 3.81: Unterschiedliche Drehungen (Rotationen) um freie Achsen. graue Figuren: Ausgangspositionen

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(M 3b) Rotationen um „quasi freie“ Achsen (Stütz)

Bedingungen im Drehsinn vorwärts im Drehsinn rückwärts

Umschwung

Abb. 3.82: Drehungen (Rotationen) um „quasi freie“ Achsen im Stütz. Graue Figuren: Ausgangs- und Endposition

Neben den Rotationen, die aus einem Absprung resultieren, besteht eine Gruppe von Rotationen, die sich aus einem Schwung im Langhang ergeben (Abb. 3.83). Auch hier kann der Körper in gestreckter Form rotieren, oder er wird zwecks Vergrößerung der Winkelgeschwindigkeit „eingerollt“ (= Verkleinerung des Trägheitsmomentes). Den Drehimpuls erhält der Körper entweder aus der Schwungbewegung, wobei ein Schwung im Rückwärtsdrehsinn zu einer Rückwärtsrotation (z.B. Überschlag rückwärts am Barren) und ein Schwung im Vorwärtsdrehsinn zu einer Vorwärtsrotation (z.B. Jägersalto, ) führt, oder die Drehrichtung wird zwischen Schwung und Rotation durch eine Schnepperbewegung (= Drehabstoß am Gerät) umgekehrt, von vorwärts auf rückwärts (z.B. Yamavaki) oder von rückwärts auf vorwärts (z.B. Tkatchev).

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(M 3c) Rotationen aus Schwüngen Bedingungen Trägheitsmoment klein Trägheitsmoment groß

Rotation vorwärts

Drehrichtung (aus Schwung mit Vorwärtsdrehsinn) bleibt erhalten

Drehrichtung (des Schwunges mit Rückwärtsdrehsinn) wird umgekehrt

Rotation rückwärts

Drehrichtung (aus Schwung mit Rückwärtsdrehsinn) bleibt erhalten

Drehrichtung (des Schwunges mit Vorwärtsdrehsinn) wird umgekehrt

Abb. 3.83: Rotationen aus Schwüngen. Schwarze Figuren: Rotation. Graue Figuren: vorbereitender Schwung

3.12.3 Kippen

Im Grundlagenturnen gehören Übungen, die eine heftige Hüftstreckbewegung aus stark gewinkelten Körperstellung zeigen, zu denjenigen Elementen, die zur Einführung und Vorbereitung von Vorwärts- und Rückwärtsdrehungen gehören. Dabei muss eine heftige Hüftstreckbewegung (Kippschlag, Kippstoß) aus einer stark gewinkelten Körperposition die initiale Wucht zur Ausführung der Bewegung schaffen (Abb. 3.84).

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(M 4) Kippen Bedingungen Kippen vorwärts

Impuls-über-tragung aktiv

Impuls-über-tragung passiv

Kippen rück-wärts

Kippstoß aus der Kipplage

redu- zierter Kippstoß aus Rolle oder Schwung

ohne Kippstoß

Abb. 3.84: Übungen mit Kippstoß oder Kippschlag als initiale Kernphase. Schwarze Phase: Kippbewegung (Kippschlag)

Mit zunehmender Könnensstufe kann die Kippbewegung (Kippschlag, Kippstoß) reduziert werden oder ganz entfallen, indem einleitende Roll- oder Schwungbewegungen herangezogen werden, um einen Teil oder die gesamte für die Ausführung nötige Energie zu schaffen.

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Im Laufe der Kippstreckung kann die Streckbewegung aktiv und ruckhaft in leichter Hüftbeugestellung durch Muskelkontraktion abgebremst werden (Vorwärtskippen in den Stütz), oder die Streckbewegung wird durch passive Strukturen gestoppt. In jedem Fall profitiert der Turner von einer Übertragung des in den Beinen gewonnenen Impulses auf den Gesamtkörper (Kap. 3.8).

Die in der Kippphase gewonnene Wucht kann durch vorgeschaltete Bewegungen wie Rollen oder Schwünge ersetzt werden. In diesen Fällen lassen sich Ausführungen erkennen, in denen die Kippbewegung zunehmend abgebaut wird. Häufig tritt noch eine Zwischenstufe auf, bei der nur noch eine Hüftstreckbewegung aus einer leichten Hüftbeugung zu erkennen ist, die gelegentlich auch „Felgbewegung“ oder „gefelgte Bewegung“ genannt wird. Diese verliert die mechanische Funktion der Impulsübertragung und ähnelt in der Wirkungsweise den Schnepperbewegungen (Kap. 3.9). Im Idealfall reicht allein die vorgeschaltete Aktion (Rolle oder Schwung) für die Erreichung des Zieles aus. In diesem Fall hat die Übung ihre Zugehörigkeit zu den Kippen verloren.

3.12.4 Impulsschaffende Zusatzaktionen

Neben den drei großen Gruppen von turntypischen Kernphasen (Schwünge, Rotationen, Kippen), müssen einige Zusatzaktionen Erwähnung finden, die a) zur Schaffung einleitender Impulse bzw. Drehimpulse beitragen oder b) das abschießende Erreichen des Übungszieles unterstützen.

Zu den einleitenden Drehkraftstößen (Abb. 3.85) gehören Absprünge, Abstoßbewegungen mit den Armen vom Boden und Gerät und Schepperbewegungen, zu den letzteren Stemm- und Hebeaktionen aus den Schultern und Armen (Abb. 3.86). Diese Aktionen treten in allen Kernphasengruppen in unterschiedlicher Ausprägung auf und können deshalb nicht Anlass sein, zusätzliche getrennte Strukturgruppen zu erstellen.

Kippen sind solche Kernphasen turnerischer Bewegungen, die aus einer intensiven Hüftbeugestellung eine explosive Hüftstreckung zeigen, um die einleitende Wucht zur Erreichung einer Zielposition oder Zielbewegung zu schaffen.

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(M 5) Aktionen zur Erzeugung von Drehimpulsen Bedingungen im Drehsinn vorwärts im Drehsinn rückwärts

Absprung mit unterstüzendem

Armschwung

Hüftstreckung

“Kippstreckung“ mit unterstützendem Armstoß

Hüftstreckung

“Kippstreckung“ mit unterstützender Armstemme

rückwärts

Armabstoß

mit Beinschnepper

Beinschnepper

mit unterstützendem Armeinsatz

Abb. 3.85: Aktionen zur Erzeugung von Drehbewegungen. Graue Figuren: Übergang zur Drehbewegung

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(M 6) Schulter-Arm-Aktionen zur Aufwärtsbeschleunigung des Körpers

Bedingungen Adduktion Abduktion

Anteversion

Retroversion

Abb. 3.86: Arm- und Schulteraktionen zur Aufwärtsbeförderung des Körpers aus unterschiedlichen Ausgangspositionen. Schwarze Figur: Ausgangsposition. Graue Figur: Endposition