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MAINZER ROMANISTISCHE ARBEITEN Herausgegeben vom Romanischen Seminar der Johanne« G utoiihcrg- Universität BAND I VORFORMEN DES ESSAYS IN ANTIKE UND HUMANISMUS EIN BEITRAG ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER ESSAIS VON MONTAIGNE VON PETER M. SCHON FRANZ STEINER VERLAG GMBH · WIESBADEN 1954 VORFORMEN DES ESSAYS IN ANTIKE UND HUMANISMUS EIN BEITRAG ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER ESSAIS VON MONTAIGNE VON PETER M. SCHON FRANZ STEINER VERLAG GMBH · WIESBADEN 1954 ,ÎïMiimuiîsaiiii=«

PETER M. SCHON.Vorformen Des Essays in Antike und Humanismus

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1954 Monograph on the history of the essay

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Page 1: PETER M. SCHON.Vorformen Des Essays in Antike und Humanismus

MAINZER ROMANISTISCHE ARBEITEN Herausgegeben vom Romanischen Seminar der Johanne« G utoiihcrg- Universität

BAND I

VORFORMEN DES ESSAYS IN ANTIKE

UND HUMANISMUS

E I N BEITRAG

ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER ESSAIS

VON MONTAIGNE

VON

PETER M. SCHON

FRANZ STEINER VERLAG GMBH · WIESBADEN

1 9 5 4

VORFORMEN DES ESSAYS IN ANTIKE UND HUMANISMUS

EIN BEITRAG ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE

DER ESSAIS VON MONTAIGNE

VON

PETER M. SCHON

FRANZ STEINER VERLAG GMBH · WIESBADEN

1 9 5 4

,ÎïMiimuiîsaiiii=«

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VI Inhalt

E x k u r s : E x e m p l u m u n d G e s c h i c h t s a u f f a s s u n g 7 8

S e n t e n z u n d F l o r i l e g i e n 80

Bedeutung der Florilegien. Johannes von Stoboi. Florilegien der Renaissance.

Die „ A d a g i a " des E r a s m u s 83

DER MONTAIGNESCHE ESSAY 90

NACHWORT 98

VERZEICHNIS DER BENUTZTEN WERKE 99

NAMENREGISTER 104

Einleitung

„Die große Gefahr, wenn man Dichtungsformen betrachtet, ist, daß man formalistisch wird. Die metrischen Gerüste werden einem dann zu halbleben­digen Gespenstern, die durch die Jahrhunder te hin eine Art dynastisches Familienleben führen, sich fortpflanzen, vermehren und zur Herrschaft ge­langen, dann verfallen und aussterben, so daß man sich verpflichtet fühlt, ihre Stammbäume aufzuzeichnen1." Eindringlicher läßt sich auch die Gefahr der vorliegenden Arbeit nicht kennzeichnen, die den essayartigen Formen vor der Veröffentlichung der ersten Essays durch Montaigne nachspüren will. Es wird sich dabei herausstellen, daß diese Formen durchaus nicht zufällig sind, daß sie vielmehr Ausdruck einer bestimmten Haltung, eines bestimmten Geistes sind, daß sie charakteristisch sind für die betreffende Epoche, die solche Formen für die Darstellung ihrer philosophischen oder literarischen Ideen wählte. Das Aufsuchen und die Erforschung dieser literarischen Formen wird außerdem Licht werfen auf die Kul tur jener Epochen oder auf einzelne ihrer hervorragenden Vertreter.

Als im März des Jahres 1580 in Bordeaux Messire Michel Seigneur de Mon­taigne zwei kleine Bände unter dem bescheidenen Titel Essais veröffentlichte, war damit nicht nur ein Werk (oder genauer, der Anfang eines Werkes) er­schienen, das neben wenigen Prosawerken des französischen 16. Jahrhunder ts auch heute noch nicht nur von Literarhistorikern und Linguisten gelesen wird, es war vielmehr eine neue literarische Gat tung geboren. — Es wäre unmöglich, alle die Schriften zu zählen, die seither diesen Namen trugen. In Frankreich, in England und Deutschland schreibt man seither „Essais" bzw. „Essays", Italien ha t seine „Saggi", Spanien seine „Ensayos" : ein Genre also, das in die Weltli teratur Eingang fand.

Alle literarischen Gattungen haben ihre Geschichte, sie entwickelten sieh langsam, und ihre Anfänge liegen für uns oft im Dunkeln. Sollte d i e s e Gat tung mit einem vollendeten Werk ihren Anfang genommen haben, oder gab es nicht doch vor dem Schöpfer des Essays schon Essayisten, vor den Essais schon literarische Erzeugnisse, die zu der neuen Sippe nur deswegen nicht gezählt werden, weil den Vätern der „Famil ienname" noch unbekannt war ? Oder gab es wenigstens literarische Formen, die unmittelbar die neue Gattung vorbereiteten ?

Zum Teil h a t V I L L E Y diese Fragen bereits beantwortet3 . Jedoch liegt der Hauptakzent des Villeyschen Werkes — was die Q u e l l e n Montaignes be-

1 K. VOSSLEB, Südliche Romania. München u. Berlin 1940, in dem Aufsatz : Der Geist der italienischen Dichtungsformen und ihre Bedeutung für die europäischen Literaturen, S. 38.

2 P. VILLEY, Les Sources et l'Evolution des Essais de Montaigne. 2 Bde. Paris 21933; im folgenden als VILLEY zitiert.

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2 Einleitung

trifft nicht auf dem Suchen nach Vorformen der Essais als vielmehr auf demi Festellen der unmittelbaren Quellen für Montaignes Gedanken und Satze, und im Laufe unserer Untersuchungen werden oft die Ergebnisse seiner grundlegenden Arbeit zitiert werden müssen. Die von VILLEY auf-gewiesenen Vorformen, z. B. die Kompilationsliteratur1 , soll genauer unter­sucht und weiter nach rückwärts verfolgt werden; aber auch andere, von V I L L E Y nicht behandelte oder nur angedeutete Formen sind in diesen Kreis mit einzubeziehen. Dabei werden öfters die verstreut in anderen Arbeiten geäußerten Meinungen zitiert werden, die unserer Ansicht wertvolle Stütze sein können.

Die Arbeit will nicht den Anspruch erheben, a l l e essayartigen Formen vor Montaigne zu erforschen. Viele Ströme fließen in Montaignes Werk zusammen. Wir wollen nur einigen in ihrem Laufe durch die Jahrhunder te folgen; manch­mal werden sie sichtbar miteinander in Verbindung stehen, oft auch verborgen weiterfließen u n d erst später wieder den Weg an die Oberfläche finden.

Ob Montaigne alle in dieser Arbeit untersuchten Werke kannte, wird nicht immer zu entscheiden sein. Auch Villeys Katalog der Bibliothek Montaignes kann und will ja keinen Anspruch auf Vollständigkeit machen. Ganz wird sich die Lektüre des großen Lesers Montaigne niemals rekonstruieren lassen. Und wenn er von einigen in unserer Arbeit auftauchenden Büchern tatsächlich keine direkte Kenntnis hat te , wollen wir an das denken, was E D U A R D N O R D E N 2

vom Stil Petrarcas schrieb: „Keinen seiner Vorgänger ha t er gekannt . . ., aber über dem Einzelwesen steht die Welt der Ideen, und in wem sie ihre sinn­lichste Form annimmt, der ist der Große, an dessen Namen die Nachwelt eine neue Epoche anknüpft, und insofern gilt auch von Petrarcas Auftreten das tiefe Wort, daß auf der lebendigen Flur der Welt alles Frucht und alles Samen ist ."

1 VILLEY I I , S. 4ff. s E. N O R D E N , Die antike Kunstprosa. Leipzig u. Berlin 31909, Bd. I I , S. 735.

Voruntersuchungen

Wenn wir Vorformen des Essays betrachten wollen, drängt sich uns die Frage auf, was überhaupt ein Essay ist. Es ist nicht leicht, eine Definition zu finden für eine literarische Gattung, die sich in gewissem Sinn durch ihre Formlosigkeit auszeichnet; es ist aber unmöglich, eine Definition zu geben, die allen Schriften gerecht wird, denen jemals der Titel „Essay" mit auf den Weg gegeben wurde; denn bald werden philosophische oder moralische Abhand­lungen, bald wissenschaftliche Untersuchungen, bald belletristische oder jour­nalistische Produkte Essays genannt; bald umfaßt der Essay einige Seiten oder weniger, bald wird ein dickbändiges Werk „bescheiden" Essay betitelt . Bescheidenheit — oder Koketterie — ist dabei in vielen Fällen für den Autor der Grund, sein Werk nur einen „Versuch" zu nennen. (In dieser Bedeutung von Essay = Versuch liegt es ζ. Τ. begründet, daß so mannigfaltige Erzeug­nisse diesen Namen tragen!) Oft wird auch eine gewisse Unsicherheit des Autors und die Absicht, von vornherein der etwaigen Kri t ik die Spitze ab­zubrechen, ausschlaggebend sein, das Geschriebene „nur" als Essay, als Ver­such, zu bezeichnen.

Trotz dieser Vielzahl der Formen verbinden wir mit dem Wort Essay eine bestimmte Vorstellung. Hören wir zunächst, was einige deutsche Autoren über den Essay sagen: Das Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte1 defi­niert den Essay als „eine kürzere, in loser Form des Stils und der Anlage gehaltene Abhandlung, die sich mit irgendeinem allgemein interessierenden Thema aus dem geistigen Leben der Zeit beschäft igt . . . Der Sache nach findet sich der Essay in jeder Literatur, sobald sie über eine kunstmäßig ausgebildete Prosa verfügt." Alexander v. G L E I C H E N - R U S S W U R M 2 nennt den Essay eine „litterarische Arbeit, die aus den Quellenstudien der Fachgelehrten empor­gewachsen, ihren Vorwurf nicht ergründen soll, nur von verschiedenen Seiten beleuchten". Er betont, daß der Essay immer Ausdruck einer Persönlichkeit ist, daß der Autor im Essay nicht lehren u n d überzeugen will, „er will erzählen wie im Salon unter gebildeten Menschen". Er weist auf Plutarch als das Urbild für den Essay hin und sagt, daß der Geist der Griechen, dem wir alle Formen der Kunst verdanken, uns auch den Essay schenkte: „Denn was ist Piatos Gastmahl anderes als einer der geistvollsten und anmutigsten Essais aller Zei ten?" (Sp. 753). O. STÖSSL 3 charakterisiert ihn als einen „Versuch zwischen

1 MERKER-STAMMLER, Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Bd. I (Berlin 1925/26), Sp. 329f. Fü r den Artikel „Essay" zeichnet H. Beyer.

2 A. v. GLEICHES-RUSSWURM, Der Essai. I n : Das Litterarische Echo, VI (1904), Sp. 747—753.

3 0. STÖSSL, Lebensformen und Dichtungsformen, München 1914.

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4 Voruntersuchungen

der fraglosen erfüllenden Gestaltung des Dichters und der forschenden Aus­einandersetzung des gelehrten Denkers", und ein anderer1 bezeichnet die Kunst des Essays sibyllinisch als „Gestaltung von Gestaltetem". Registrieren wir schließlich noch die Ansichten zweier Schriftsteller, wenn auch der eine2

unbeschwert behauptet , daß die Essais von Montaigne „von keiner Kunst ­form zeugen" und daß sie „in ihrer letzten Form nicht einmal von Montaigne selbst" sind, und der andere 8 don vier Jahre nach Montaignes Tod geborenen Descartes zu dessen Zeitgenossen macht, um eine Beziehung zwischen dem „'peindre moi" und dem „Ich bin, also ist Got t" konstruieren zu können und von einer „merkwürdigen Gleichzeitigkeit" der Baeonschen Essays mit denen Montaignes spricht4 . M Ü T H sieht im Essay eine „künstlerisch-schriftstellerische Leistung, . . . keine Domäne des Dilettantismus", und läßt ihn die Abhandlung „als Formgebilde" überragen. Die Übersetzung „Versuch" lehnt er ab, da sie „an der damit vorknüpften Vorstellung des Unvollendeten, des nicht mit vollem Ernst der Durchführung in Angriff Genommenen leidet". DODEREK, sagt : „ In der herkömmlichen Auffassung ist ein Essay jeder stilistisch elegante Aufsatz, der dem Wortsinn gemäß ein Versuch, nur andeutend, nicht wissen­schaftlich ausdeutend, anregend, nicht pedantisch erschöpfend ist ."

Genug dieser Definitionen, die sich zum Teil widersprechen, z. T. sich er­gänzen und nur einen Aspekt wiedergeben. Sie zeigen jedenfalls die Schwierig­keit einer Definition des Essays. Unter allen oben zitierten Aufsätzen scheint der von A. v. GLEICHEN-RUSSWURM lesenswert zu sein und der Sache am nächsten zu kommen.

Vielleicht kann die Geschichte des Wortes essai u n d vor allem der Ausdruck, den sie in den französischen Wörterbüchern und Enzyklopädien gefunden hat , Auskunft geben. Eine Wortgeschichte unter dem Gesichtspunkt der hier inter­essierenden Bedeutung des Wortes ist nach rückwärts zeitlich begrenzt durch das J a h r 1580, in dem das Wor t ein literarischer Begriff geworden ist. Das lateinische Etymon exagium ha t die Bedeutung ponderatio, examen trutinae und von hieraus examen quodvis diligens et aecuratum5. In der folgenden An­wendung mag die Bedeutung „Versuch" bereits mitschwingen: vos retînetis pondus antiquum: habetis aginam, exagium facite, quemadmodum vultis . . .6

Exagium, in einer Teilbedeutung zum Synonym von examen geworden, ist dann im Spät- und Mittellatein in der Bedeutung von „Versuch", „ P r o b e " geläufig7 und lebt als „essai" im Altfranzösischen unter dieser Bedeutung

1 R. K A I S E R , Wege des Essays. I n : Neue Bundschau, 1925/11, 1313—1318. 2 K. MUTH, Über die Kunst dee Essais. In : Hochland Ä X I V {1926/27), Bd. I, S. 345—347. 3 0. D O D E R E E , Der dichterische Essay. Ein Abriß. I n : Die Literatur, X X I X (1926/27),

S. 8—10. 1 Bacon gebrauchte den Titel Essayes 17 Jahre nach Veröffentlichung der 1. Ausgabe

der Montaignes chen Essais. 5 Thesaurus linguae latinae, Leipzig 1900ff., s. v. exagium. β Zit. nach dem Thesaurus. Es handelt sich um eine Stelle aus Zeno (Bischof von Verona,

t etwa 380), Tractatus Hb. 2, tract. 44. 7 Vgl. D u CAUGE, Glossarium mediae et infimae latinitatis, Niort 1883ff., Bd. I I I , unter

Exagium, Essayum und Essaium.

Voruntersuchungen 5

weiter 1 . Wie bereits bemerkt, hat Montaigne es zum erstenmal als Buchtitel verwandt 2 . Es ist übrigens zu beachten, daß bei Montaigne nur die Gesamtheit der einzelnen Kapi te l „Essais" genannt wird, er aber noch nicht vom einzelnen Kapitel als einem Essai spricht. (Es ist zumindest zweifelhaft, ob der Satz : Qui connoistra combien je suis peu laborieux, combien je suie faict à ma mode, croira facilement que je redicterois plus volontiers encore autant d'essais que de m'assujettir à resuivre ceux-cy3 so zu interpretieren ist, als spräche Montaigne von den einzelnen Kapiteln als Essays.) Der Titel Essais will nicht anders verstanden werden als andere, ähnliche Buchtitel der Zeit, e twa Diverses Leçons oder Bigarrures. Ers t die Eigenart Montaignes und damit dor Erfolg, den seine Bücher hat ten, sicherten den Namen Essay {natürlich auch die neue Bedeutung des Wortes essai, die für den Schriftsteller eine gewisse Bequem­lichkeit bietet). Es hä t te also genau so gut eine Gattung Bigarrures entstellen können! Wir wissen nicht, ob Montaigne schon, als er zu schreiben begann, den Titel seines Buches bereit hielt. Aus der Chronologie der Essais ist es jedenfalls nicht mit Sicherheit festzustellen4. Zweifellos ist das Wort essai von Montaigne mehrfach verwendet worden, indem er auf den Buchtitel anspielte : Le jugement est un outil à tous subjects, et se mesle par tout. A cette cause, aux essais que j'en fay icy, j'y employe toute sorte d'occasion" (I, L, 386) oder: En fin, toute cette fricassée que je barbouille icy n'est qu'un registre des essais de ma vie . . ." (III , x n i , 379). Über die Bedeutung des Wortes essai in diesem Zu­sammenhang wird noch im letzten Kapitel zu sprechen sein.

Die weitere Entwicklung der Wortbedeutung spiegelt sich deutlich in den Definitionen wider, die uns Wörterbücher und Enzyklopädien zur Verfügung stellen. Das Dictionnaire de l'Académie françoise von 1694 notiert noch nicht die neue Bedeutung von Essai, wenn es auch einen literarischen Sinn angibt : Essai se dit aussi des premieres productions d'esprit qui se font sur quelque matière pour voir s'y l'on y réussira5. Gemeint sind also literarische oder wissenschaft­liche Versuche jeder Art, ohne daß etwas über die Form oder die Art und Weise

1 Vgl. GODEEROY, Dictionnaire de l'ancienne langue française, Bd. I X , θ. ν. Essai: Pre­mière application d'une chose à sa destination pour juger si elle y est propre, action d'aborder une chose pour la première fois. Für das Fortleben in anderen romanischen Sprachen siehe R E W 2932. 2 FEW, s. ν. exagium „. . . seit Montaigne".

3 I I I , ix, 230. Die Seitenzahlen beziehen sich auf die kritische Ausgabe von F . STROWSKI: Les Essais de Michel de Montaigne, publiés d'après l'exemplaire de Bordeaux, 5 vol. Bor­deaux, Pech, 1906—1933. Bei den in dieser Arbeit zitierten Stellen wurden die Sigel aufgelöst und die Schreibung von ΐ und j, ν und u, s und f dem heutigen Gebrauch angepaßt.

4 Vgl. VILLEY I I , S. 85. VILLEY hält es für durchaus wahrscheinlich, daß der Titel Essais erst aus der Periode 1577/78 stammt. Das Argument: Son œuvre n'avait pas encore de caractère propre, elle ne demandait pas un titre particulier ist in diesem Zusammenhang nicht einleuchtend. Hat te nicht gerade d iese Art von Kompilationsliteratur die verschie­denartigsten Titel? Unseres Wissens wurde nur der Titel Diverses Leçons zweimal ver­wendet. Die vielen verschiedenen Titel in der Kompilationsliteratur waren sogar ein Ein-leitungstopos geworden, ausgehend wohl von der Vorrede zu den Attischen Nächten des Aulus Gellius. — Für die Zeit 1577/78 spricht die innere Entwicklung Montaignes und der Essais.

5 Dictionnaire de VAcadémie françoise. 2 vol., Paris 1694, s. v. Essai.

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6 Voruntersuchungen

dor Arbeit ausgesagt wird1 . Nun, es handelt sich hier um ein offizielles Wörter­buch, das vorsichtig hinter der Entwicklung nachhinkt, denn schon ein J a h r vorher hat te P I E R R E R I C H E L E T folgendes registriert: Divers Auteurs ont donné par modestie, ce titre à leurs ouvrages . . . (Essais de Pkisique . . . Essais de Morale, Les Essais de Montaigne)2. Wie es bei Wörterbüchern alter Brauch ist, schrieb F U R E T I È R E diesen Satz a b 3 , und das „par modestie1', das wohl von LA CROIX DÎT M A I N E 4 ausgegangen war, ist seither eiserner Bestandteil einer Essay-Definition. Noch das Dictionnaire de Trévoux5 faßt den Begriff sehr weit: Essay ou essai, se dit figurément en Morale des Ouvrages d'esprit. Um eine genauere Definition bemüht sich die Encyclopédie von D I D E R O T - D ' A L E M B E R T 6 : . . . ce mot employé dans le titre de plusieurs ouvrages, a différentes acceptions; il se dit ou des ouvrages dans lesquels l'auteur traite ou effleure dîfférens sujets, tels que les essais de Montaigne, ou des Ouvrages dans lesquels l'auteur traite un sujet particulier, mais sans prétendre l'approfondir, ni l'épuiser . . . Aile späteren Definitionen bringen nichts wesentlich Neues mehr, es sei denn, daß man literarkritischc Abhandlungen, die den Namen Essay tragen, gesondert erwähnt : ouvrage où Fauteur touche un sujet sans vouloir le traiter à fond . . . morceau publié dans une revue sur un sujet de littérature etc.7. Bei der Zusammen­fassung dieser Definitionen läßt sich feststellen: Auf literarischem Gebiet be­deutet Essay 1. literarischer Versuch im ursprünglichen Sinn des Wortes (vgl. Voltaire: Une première édition n'est jamais qu'un essai8); 2. ein Werk, mit dem der Autor nicht den Anspruch erhebt, die Materie erschöpfend zu behandeln; 3. literar kritisch er Aufsatz.

Das Wort Essay ist als Aushängeschild für formal und inhaltlich ganz ver­schiedene Erzeugnisse gebraucht oder, was in vielen Fällen zweifellos treffender ist, mißbraucht worden: „Es h a t sich bei jenen Schriftstellern, die nie aliquid, sondern immer de aliqua re schreiben, ein Stil herausgebildet, den zu unter­suchen lohnt. So wie es nach Goethe Gedichte gibt, in denen die Sprache allein dichtet, so gibt es Essays, die ohne Dazutun des Autors aus der Schreib­maschine trudeln. Jenes al te gute Wort darf auch hier angewandt werden: der Essaystil ist der Mißbrauch einer zu diesem Zweck erfundenen Termino­logie. Es ist eine ganze Industrie, die sich da aufgetan hat , und sie h a t viele

1Ähnlich A. FURETIÈRE, Dictionnaire universel... La Haye 1725: Essai se dît encore des écrite qu'on ne donne au public que pour sonder son gout.

3 P. RICHELET, Dictionnaire françois. Genève 1693. Ebenso die Ausgabe Lyon 1759. 3 F U R E T I È R E , 1. c.

* In der Bibliothèque française: en premier lieu, ce titre ou inscription est fort modeste . . . Zitiert nach VILLEY I I , 8. 85.

5 Dictionnaire universel François et Latin, vulgairement apellé Dictionnaire de Trévoux. Wouv. Ed. Nancy 1734.

6 (DIDEROT, D 'ALEMBEET: ) Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné, dee Sciences, des Arts et des métiers, par une société de gens de lettres. Nouv. Ed., Genèvo 1777 fF., s. v. essai.

7 F E W . — Ähnlich auch die 8. Auflage des Dictionnaire de l'Académie française. Paris 1932.

8 Zitiert nach P. C. V. BOISTE, Dictionnaire universel de la langue française. Paris 131855.

Voruntersuchungen 7

Fabr ikanten 1 . " Hieraus kann man ableiten, daß jede differenzierte Definition, die alle Essayformen einschließen wollte, scheitern müßte. „Essay" wurde zu einer Sammelbezeichnung für Aufsätze etc., für deren Titel das 16. Jahrhun­dert die verschiedensten Möglichkeiten hat te . Es würde hier zu weit führen, die Anwendung von discours, traité, dissertation, considération, réflexion etc. zu untersuchen. Eine kurze Andeutung möge deshalb genügen. Eine eindeutige Abgrenzung dieser Begriffe, als Titel angewandt, gab es im 16. Jahrhunder t nicht. Noch das Wörterbuch der Académie von 1694 definiert traité als discours sur quelque matière, was also eine Gleichsetzung von traité und discours be­deutet. Vergleichsweise sei eine moderne Definition von traité angeführt: Ouvrage où Von traite d'une science, d'un art ou d'une matière quelconque2. Discours seinerseits wird in der obengenannten Ausgabe des Dictionnaire de l'Académie so erklärt : Il se prend pour ce . . . que l'on escrit sur différents sujets, eine Definition, in deren Unbestimmtheit die Sprachdiktatoren der Académie nicht zu übertreffen sind. Als Gegenstück eine moderne Erklärung für Discours: Traité oratoire et concis sur un sujet quelconque . . .3 . Diese wenigen Proben von Beispielen zeigen uns bereits deutlich, wie mannigfaltig die Anwendungsmög­lichkeiten dieser Wörter waren, und daß das Abstecken der Gebiete erst ziem­lich spät erfolgte. Erwähnt sei an dieser Stelle noch, daß die Essais von Mon­taigne (und zwar die Ausgabe von 1580) ins Italienische übersetzt den Titel discorsi t rugen4 .

Alle diese notwendigen Voruntersuchungen, auch die wortgeschichtliche Betrachtung, konnten über das Wesen des Montaigneschen Essays nicht be­friedigend Auskunft geben.

Die Schwierigkeiten dieser Frage werden noch vergrößert durch die Tat­sache, daß zwar Montaigne als erster diesen Titel gebrauchte, daß aber seine Essais, vor allem in den späten Kapiteln, etwas Einmaliges sind. Der Begriff der „freien literarischen F o r m " paßt zwar auf die Essais von Montaigne, aber niemand nach Montaigne h a t Essays im Montaigneschen Sinne geschrieben (vgl. letztes Kapitel). In dieser Arbeit wird versucht, Vorformen für die , ,Essays" von Montaigne zu finden, womit gleichzeitig ein Beitrag zur Ge­schichte der ganzen Gattung geliefert werden soll.

Um feste Ausgangspositionen für die Betrachtung von Vorformen der Montaigneschen Essais zu sichern, soll ein anderer Weg eingeschlagen werden.

Die Bedeutungsgeschichte des Wortes Essay ist charakterisiert durch die Uneinheitlichkeit, ja Widersprüchlichkeit der einzelnen Definitionen ; sie weist nicht einmal die Tendenz zu einer Vereinfachung oder Vereinheitlichung im späteren Lauf der Entwicklung auf, sondern die Fülle der Wortdeutungen und

1 COLLOFINO, Non ölet oder die heiteren Tischgespräche. Privatdruck Köln 1939, S- 398f. 2 Larousse du XX« siècle. 6 vol., Paris (1938). 3 Nouveau Larousse Illustré, 7 vol., Paris s. d. 4 Discorsi morali, politici e militari del . . . sig. Michiel di Montagna, . . . t radott i dal

sig. Girolamo Naselli. Ferrara 1590.

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8 Voruntersuchungen

Begriffsbestimmungen erscheint immer vielfältiger und verwirrender. Ebenso stellen sich auch die Essais von Montaigne in der Vielfalt ihrer Elemente als ein zunächst bunt zusammengewürfeltes Gebilde von lauter heterogenen Form­und Stileinheiten dar, die aber doch durch einen übergeordneten Faktor zu­sammengefaßt und gegliedert werden.

Schon die kurze Analyse eines beliebigen Montaigneschen Kapitels läßt dies deutlich werden:

Voruntersuchungen 9

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10 Voruntersuchungen

ältesten und ehrwürdigsten philosophischen und sakralen Stilgebilden. Doch stehen diese einzelnen Formen nicht wie an einer Kette als Perlen aufgereiht nebeneinander, gegenseitig konkurrierend und rivalisierend ; sie gleiten viel­mehr aus ihrem ursprünglich scharf abgegrenzten Wesen in eine weniger strenge Form hinein; ein besonders gutes Beispiel hierfür bietet die als dialo­gisches Element bezeichnete Stelle, an der Montaigne die verschiedenen Auf­fassungen von Hesiod und Plato kennzeichnet: „Ist doch der Essay auch viel­fach nichts anderes als ein verkümmertes Gespräch, und in manchem Essay Montaignes würden die miteinander ringenden, auf und ab wogenden Gedanken sich deutlicher gegeneinander abheben, wenn der Verfasser sie in die Form eines Dialogs gebracht hätte1 ." Die betreffende Stelle hätte — etwa in einem Lukianschen Totendialog — vielleicht folgendes Aussehen :

PLATON : La peine suit de bien près le peché. H B S I O D : (Ce n'est pas juste), elle naist en l 'instant et quant et quant le peché.

Diese Strenge der Form, die das Gegeneinander zweier Meinungen schroff ausdrückt, ist jedoch nicht mehr geeignet, in der verbindlicheren Atmosphäre des Essays aufzutreten, und so muß sie gemildert werden, indem derjenige Gesprächspartner, dessen Meinungen Montaigne selbst vertritt, der eigentlich Redende ist, während die Anschauung des Gegners fast nur als Belief dient:

Hésiode corrige le dire de Platon, que la peine suit de bien près le peché: car il dit qu'elle naist en l 'instant et quant et quant le peché.

Aber selbst diese bereits gemilderte Form wird noch mehr verschliffen, indem Montaigne seinerseits aus der objektiven Haltung des nur Feststellenden her­austritt und die Hesiodsche Meinung mit eigenen Worten wiederholt und analysiert; dadurch wird die scharfe Prägnanz des Dialogs, die im ersten Satz noch durchschimmerte, vollends verdrängt :

Quiconque at tent la peine, il la souffre, et quiconque l'a méritée, l 'attend.

Dieses Beispiel, dem sich viele andere anreihen ließen, zeigt schon, daß der Begriff der alten überkommenen Stilformen bei Montaigne oft schon sehr weit gefaßt werden muß: Um die zugrunde liegende Form zu erkennen, ist die Analyse notwendig. Das gilt — mutatis mutandis — von sämtlichen Stilformen mit Ausnahme der zitierten Sentenzen, Proverbien usw., deren Form gleich­zeitig mit der sprachlichen Gestaltung erstarrt ist und somit für alle Zeiten so und nicht anders feststeht.

Die Analyse eines Montaigneschen Essays zeigt aber auch, daß die einzelnen Formen nicht unmittelbar nebeneinander stehen, sondern daß sie in geschickten Überleitungen ineinander übergeführt werden. Die charakteristische Eigenart jeder einzelnen bleibt erhalten — der Gedanke, dem sie Ausdruck verleiht, erhält dadurch seine besondere Nuance —, gleichwohl ist sie untergeordnet

1 I t . H I E Z E L , Der Dialog. Ein literarhistorischer Versuch. 2 Bde., Leipzig 1895,1, S.244f.

Voruntersuchungen 11

und einem bestimmten Zweck dienstbar gemacht1. Die souveräne Stellung der einzelnen Form, wie sie sich in den Florilegien besonders klar zeigt in einem losen Nacheinander, vollkommen gleichgeordnet und unverbunden — oft ge­trennt durch Striche oder Sternchen ohne jeden Kommentar —, ist gefallen; die Stilformen müssen hier in einer Art organischen Zusammenwirkens sich gegenseitig tragen und ergänzen. Am besten ließe sich im Hinblick hierauf der Essay Montaignes einem Mosaik vergleichen, in dem aus der Nähe jedes ein­zelne Steinchen deutlich zu erkennen ist, das aber, sobald man sich weiter entfernt, nur noch als Ganzes wirkt. Und wie das Mosaik in besonderem Maße die Möglichkeit hat, Gegensätze schroff zu betonen und Farben in gewolltem Kontrast aufeinanderprallen zu lassen, so hat der Essay die Möglichkeit, die einzelnen Stilformen auszuspielen und ein reizvolles Gegeneinander zu in­szenieren, ebenso wie er die Möglichkeit hat, sie ineinander übergleiten zu lassen.

Der übergeordnete Faktor aber, unter dem diese heterogenen Elemente zu­sammengefaßt werden können, ist jeweils ein anderer. In unserem Beispiel war es die Beweisführung für das gesetzmäßige Auftreten einer psychologischen Reaktion. Damit ist jedoch keine Beweisführung im scholastisch-magistralen Sinne zu verstehen, sondern eine Beweisführung, wie sie innerhalb eines an­geregten Gespräches unter gleichgesinnten Freunden üblich ist. Die Essais sollen ja auch kein Lehrbuch sein: Montaigne sagt selbst, daß er die Künste nur pflegt aus Liebhaberei, und wenn dabei auch ein bißchen kokette Non­chalance des Grandseigneurs mitschwingt, so ist die Atmosphäre der liebens­würdigen Leichtigkeit doch ein wesentliches Merkmal seines Essays. Am besten hat er selbst das ausgedrückt, wenn er sagt: Là, je feuillette à cette heure un livre, à cette heure un autre, sans ordre et sans dessein, à pièces descousues; tantost je resve, tantost j'enregistre et dicte, en me promenant, mes songes que voicy . . . Si quelqu'un me diet que c'est avillir les muses de s'en servir seulement de jouet et de passetemps, il ne sçait pas, comme moy, combien vaut le plaisir, le jeu et le passetemps. A peine que je ne die toute autre fin estre ridicule. Je vis du jour à la journée; et, parlant en reverence, ne vis que pour moy; mes desseins se terminent là. J'estudiay, jeune, pour l'ostentation; depuis, un peu, pour m'assagir; à cette heure, pour m'esbatre; jamais pour le quest (III, πι, 53f.).

Diese Wertschätzung der Liebhaberei, der die angestrengte Arbeit des Stu­diums ebenso fremd ist wie jede dogmatisch-doktrinäre Haltung, ist aber auch

1 E. WITTKOWEB ha t in ihrer Dissertation Die Form der Essais von Montaigne (Basel 1934, ersch. Berlin 1935} die Form der Essais auf ein Schematisches Abwechseln zwischen Beispiel, philosophischer Betrachtung usw. reduziert. Diese Methode ist richtig vor allem für die ersten Essays Montaignes, wenn auch dieses Schema die Funktion der einzelnen Teile (Exemplum etc.) innerhalb des ganzen Essays zu wenig zur Geltung kommen läßt. Für die späteren Essays, vor allem für die des 3. Buches, ist diese Methode nicht mehr das Charakteristikum, sondern die Gedankenreihen, die durch den Faden der Assoziation mit dem Thema verbunden sind. Bei genauerem Zusehen finden sich oft noch mehr Verbin­dungen zwischen Digressionen und Thema, als das erste Lesen aufzudecken vermag. (Vgl. hierzu J. THOMAS über den Essay De la Vanité in: Humanisme et Renaissance V (1938), S. 279—306).

Schon, Vorfoimen 2

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12 Voruntersuchungen

dafür verantwortlich zu machen, daß im Essay gelegentlich — so auch in unserem Beispiel — Dinge behandelt werden, die, in die religiöse und philo­sophische Sphäre hineinreichend, mit einer spielerischen Leichtigkeit behandelt werden, die zwar anmutig und liebenswürdig wirkt, aber manchmal der Grenze des Frivolen bedenklich nahe kommt. Und damit ist ein Faktor festgestellt, der den Essay der Causerie der guten Gesellschaft nähert, in der man über alles und jedes sprechen kann, vorausgesetzt, daß man den Gesetzen der Gentillesse entsprechend einen gewissen Relativismus pflegt, der alle und jeden zu Wort kommen läßt, und der keine Meinung als die einzig wahre von vorn­herein über alle andern möglichen stellt. Und so ist es denn auch kein Zufall, daß die Jahrhunderte, in denen der Essay entsteht bzw. am meisten gepflegt wird, zugleich die Jahrhunderte sind, in denen, soziologisch gesehen, die Ge­sellschaft in der höchsten Blüte jener Kultur steht, die sich als reinsten Ausdruck ihres Wesens die Salons geschaffen hat, in denen sich alle Größen der Wissen­schaft und Kunst ein Stelldichein geben, wo der Theologe neben dem Juristen, Philosophen, Naturwissenschaftler ebenso zu Wort kommt wie die femme du monde und der honnête homme. Damit aber all diese heterogenen Elemente miteinander harmonierten, durfte das Gespräch nie in eine Fachsimpelei ausarten, sondern mußte sich auf einer allgemein-verständlichen Ebene halten, die aber immer noch ein sehr hohes Bildungsniveau, vor allem eine sehr große Belesenheit, voraussetzte. Betrachtet man diese Gesellschaftskultur und die Conversation, die ihr vollendetster Ausdruck war, so erscheint von hier aus der Essay dieser Jahrhunderte als ein schriftlich fixiertes und damit erstarrtes Gespräch eines ganzen Salons. Die Verwandtschaft des Essays mit dem Ge­spräch wurde auch schon gelegentlich erkannt ; dabei muß aber im Fall Mon-taignes der Schwerpunkt auf der Feststellung liegen, daß man seine Essays, analytisch betrachtet, als das literarische Ergebnis einer Konversation mehrerer Partner auffassen und damit besonders plastisch beleuchten kann1. Auch dafür bietet der eingangs analysierte Essay wieder ein gutes Beispiel. Gesprächs­thema ist die Conscience. Der honnête homme beginnt das Gespräch mit der Erzählung eines persönlichen Erlebnisses. Der Theologe quittiert diese Anek­dote mit dem Ausruf: Tant est merveilleux l'effort de la conscience*, und gibt gleichzeitig eine Art theoretischer Analyse dieser psychologischen Erscheinung : Elle nous faict trahir, accuser et combattre nous mesme . . . Der homme de lettres trägt aus dem Schatz Seiner Lesefrüchte eine antike Anekdote bei, und der Philosoph erinnert an die Lehrmeinungen von Hesiod und Plato, die er analy­siert und kommentiert. Da aber diese verschiedenen imaginären Gesprächs-

1 Vgl. H I R Z B L , I , S. 244f. Wenn Hirzel sagt, daß bei Montaigne „die miteinander ringenden und auf- und abwogenden Gedanken sich, deutlicher gegeneinander abheben würden, wenn der Verfasser sie in die Form eines Dialogs gebracht hä t t e " , so liegt dieser Feststellung die richtige Beobachtung des dialogischen Elementes in den Essais zugrunde. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß das Reizvolle der Essais gerade darin liegt, daß Montaigne den Schritt vom Dialog zum Essay bereits getan hat, und wir dürfen nicht die Möglichkeit einer Dialogfassung der Essais als eine ihre Klarheit fördernde Form. positiv bewerten.

Voruntersuchungen 13

partner aus verschiedenen Lebens- und Wissensbereichen kommen, hat auch jeder von ihnen seine eigenen Sprach- und Stilformen, und aus dieser Per­spektive kann man die Vielfalt der von uns festgestellten Formelemente be­trachten. Daß aber der Essay als Ganzes doch nur das Werk eines Einzelnen ist, obwohl er in seiner Vielfalt der Formen eine ganze Reihe von Menschen in ihren verschiedenen Interessen widerspiegelt, ist zu erklären aus dem Bildungs­ideal des Humanismus (bzw. der Aufklärung), das alle Lebens- und Wissens­bezirke umfassen wollte, aus dem Ideal der Universalität.

Aus dieser Charakterisierung des Essays als einer erstarrten Konversation erklären sich dann auch die gelegentlichen Gedankensprünge, die als Ideen­assoziationen des einen oder anderen Partners begriffen werden können, und daraus erklärt sich auch, warum ein gegebenes Thema mitunter sehr neben­sächlich werden kann: es hat durch ein neu auftauchendes Objekt — wie in der Konversation — an Interesse verloren und wird schließlich nur noch be­handelt, weil der ganze Gesprächskreis ein etwas schlechtes Gewissen hat, so weit vom ursprünglich eingeschlagenen Weg abgekommen zu sein.

Daraus erhellt ferner, daß der Essay eine Form ist, die alle Vorzüge und Schwächen der Konversation in sich bergen kann : Seine liebenswürdig leichte Eleganz besitzt als Möglichkeiten die Schaffung von Anregungen aller Art, die Auffindung verborgener Schätze an Gedanken und Gefühlen, aber auch das Versinken in Schwätzerei und Verflachung.

All das hängt aber ab von der Persönlichkeit des Essayisten, der in sich eine ganze Reihe anderer Mentalitäten aufnehmen muß. Und diese individuelle und vielleicht manchmal sogar individualistische Note des Essays ist schuld daran, daß man in den poetiksüchtigen Jahrhunderten von 1600—1800 sich davon ferngehalten hat, so etwas wie eine Poetik des Essays zu schreiben. Und sie erklärt ferner, daß es keine endgültige, sondern nur eine annähernde Definition für den Essay gibt.

2*

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Dialogische Formen

Der Dialog

„Piaton me semble avoir aimé cette forme de philosofer par dialogues à esciant, pour loger plus décemment en diverses bouches la diversité et variation de ses 'propres fantasies. Diverse­ment traicter les matières est aussi bien les traicter que conformé­ment, et mieus, à sçavoir plus copieusement et utillement." MONTAIGNE, Essais (II, x n , 237).

Die Analyse eines beliebigen Montaigneschen Essays hat bereits gezeigt, welche hervorragende Rolle das dialogische Element in der Schreibweise un­seres Autors spielt. Dem Beispiel setzt er ein Gegenbeispiel gegenüber, ein historisches Ereignis findet seine Analogie in ähnlichen Ereignissen, aber auch sein Pendant im anders gerichteten Abrollen einer anderen Handlung, und eine philosophische Meinung wird kontrastiert durch das „επέχω" der Ansicht des anderen Lagerg. Sein Denken vollzieht sich in Gegenwart von Dingen, Ereignissen und Meinungen, die der Widerspruch oder irgendeine Apperzep­tionsstütze auf die Bühne ruft. Man könnte sein Denken einen Dialog mit den Dingen nennen, das genau wie der echte Dialog den Gegenstand von verschie­denen Seiten zu beleuchten sucht oder den Gedanken abwandelt oder umkehrt.

Woher kommt es, daß Montaigne diese Methode so vertraut ist ? PORTEATJ hat bereits darauf hingewiesen1, daß diese Art einer beliebten Übung in den da­maligen Schulen entspricht, den disputationes in utramque partem, die auch Montaigne von seiner Schulzeit her zur Genüge gekannt haben dürfte. Diese disputationes bestanden darin, daß ein Teil der Schüler eine bestimmte Meinung vertreten mußte, während der andere Teil die Anwaltschaft für die entgegen­gesetzte These übernahm. Montaigne bringt es auch in seinen Essais fertig, eine Theorie nur zum Schein zu vertreten, sie pour exercice oder par essay aufrechtzuhalten, eine Methode, die ihre Krönung in Descartes' 1. Meditation fand. Diese Methode kannten auch schon die Rhetorenschulen der Antike, und Tertullians De pallio legt hierfür genau so gut Zeugnis ab wie zu Anfang der Renaissance noch manche Adagia des Erasmus (palinodiam canere) und wie sein Encomium moriae. Vorwegnehmend soll auch die Methode der Loci-com-TOMites-Hefte erwähnt werden, in denen nicht nur unter bestimmten Schlag­wörtern analoge Exempel und Sentenzen eingetragen wurden, sondern auch Beispiel und Gegenbeispiel.

Aber wir haben den Dialog nicht nur unter dem eben angedeuteten Gesichts­punkt der direkten Einwirkung auf die Schreibweise Montaignes zu betrachten ;

P. PORTEAU, Montaigne et la vie pédagogique de son temps. Paris 1935, S. 20ff.

Der Dialog 15

wir können vielmehr den Dialog als solchen bzw. viele Dialoge der antiken und neueren Literatur als Vorformen des Essays ansehen.

Doch zunächst stellt sich uns die Frage : Was ist ein Dialog und was bedeutet das Wort Dialog? Das griechische Verbum διάλέγειν „ist soviel wie ausein­ander lesen, sondern, zergliedern, das Medium, eigentlich etwas für sich reden, sodann aber und vorzüglich etwas in der Rede erörtern. Auch die erste Be­deutung von διάλογος würde daher die einer Erörterung sein1". Auf Grund von Stellen bei Plato hat HIRZEL gezeigt, daß mit dem Wort διάλογος die „Vorstellung eines Gespräches nicht nothwendig verbunden war2", daß viel­mehr das Denken selbst als διάλογος gefaßt wird, „den die Seele mit sich selber anstellt3", als ein rein innerer Vorgang, und daß jede Erörterung, also ζ. Β. auch ein Vortrag, diese Bezeichnung erhalten konnte. Diese ursprüngliche Bedeutung des Wortes Dialog weist Verwandtschaft mit dem Begriff des Montaigneschen Essays auf. Der Dialog jedoch, als literarische Erscheinung genommen, ist „eine Erörterung in Gesprächsform. Er ist daher allerdings nur eine Art des Gesprächs, unterscheidet sich aber von allen anderen Ge­sprächen in der Literatur dadurch, daß in ihm mehr als anders das Gespräch eine selbständige Bedeutung erlangt hat4". Wie nahe verwandt Dialog und Essay sind, zeigen einige Sätze, die D'ALEMEERT über das Gespräch geschrieben hat : Les lois de la conversation sont en général de ne s'y appesantir sur aucun objet, mais de passer légèrement, sans effort et sans affectation, d'un sujet à un autre, de savoir y parler de choses frivoles comme de choses sérieuses; de se souvenir que la conversation est un délassement. . . en un mot de laisser, pour ainsi dire, aller son esprit en liberté, et comme il veut et comme il peut; . . . de n'y point avoir le ton dogmatique et magistral5. Diese Worte sind nicht nur eine schöne Definition des Gesprächs, sondern können auch — abgesehen von dem Wort conversation — gleichzeitig als eine ausgezeichnete Charakterisierung der Montaigneschen Essays angenommen werden! Glauben wir nicht Montaigne selbst sprechen zu hören in den Worten sans effort et sans affectation . . . L· conversation est un délassement . . . de faisser aller son esprit et comme il veut et comme il peut"1. Das sind Gedanken, die Montaigne selbst mehr als einmal ausdrückte, wenn er sich über seine Essais und seinen Stil Rechenschaft gab.

Seit PLATO blieb der Dialog eine beliebte Form der philosophischen Unter­suchung, ja er wurde sogar zum Gattungsnamen für philosophische Schriften überhaupt6, und es würde eine endlose Namenreihe werden, wollte man die philosophischen Dialoge von den Griechen her bis ins 18. Jahrhundert hinein aufführen. Ihnen allen aber ist eines gemeinsam: sie versuchen, ein Thema nicht in der Form einer streng wissenschaftlichen und vielleicht etwas trockenen Abhandlung zu erörtern, sondern wollen die Materie in gefälligerem Gewände

1 IIKZK, 1. c. I, S. 2f. 2 ibid. S. 3, Anm. 3 ibid. 8. 4, Anm. Rufen diese Worte nicht die Erinnerung an die Soliloquia animât

des Augustinus wach? 4 HmzEL, 1. c., I, S. 7. 5 Encyclopédie, Art. conversation von d'Alembert. β Ε. BiCKEL, Lehrbuch der Geschichte der römischen Literatur. Heidelberg 1937, S. 411.

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1β Dialogisehe Formen

und in gelockerter und freierer Gedankenführung darbieten. Hier liegt der Grund, warum viele dieser Dialoge etwas Essayartiges an sich haben, und dies war auch der Grund, weshalb man schon öfter die Dialoge Piatons als Essays bezeichnete. Selbstverständlich handelt es sieh bei dieser Aussage nur um einen Vergleich der Formen post festum, und es bedarf wohl kaum der aus­drücklichen Feststellung, daß daraus nicht die Berechtigung abgeleitet werden soll, diesen Vergleich in ein genetisches Denken umzusetzen. Es ist ja damit nicht mehr gesagt, als daß Formen, die zumindest eine innere Verwandtschaft mit dem Essay haben, lange vor Montaigne existierten und daß zu diesen auch Platonische Dialoge gehören. Es wäre an dieser Stelle müßig, diese Behauptung durch Analysen einzelner Platonischer Dialoge erhärten zu wollen, aber eine Einschränkung zu machen ist nötig: wir denken bei diesen Essay-Dialogen weniger an die Dialoge der rein sokratisch-mäeutischen Methode als vielmehr an den Typus des Protagoras und vor allem des Symposion1. Der Gleichsetzung von platonischem Dialog und Essay hat am eindeutigsten HTEÄEL Ausdruck gegeben: ,,. . . die Platonischen Dialoge sind großentheils Essays, und zwar in einem doppelten Sinn. Sie sind es einmal, insofern die sokratischen Ge­spräche, die sie nachahmen, etwas vom Charakter des Essays an sich tragen und, wie dieser von unbedeutenden Anlässen ausgehend, sich mehr und mehr vertiefen. .. .auch die Absicht der platonischen Dialoge gleicht derjenigen von Essays. ,Anzuregen, nicht zu erschöpfen bleibt ja die bescheidene Aufgabe des Essays2' hat ein neuerer Schriftsteller gesagt, und seit Schleiermacher kann kaum noch bestritten werden, daß auch Piaton mit einem großen Theil seiner Schriftstellerei nichts anderes bezweckte3." Übrigens nimmt HIBZEL den „Staat" ausdrücklich aus der Reihe der essayistischen Dialoge heraus, denn er will „seinen Gegenstand erschöpfen und seine Darstellung in systematischer Weise abschließen4". Auch die Sprache Piatos ist nach HIRZEL die Sprache des Essayisten, und der von ihm S. 246 zitierten Theaitet-Stelle ließen sich ähnlich klingende Montaigne-Zitate, die die Forderung des parier simple er­heben, an die Seite stellen : „Seine Sprache sollte die des täglichen Lebens sein, und sie ist es auch mit der Fülle ihrer Worte und Wendungen . . . " sagt HIRZEL

S. 247 von Plato, was genau so von Montaigne gesagt werden könnte.

Nach Plato verlor der literarische Dialog, der neben dem darzulegenden Inhalt großen Wert auf die Form legt, immer mehr an Bedeutung. Für die in

1 Es ist unseres Erachtens überhaupt ein Unterschied zu machen zwischen den Dialogen, in welchen jeder Gesprächspartner in gleicher Weise Gedanken zur Entwicklung des Themas beiträgt (hierhin gehören alle „Gastmahl·'-Dialoge) und solchen, in denen der eine Gesprächspartner die Erörterung führt und der andere nur „ J a " und „Nein" sagt oder Zwischenfragen stellt. Letztere sind im Grunde nur dialogisierte Abhandlungen (wie ζ. Β. viele der Erasmischen Gespräche) und s ind vom Essay weiter entfernt als der erste Typus. — Die Bezeichnungen sokratische oder aristotelische Dialogmethode wird obiger Unterscheidung nicht gerecht. Über die Entwicklung der Dialogform bei Plato vgl. W. J A E G E R , Aristoteles. Berlin 1923, S. 24ff.

a TREITSCHKE, im Vorwort zur 1. Aufl. seiner historischen und politischen Aufsätze. 3 HrazEL I, S. 245 u. S. 246. 4 B J R Z E L I, S. 246.

Der Dialog 17

dieser späteren Zeit betriebene Popularisierung der Philosophie stellte selbst diese Art des Dialogs noch zu hohe Ansprüche, und weder die im Lande umher­ziehenden Sophisten noch die kynischen Wanderredner konnten ihn für die Verbreitung ihrer Meinungen gebrauchen. Dieses Zurücktreten des Dialoges findet seine große Parallele in der Zeit nach der römischen Spätantike. Und wie das Mittelalter im wesentlichen nur noch Schuldialoge und Katechismen­literatur hervorgebracht hatte, so entstand in der nachplatonischen Zeit auch ein neues, aber mächtigeres Genre, von dem später noch zu sprechen sein wird: die Diatribe.

Für die Dialoge der römischen Antike gab es ein großes Vorbild, das bis in die Benaissance hinein wirksam blieb: CICERO. Fast allen seinen philosophi­schen Schriften hat er die Dialogform gegeben. Zweifellos hat er sich an Plato geschult, dessen Timaeus und Protagoras er übersetzt hat. Auch die sokratische Methode der Dialogführung finden wir bei ihm wieder, doch nur als aufgesetztes Licht zur Belebung der Szenerie. Sein De Oratore ist nicht in der Form einer schnellen Wechselrede gegeben, sondern es wird von der aristotelischen Form des Dialogs Gebrauch gemacht, und die Gesprächspartner halten mehr oder minder große Vorträge, die zusammengesetzt eine erschöp­fende Behandlung des Themas ergeben. Es handelt sich also hier nicht darum, den Gegenstand nur zu beleuchten, dem Geist innerhalb eines gestellten Themas freien Lauf zu lassen „et comme il veut et comme il peut", sondern Cicero will eine systematische Untersuchung vorlegen. Die Dialogform ist lediglich ein Mittel, das eine gewisse Auflockerung der Materie bewirken soll.

Das gleiche gilt auch von den Tusculanischen Gesprächen, die, dem Titel nach zu urteilen, vielleicht eine freiere und pointierte Unterhaltung erwarten lassen könnten. Zwar folgt zu Anfang der Untersuchungen Rede und Gegen­rede rasch aufeinander, jedoch in der für eine Unterhaltung das Ziel zu stark anvisierenden Art des sokratischen Erfragens, um dann der aristotelischen Dialogform und damit längeren Einzelvorträgen Baum zu geben. Auch hier herrscht wieder die Systematik — man lese im 4. Buch, das von den Leiden­schaften handelt, die Kapitel 5—9, um die ermüdende Aufzählung und syste­matische Einteilung der perturbationes animi kennenzulernen. Die gleiche Systematik gliedert seine Bücher De finibus bonorum et malorum, indem gleich­mäßig abgewechselt wird zwischen Darlegung und Kritik der einzelnen philo­sophischen Theorien über das höchste Gut. Die Dialoge Ciceros lassen das vorgefaßte Ziel nicht aus den Augen, und jede Digression — ζ. Β. in De Ora­tore — ist nur scheinbar eine Abschweifung und bleibt eng mit dem Thema verknüpft. Hier gibt es kein Sich-treiben-lassen wie in den assoziativen Ge­dankenreihen Montaignes.

De legibus ist vielleicht der reinste und echteste Dialog Ciceros. Es

werden nicht nur Zwischenfragen gestellt, die lediglich ein dialogisches Element darstellen und weiter nichts sind als fragende Interjektionen, sondern die

Partner tragen, vor allem in dem 1. Teil des Dialogs, durch den Ausdruck ihrer eigenen Meinung und neuer Gedanken zum Fortgang der Entwicklung

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18 Dialogisehe Formen

hei. Damit ist dieser Dialog wirklich eine Abhandlung, der durch die Form vollendeter Konversation Schwere und trockenes Dozieren genommen wird. Und damit haben wir ein wichtiges Element, das wir als ein Kennzeichen des Essays festgestellt haben, gefunden. So wie jedoch H I E Z B L Piatos , ,S taat" aus der Reihe der essayistischen Schriften ausnimmt, weil diese Schrift ihr Thema völlig erschöpfen will, so müssen wir vielleicht auch aus dem gleichen Grunde Ciceros De legibus genau so einsehätzen, vor allem, wenn man annehmen muß, daß mit den 3 Büchern über dio Gesetze nur ein Teil der ciccronianischen Schrift auf un3 gekommen ist und daß somit das Thema von Cicero vielleicht ebenso erschöpfend behandelt werden sollte wie in Platos . .Staat" . Aber es interessieren uns in diesem Rahmen nicht nur literarische Produkte, die in allen Punkten Ähnlichkeit mit den Montaigneschen Essays aufweisen, sondern auch einzelne stilistische Mittel, die denen des Essays ähneln oder die gleiche Absicht verfolgen.

Dem Geiste und der Form eines Montaigneschen Essays wesentlich näher ist eine Altersschrift Ciceros, De senectute, in welcher der Dialog nicht kon­sequent durchgeführt ist, sondern nur die Einleitung bildet zu einer in Ichform geschriebenen Abhandlung über Wesen und Punkt ion des Greisenalters. Daß Cicero als Hauptsprecher den älteren Cato wählt, ist aus dessen Ruf als ehren­wertester Greis Altroms zu verstehen, der in einem Alter von 84 Jahren ohne wesentliche Einbuße an körperlichen oder geistigen Kräften hohes Vorbild römischer Tugenden war. Daß er ihn jedoch in seiner Grundhaltung umstilisiert von dem strengen, ja starren Zensor der Sitten zu einem liebenswürdigen, ver­ständnisvollen und durch eingehende Studien feingebildeten Greis, ist bereits eines jener Elemente, durch die diese Schrift den dogmatischen Charakter einer philosophischen Abhandlung verliert und einer zwar noch straff geglie­derten, aber in Ton und Gesprächsführung konzilianten Plauderei annähert . SoMMERimODT charakterisiert die Schrift als „flüchtig hingeworfen, aber aus einem Guß als das Werk einer gehobenen und heiteren St immung 1 " , eine Wertung, die sieh ohne weiteres auf einen Essay Montaignescher Prägung beziehen könnte. Und J A K O B GRIMM schreibt in der Einleitung zu seiner Rede ,,Über das Alter2" : , , . . . es sind lauter ernste männliche Gedanken, in gefügter Gliederung fortschreitend und sich entfaltend, von triftigen Beispielen und Bildern belebt, mit einer freien, niemand aufgenöthigten Aussicht auf die Fortdauer der Seele nach dem Leben ruhig geschlossen. Gleich die an die Spitze gestellten Ennianischen Verse . . . spreiten einen wohlthuenden, an­haltenden Schimmer über die ganze Schrift . . .", eine Charakterisierung, aus der manche Elemente ohne weiteres auf Montaignesche Essays zutreffen („ . . . von triftigen Beispielen und Bildern belebt, mit einer freien, niemand aufgenöthigten Aussicht . . . " ) .

1 M. Tullii Ciceronis Cato Maior De Senectute. Erklärt von J. SOMMERBEODT. Berlin 1877, S. 9.

2 Drei Reden Jakob Grimms. Friedrich Schiller. Über das Alter. Wilhelm Griram, Ein­geleitet und herausgegeben von Dr. Max Mendheim. Leipzig s. a., S. 45.

Der Dialog 19

Nach der einleitenden Bit te der beiden Freunde Scipio und Laelius, Cato möge sie belehren, mit welchen Mitteln sie die Beschaffenheit des von ihm er­reichten Zieles erkennen könnten, und dem Hinweis, daß Calos Altor deshalb vielleicht so erträglich sei, weil politischer Einfluß, Reichtum und Ansehen es verschöne, antwortet der Greis mit einem schönen Apophthegma (ut The-mistocles fertur Seripkio cuidam in iurgio respondiese, quum Ule dixisset non eum sita, sed patriae gloria splendorem assecutum: Nee hercule, inquit, si ego Seriphius essem, nee tu si Atheniensis esses, clarus unquam fuisses 111, S), das er als Gleichnis für das Alter nimmt, das bei größter Armut nicht einmal für einen Weisen leicht sein kann, wie es andererseits für den Unweison selbst bei höchstem Überfluß eine Last bedeuten kann. Wissenschaft und praktische Tugend seien die besten Waffen gegen die Beschwerden des Greisenalters. Als Beleg für diese Behauptung führt er als selbsterlebtes Exempel die Taten und die Geisteshaltung von Quintus Fabius Maximus an, die den gesamten IV. Ab­schnitt ausmachen — und Cicero gibt V, 13 sogar selbst die Erklärung, warum er so ausführlich davon gesprochen habe : Quorsus igitur haec tarn multa de Maximo? Quia profecto videtis nefas esse dictu miseront fuisse talem senectu-tem , . . Um dem Einwand vorzubeugen, daß nicht alle Menschen auf ein an äußeren Erfolgen so reiches Leben zurückblicken können, schließt er eine Exempelreihe an, die Plato, Isokrates und Gorgias umfaßt, als Beleg für die Behauptung Est etiam quiete et pure atque eleganter aetae aetatis placida ac lerne senectus (V, 14). Und den Beschluß dieser Beweisführung machen zwei Verse von Ennius :

Sicut fortis equus, spatio qui saepe supremo vieil Olympia, nunc senio confectu' quiesdt (V, 14).

Zusammenfassend stellt er dann alle die Gründe fest, aus denen das Alter für traurig gilt : unarm quod avocet a rebus gerendis, alterum quod corpus facial in-firmius, tertiam quod privet omnibus fere voluptatibus, quartam quod hand procul absit a morte (V, 15) und die er im folgenden zu widerlegen sucht, indem er Dichterzitate (VI, 16; VI , 20; VI I I , 25 . . .), Exempelreihen (VI, 15; VII , 2 1 ; VII , 23; X X , 75 . . .), Apophthegmen (XIV, 47; XX, 72 . . .), Epitaphien (XVII , 61 ; X X , 73) zur Stützung seiner Behauptungen anführt. Noch charak­teristischer aber für die essayartige Hal tung dieser Schrift ist eine ausführliche Digression über das Landleben, dessen Schönheit er enthusiastisch preist (XV, 51—54) und die eine der Freuden behandelt, die man im Alter ganz besonders genieße. Dabei aber entfernt er sich so weit von seinem Ausgangs­punkt, daß er sich in einer begeisterten Schilderung der Wunder pflanzlichen Lebens verliert, so daß er ob dieser Abschweifung selbst ein schlechtes Ge­wissen bekommt: Possum persequi permulta oblectamenta rerum rusücarum; sed ea ipsa, quae dixi, sentio fuisse longiora (XVI, 55).

Aus dieser flüchtigen Skizzierung von Ciceros Altersschrift ergibt sich schon, daß hier Formelemente verwendet sind, die für die Montaigneschen Essais charakteristisch sind, und daß auch, was beinahe noch wesentlicher sein dürfte,

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•20 Dialogisehe Formen

jener Ton der eleganten, liebenswürdigen Plauderei getroffen ist, der die eigenen Ansichten des Autors treffend entwickelt, ohne aber durch Sprödigkeit oder Strenge zu verstimmen, ein Ton, der wie bei Montaigne gelegentlich den Anstrich einer Konfession ha t (XII I , 45 : Sed quid ego alios2, ad me ipsum iam revertar . . . ; XVI , 55).

Einige dieser Beispiele haben uns gezeigt, daß nicht immer der Dialog eine Abhandlung zum Essay macht, nämlich dann nicht, wenn die Abhandlung systematisch durchgeführt und eine lockere Gesprächsführung unmöglich ge­macht wird; denn in ihrem Wesen schließen Systematik und Dialog sich aus.

SEÍTECAS philosophische Dialoge werden in diesem Zusammenhang bewußt übergangen. Das dialogische Element ist in ihnen so stark zurückgedrängt, daß der Gesprächspartner nur gelegentlich durch fingierte Einwürfe in unser Blickfeld geschoben wird. Auf diese Schriften Sénecas werden wir in dem Kapitel über die Diatribe zurückkommen.

Es soll noch von einem Frühwerk des TACITUS gesprochen werden, seinem Dialogue de oratoribus: „Es ist ein literarischer Essay, wie in der ganzen An­lage, so auch im St i l 1 . " H I B Z B L ha t teilweise mit diesem Urteil zweifellos recht, und wir müßten zur Bestätigung das wiederholen, was bereits über die Wirkung des Dialogs als Mittel zur Auflockerung gesagt worden ist2 . Auch erinnert uns beispielsweise das Lob der Eloquentia in den Kap . 5—7 an die Methode des Essayisten, den Gegenstand von verschiedenen Seiten zu sehen und zu beleuchten. Eigentümlich paßt auch die Epigonenstimmung, „seine pessi­mistisch angehauchte Sehnsucht nach den unwiederbringlichen Tagen der Vergangenheit3" und die Abwendung von der Gegenwart zu der Hal tung des Essayisten, die wir später noch erläutern werden. Aber der Dialog würde heute noch viel stärker als Essay empfunden werden, wäre er nicht in dem rhetori­schen Pathos der Frühwerke des Tacitus geschrieben. Ein Satz wie der folgende entspricht nicht der Forderung des parier simple : nostra quoque civitas, donec erravü, donec se partibus et dissensionibus et discordiis confecit, donee nulla fuit in foro paz, nulla swperiorum reverentia, nullus magistratuum modus, tulit sine dubio valentiorem eloquentiam sicut indomitus ager habet quasdam herbas laeti-ores (Kap. 11). Derart aufgeputzte Perioden, deren man viele aus dem Dialogus anführen könnte, reizen dazu, diese Schrift des Tacitus eher mit einer rheto­rischen Übung als mit einem Essay zu vergleichen — und so könnte man viel­leicht auch HIRZELS Bezeichnung „literarischer Essay" verstehen.

Bei Tacitus liegt es also am Stil, daß man seinen Dialog nicht ohne Ein­schränkung als Essayvorform bezeichnen kann. Die Dialoge LUKIANS dagegen

1 HIKZEL, 1. c, Bd. I, S. 326. Vgl. auch II, S. 60. Übrigens bezeichnet HIEZEL auch die Germania als Essay.

a Vgl. auch die kritische Ausgabe mit Kommentar des Dialogus von A. GUDEHANTÍ (Leipzig 1914) S. 81: „Und in der Tat hätte Tacitus keine literarische Gattung wählen können, die sich vortrefflicher dazu geeignet hätte, ein Thema wie das des Dialogus all­seitig, objektiv und in gefälliger stilistischer Form zu erörtern, ohne in ex-cathedra-Äußerungen oder einen dogmatischen Lehrton zu verfallen."

3 GuDEMANN, 1. C, S. 16.

Der Dialog 21

sind nicht nur durch ihren Stil, sondern auch noch durch ihre Absicht dem Essay unähnlich, sie sind vielmehr einer anderen Kunstform verwandt. Lukian selbst ha t es als das Neuartige seines Werkes bezeichnet, Dialog und Komödie zusammengeführt zu haben 1 , und so steht neben der verfolgten Tendenz stets das Ziel der Erheiterung und Belustigung des Lesers. Man kann sicherlich nicht von Lukians Dialogen behaupten, daß ihnen etwas Systematisches oder Schulmäßiges anhaftet, und gerade durch das neue Element, das er dein Dialog gab, ha t er ihm Auftrieb gegeben — oder genauer gesagt, ihm ein anderes Betätigungsfeld zugewiesen: er ha t den Dialog zu einer literarischen Waffe gemacht und jeder Polemik seine Dienste angeboten. Nur so ha t die Renais­sance Lukian gesehen und ihn in diesem Sinne nachgeahmt. Satiriker wie Despériers, Rabelais oder die Verfasser der Ménippèe fanden bei ihm ihn-Waffen2. Auch ERASMUS h a t seine gegen Scholastik und Mönchswescn ge­richtete Ironie an ihm geschult3 . — Aber der Essay ist wesentlich unpolemiseh, und es ist sehr einleuchtend, was V I L L E Y über das Verhältnis Montaignes zu Lukian sagt: „Il est remarquable que Montaigne semble l'étudier si peu. C'est que. Lucien convient surtout aux tempéraments satiriques et frondeurs, Montaigne eut avant tout un pondéré . . .V So können wir von unserem Urteil über die Lukianischen Dialoge auch nur die wenigen ausnehmen, die nicht der Satire dienen, etwa seinen Dialog über die Gymnastik (Anacharsis) oder den über die Pantomimik. Dies sind tatsächlich amüsante Plaudereien, die ihren Gegen­stand frei von allem Schulstaub zu behandeln wissen. Außer den Dialogen ist in diesem Zusammenhang die Abhandlung „Wie man Geschichte schreiben soll" zu erwähnen, für die er die Briefform wählte (gerichtet an seinen Freund Philo). Schon der Charakter seiner Dialoge läßt vermuten, daß Lukian über dieses Thema keinen trockenen Trakta t geschrieben ha t ; und so ist auch dieser Brief im Plauderton gehalten, aufgelockert durch viele Beispiele und gewürzt mit dem attischen Salz seiner Kritik. Eher als seine Dialoge ist vielleicht dieser Brief zu den Vorformen des Essays zu zählen. Doch diese Abhandlung wie auch die oben erwähnten wenigen Dialoge sind bedeutungslos für das Bild, das die Nachwelt von Lukian zeichnete: Lukian ist der geistvolle, brillierende und giftspritzende Satiriker.

Es ist kein Wunder, daß der Dialog im Mittelalter mehr und mehr seine alte Bedeutung einbüßte. Trotz der mittelalterlichen Streitgespräche und trotz der Tendenz zu Allegorie und Personifikation ha t das Mittelalter keinen großen Dialog hervorgebracht5 . Eine gewisse Rolle spielen übrigens Rede und Gegen-

1 In: Προς τον εϊπόντα' Προμηϋεύς ει εν λόγοι,ς, 5—7: καϊ όμως ετολμήσαμεν ημείς τα οϋτως έχοντα τιρος άλληλα ξνναγαγεΐν και ξνναρμόααι ού ττάνν πετάμενα ονΟέ εύμα-ρώς άνεχόμενα την κοινωνίαν.

2 Vgl. L. SCHENK, Lukian und die franz. Literatur im Zeitalter der Aufklärung. Diss. München 1931.

3 Vgl. M. HEEP, Die Colloquia familiaria des Erasmus und Ludan (Hermaea XVIII). Halle 1927. * VILLEY I, S. 186 f.

5 Zum Streitgespräch im Mittelalter vgl. KONBAD BUKDACH, Der Dichter des Ackermann aus Böhmen und seine Zeit. Berlin 1926—1932, S. 440ff. und die dort auf S. 515ff. ab-

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22 Dialogische Tormén

rede in der Geschichtsschreibung. Froissart gibt Verhandlungen und Gespräche in direkter Bede wieder. Selbst die Darstellung politischer Situationen wird in ein oft ermüdendes Frage- und Antwortspiel aufgelöst. — Im übrigen war das weite Feld der Literatur zum größten Teil eine kirchliche Domäne ge­worden, und die kirchliche Literatur befasste sich mit dem Dogma, baute Sy­steme aus, ordnete, registrierte und katalogisierte. Man schrieb Sentenzensamm­lungen, und über diese wiederum endlose Kommentare . In diesem Betrieb war für den Dialog kein Platz ; er flüchtete sich in einen Winkel der mittelalterlichen Schule, wo er ein kümmerliches Leben fristete. Dort, in der Schule, verfaßte man Dialoge, Schulgespräche, mit deren Hilfe der Schüler lateinische Rede­wendungen — und gleichzeitig einige Regeln fürs praktische Leben, z. B. anständiges Benehmen bei Tisch etc. — sich einpauken sollte. Auch des Eras­mus Colloquia familiaria waren ursprünglich in dieser Absicht verfaßt, und ihre erste Fassung war — abgesehen von der vollendeten Beherrschung der Sprache — genau so mager wie andere Produkte dieser Art. Man verfaßte auch Lehrkompendien in Frage und Antwort, z. B. schrieb Aleuin ein Kompendium der Dialektik, in dem der Schüler (Karl der Große) die Fragen stellte und Aleuin ihm antwortet . Er stellte einen Katechismus der Kirchenlehre zusam­men: Disputatio puerorum per interrogations et responsiones1. Diese Katechis­menliteratur war so lebenskräftig geworden, daß sie sich noch in der Renais­sance behauptete und die neue Philosophie nicht von ihr verschont blieb. Gabriel Meurier zeichnet verantwortlich für ein Bouquet de Philosophie morale, réduit par Demandes et Responses2: Dort heißt es ζ. Β. (ρ. 242): „ D . Qu'est-ce vertu? — R. C'est une armonie de nature, avec laquelle toutes choses bonnes s'accordent, et une vraye escheïïe pour monter au souverain bien." Oder die Fragen ar ten zu einer Art Gesellschaftsspiel aus (p. 285): „D. Qu'est-ce la chose plus delectable? — R. Ce que l'homme desire"; (p. 295): „D. Au quoy se doibt accom-parer une femme bien vestue, et richement laide et orde% — R. A un fumier couvert de verdure." Aber verlassen wir diesen Rest eines wenig erfreulichen mittel­alterlichen Genres, das man hier und da in der Renaissance künstlich am Leben zu erhalten versuchte. Wie der Dialog sich im Mittelalter nicht h a t t e behaupten können, so mußte diese Katechismenliteratur sich in die Religions­stunden der Schule zurückziehen.

Weitaus die meisten der antiken Dialoge waren philosophischer Natur ge­wesen und ha t ten dem Finden der Wahrheit gedient. Die meisten mittelalter­lichen Autoren glaubten die Wahrheit zu besitzen, und darum brauchte man keinen Dialog im antiken Sinn. Ers t in der Renaissance erwachte er zu neuem Leben. Mit dem Aufsteigen der ant iken Welt, mi t dem Beginn eines neuen Rationalismus mußten auch Zweifel an der Zulängliehkeit und der Autor i tä t gedruckten Proben lateinischer Dialogliteratur, die wegen ihrer Starrheit und Formel-

haftigkeit nicht als Vorläufer des Essays angesprochen werden können. 1 Vgl. F. OVERBECK, Vorgeschichte, und Jugend der mittelalterlichen Scholastik. Basel

1917, S. 87 f. a G. MEURIER, Thrésor de Sentences dorées . . . Avec le Bouquet de philosophie morale,

réduit par Demandes et Responses. Rouen 1579 (1. Ausg. 1577).

Der Dialog 23

des bisherigen Weltbildes entstehen. Der Dialog erwies sich als eine literarische Gattung, die besonders geeignet war, diese neuen Fragen zu stellen und zu unter­suchen. Er bot ja außerdem die Möglichkeit, gefahrliche Ansichten durch irgend­welche Namen der Gesprächspartner zu decken u n d sich selbst hinter diesen Interlocutores vor dem drohenden Scheiterhaufen zu verstecken. So treten ganz natürlich an die Stelle der scholastischen Trakta te dialogische Untersuchungen. So verstehen wir auchHrRZEL, wenn er schreibt: „Man darf nicht sagen,daß er eine bloß dem Altertum entlehnte literarische Form war, die einem neuen Inhal t ganz anderen Ursprungs nur äußerlich angehängt wurde . . . Petrarcas Dialoge de contemptu mundi sind der Ausdruck von Seelenkämpfen, also einer Stimmung, die, wenn nicht zum Dialog führen mußte , so doch leicht diese Form wählen konn te 1 . " Vor allem aber die Reformation ließ eine Unzahl von religiösen Dialogen entstehen, sowohl untersuchende wie auch pole­mische, bei deren Abfassung oft Lukian Pa te gestanden hat te .

Der Dialog war eine der beliebtesten Formen geworden, die antike Weisheit zu vermitteln. Teils ha t te man dabei auf Cicero zurückgegriffen, teils war direkt Plato das Muster, wie z. B. in den neuen Platonischen Akademien in Italien, die naturgemäß einen großen Einfluß auf die dialogische Gestaltung philosophischer Stoffe ausübten. Zur Blüte des Dialogs in Italien t rug gleichfalls die hohe gesellschaftliche Kultur, die literarischen und philosophischen Zirkel an den einzelnen Fürstenhöfen, bei (Castiglione!). Und der Dialog entsprach wohl auch einem Lebensideal, das der Renaissance vorschwebte, dem Wunsch „nach einer stillen, frohen und doch ernsten Unterhaltung guter und weiser Freunde, in der Kühle des Hauses, unter Bäumen: Serenität und Harmonie 2 " .

In einem stillen Seitental der Rhône, in der Vaucluse, ha t te PETRARCA sein Tusculum, wo er in der Einsamkeit der Natur , allein mit seinen Büchern und seinem Ich, fern vom Getriebe der Welt meditieren und arbeiten konnte. Immer wieder schildert er in Briefen und Sonetten das glückliche Leben in diesem Zufluchtsort seiner geliebten Vaucluse. Sonette und Briefe, d. h. die kleinen literarischen Formen, schätzte er besonders. Größere Werke, wie De viris illustribus oder De rebus memorandis, blieben unvollendet u n d sind außer­dem wiederum Sammelwerke, d. h. Aneinanderreihungen kleiner Formen. So Hebt er auch besonders den Dialog ; denn der Dialog zwingt nicht zur Systema­tik, und im Dialog kann er den Stoff zerstückeln, ihn auflösen in Rede und Gegenrede. Die drei Gespräche Petrarcas mit Augustinus De contemptu mundi sind Zeugnis für das Wiedererstarken des Dialogs im Humanismus, denn sie überraschen durch die dramatische Kraft ihrer antithetischen Behauptungen. Wenn auch Augustinus als der Leiter des Gesprächs durchaus erkennbar bleibt, so fällt Petrarca doch keineswegs die Rolle des Schülers oder Zuhörers zu, der allenfalls durch Fragen oder zustimmende Zwischenbemerkungen den Monolog des Hauptredners unterbrechen würde. Hier messen zwei gleichstarke Kämpfer ihre Kräfte :

1 HmzEL, 1. c, I I , S. 385f. 2 J. HUIZINGA, Erasmus. Deutsch von Werner Kaegi. Basel, 3. Aufl. s. a., S. 125.

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24 Dialogische Formen

AUGUSTINUS : Wie ? Du willst wie ein Wahnsinniger unter Scherzen und Lachen sterben Î Wütet du nicht lieber fur deine so jammervoll kranke Seele ein Heilmittel anwenden ? FKANOISCUS: Ich werde em Heilmittel so lange zurückweisen, bis du mir beweisest, daß ich semer bedarf. Einem gesunden Menschen können häufige Mittel schädlich werden1.

Diese Dialoge Petrarcas sind der Ausdruck der Auseinandersetzung mit sich selbst. Es sind Selbstbetrachtungen über den eigenen Wert und über die eigenen Schwächen, die im verborgensten Winkel der Seele versteckt liegen. Denn „des Himmels und der Erde Maße freilich, den Raum des Meeres und den Lauf der Sterne, die Eigenschaften von Krautern und Steinen und alle Geheimnisse der Natur kennt ihr, euch selbst aber seid ihr unbekannt2".

Wie bereits angedeutet wurde, sind die öoüoquia des ERASMUS aus der Ab­sieht entstanden, seinen Schulern einen Vorrat an Gesprachsformeln in die Hand zu geben, um ihnen zu ermöglichen, sich in gutem Latein über die auf­tauchenden Fragen des Alltags unterhalten zu können. So stellten die ersten Formen dieser Dialoge auch nichts weiter als Formulae dar. Erst spater, als die Colloquia zu einem großen literarischen Erfolg wurden — Zufügungen von fremder Hand hatten sich außerdem eingeschlichen und wurden mitgedruckt •—, entschloß sich Erasmus, dieses Material, das oft trocken und langweilig wirken mußte, zu erweitern (locupletare ist ein Lieblingswort des Erasmus). 1522 er­schienen diese neuen Colloquia familiaria bei Frohen und waren dem Meinen Proben gewidmet. Aber sie waren jetzt kein Schulbuch mehr; neues Leben war in eine alte Form gegossen worden und hatte etwas ganz Neues geschaffen — genau so, wie wir es noch einmal bei den Adagia sehen werden, und genau so, wie Montaigne aus den Diverses Leçons später seine Essais machen wird. Eras­mus behandelte jetzt Themen, die ihm besonders am Herzen lagen und die in seinem ganzen Werk immer wieder auftauchen : die Mißstände in der Kirche, die mangelhafte Bildung der Priester, die Geldsucht der Bettelorden, die Mahnung an die Fürsten zum Frieden usw. Auch er benutzte die in den Colloquia auf­tretenden Peisonen, um die Pfeile seiner Kritik aus der Deckung verschießen zu können. Die innere Form, der Stil der Dialoge, ist ungezwungen, frei von schulmaßiger Pedanterie und setzt die vollendete Beherrschung der latei­nischen Sprache voraus. „Völlig wohl war es Erasmus jedenfalls nur dann, wenn er sein geliebtes Latein sprechen konnte. Er handhabt es denn auch wie eine lebendige Sprache3." Ironie, Witz, Zweideutigkeit, Andeutungen, deren Interpretation vorsichtig dem Leser überlassen wird, Spiel mit Worten („Echo") begegnen uns, ja sogar die eigene Person wird mit einem feinen Lächeln in den Dialog eingeschmuggelt: Sophronius4, der von einer langeron Reise zuruckkehit, trifft Lucretia (eine Dame von zweifelhaftem. Lebenswan­del), die eine nova sanctimonía an ihm feststellt, wahrend er früher ein nugator

1 Aus dem 3. Dialog. Zitiert nach der Ausgabe von H. H E F E L E , Jena 1925, S. 79. 3 Aus dem 2. Dialog, S. 43. 3 D E S . EEASMUS, Gespräche. Ausgewählt, ubers. und eingeleitet von Hans Trog. Basel

1936, S. 18. J In dem Colloquium adolescenüs et scorti.

Der Dialog 25

omnium nugacissimus1 gewesen ist. Auf die Frage nach der Ursache dieser Wandlung antwortet SOPHRONIUS: Ego cum -probo viro prof edits sum, cuius hortatu pro lagena libellum mecum attuli, Novum TcMamentum ab Erasmo versum. LUCRETIA: Ab Erasmo? Aiunt, illum esse sesqidhaereticum. So.: Num et hue pervenit illius viri nomen? Lu.: Nullum edebrius apud nos. So.: Vidistin' kominem? Lu.: Nunquam; sed optarim vidissct de quo tarn multa audivi mala. So. : Fortassis a malis. Lu. : Imo a viris reverendis. So. : „*i qaibus? Lu.: Non expedit dicere. So.: Quam ob rem. Lu.: Quia si tu cffutiren, et res permanaret ad illos, meo quae&tui non minima portio decederet (S. 334 f.). Dieser mit meisterhafter Geschicklichkeit gegen seine Anfeinder geführte Hieb .sitzt, und es ist nicht erstaunlich, daß sie ihn um so heftiger wegen Unchristlidikeit angreifen werden. Außerdem aber entspringt dieses Einfugen der eigenen Per­son einer nicht zu übersehenden individualistischen Haltung, die in schroffem Gegensatz zu der im Mittelalter geübten unpersönlichen Schriftstellerei steht. Der Wunsch nach Ungebundenheit, individueller Freiheit läßt sich sein gauzes Leben lang in seinen Werken verfolgen. Dieser Drang ließ ihn die Ordens* kleider ablegen und ließ ihn die dauernde Protektion reicher Gönner ver­schmähen. Nur einer solchen Persönlichkeit war es möglich, aus alten über­nommenen Formen Neues zu schaffen und einem unpersönlich gewordenen Genre den Stempel der Originalität aufzudrucken. Die in dem kurzen an­geführten Teil eines Dialoges sichtbar werdende Lebendigkeit (die schnell aufeinander folgenden Fragen und Antworten) herrscht allenthalben in den Colloquia. M. HEER charakterisierte die Colloquia als „ldeine satirische Essays voll bunten Lebens2", was wir aber nur z. T. anerkennen können; denn dort, wo Erasmus in greifbarer Nahe Lukians steht, ist er gleichzeitig am weitesten von Montaigne entfernt. Dort halt er sich in der Nahe Montaignes auf, wo der Gegenstand des Themas von verschiedenen Seiten her zu fassen versucht wird, wo der eine der Gesprächspartner seine Ansicht formuliert und der an­dere einen Einwand macht, der das Gesprachsobjekt in neuem Licht zeigt, oder Fragen stellt, die die Untersuchung notwendig weitertreiben. Hier sind des Erasmus Dialoge gleichsam nur plastischere Ergebnisse desselben Vor­gangs, der sich auch in den dialogischen Monologen Montaignes vollzieht.

Man könnte erwarten, daß PERO MEXÍA (Pierre Messíe) auch in seinen Dia­logen Montaigne vorbereitete, da er als Inaugurator der Diverses Leçons einen Literaturzweig schuf, an den Montaigne sich in semen ersten Essays unmittel­bar anschloß. La silva de varia lección (1540) des Pero Mesía ist ein Buch, das in Spanien, Frankreich und Italien einen außerordentlichen Erfolg hatte. In ihm wird das gesamte Wissen volkstumlicher „Gelehrsamkeit" in Ideinen Ka­piteln, mit Exempeln und Anekdoten gewürzt, dargeboten. Es wollte belehren und unterhalten. Viele seiner Themen kehren bei Montaigne wieder, doch gehört dieses Werk in einen anderen Zusammenhang (vgl. S. 75 ff ). Aber seine

1 D E S . ERASMUS, Colloquia familiaria. Lipsiae 1713, S. 334. 2 M. R E E P , 1. c. S. 3.

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26 Dialogische Formen

Sept Dialogues1 {Du, Soleil, De la Terre, Des Météores etc.) sind im Grunde eine ziemlich seichte Konversation, die nicht immer sehr tief schürft und über belanglose Dinge viele Worte macht; dazwischen wird das physikalische Wissen der Zeit vor uns ausgebreitet, das man sich bei Seneca, Plinius und in astrologischen Handbüchern erworben hatte. Auch seine beiden Dialoge Du Banquet, die über die Art des Gastmahls in der Antike, über Speisen u. a. m. unheimlich viel zu sagen wissen, sind in ihrem breiten Gerede für unsere Zwecke wenig ergiebig. Aber Mesías Dialoge lehren uns dies : Waren Ciceros Dialoge für uns eine Abgrenzung des essayistischen Dialogs nach der Seite der Systematik hin, so sind uns diese Dialoge Beispiel für die Grenze auf der anderen Seite: nicht jede niedergeschriebene Konversation ist dem Essay ver­wandt, sondern erst jenes Gespräch, dem wirklich Themen zugrunde liegen, die Gefühl und Gedanken der Gesprächspartner und des Lesers fesseln.

Ganz anders TAIIUBEAU. Seine Dialoge, die wahrscheinlich 15G5 zum ersten­mal erschienen2, bereiten auch schon im Inhalt das Werk Montaignes vor. Sie sind une œuvre inórale dont le but est d'examiner les divers aspects de la vie et les conditions sociales, pour les juger3. Sie sind bereits durchsetzt mit den Ideen der antiken Philosophie und schöpfen aus dem reichen Vorrat an Sen­tenzen, den die Antike der Renaissance schenkte und können somit als eine Vorform der Essais gelten, die diesen nicht nur in der Methode, sondern auch im Ziel, das Tahureau sieh gesteckt hatte, sehr nahe kommt.

Eine Synthese von Dialog und dem Genre, das noch zu besprechen sein wird, den Diverses Leçons, stellt die Académie françoise von LA PBBIATTDAYE

dar. Dio erste Ausgabe erschien nach VILLEY 1577, also zu einer Zeit, als Montaigne bereits an seinen Mssais schrieb. Diese Dialoge, die von La Primau-daye selbst als ein entre-mets de fruits par moy cueillis* charakterisiert werden, zeigen ara deutlichsten, wie um diese Zeit auch der Dialog die Methode sich zu eigen macht, die Montaigne — wenigstens in den meisten Essays — an­wendet. Es ist die Methode der Kompilation von Exempeln und Beispielen, verbunden durch eigene Gedanken und Urteile. So wird z. B. im Kap. 35 (S. 177f.) folgendermaßen verfahren: Aram, der erste Gesprächspartner, gibt dio Einleitung, zeigt die Ursache des Müßiggangs und ihre Verwerflichkeit, da daraus weitere Laster entstehen. Achitob ermahnt zur Beharrlichkeit mit einem Ausspruch des Erasmus. — Äser bringt ein Cicerozitat und leitet über zu Amana, der das Referat hält. Amana geht nun so vor, daß er jeweils einen Gedanken voranstellt (z. B. Trägheit als Mutter des Lasters, Trägheit ist

1 PlEEiiE MESSIE , Les diverses Leçons . .. Avec sept Dialogues de VAuíheur. Tournon 1604. Die crate franz. Ausgabe, die der OBN angibt, ist von 1579, Paris, Morel. Wir zitieren die französische Übersetzung, da sie zur Zeit Montaignes in Frankreich sehr verbreitet war.

2 Les Dialogues, non moins profitables que jacitieus, oil les vices d'un chacun sont repris fort aprement.. . Vgl. VILLEY I, S. 34 u. 35. 3 VILLEY I, S. 39.

4 P. mi LA PitiMAUDAYE, Académie Françoise, en laquelle il est traité de l'institution des Moeurs, et de ce qui concerne le bien et heureusement vivre en tous Estais et conditions; Par les Préceptes de la doctrine, et les exemples de la vie des anciens sages, et hommes lUustres. 3e éd. Basle 1587. — Obiges Zitat s tammt aus der Episire au Roy.

Die Diatr ibe 27

naturwidrig usw.) und diese Gedanken dann durch Zitate und Beispiele illustriert. Diese Methode wird an jedem der 18 Tage angewandt, an denen die 4 jungen Leute über die verschiedensten Themen der Moral, der Politik und der Natur diskutieren. Gleichzeitig sehen wir aber auch ein, daß die oben geschilderte Methode schwer durchführbar ist in einem Dialog, in dem das Frage- und Antwortspiel in rascher Eolge wechselt und daß sich dor Dialog der Abhandlung nähern muß, in der ein Einzelner die Untersuchung führt und sie mit Beispielen und Sentenzen belegt und ausschmückt. Hier läuft der Dialog Gefahr, langsam in ein Selbstgespräch überzugehen, sich langsam dem ,,διαλέγειν" als dem Gespräch der Seele mit sieh selbst zu nähern. „Je in sich gekehrter ein einzelnes Individuum ist, sei es in Folge seines ständigen Cha­rakters oder unter dem Druck vorübergehender äußerer Umstände, desto stärker wird in ihm die Neigung zum Selbstgespräch sein1." Als Beispiele für solche Naturen könnte man manche Vertreter der Diatribe anführen, kann man ferner Mark Aurel mit seinen „An sich selbst"2 gerichteten Büchern nennen und ebensogut die Soliloquia animae des Augustinus wie die Hissais Montaignes.

Damit sind wir wieder an unserem Ausgangspunkte angelangt. Wir konnten feststellen, daß es mehrere Momente sind, die die Verwandtschaft zwischen Dialog und Essay bedingen. So wie der Essay der gründlichen und trockenen Abhandlung feindlich gegenübersteht, so versucht auch der Dialog dem Thema alle Schwere und Langeweile zu nehmen. Wie im Essay wird auch im Dialog der Gegenstand von verschiedenen Seiten beleuchtet (car chaque chose a plusieurs biais et plusieurs lustres3), bedingt durch die verschiedenen Ansichten oder Charaktere der Gesprächspartner. Und endlich konnten wir sehen, daß dort, wo der Dialog satirisch wird oder seiner kämpferischen Absicht Mittel der Komödie dienstbar macht, er sich am weitesten vom Essay entfernt, daß aber das ruhige und harmonisch geführte Gespräch (dem das Soliloquium ver­wandt ist), am ehesten als Vorform des Essays bezeichnet werden kann.

Die Diatribe

Mit Diatriben wurden ursprünglich die Aufzeichnungen eines Schülers be­zeichnet, während man den Vortrag des Lehrers διάλογος oder διαλέξις nannte4.

1 H I K Z E L 1. c., I I , S. 34.

" Μάοκον Άντοίνίνον Άντοχράτορος των είς εαυτόν βιβλία, (ed. SCHENKL) Leipzig, Teubner 1913. 3 MONTAIGNE, Essais Ι , χ χ χ ν τ π , 30S.

4 Fü r die Begriffsbestimmung der Diatribe vgl. das 1. Kap. der Dissertation von OTTO HALBAÜER, De dialribis Epicteti (Leipzig 1911) und die Rezension dieser Arbeit durch H. ScnENKL in: Berl. PMIol. Wochenschrift 35 (1915), Sp. 41ff., ferner A. OLTKAMARE, Les origines de la diatribe romaine, Genève 1926, p. 9. — Aueh Hypomnema ist ursprünglich ein Wort für solche „Kollegheft"-Aufzeichnungen, also für Schriften, die von Anfang an nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren. Doch schrieb man dann aueh Hypomnemata zur Publikation; „das sollte eigentlich nur einen Verzieht auf die Peile bedeuten, führte aber leicht zu einem Verzieht auf innere Durcharbeitung und Anoin-

S e h o a , Vorformen 3

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28 Dialogisehe F o r m e n

Eine Diatribe — im engeren Wortsinn — kann daher nur von einem Schuler verfaßt sein bzw. muß die Fiktion der Schüleraufzeichnung als literarischen Rahmen aufrechterhalten. Im weiteren Sinn wird das Wor t Diatribe auch gebraucht für die populares orationes eorum, qui apud volgus, per oppida fortasse vagantes praedicant1. Diese orationes, die sich durch häufige Verwendung rhe­torischer Stilmittel wie Metapher, Exempel und Zitat auszeichnen sowie durch die Herübernahme des dialogischen Elements von Rede und Gegenrede, sind vor allem die moralphilosophischen Vorträge der kynischen Wanderprediger; man spricht daher besonders von der ,kynischen Diatr ibe ' 2 .

In diesem Sinne ist also eine Diatribe ein volkstümlicher moralphilosophi­scher Sermon, so daß die christliche Predigt von heute der Art der antiken Diatribe am nächsten kommt. Wie stark in diesem populärphilosophischen Sermon das dialogische Element von Rede und Gegenrede sich auswirkt, haben H I B Z E L und N O R D E N nachgewiesen. „Daß die Diatribe nur eine Nebenform des Dialogs ist, läßt sich schon aus einigen Stellen der platonischen Dialoge zeigen, wo Sokrates die gewöhnliche Art der Dialektik verläßt und, ganz wie es in der Diatribe geschieht, einen fingierten Gegner einführt und mit ihm dispu­tiert . Cf. Protag. 352 ff.3." So kann also die Diatribe direkt aus dem Dialog und sogar während des Dialogs entstehen, wenn der Sprecher die Anwesenheit seines Par tners vergißt und gleichsam in einem lebhaften Monolog, in dem die Einwürfe aus den eigenen Gedanken kommen u n d von ihm selbst formuliert werden, weiterspricht. In der Diatribe sind demnach Grundzüge dialogischen Denkens zu finden, und man könnte sie in einer systematischen Darstellung literarischer Gattungen (die also Anachronismen in Kauf nähme) zwischen Dialog und Essay einordnen.

Vergegenwärtigen wir uns zunächst einmal die Situation, aus der die Dia­tr ibe entstanden ist. In der Zeit nach Plato war das Interesse für die Philo­sophie — und Philosophie umfaßte damals alle Wissensgebiete — in stetigem Steigen begriffen; Kosmologie, Theologie, Moral und Physik waren nur Teil­disziplinen der Philosophie. Dieses immer allgemeiner werdende Interesse für die Philosophie verlangte dringend nach einer Popularisierung philosophischen Gedankengutes, und schon Sokrates war in der Stadt umhergegangen und ha t te sich Politiker so gut wie Handwerker zu Par tnern seines Philosophierens genommen. Die Zahl der wandernden Philosophen nahm immer mehr zu; man tTaf sie auf den Landstraßen, auf den Märkten und in Festversammlungen, — und das Bezeichnende für diese Entwicklung war nicht mehr die hervor­ragende Qualität des einzelnen Lehrers, sondern das massenweise Auftreten dieser Wanderphilosophen, die ein bun t zusammengewürfeltes Publikum um

anderreilmng von Notizenkram" ( W I L H . KROLL, Studien zum Verständnis der röm. Litera­tur, Stuttgart 1924, 8. 308 Anm.). Diese Hypomnemata- wie auch die Scholienliteratur ist zum größten Teil philologischen Inhalts. (Vgl. Bealenz. I I , 3 (1921) Sp. 625.)

1 HALBAUER, 1. c, S. 10. a Fälschlieherweise, nach SCHEHKL, da es sieh ja hierbei nicht mehr um Schülerauf-

zeichmmgen handelt; die richtige Bezeichnung für einen solchen Vortrag wäre „popularía philosopha dialexis". 3 E. NORDEN, 1. c, I, S. 129 Anm.

Die Diatribe 29

sich versammelten und Rede und Antwort standen auf jede Frage, ähnlich wie heute noch diskussionsfreudige Leute sich um die redelustigen Hyde-Park-„Philosophen" scharen. Pur diese antiken Wanderlehrer eignete sich der pla­tonische Dialog nicht mehr, denn bei der Zahl ihrer Hörer und vor allem bei deren geistiger Qualität war eine ernstzunehmende, sachlich fundierte Dis­kussion nicht mehr zu erwarten; denn „die mitforschende teilnähme des Schülers war nun nicht mehr möglich" . . . „einen einfach dogmatisierenden Vortrag hä t t e man teils nicht verstanden teils als Schwindel angesehen, so besorgte der philosoph sich in halb dialogischer darstellungsweise seinen wider-par t selber . . . der Wanderlehrer war weder zur production eigener gedanken im stände, noch verlangte das publicum, den herrén Teles oder Klcinias zu hören : sie w o l l t e n d ie g r o ß e n m e i s t e r a u f d i e sem wege zu l e h r e r n e r h a l t e n , so nahmen die vortrage fast den eharakter einer auslegung heiliger worto, einer predigt über fremde texte an 1 . " In der Diatribe sind also nur noch Elemento des Dialogs vorhanden; sie ist ein Beweis für das Ermat t en des dialogischen Geistes2, sie ist ein Dialog, der zur Deklamation geworden ist, in der das dialogische Element nur noch durch formale Reste vertreten ist. Die Einwürfe werden nicht mehr durch einen bestimmten persönlich anwesenden Gegner gemacht, der Redner selbst läßt sie durch irgendeinen Ιδιώτης vorbringen, der meistens mit der stereotypen Formel ψησί (inquit) eingeführt wird 3 . Dieser fingierte Gegner sichert genau so wie die vielen rhetorischen Fragen, die der Redner oder Prediger stellt, die Aufmerksamkeit der Zuhörer, die damit scheinbar zu mitforschenden Par tnern gemacht werden. Damit ergibt sich von selbst die Tendenz zu rhetorischen Perioden und oft auch zu einem über­triebenen moralischen Pathos, das die Hörer — genau wie in der Predigt — zu besserem Lebenswandel aufruft. Der rhetorisch-deklamatorische Charakter führt uns zu einem anderen in der Diatribe häufigen Element: nicht nur ein fingierter Gegner redet mit, auch Dinge werden personifiziert und ergreifen das Wort und treten so meist als Bundesgenossen des Redners auf. Ein Beispiel werden wir in Tertullians Schrift De pallio kennen lernen. (Schon die Νόμοι

Platos zielen in dieser Richtung! 4 ) Der protreptische Charakter der Diatribe begünstigt die Einstreuung von Beispielen, Apophthegmen5 und Sentenzen, die teils Schmuck der Rede waren, teils an die Autori tät der Geschichte oder anerkannter Autoren appellierten. Das Gleiche gilt von der häufigen Verwen­dung von Sprichwörtern und — mutat is mutandis — von den Vergleichen. Auch finden sich größere Abschweifungen vom eigentlichen Thema, indem bei irgendeinem nebensächlichen Gedanken oder bei einer allgemeinen Wahrheit

1 TT. v. WILAMOWITZ-MOELLENOOREF, Der hynische Prediger Teles. I n : Philologische Untersuchungen, hrsg. von Kießling und W.-M., 4. Heft, Berlin 1881, S. 312.

2 H I R Z E L , 1. c., I, S. 369f. 3 R. BULTMANÎT, Der Stil der Paulinischen Predigt und die kynisch-stoische Diatribe.

Göttingen 1910, S. lOff. * Vgl. NORDEN, 1. c.f I , S. 129 Anm. 5 W. GEMOLL, Das Apophthegma. Wien—Leipzig 1924, S. 105. GEMOLL will sogar die

Diatribe aus dem Apophthegma entstanden sein lassen.

3*

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30 Dialogische Formen

langer verweilt wird1. Wie später in der Kompilationsliteratur (in den Exempel-sammlungen und den Diverses Leçons der Renaissance) begegnen auch in der Diatribenliteratur Reihen von Themen, die von den einzelnen Vertretern der Gattung immer wieder behandelt wurden2 .

Diese Aufzählung der Kennzeichen der Diatribe zeigt deutlich, daß vieler­lei Elemente in der Diatribe vereinigt sind, daß sie, genau wie der Essay, ihre Bestandteile aus den verschiedensten Teilen der Literatur zusammensucht und zu etwas Neuem vereinigt. Dialog, Exempel, Zitat, Sprichwort und abschwei­fende Betrachtungen ha t sie mit den Essays gemeinsam, und wie der Essay verbindet sie die ernst zu nehmende Behandlung eines Themas mit der durch oben angeführte Stilmittel aufgelockerten Darstellung. Ihr Ton ist heiter ; be­weglich sind ihre Gedankenreihen, und schnell wechselt ihre Stimmung von der ergötzenden Anekdote zu ernsterer Betrachtung. Und wie beim Essay sind ihre Grenzen nicht genau abzustecken: dem Dialog verwandt kann sie plötz­lich seine Gestalt annehmen ; die Satiren des Horaz und die moralischen Briefe Sénecas sind nichts anderes als Diatriben. Sie nähert sich dem Moraltraktat3 , u n d ihr Einfluß auf die christliche Predigt ist unverkennbar4 . Hier, in der Predigt, fand die Diatribe ihre eigentliche Fortsetzung, die bis in unsere Tage lebendig geblieben ist.

Aus ihrer ersten Periode sind vor allem Bion von Borysthenes und Teles zu nennen; sie fand in der römischen Kaiserzeit ihre Portsetzer in Horaz, Seneca, Musonius, Epiktet , — bis hinein in die christliche Literatur .

T E L E S ist nur in dem Florilegium des Stobaeus erhalten geblieben, und von ihm und von anderen Nachahmern können wir nur auf die Art der Bionischen Diatriben schließen. Von Bion sagt W E N D L Ä N D : , ,A1S geistreicher, in allen Farben schillernder Feuilletonist ha t er den philosophierenden Essay ge­schaffen5." In diesen Diatriben ,,wird kein irgend wirksames Mittel — sowohl der kunstmäßigen Rhetorik, als auch der populären Ausdrucksweise — ver­sehmäht: theatralisches Pathos wechselt mit salopper Rede ; der moralische Erns t wird durch Witze gemildert und dem Publikum mundgerecht gemacht6 ." Die Diatribe war also von Anfang an die Mischgattung, wie wir sie oben ge­kennzeichnet haben. In diesen Zusammenhang gehört auch, was T H . B I E T 7

von den kynischen Philosophen aus den ersten Jahrhunder ten des Hellenismus sagt: „Diese, so scheint es, sind es gewesen, welche zuerst die freie Form des Essay aufbrachten oder der räsonnierenden Traktate , die meist in Prosa und nur gelegentlich dialogisch abgefaßt wurden .. . Drei Eigenschaften scheinen

!•

1 Vgl. BüLTMANN, 1. C, S. 48. 3 3. GEFFCKEN, Kynika und Verwandtes. Heidelberg 1909, S. 121 3 Vgl. P. WENDLAND, PMlo und die kynisch-stoische Diatribe. I n : Beiträge zur Ge­

schichte der griechischen Phil, u. Relig. Berlin 1895. Femer NORDEN, 1. c, I I , S. 543. 4 Vgl. NORDEN, 1. c , I I , S. 556f. 5 P. WENDLAND, Die hellenistisch-römische Kultur in ihren Beziehungen zu Judentum

und Christentum. Tübingen, 2. u. 3. Auflage 1912, S. 78. 6 Artikel „Teles" in PAÜLY-WISSOWA, Beal-Encyclopädie {Reihe 2, Bd. 5, Sp. 378). 7 Zwei politische Satiren des alten Mom. Marburg 1888, S. 13.

Die Diatribe 31

ihnen vorzüglich zu eignen: die Kürze nach Art eines Aufsatzes, die lose Dispo­nierung und Ungebundenheit in der Fortführung der Materie, der Gesprächs­ton oder sermo im Stil ."

Zwischen den Diatribenschreibern im 3. Jahrhunder t vor Christus und dem Wiederauftauchen der Diatribe in der römischen Kaiserzeit haben wir kaum Kunde von Diatribenstoffen. Wie sah diese neue Diatribe aus? Wenden wir zunächst unseren Blick auf die Horazische Satire.

Auch zur Zeit des HORAZ zogen wieder Wanderprediger — Kynikcr und Stoiker — im Lande umher und bedienten sich in ihren Vorträgen der bewähr­ten Methode, mit der schon ihre längst verstorbenen Kollegen bei den Griechen glänzende Erfolge erzielt ha t ten . „Horaz erkannte, daß diese Vortragsart nur der künstlerischen Veredlung bedürfe, um ein unvergleichlich kleidsames Ge­wand abzugeben für das, was er zu sagen ha t te 1 . " In der Satire fand er ein Genre, das noch geschmeidig genug war, sich diesen Stil aufprägen zu lassen. Satire ha t te ja von Anfang an gar nicht die Bedeutung, die wir heute mit diesem Wort zu verknüpfen gewohnt sind. H E I N Z E hat die Bedeutung des Wortes knapp u n d anschaulich wie folgt geschildert: „Satura hieß im alten Latein ein Pudding aus Gerstenschrot, Rosinen und Pinienkernen, mit Wein­met angemacht; satura auch eine mit mannigfachen Erstlingsfrüchten be-ladene Schüssel, die den Göttern als Opfergabe dargebracht wurde; und im politischen Leben ha t t e sich die von irgendeinem Witzbold einmal aufgebrachte Bezeichnung per saturam für Antrag oder Beschluß einer verschiedenartige Materie umfassenden lex eingebürgert. Saturae taufte nach diesen Analogien Ennius mit keckem Scherz seine vier Bücher umfassende Sammlung vermisch­ter Gedichte, die einzeln nicht umfänglich genug waren, um unter einem Son­dertitel ein Buch zu füllen . . A" Das Gleiche läßt sich von seinem Neffen Pacuvius sagen, der ebenfalls den neuen Titel gebrauchte für ein Kunte rbun t von Gedichten, so daß „das Fehlen eines best immten inhaltlichen oder for­malen Merkmals selbst wieder bereits gewissermaßen zum Merkmal einer literarischen Ga t tung" geworden war (S. X) 3 .

Die Parallelen zum Essay brauchen kaum noch angedeutet zu werden. H a t t e nicht auch Montaigne einen Titel gewählt, unter dem alles mögliche unterzu­bringen war und sind nicht auch seine „Essais" eine „satura", ein „Allerlei"? Es wurde schon erwähnt, daß La Pr imaudaye zur Zeit Montaignes ein ähnliches Produkt als satura bezeichnete, indem er es ein entre-mets de fruits par moy cueillis nannte. Und wie Montaigne eine neue literarische Gattung schuf, ohne es zu wissen (oder vielleicht ihr nur den rechten Namen gab), so h a t bei den Römern Lucilius mit seinen Satiren, die den Lebenswandel und die Verkom­menheit seiner Zeitgenossen geißelten, der Satire das Gepräge gegeben, das

1 H E I N Z B im Vorwort zur Ausgabe der Satiren, S. X I X (Berlin 1921). Wir folgen bei dem kurzen Überblick über die Satire bis Horaz seiner Darstellung.

ä R. Η Ε Γ Ν Ζ Ε , 1. c , Seite IX. 3 Von der Buntheit des Inhalts her sind auch Titel wie die Silvae des Statius oder die

Prata Suetons zu verstehen.

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32 Dialogische Formen

weiterhin diese Gattung charakterisiert, eine Gattung, die der „Subjektivität de8 Dichters weitesten Spielraum läßt" 1 .

Noch Varros Satiren zeigen eine bunte Zusammenstellung von Formen und Themen. Prosa mit Versen gemischt, Dialoge (wahrscheinlich auch Symposion­dialoge), „die nicht viel über den Umfang von Abhandlungen oder Essays hinausgingen"2 , Autobiographisches und philosophische Untersuchungen stehen nebeneinander.

Und auch die lebhafte Gedankenführung in Horaz ' Satiren läßt nicht zu, daß sein sermo in gleichmäßigem, ruhigem Stil dahinfließt. Sein Stil ist der des gesellschaftlichen Verkehrs, der Unterhaltung und Plauderei, jede Systematik verschmähend und von einem Gegenstand zum anderen überspringend. Er vermeidet „in der Erörterung eine feste Disposition, wie in Rede oder Lehr­schrift", er läßt sich vielmehr „hei aller Planmäßigkeit der Anlage scheinbar in der zwanglosen Weise mündlicher improvisierter Mitteilung durch die zu­strömenden Gedanken bald hierhin, bald dorthin tragen, bald länger bei einem Punkte verweilend, bald rasch und in Sprüngen vorwärtseilend, ab­brechend weniger, weil der Gegenstand, als weil das Interesse daran erschöpft ist"3 . Diese Worte sind uns nicht mehr neu: sie ähneln wiederum denen, die d'Alembert über das Gespräch schrieb und die auch auf den Essay angewen­det werden konnten.

Vergegenwärtigen wir uns seine Methode an Hand einiger Satiren: Zu­nächst Sat. 1, 4, denn sie handelt von den Satiren selbst. Horaz will sich recht­fertigen, daß er so oft seinen Mitbürgern bittere Wahrheiten sagte und beginnt mit einem Beispiel: Haben nicht andere vor ihm dasselbe getan: Eupolis, Kratinos und Aristophanes; und noch ein Beispiel: Lucilius! Aber hier schwei­fen seine Gedanken schon ein wenig ab ; er kann sichs nicht versagen, Lucilius' Stil zu kritisieren ; es ist ja auch kein Wunder, daß seine Verse nicht besonders gut ausfielen : auf einem Bein stehend diktierte er in der Stunde 200 Verse ! „Mir", so bringt Horaz seine eigene Meinung über das Dichten zum Ausdruck, „Mir kommt es nicht auf die Quant i tä t a n " — nam ut multum, nil moror (ν. 13). Nochmals geißelt er diese Versefabrikation: Crispinus fordert ihn zum Wettkampf im Schnelldichten. Aber das will er gerne Crispinus allein über­lassen. Je tz t erst kommt er wieder zurück auf sein Thema, und es folgt gleich eine ganze Exempelreihe von Leuten, die der Dichter verspottet und die den Dichter deswegen hassen. Darauf ha t er zu antworten:

Primum ego me illorum, dederim quitras esse poetis, excerpam numero: ñeque enim concludere versum dixeris esse satis; ñeque siqui scríbat uti nos sermoni propiora, putes hune esse poetam. (v. 39—42.)

Wie Montaigne leugnet er zunächst einmal ab, daß er ein komme de métier sei. Denn er schreibt in der A l l t a g s s p r a c h e , und wenn er auch einen Vers zu machen versteht, so ist er deswegen noch kein Dichter ! Es wäre allerdings

1 Vgl. F. A. BECK: Über das Wesen der Horazischen Satire, Gießen 1859. 3 HIRZEL, 1. c, I, S. 454. 3 HEINZE, 1. c, S. XV.

Die Diatribe 33

nicht angebracht, einer solchen Bemerkung besondere Bedeutung beizu­messen; denn es handelt sich um die gleiche angebliche Bescheidenheit, die viele andere in Einleitungen zu zeigen bemüht sind (vgl. S. 74f. Aulus Gellius). — Es folgt ein Einwand (v. 48—52), genau wie in der Diatribe, den er aber sofort widerlegt ohne den Sprecher näher zu charakterisieren (v. 53—62). Es gibt ja schlimmere Ankläger als ihn, nämlich die öffentlichen Ankläger, die mit den Anklageschriften unterm Arm durch die Straßen eilen, — und jene Dichter, die ihre Erzeugnisse auf dem Markt und im Bade unter die Menge bringen. Und wieder ein Einwand, nach Art der Diatribe mit einem einfachen inquit vorgebracht (v. 79), dem er entgegenhält: manch anderer, der in unver­schämter und gemeiner Art spottet, wird für comis et urbanus liberque (v. 00) angesehen. Außerdem soll man es ihm nachsehen, wenn er sich einmal zu frei äußerte, denn sein Vater ha t ihn dazu erzogen, die Fehler der anderen als Warnung und abschreckendes Beispiel zu betrachten. (Die Ermahnungen scincB Vaters werden als Halbdialog, in direkter Rede, gebracht.) Seinem Vater ha t er es zu danken, daß er frei ist von Fehlern, abgesehen von einigen Schwächen, die das Alter, ein offenherziger Freund und die Selbstermahnung (consilium proprium, V. 133) noch mildern werden.

Haec ego raeeum conpressis agito Iabris; ubi qui datur oti, illudo chartis. (v. 137—139.)

Im Stillen denkt er also über sich nach, und wenn er Zeit u n d Muße hat , bringt er seine Gedanken zu Papier. — Die Satire schließt mit der launigen Drohung, die ganze Zunft der Dichter gegen seine Kritiker zu mobilisieren :

(nam multo pluies sumus), ae veluti te ludaei eogemus in hanc concederé turbam.

Der leichte, plaudernde Gesprächston ist das erste, bestimmende Element für den Gesamteindruck der Satire. Horaz denkt gar nicht daran, seine Kri­tiker tragisch zu nehmen und sie mit hieb- und stichfesten Argumenten zurück­zuschlagen. Seine Argumente wirken mehr durch Konversationspointen als durch Logik. Unterstrichen wird dieser Plauderton durch ein weiteres Mittel zur Auflockerung, die Einführung der direkten Bede, durch das Einschieben von Einwürfen des Gegners X.

Da die Diatribe für philosophische Zwecke geschaffen wurde, t r i t t der Dia-tr ibencharakter am deutlichsten in jenen Satiren hervor, die ein populär-philo­sophisches Thema behandeln. Um den Gegner zu widerlegen oder die eigene Ansicht zu stützen, werden Beispiele aus der Natur , der Geschichte und dem täglichen Leben angeführt. Es werden Fragen gestellt, die der Gegner (oder Leser) nur im Sinne Horaz ' beantworten kann. Einwände werden vorweg­genommen und widerlegt oder ad absurdum geführt. Lange Exempelreihen stehen in Sat. I I , 3 im Dienst der diatribischen Rhetorik des Stertinius ; Chrien schmücken seine Rede, und poetische Digressionen über Orest, Ajax und Aga­memnon sind eingestreut1.

1 Vgl. hierzu OLTKAMARE, 1. c, S. 132.

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34 Dialogisehe Formen

Alle diese Stilmittel der Diatribe finden sich in der Satire, die er an die Spitze seiner Sammlung stellte, „la plus diatribique de toutes"1: Warum nur sind alle Menschen mit ihrem Lose unzufrieden? Der Soldat möchte Kaufmann und der Kaufmann Soldat sein. Alle rackern sich ab, um wie die Ameisen Vorräte zusammenzutragen. Und schließlich liegst du auf deinen eingesackten Gold­sehätzen, schlaflos aus Angst vor Dieben. Macht das dir Freude?

horum semper ego optarim pauperrimus ease bonorum !

(T, ] ,79.)2

Nicht zu verkennen ist aber vor allem die Tatsache, daß er, Horaz, der Mittelpunkt der Satiren ist. So handelt es sich z. B. in I, 4 um die Verteidigung s e i n e r Schriften und s e i n e r Person. Die Gedanken, die er sich in stillen Stunden über sein Tun und seinen Charakter macht, häl t er für wertvoll genug, niedergeschrieben und der Öffentlichkeit übergeben zu werden (I, 4, 137—139). Er berichtet von seinem Vater und von seiner Erziehung. Stets spricht er dabei im Ton der Unterhaltung, und diese Plauderei „verlangt die Mitteilung von persönlichen Empfindungen, Ansichten, Erlebnissen' '3 . An anderer Stelle, in der Bpistel I, 20, dem Geleitwort, das er dem 1. Buch seiner Briefe mit auf den Weg gibt, zeichnet er ein Selbstporträt :

corporis exigui, praecanum, solibus aptum, irasei celerem, tarnen ut placabilis essem. Torte meum si quis te percontabitur aevum : me quater undenos sciât implevisse Décembres collegam Lepidum quo duxit Lullius anno. (v. 24—28.)

Horaz hat uns in seinen Werken „das Abbild des ganzen Menschen hinter­lassen. Er ha t nämlich eigentlich immer nur von sich selbst gesprochen"4 . L B B È G U E macht darauf aufmerksam, daß Horaz von Montaigne sehr oft zitiert wird und weist in diesem Zusammenhang auf die Ich-Darstellung bei Horaz h in : aussi bien est-il lepoète ancien qui a parlé le plus sincèrement de soi-même... sous l'influence d'Horace et de Plutarque, il (Montaigne) change sa manière et remplace les compilations impersonnelles . . . par les libres propos dans lesquels Ü nous découvre jusqu'à ses verrues et d'où il bannit toute composition régulière et démonstrative^. Erwähnt sei auch, daß schon H I K Z E L Horaz' Sermones als Essays bezeichnete, „deren jeder für sich ein Fragment darstellt und erst im Hinblick auf das gesamte Geistesleben des Autors seinen Abschluß findet"6.

Das über die Satiren Gesagte läßt sich — cum grano salis — auch auf das Buch der Episteln anwenden. Manche dieser Briefe heben zwar den Brief­charakter besonders hervor, wie z. B. der Auftrag an den Boten (13) oder der

1 OLTRAMAEE, 1. c, S. 149, A. 3. 2 Über den Diatribenstil bei Horaz vgl. auch BICKEL, 1. c, S. 501. 3 H. P E T E R , Der Brief in der römischen Literatur. Leipzig 1901, S. 179. 4 R. H E I N Z E , Die augusteische Kultur. Leipzig u. Berlin 1930, S. 125. 5 R. LBBÈGUE, Horace en France 'pendant la Renaissance. In : Humanisme et Renaissance

I I I (1936), S. 394 u. 395. 6 HIRZEL, 1. c, I I , S. 14.

Die Diatr ibe 35

Empfehlungsbrief (9), aber viele könnten, wenn wir uns die Briefformeln weg­denken, in den Büchern der Satiren Aufnahme finden. Der Unterschied zwi­schen den Satiren und den Briefen liegt darin, daß in den einen das Publikum, in den andern der Adressat angesprochen wird; es ist also im Grunde nur ein Nuancenunterschied in zwei Gattungen, die ohnehin viele verwandte Züge haben, und „wer die Wurzeln der horazischen Epistel finden will, muß die der Satire suchen"1 .

Selbst in der Epistel an die Pisonen, in dem berühmten de arte poética liber, geht die Systematik nicht über „Ansätze methodischer Ordnung" 2 hinaus. Um von einem Thema, das zu einer trockenen Abhandlung hät to werden können, alles Systematische fernzuhalten, kleidet er es in das Gewand einer „ungezwungenen Plauderei" 3 ; so läßt sich also nicht einmal seine Poetik in das „Schema eines technischen Kompendiums" 4 pressen.

Es ist selbstverständlich, daß wir nach Aufzeigung all dieser Stilmittel nicht behaupten wollen, diese Schriften Horaz ' seien Essays im Montaigneschen Sinne. Die Satiren und Episteln sind vor allem Dichtungen, und das dichterische Genie eines Horaz steht auf einer ganz anderen Ebene — das Betonen der „Musa pedestris" wollen wir nicht überschätzen — als das „parier simple et naïf' (I, xxvj) von Montaigne. (Daß dieser in Prosa und jener in Versen schrieb, wäre kaum ein Einwand gegen die Ähnlichkeit beider Schöpfungen ; denn „nach antiker Auffassung sind Poesie und Prosa nicht zwei wesensmäßig und von Grund aus geschiedene Ausdrucksformen"5.)

Das Wesentliche in unserem Zusammenhang ist vielmehr, daß Horaz ' Dich­tungen in der Art der Darstellung viele Parallelen mit Montaignes Schaffen aufweisen, und daß sein ganzes Werk nur aus der Eigenart des Dichters er­klär t werden kann, „die die Schalen der vorgefundenen literarischen Formen sprengt und ein Buch schafft, wie es weder vorher noch nachher dagewesen ist"6 .

Es ist ein merkwürdiges Paradox der Geschichte, daß das Pr imat unter den Moralisten der römischen Antike dem Erzieher des skrupellosesten der römischen Imperatoren gebührt : L u e m s A N N A E U S SENECA. Aber dieser päda­gogische Mißerfolg, den er von seinem Schüler und Henker Nero erntete, wurde hundertfach ausgeglichen durch den Einfluß, den er in den folgenden Jahr­hunderten auf die Menschen ausübte: seine moralischen Schriften sind heute noch so modern wie vor nunmehr fast 2000 Jahren. Im Mittelalter war Seneca, der als der eigentliche literarische Vertreter der ersten Kaiserzeit galt, bekann­te r als Cicero7 u n d seine „Christlichkeit" sicherte ihm eine ununterbrochene

1 F. L E O , Rezension von: P E T E R , Der Brief in der röm. Literatur. I n : Göttingische ge­lehrte Anzeigen,' 163 (1901), I, S. 325. 2 BICKEL, 1. c. S. 500.

3 P E T E R , 1. c. S- 242. i BICKEL, 1. c, S. 500. 5 E. R. CURTIUS, Dichtung und Rhetorik im Mittelalter. I n : D. Vj. , X V I (1938), S. 439.

Vgl. dazu auch J . HUIZINGA, Homo ludern, Amsterdam 1939, S. 204f. und Horaz' eigene Worte Sat. I, 4, 54—62.

6 W. K R O L L , 1. c. S. 219. 7 Vgl. N O R D E N , 1. e. S. 306.

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36 Dialogisehe Formen

Tradition, wie sie neben Virgil kaum ein anderer römischer Schriftsteller auf­weisen kann. Die Verwandtschaft seiner Gedanken mit christlichen Vor­stellungen ha t t e dazu geführt, einen Briefwechsel zwischen ihm und Paulus zu erfinden, und Hieronymus ha t te ihm einen Platz unter den christlichen Schrift­stellern eingeräumt. Sogar heute noch wird das Tertullianwort „Seneca saepe nosier", das ihn sozusagen kanonisiert hat , angerufen, um das Heidentum des Heiden Seneca zu mildern1. Auch für das IG. Jahrhunder t war diese Ähnlich­keit mit dem Christentum ein (¡rund mehr, Seneca zu bewundern, — jedoch Montaigne erwähnt nirgends die alte Vermutung christlicher Einflüsse auf Seneca. Es ist anzunehmen, daß Montaigne in Seneca den Moralisten schätzte, der nicht auf Grund göttlicher Offenbarung, sondern allein mit Hilfe der Philo­sophie zu Ergebnissen gekommen ist, die auch für ihn, Montaigne, noch Gültig­keit hat ten.

Den Titel Dialogi \\ii%l ein Teil der philosophischen Schriften Sénecas, ohne daß sich diese Werke in ihrem Stil von anderen, die diesen Titel nicht tragen, von De dementia z. P . , unterscheiden. Es sind bestenfalls Halbdialoge, d. h. Seneca spricht allein zu einem seiner Freunde (Ad Lucilium de Providentia, Ad Serenum de constantia sapientis etc.) und führt allein die Unterhaltung, während der Gesprächspartner nur in fingierten Einwürfen zu Wort kommt. Wird durch ein derartiges Stilmittel der Titel „Dialoge" gerechtfertigt? Der Grund für diese Bezeichnung ist in Wirklichkeit nicht in der äußeren Gestalt, sondern im Inhal t zu suchen: E in Grammatiker des ausgehenden Alter tums wollte Sénecas philosophische Schriften r o n den rhetorischen (die in Wirklich­keit von Sénecas Vater stammen) sowie auch von den Tragödien scheiden, und so faßte er die ihm bekannten philosophischen Werke unter dem Titel Dialogi zusammen2 . Dialog wird zum Gattungsnamen für philosophische Schriften überhaupt. Sidonrus (f 488) ha t te in seinen Carmina? den Dichter Seneca als Nachfolger des Euripides, den Prosaiker aber als Nachfolger Piatos bezeichnet und somit auch seine philosophischen Schriften in den Schatten von Piatos Dialogen gestellt, die als berühmteste Beispiele dieser literarischen Form ihren Namen für Werke anderer Porm, doch gleichen Inhalts , hergeben mußten. Diese „Dialoge" sind Abhandlungen über Themen, die der St-oa besonders am Herzen lagen. Sie verraten z. T. einen sorgfältigen Aufbau, ohne daß sie je­doch zu langweiligen Moraltraktaten würden. Ih re literarische Form ist die der Diatribe4 . Dialogische Elemente sind die Anrede der Widmungsperson, deren Einwürfe und Sénecas Entgegnungen. Dialogisch ist das Einstreuen des inquit, das in der Diatribe häufig angewandt den fingierten Gegner zu Wort kommen läßt . Doch gleichzeitig schillert das Formelement der Briefgattung durch, denn die Widmung, das Anreden der Widmungsperson, weisen in glei-

1 A. BAÜMGAETWER, Die griechische und lateinische Literatur des klassischen Altertums. Freiburg H902, S. 515.

z Vgl. BICKEL, 1. c, S. 411. 3 9, 232, zit. nach Bickel S. 411. 4 Vgl. BICKEL, 1. c , S. 412; s. vor allem OLTRAMAEE, 1. c , p. 252ff., dort pp. 263—292

eine Liste dor Themen aus Sénecas Schriften, die charakteristisch sind für diu Diatribe.

Die Diatribe 37

cher Weise auf den Dialog wie auf den literarischen Brief. Klare Abgrenzungen sind nicht mehr möglich ; Formelemente des Dialogs, der Diatribe und des Briefs fließen zusammen, u n d wir gewinnen den Eindruck der „mühelosen Gelegen­heitsschöpfung einer geistreichen und einschmeichelnden Plauderei"1 , so daß wir mit Recht von einem „essayistischen Sti l"2 sprechen können. Zu diesen Mitteln, die den Abhandlungen ihre Schwere und Trockenheit nehmen, gehören auch viele eingestreute Sentenzen, Beispiele und Digressionen, die mit. dem Montaigneschen retombons à nos coches ( I I I , vi, 167) eingestanden werden (•/,. B. de brevitate vitae, X I I I , 8: sed ut illo revertar, unde decessi . . .). Wir wissen, daß Montaigne Seneca wiederholt gelesen ha t und daß er ihn weit über (üeero stellte: Que Cicero, père d'éloquence, traite du mespris de la mort; que ,S¡ inqur, en traite aussi: celuy la traîne languissant, et vous sentez qu'il vous veut rrsnudrr de chose dequoy il n'est pas résolu; il ne vous donne point de cœur, car lui/-mesmes n'en a point; Vautre vous anime et enflamme (II, s x x i , 519).

Inhal t und Form der Schriften Sénecas (von dem in dem Kapitel über den Brief nochmals zu sprechen sein wird) weisen also auf die Diatribe. Er hal te vor allem die Stilmittel der Diatribe literarisch ausgewertet und ihnen ein stark persönliches Gepräge gegeben. Die römische Diatribe erreicht mit Seneca ihren Höhepunkt .

In diesem Zusammenhang soll noch kurz auf einen anderen Vertreter dieser Gattung im 1. nachchristlichen Jahrhunder t , auf E P I K T E T eingegangen werden. Er war ein phrygischer Sklave, der in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunder ts nach P o m kam und dort später freigelassen wurde; sein Lehrer war Musonius Rufas, dem er zweifellos nicht nur seine moralphilosophische Bildung, sondern auch die Art seines Lehrvortrags, die Anwendung der Diatribe, verdankt. Er seihst ha t wahrscheinlich nie etwas geschrieben, seine Diatriben sind uns viel­mehr durch einen seiner Schüler erhalten, der sie aufzeichnete nach den Vor­trägen, die Epiktet nach seiner Verbannung aus Rom im Jahre 94 n. Chr. zu Nikopolis hielt. „Ich habe versucht", so sagt Arrian in seinem Vorwort, „das, was ich von seinen Reden hörte, möglichst mit seinen eigenen Worten für mich niederzuschreiben, um später eine Erinnerung an diesen klaren Geist zu haben. Es sind also Unterredungen, wie sich jemand natürlich und ohne große Vor­bereitung mit einem andern unterhäl t . 3" Wir haben also nur Berichte von den Diatriben, so etwa, wie auch Aulus Gellius öfters den Bericht über eine Unter­haltung, an der er teilgenommen hat , in seinen Nodes Atticae wiedergibt. Da­durch wird ein episches Element hinzugefügt, das die in der Diatribe vorhan­denen dialogischen Elemente noch mehr verblassen läßt und das Ergebnis noch mehr der dialogisierenden Betrachtung nähert . Jedoch muß eine Schwie­rigkeit, die die Form der Aufzeichnungen beeinträchtigte, eingerechnet wer­den: Nur selten können wir dem Fluß der Gedanken eine längere Strecke folgen. „ Inmi t ten derselben Erörterung springt Epiktet ohne weiteres von

1 BICKEL, 1. c, S. 186. * ibid. 3 Zitiert nach der Übersetzung von J. GRABISCK, Unterredungen mit Epiktet. Jena u.

Leipzig 1905.

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38 Dialogische Formen

einem "Dialog zum andern über"1 , und dieser sprunghafte, vielleicht auch, frag­mentarische Charakter der Aufzeichnungen ist der Grund dafür, daß wir keine langen, gleichmäßig dahinfließenden Abhandlungen finden, die zweifel­los etwas Essayartiges an sich haben würden3.

"Die Form der Aufzeichnungen zeigt oft die Methode des sokratischen Dialogs, in dem Rede und Gegenrede bis zur Aporia des Befragten durchgeführt werden. (Hier handelt es sich um die Aufzeichnung wirklicher Gespräche, vgl. ζ. Β. I, 11.) Die uns mehr interessierende Art ist die Untersuchung in Form der Be­trachtung, die ein Einzelner anstellt (Aufzeichnung der Lehr vortrage), die dann durch die selbstgemachten Einwürfe aufgelockert und durch Beispiele erläu­ter t wird. Das große Beispiel, auf das immer wieder zurückgegriffen wird, ist das Leben und die Worte Sokrates'. Eine interessante Bemerkung über das Exemplum, die auch die ihm zugedachte Funktion beleuchtet, macht Epiktet I, 29, 56f.: „Denn es sind nicht künstliehe Schlüsse, woran es uns jetzt fehlt; die Bücher sind voll von den künstlichen Schlüssen der Stoiker. Was fehlt uns denn noch? Einer, der sie anwende, der durch die Tat ihr Gewicht bezeuge. Nimm diese Holle über dich, damit wir nicht mehr nötig haben, uns in der Schule alter Beispiele zu bedienen, sondern auch unter uns ein Beispiel haben3 . ' ' (Für die oben angedeutete Art des Lehrvortrags vgl. die Diatribe I, 12, in der die verschiedenen Haltungen, die der Mensch zu den Göttern einnehmen kann, nacheinander aufgezählt und nacheinander widerlegt werden, — unterbrochen durch dialogische Einwürfe, die Epiktet in den Vortrag einstreut.) Epiktet kennt auch die Unterredung mit sich selbst, die wie ein monologisch geführter Dialog Untersuchungen anstellt und das Für und Wider abwägt, so ζ. Β. in der Diatribe I, 27, 7ff. die Überlegung, ob der Tod ein Übel sei und ob man diesem Übel entfliehen kann. Bei solchen Stellen ist die Neigung Epiktets festzu­stellen, länger bei einem Gedanken zu verweilen, ihn von allen Seiten zu fassen und die Untersuchung immer wieder an einer anderen Stelle anzusetzen und neu zu beginnen. Hier näher t sich Epiktet am meisten dem Essay.

Diese Tendenz, die äußere Erscheinung des dialogischen Elementes noch weiter zu verdrängen und nur noch die verschiedenen Meinungen in Gedanken gegeneinander auszuspielen, ha t sich in der Antike am stärksten in den Mo-ralia des PLUTARCH durchgesetzt. Zweifellos ha t te auch Plutarch die Diatribe während seines Studiums in den Rhetorenschulen kennen gelernt, und wir dür­fen auch die Form der Moralia als von der Diatribe beeinflußt ansehen4.

E in ganz großer literarischer Erfolg im 16. Jahrhunder t war die Übersetzung der Moralia durch AMYOT. Man muß sich vergegenwärtigen, wie sehr dieses Werk Plutarchs dem Geschmack und den Wünschen der Leser entsprach, um

1 HIKZEL II, S. 249. 2 Arrian war sich dieser Zusammenhanglosigkeit bewußt und hat aus diesem Grunde

das Encheiridion, das „Handbüchlein der Moral" aus den Diatriben zusammengestellt, das übrigens auch Montaigne besaß.

3 Zitiert nach der Übersetzung von J. M. SCHULTZ, Arrians Unterredungen Epiktets mit seinen Schülern. 2 Bde. Altona 1801, 1803.

4 Vgl. NORDEN, 1. c, I, S. 393 und EULTMASN, 1. c, S. 9.

Die Diatribe 39

annähernd die Begeisterung zu verstehen, mit der man sich dem Studium eines griechischen Werkes hingab, das bisher in seiner Gesamtheit nur den Huma­nisten zugänglich gewesen war. Im moralphilosophischen Schrifttum des 16. Jahrhunder t s ha t t e sich neben dem von der Kirche vorgeschriebenen Bild des Menschen und der Welt ein immer stärker werdender Rivale breit gemacht, der anfing, dem Dogma gefahrlich zu werden: der Geist der Antike. Man schielte nach den Moralgrundsätzen der römischen und griechischen Autoren, man zollte ihnen offen Bewunderung, schließlich wurden sie Maßstab und Vor­bild. Man suchte nach praktischen Beispielen, wie man sich in der Anlike in diesem und jenem Fall verhalten hat te , was der Stoiker über diese Tugend und über die Beherrschung jener Leidenschaft gesagt ha t te . Nur so ist die Zitier-wut der Renaissanceautoren und das Einschalten von ganzen Exempelreihcn zu verstehen, denn mit einem klassischen Zitat schmückte man nicht nur die eigene Abhandlung durch einen in formvollendeter Sprache wiedergegebenen Gedanken, man berief sich vielmehr auf eine wirkliche Autori tät . Und nun tauchte aus dem Schoß der Antike ein Werk auf, in dem die Themen bereit H behandelt waren, die die Kompilationsautoren mühsam mit antiken Beispielen und Zitaten ausgestattet hat ten, ein Werk, das wie ein. Kompendium, eine Summa, die gestellten Fragen beantwortete und bei dem sich das im 16. Jahr­hundert so beliebte Schlußregister lohnte1 . Aufrichtige Bewunderung und Be­geisterung drücken die Worte Montaignes aus, die er im 2. Buch seiner Essais zu Beginn des 4. Kapitels der Arbeit Amyots und dem Werk Plutarchs wid­met : Nous autres ignorans estions perdus, si ce livre ne nous eust relevez du bourbier: sa mercy, nous osons à cett'heure et parler et escrire; les dames en régentent les maistres d'escole: c'est nostre bréviaire (II, rv, 41).

Im Zusammenhang mit Seneca haben wir bereits Worte Montaignes gehört, die uns nicht nur seine Bewunderung für den Inhal t der Schriften Plutarchs zeigten, sondern auch seiner Vorliebe für deren Form unverhüllt Ausdruck geben. Wie sieht nun die Abhandlung eines Themas bei Plutarch aus ?

Nehmen wir ein Kapitel (Amyot sagt traité), das auch bei den Kompilatoren zum eisernen Bestand der abzuhandelnden Themen gehörte: De la curiosité?.

Plutarch beginnt mit einer wohl überlegten Einleitung: E in längerer Ver­gleich, in den Exempel eingeschaltet sind: Man soll sich nicht in einem un­gesunden Hause aufhalten, man sollte es lieber umbauen, so wie man es mit ganzen Städten gemacht ha t (Cheronea) und wie Empedokles ein Tal zu­schütten ließ, durch das giftige Winde in die S tadt eindrangen. So radikal sollte man auch mit den Leidenschaften der Seele verfahren, zum Beispiel mit der curiosité; denn (Definition) : La curiosité est un désir de savoir les tares et

1 Der Indice tres-arnple des noms, sentences et dits notables, similitudes, proverbes, et autres choses mémorables (t. I) und der Indice des principales matières et choses plus remar­quables (t. II) der Amyot-Ausgabe von 1621 umfassen zusammen nicht weniger als 98 Seiten,

2 Les Œuvres Morales de Plutarque, translatées de grec en françois, reveues et corrigées en plusieurs passages par le Translateur [laques Amyot]. 2 vol, Geneve 1621. (Die 1. Auag. der Übersetzung Amyots erschien 1572.)

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40 Dialogische Formen

imperfections d'autrui, qui est un vice ordinairement conioint avec envie et ma­lignité . . A Der Mensch sollte besser seine Neugier nach innen richten, dort findet er zur Genüge Schlechtigkeiten, wenn er nun einmal seine Neugier mit solchen Dingen befriedigen muß. Es folgt zur Ausschmückung ein Vers, dann ein Exempel (Xenophon), ein Zitat, ein Vergleich, wieder ein Exempel usw. Diese Analyse, durchgeführt für das ganze Kapitel, ergibt eine lange Reihe von Vergleichen, Zitaten und Exempeln, eine Ket te , in der die verschiedenen Glieder mehr oder weniger regelmäßig abwechseln, miteinander verbunden durch die Zwischentexte Plutnrchs, die die Richtung geben, die Untersuchung planmäßig weiterlenken und die angeführten Stilformen, also das vorliegende objektive Material, der subjektiven Gedahkcnführung dienstbar machen. Und es scheint uns, daß diese Gedankenführung einem vorher überlegten und da­durch feststehenden Plan folgt: der erste Teil zeigt die Schädlichkeit und Abscheulichkeit, der Neugierde, der zweite Teil gibt die Mittel an, mit deren Hilfe man dieses Laster bekämpfen kann. Ein anderes Kapitel möge uns die Planmäßigkeit der Anlage bestätigen: Aus der Abhandlung De Vamour et charité naturelle des peres et meres envers leurs enfans2 lassen sich folgende Hauptgedanken herausschälen, die das Gerüst für den gesamten Fachwerkbau an Beispielen, Vergleichen und Sentenzen abgeben: Die Einleitung bildet ein Vergleich, der in den Gedanken ausläuft: Der Mensch nimmt sich das Tier in vielen Dingen zum Vorbild, denn es ist der Natur näher et moins corrompu. Durch fliese Feststellung ist die Einteilung des Kapitels best immt;

1. Beschreibung der Elternliebe der Tiere. 2. Unterschied zwischen Mensch und Tier; Größe und Elend des Menschen. 3. Der Mensch wurde so erschaffen, daß er die Elternliebe zum Leben nötig

hat. 4. (Schluß) Lob der Elternliebe, die nicht durch Unglück oder Leidenschaften

getrübt wird.

Demnach liegt einem Traité bei Plutarch ein ausgearbeiteter P lan zugrunde. Gestützt wird diese Feststellung durch die Tatsache, daß kaum Abschwei­fungen vom Thema zu finden sind, die den symmetrischen Aufbau der Kapitel sprengen könnten. Dieser Gliederung des Ganzen entspricht die Ausgewogen­heit in der Verwendung und Verteilung der Stilformen: historisches Beispiel, Vergleich, Zitat oder Sentenz wechseln fast regelmäßig ab, Häufungen der einen oder andern Form sind vermieden. Jede Dokumentat ion durch Exempel tendiert an und für sich nach der Exempel reihe hin, nach einem „Niclit-mehr-auf h oren-können" ; Montaigne so gut wie die Kompilationsautoren bieten uns hierfür genügend Beispiele. Die fast pedantische Verteilung bei Plutarch zeigt immer wieder die kontrollierende Funktion des Geistes, der die Phantasie zü-gelt und ihrem Drang zum Weiterspinnen der Gedanken Einhalt gebietet. Nur so ist das Fehlen von Digressionen zu erklären bei einem Autor, der über einen

1 PIATTARQUE-ÄMYOT, 1. c, S. 195. Bei Zitaten wurden die Sigel aufgelöst und für u und ν die moderne Schreibung angewandt. 2 1.1, S. 312ff.

Die Diatribe 41

genügenden Vorrat an Beispielen und Lesefrüchten verfügte, um endlose Asso­ziationsreihen bilden zu können.

Trotz dieser Planmäßigkeit der Anlage ist die Verwandtschaft mit dem Essay unverkennbar. Sie besteht — äußerlich gesehen — schon in der Wahl der Themen, die auch den Essais das Gepräge geben: Es ist das Fragen nach der Natur des Menschen, nach seinen Tugenden und Lastern, seine Siedlung zu den Freunden und seine Rolle innerhalb der menschlichen Gesellschaft; Aberglaube, religiöse Einrichtungen, Ehe, alle Bezirke des menschlichen Lebens werden in die Untersuchung einbezogen. Zweifellos ist Plutarch zum Teil mit­verantwortlich für die in den Essais immer stärker werdende Neigung, nur noch den Menschen zu analysieren, was dann bei Montaigne schließlich zur Selbstanalyse führte.

Ähnlichkeit mit dem Essay besteht auch in der geschilderten Methode, mit Beispielen, Sentenzen und Vergleichen die Untersuchung aufzulockern und gleichzeitig zu stützen. Vor allem scheinen die Vergleiche Plutarchs großen Einfluß auf die Essais von Montaigne ausgeübt zu haben1 . Plutarch kannte diese Art der Darstellung aus der Diatribe, die sich auch mit diesen Stilmitteln schmückte. Auf die Diatribe weisen ferner die öfters gestellten rhetorischen Fragen, die immer einen imaginären Gegner oder Mitforscher zur Voraus­setzung haben. Die Neigung zum Dialog zeigt sich vor allem auch in den 9 Büchern Des propos de table (t. I I) , in denen Gespräche über die verschie­densten Materien wiedergegeben werden. Hier, in der Behandlung kleinerer, zufällig auftauchender Gesprächsthemen zeigt sich stärker die Neigung des Essayisten, den Einfällen der Phantasie zu folgen und sie nicht durch irgendein Schema einzuengen.

Der Reiz der größeren Abhandlungen aber scheint uns vor allem in der Spannung zu liegen, die zwischen der relativ strengen Gesamtanlage der Ka­pitel u n d der Ausführung der einzelnen Gedanken besteht. Denn hier werden die Mittel verwendet, die der Abhandlung ihre Schwere und Trockenheit nehmen: Ansätze zu dialogischer Gestaltung, Exempel, Sentenzen und Vergleiche.

Wir wollen dieses Kapitel , das der Betrachtung der Diatribe bzw. von Schriften, die Einflüsse der Diatribe aufzuweisen hat ten, gewidmet war, mit einer merkwürdigen Schrift Tertullian s beschließen, seinem Über de pallio"2. Die Veran­lassung zu diesem Werk „ist eine persönliche, die aber im weitern Verlauf hinter der sophistischen Schaustellung prunkhaften Wissens von allerlei mehr oder weniger tändelndem und amüsantem Rari tä tenkram zurücktri t t oder fast ganz verschwindet"3 . De pallio wurde TAX der Zeit gesehrieben, als Tertullian eines Tages das Kleid des Römers, die Toga, auszog, um von nun an nur noch das Gewand der Philosophen, das Pallium, zu tragen. (Wahrscheinlich i. J. 208

1 Vgl. VILLEY, II, S. 312. 2 Die Ausgabe von OEHLER war mir nicht zugänglich. Die Zitate sind einem wenig zu­

verlässigen Text {Opera, t. II , p. 222—233, Paris 1566) entnommen. Man vgl. ferner die Übersetzung bei J. GEBTCKEN, Kynika und Vejrwavdtes. Heidelberg 1909.

3 NoiiDEN, 1. e., II, S. 615.

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42 Dialogische Formen

oder 2091.) Vermutlich wollte er durch diesen Kleidungsweehsel dokumen­tieren, daß er ein strengeres, asketisches Leben führen wollte, denn das Ge­wand des Philosophen sollte Ausdruck der inneren Hal tung sein. Als Antwort auf die hiernach entstandenen Spötteleien und Anfeindungen in Carthago schrieb er dieses Büchlein De pallio. Er wollte also seine Handlung vor der Welt, d. h. vor den mitleidig lächelnden oder ihn öffentlich anfeindenden Ge­bildeten Carthagos verteidigen, indem er das Pallium in Schutz nahm und ihm ein Loblied sang. Derartige Schriften, in denen man die Vorzüge eines Men­schen oder einer Sache herausstrich, waren auch den Literaten von Carthago nichts Ungewöhnliches, denn sie ha t ten dieses Handwerk in den Rhetoren-schulen gelernt, und die Epideixis war ja ein wichtiger Teil der antiken und auch noch der mittelalterlichen Rhetorik2 . Und so beginnt er auch gleich, in­dem er die ciceronianische Topik zu Hilfe ruft : Warum soll ich nicht mein Kleid wechseln dürfen, da doch auch die Natur sich ewig änder t ! Damit ha t er einen Gedanken aufgegriffen, der sich beliebig weit fortspinnen läßt, zu dem immer neue Beispiele angeführt werden können; Sonne, Mond und Sterne, das Meer, der Wind, die Jahreszeiten, die Flüsse und das Weltall werden zum Beweis herangezogen. Es folgen Beispiele für Veränderungen von Städten und Völkern, von Tieren und Menschen. Bei einer solchen Unmenge von Beispielen muß jeder Angreifer erröten, das alles übersehen u n d sich über den Wechsel eines Kleides aufgehalten zu haben! — Eine Inhaltsangabe würde in diesem Rühmen zu weit führen, zumal die paraphrasierende Übersetzung von G E F F ­CKEN einen Überblick über Inhal t und Methode der schwer zu lesenden Schrift bequem ermöglicht.

Die Einflüsse der Diatribe auf De pallio wurden von Geffcken in der oben zitierten Abhandlung nachgewiesen. Es kommt Geffcken darauf an zu zeigen, daß dieses Werk Tertullians kein ganz selbständiges Produkt ist, sondern daß es zu viele Anklänge an die Diatribe aufweist, um nicht auf einen Vorläufer schließen zu lassen. Er spricht die Vermutung aus, daß für De pallio eine Satire Varros als Grundlage gedient haben könnte (dessen kleine Schriften vermut­lich auch in die Reihe der Werke gehören, deren Eorm mit der des Essays Ähnlichkeiten aufwies). Wir wollen hier nur an einige in der Diatribe oft ver­wendete Stilmittel erinnern. Tertullian behält die an die Carthager gerichtete Anrede nicht gleichmäßig bei, sondern richtet sich auch an einen einzelnen imaginären Gegner (bzw. an den Leser), wie wir es in der Diatribe als Rest des Dialogs festgestellt haben: Laudans igitur orbem mutantem, quid denotas hominem (S. 225) . . . Hyaenam si observes sexus annalis est, marem et foeminam alternat (S. 226). Völlig auf dem Boden der Diatribe und ihrer dialogischen Be­weisführung befinden wir uns mit folgenden Worten : Gonsdentiam denique tuam perrogabo, quid te prius in toga sentios, indutum an ne onustum? habere vestem, an baiulare % SÍ negabis, domum consequar, videbo quid statim a limine properes . .

1 Vgl. G. BOISSIER, Le traité du Manteau de Tertullien. In: RDM, Bd. 94 (1889), S. 50 bis 78. a Vgl. CtTBTitrs, Dichtung u. Rhetorik im Mittelalter.

Die Diatribe 43

(S. 231). Auch eingestreute Sprichwörter bestätigen den Einfluß der Diatribe, ebenso gut wie die in der Diatribe üblich gewordene Personifikation des be­handelten Objektes gegen Ende der Schrift. Personifikationen unterstreichen das dialogische Element ; denn der Pseudodialog zwischen dem eigentlichen Sprecher und dem unsichtbaren Gegner wird plötzlich als zu schwach empfun­den, um der eigenen Ansicht das nötige Gewicht zu geben. Darum wird ver­sucht, den Dialogkreis zu erweitern, damit man sich einen Bundesgenossen an die Seite stellen kann. So entstehen die Personifikationen in der Diatribe, und so spielt auch Tertullian gegen Ende seinen letzten Trumpf aus : das Pallium selbst, das bisher Hauptgegenstand der Abhandlung war, wird zur Haupt­person und verteidigt sich selbst: „Das ist meine Verteidigung für den Begriff des Palliums, den du angegriffen; es hat aber auch für seinen Beruf Fürsprache einzulegen. Es redet selbst also: ich habe nichts mit dem Forum, dem (Mars-) Felde, der Kurie zu tun, ich wache über kein Amt, erstürme nicht die Redner­buhne, kümmere mich nicht um prätorische Verfügungen . . ,"1. — So beginnt die hochmütige, aber witzige Verteidigungsrede, die das Pallium selbst hält.

Das Büchlein De pallio soll hier weder zu einem vollendeten Essay noch zu einer reinen Diatribe gemacht werden. Es stellt eine jener Mischformen dar, für die eklektisch hier und dort etwas zusammengetragen wurde, — dialogische Elemente, Sprichwörter, rhetorisches Material, originell gestaltet durch eine starke Persönlichkeit — und die so in ihrer schwer zu definierenden Form in die Reihe hineingehören, die später im Essay endet oder doch wenigstens enge Beziehungen zu ihm hat . Dieses Büchlein, an dem viel herumgerätselt worden ist, bedeutet im Grunde nichts anderes als eine literarische Spielerei Ter­tullians. Il est sûr que Tertullien n'a rien prouvé du tout; mais il ríen a pas moins atteint son but, car il ne voulait rien prouver . . . Ce traité n'est donc en lui-même qu'un jeu d'esprit2. Tertullian ha t hier aus einem einmal gegebenen Anlaß heraus seine ganze literarische Begabtheit , seine Belesenheit, seine ant ike Bildung, seine rhetorische Kunst zusammengenommen, um diese geistreiche Plauderei über Pallium und Toga zu schreiben. Zweifellos spielte dabei die Freude am Schreiben, am Diskutieren und Beweisen-können, die Freude an der souverä­nen Beherrschung der Sprache eine große Rolle, so wie wir es später in wirk­lichen Essays vor Montaigne, in den Adagia des Erasmus, wiederfinden werden. Wenn auch ein unmittelbarer Einfluß dieser Schrift auf das 16. Jahrhunder t nicht nachgewiesen werden kann (Montaigne kannte Tertullian vermutlieh nur aus zweiter Hand) , so wurde sie hier doch behandelt , weil sie für uns ein Ausdruck jener Hal tung ist, die die Literatur nicht betrachtet als eine nach Schweiß riechende Arbeit — dequoy je suis incapable, sagt Montaigne (II, x, 108) — sondern sie als ein délassement ansieht.

1 S. 232: Haec pro pallio interim, quantum nomine œncitasti. Iam vero et de negocio provocat. Ego, inquit, nihil foro, nihil campo, nihil curiae debeo: nihil offício advigilo, nulla rostra praeocewpo, nulla praetoria observo. — Zit. nach GEFFCKEN, 1. c, S. 77.

2 BOISSIER 1. c, S. 70 u. 76.

S c h o n , Vorformen 4

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44 Dialogische Formen

Der Brief

„Sur ce subject de lettres, je veux dire ce mot, que c'est un ouvrage auquel mes amys tiennent que je puis quelque chose. Et eusse prine plus volontiers cette forme a publier mes verves, si j'eusse eu a qui parler.'1

(MONTAIGNE, Essais, I, XL, 327.)

Bevor der Brief hier unter die dialogischen Formen eingereiht wird, soll er zunächst seine Berechtigung nachweisen, sich mit Dialog und Diatribe im gleichen Raum aufhalten zu dürfen. Er könnte dazu zunächst an H I R Z E L appellieren, der ihm bereits eine Legitimationskarte ausgestellt h a t : „Der Brief ist die Täuschung eines Gesprächs. Beide gewähren die gleichen Vorteile: sie gestat ten eine ungezwungene Darstellungsweise und bieten eine Form zur Po­pularisierung wissenschaftlicher Gedanken und zur Erörterung solcher Gegen­stände, die eine systematische Behandlung nicht vertragen1 . ' ' Mit diesem Zeug­nis, {das sich vor allem auf den literarischen Brief, auf die Epistel, bezieht) ist zugleich schon die Verwandtschaft mit dem Essay festgestellt.

Der Brief ist nichts anderes als das Gespräch mit einem abwesenden Men­schen, der nur durch die räumliche Entfernung an der unmittelbaren Antwort gehindert ist. Er ist gleichsam das Bruchstück eines größeren Gesprächs, je­doch nicht die Gedanken schnell ausdrückend wie bei unmittelbarer Rede und Gegenrede, sondern der Gesprächspartner (d. h. der Briefschreiber) h a t Zeit, seine Gedanken ruhig und anschaulich zu entwickeln. Dies nähert den Brief der Meditation oder, je nach Veranlagung und Absicht des Schreibers, der ruhig dahinfließenden Abhandlung. Der Briefschreiber kann aber auch während des Schreibens sieh die Person des Adressaten lebhaft vorstellen, er kann dessen etwaige Einwürfe vorwegnehmen, indem er sie selbst stellt und beantwortet , d. h. indem er von derselben Methode Gebrauch macht, die in der Diatribe häufig angewandt wird. So ha t Seneca, der uns bereits Zeuge für die Verwandt­schaft zwischen Brief und Dialog war, dieses Mittel oft benutzt und h a t da­durch das Bild seiner Briefe belebt und die Dialektik des Denkens unter­strichen.

Naturgemäß wird das subjektive Element sich im Brief mehr als in Dialog und Diatribe in den Vordergrund schieben. Denn der Brief ist doch zunächst da, um von sich selbst einem anderen Kunde zu geben. Es ist daher natürlich, daß man auch für Schriften, in denen von persönlichen Dingen die Rede sein sollte, die Form des Briefes wählte. Auch hierfür mögen Sénecas Briefe an­geführt werden, denn Gegenstand dieser Briefe sind nicht nur die Ermah­nungen an Lucilius, sondern auch die eigenen Empfindungen und die eigenen Erfahrungen, auf die sich seine Ermahnungen gründen. Hirzel hat bereits auf den Zusammenhang zwischen dem Brief und der Literatur, in die das persön­liche Erlebnis und die persönliche Ansicht Eingang gefunden haben, hin-

1 HIRZEL, 1. c, I, S. 305.

Der Brief 45

gewiesen: „Man hielt es in der älteren Zeit für unschicklich, die eigenen Schick­sale und Empfindungen dem Publikum vorzutragen: konnte man daher den Ausdruck derselben nicht hemmen, so adressierte man ihn doch nur an ein­zelne Wenige. Daher nähert sich von dem Augenblick an, wo das subjektive Element in der griechischen Dichtung hervortri t t , dieselbe der Form des Brie­fes1." So ist es zu erklären, daß das Zeitalter der Sophisten zugleich den Brief besonders schätzt2 . So ha t auch die römische Kaiserzeit ihre berühmten Brief-saramlungen, und in der Renaissance gewinnt der Brief wieder eine über­ragende Bedeutung.

Zwei Elemente verschiedener Natur lassen sich in der Briefliteratur heraus­kristallisieren : einmal t r i t t uns der Brief als Ersatz für den mündlichen Verkehr entgegen; zum anderen ist er eine Form der philosophischen und wissenschaft­lichen Literatur geworden, eben weil man schon früh erkannte, wie sehr dieses Genre geeignet ist, „in kleinem Rahmen irgendein Thema essayartig zu be­handeln3". Gerade diese Erscheinungsform des Briefes, die philosophische und wissenschaftliche Fragen in zwangloser Art darstellt, gewann — von den Epi­kureern ausgehend4 — eine überragende Bedeutung. Wie die Griechen den Dialog als die Form der gefälligen Darstellung philosophisch-wissenschaftlicher Fragen entwickelt hat ten, so wurde von den Römern der literarische Brief in der Funkt ion des Dialogs zur Vollendung geführt: „Ohne den Zwang, den Gegenstand theoretisch zu erschöpfen, dagegen genötigt, der Persönlichkeit des Adressaten jede Ermüdung fernzuhalten, sind zumal die philosophischen Briefe des Seneca als Kunstwerk ein Erzeugnis echt römischer Schreibweise5."

Daß jedoch in dieser Entwicklung die Bedeutung des Adressaten immer mehr zurücktrit t , ist ganz natürlich. Die Wahl des Adressaten war anfänglich noch durch die Art des behandelten Themas bestimmt worden. Doch langsam wird die Anrede gleichbedeutend mit einer Widmung; der Schreiber will den Adressaten ehren oder dessen Aufmerksamkeit und Gunst auf sich lenken.

Eine Parallele zu dieser Entwicklung ist das Zurückdrängen der persönlichen Note, des Individuellen, durch die Rhetorik. Der Brief wird zu einer Übung in den Rhetorenschulen. —

„Der erste, der nach unserer Kenntnis in Rom wissenschaftliche Essays in die Form von Briefen einkleidete, war M. T E E E N T I U S V A E B O 6 . " Wie weit in

Wirklichkeit der Ausdruck „Essays" die adäquate Bezeichnung für Varros Briefe ist, dürfte bei dem Wenigen, das uns von Varros Schriften erhalten ist, schwer nachzuweisen sein. Wenn PETEB, weiter sagt, daß die „Disposition der Essays" „streng systematisch" war, daß sie nicht den Ton der Unterhal tung nachahmten, so passen diese Merkmale wenig zu dem, was wir uns unter einem Essay vorzustellen gewohnt sind. — Vielleicht waren Varros Logistorici (wo logos „Besinnlichkeit" bzw. „Gespräch" und historia „Geschichtliches" be-

1 H I R Z E L , 1. c, I, S. 304. 2 Vgl. H I B Z E L , 1. c, I, S. 302. 3 H. P E T E I I , Der Brief in der römischen Literatur, S. 16. — Vgl. auch N O R D E N , 1. c,

S. 492. i Vgl. P E T E R , 1. c, S. 16. 5 BICKEL, 1. c, S. 80f. 6 P E T E E , 1. c, S. 216.

4*

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46 Dialogische Formen

deutet1) wirkliche Essays, denn Abhandlungen über die Geschichte, Kinder­erziehung, über Gesundheit oder Götterdienst lassen schon eher an Essays denken, zumal in ihnen „philosophische, namentlich ethische, jedoch mit einem reichen Beiwerk historischer Belege durchwirkte und mehr populär als systematisch gehaltene Discurse2" vermutet werden.

Wie in Ciceros Dialogen, so ist auch in seinen Briefen eine gewisse Systematik in der Behandlung des Themas nicht zu verkennen. Zum Beispiel ist der an seinen Bruder gerichtete Brief über die provinzielle Selbstverwaltung eine systematisch angelegte Darstellung, eine von vornherein für die Veröffent­lichung best immte Abhandlung. Ciceros Briefe blieben bis über die Renaissance hinaus berühmte Vorbilder, doch weniger ihres Inhalts oder der Art wegen, in der ein Thema behandelt wird, sondern als Muster für elegante Ausdrucks­weise, als Fundgrube für phrases et formulae.

So ha t ihn auch Montaigne gesehen und seine kal te Pracht im Grunde ver­abscheut. Für ihn war SENECA geliebtes u n d bewundertes Vorbild, vor allem dessen Briefe an Lucilius, nicht nur, weil der Inhal t der Briefe, die dargelegten moralphilosopliischen Grundsätze, ihn anzogen, sondern weil er auch in der Form der Darntelhmg etwas Verwandtes sah, weil er.zu Sénecas Briefen, zu diesen pièces décousues aufblickte wie zu Ahnen seiner eigenen pièces décousues: Ils (Plutarch und Seneca} ont tous deux cette notable commodité pour mon humeur, que la science que j'y cherche, y est traictée à pieces décousues, qui ne demandent pas l'obligation d'un long travail, dequoy je suis incapable, comme sont les Opuscules de Plutarque et les Epistres de Seneque, qui est la plus belle, partie de ses escrits, et la plus profitable (Essais I I , x, 108).

Soneeas Briefe an Lucilius gelten als das berühmteste Beispiel für den litera­rischen Brief in der römischen Literatur3 . Sie hal ten an der Form persönlicher Briefe fest, sie geben persönliche Ermahnungen an den Freund, doch in Wirk-Hchkcit apostrophieren sie die Öffentlichkeit, die für diese moralphilosophischen Fragen interessiert werden soll. Die Briefform gestat tete es Seneca, System und streng logische Entwicklung außer acht zu lassen, denn für seinen Zweck wäre beides nicht sinnvoll gewesen und hä t te das breite Publikum abgeschreckt. In der gleichen Absicht sind auch Themen, die zusammengehören, auseinander-gerisseu, um auch durch diese Variatio (die später Plinius in erhöhtem Maße anwendet) seine Leser zu ergötzen. So gehören z. B. Nr. 24 u n d 26 wie auch 74 und 7ö offensichtlich im Thema zusammen4 .

Dio innere Struktur der Briefe, die Methode der Darstellung, ist stark von der Diatribe beeinflußt. Die Formelemente der Diatribe t re ten zum großen Teil, wie bereits festgestellt wurde, auch in den sogenannten Dialogen Sénecas auf, und diese Stilmittel der Diatribe, die B I C K E L anführt5 , gelten in gleicher Weise für die Briefe wie für die Dialoge, deren Ähnlichkeit schon an anderer Stelle betont wurde. So zeigen uns diese Briefe in hervorragender Weise, daß

1 BICKEL, 1. c, S. 425. 2 EITSCUL, Op. III, 482 A, zitiert nach Realenzyklop. Artikel „Varro", Sp. 1263. 3 Vgl. KROLL, 1. c, S. 216. 4 Vgl. PETER, 1. c, S. 230. 5 1. c, S. 412.

Der Brief 47

HIII· diese Formen wie Brief, Dialog u n d Diatribe miteinander in Beziehung Htohen, indem sie gemeinsame Züge tragen, die Wesensmerkmale späterer wirklicher Essays sind, vor allem die gefällige und unsystematische Darstellung «ICH Gegenstandes. Es sind jene literarischen Formen, die den inneren assoziativ psychologischen Zusammenhang über den logischen einer Disposition stellen.

Die Mittel, die Seneca hierbei anwendet, sind die gleichen, wie sie unsere Analyse eines Montaigneschen Essays herausgestellt h a t : Ansätze zu dialo-Kincher Gestaltung, Verwendung von Sentenzen und Illustrierung des eigenen Gedankens durch Beispiele.

Dialogische Stilelemente finden sich vor allem in den Einwänden der Dia-Iribe, die mit inquis (im Brief kann man natürlich nicht inquit erwarten) ein­erlei! et sind. E in Beispiel möge für viele stehen: mors ad te venu: timenda erat, .it tecum esse posset; sed necesse est aut non perveniat aut transeat. ,difficileesti

inquis ,animum perducere ad contemptionem animae'. Non vides, quam ex frivolis MUSÍS contemnatur? . . . (Ep. IV, 3f.). Man braucht nur das inquis zu streichen unit vor die einzelnen Sätze die Namen der Gesprächspartner zu setzen, um riñen lebhaften Dialog vor sich zu haben. (Unterstrichen wird die dialogische Wirkung durch die im Brief angewandte 2. Person, hier das non vides in der Kntgegnung Sénecas.) Ähnliche Formeln sind Quid . . . quaeris (Ep. VI I , i) oder quid me existimas dicere? ÍVII, 3) — oder das inquis fehlt ganz, und es wird lediglich eine rhetorische Frage gestellt (Ep. VI I , 9; V, 5). Zwar wurde üben gesagt, daß die Briefform ein inquit nicht erwarten läßt. Daß es trotzdem begegnet (z. B. Ep. 78, 11 ; 92, 11 ; 92, 14), beweist nur um so stärker, wie groß der Einfluß der Diatribe ist, in der das inquit zur bloßen Formel erstarrt war und das so als formelhafte Einleitung für einen dialogischen Einwurf übernommen werden konnte. Noch eine Stelle möge zitiert werden, die ein schönes Beispiel für die dialektische Art des Denkens bei Seneca darstellt. Wie in der Montaigne-nielle, die uns als Ausgangspunkt diente, ist man auch hier versucht, die Ge­dankenfolge in einen Dialog zu transponieren: quid ad te itaque, quam potens nit quem times, cum id, propter quod times, nemo non possit? at si forte in manus hostium incideris, victor te duci iubebit: eo nempe, quo duceris (Ερ.ϊ,τν, 81) . Das heißt :

S E N . : „Was kümmert es dich, wie mächtig der sei, den du fürchtest, da doch jeder dir das, weswegen du ihn fürchtest, zufügen k a n n ? "

LUCILIUS : „Doch sollte ich in die H a n d der Feinde fallen, dann wird mich fier Sieger zum Tode führen lassen."

S K N . : „Also doch nur dorthin, wohin du ja doch einmal geführt werden wirst!1"

1 Vyl- hierzu BICKEL, 1. c , S. 411 : ,,Im übrigen zeigt Sénecas eigenes Wort berief. V. 19, H ut dialogorum altercatione sefosita... resjiondeam ,um zu antworten unter Fortlassen ΙΙΓΗ Wortstreites der Gespräche', daß ihm selber der dialogische Formgehalt seiner Schrift-wtellcrri auch in solchen Werken gegenwärtig war, denen in der Überlieferung der Titel hitthuji fehlt."

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48 Dialogische Formen

Ein solcher Pseudodialog ist kennzeichnend für den, der es gewohnt ist, auftauchende Probleme im Gespräch zu erörtern und die Technik der Kon­versation auch auf die Form der monologischen Abhandlung zu übertragen. Zeichnet nicht eine hohe gesellschaftliche Kultur, die für solche Naturen Vor­aussetzung ist, in gleicher Weise die römische Kaiserzeit wie die französische Renaissance aus?

Die Sentenz nimmt in den Briefen an Lucilius eine dominierende Stellung ein. Deutlich kommt dies zum Ausdruck durch den besonders markanten Platz, den er oft einer Sentenz zuweist; nicht wenige Briefe schließen, indem er den Inhalt des Briefes durch eine Sentenz, die als Zitat gebracht und als Lesefrucht des Tages getarnt wird, akzentuiert : sed ut huius quoque diei lucellum tecum communicem, apud Hecatonem nostrum inverti cupiditatium finem etiam ad timoris remedia proficere. /lésines1, inquit ,timere, si sperare desieris' (Ep. V, 7; vgl. auch Ep. VII, 10 u. a. m.). Er betont auch selbst die Wichtigkeit und den Vorteil der Sentenzen: praeterea ipsa, quae praeeipiuntur, per se aut carmini intexta sunt aut prosa oratione in sententiam coartata, sicut. . , (es folgen Bei­spiele) . . . advocatum ista non quaerunt (Ep. 94, 27; vgl. auch Ep. 108, 8f.). •— Aber nicht nur die Sentenz, die ein anderer erdacht hat, wird von ihm ge­schätzt; sein Stil ist überhaupt ein Sentenzenstil, d. h. die Ergebnisse seines Denkens werden in allgemeingültigen, treffenden, kurzen Sätzen zusammen­gefaßt. Ein schönes Beispiel bildet die Reihe von Sentenzen in Ep. II , 2f.; wo ein Gedanke, nämlich die Mahnung, sich einige wenige Schriftsteller als Führer zu suchen und nicht überall und nirgends gründlich zu lesen, in verschiedenen Sentenzen abgewandelt wird: nusquam est, qui ubique est. viiam in peregri-natione exigentibus hoc evenit, ut multa hospitia habeant, nullas amicitias. . . nihil aeque sanitatem impedit quam remediorum crebra mutatio usw. — Häufig führt diese Methode zu einer fast unerträglichen Häufung von Sentenzen. Dieses Nebeneinandersetzen von Sentenzen oder Aphorismen bedingt eine gewisse Zusammenhanglosigkeit, so daß man in dem „moralisierenden Essayis­mus" Sénecas „mit der Lektüre anfangen kann, wo man will und doch in dem Zusammenhang ist1". Dann lesen wir nicht mehr den meditierenden und philosophierenden Seneca, sondern wir sehen ihn in großer Gesellschaft, wie er allzu selbstgefällig durch Pointen glänzen will und zufrieden die Wirkung auf die staunenden Zuhörer beobachtet. Denn wir dürfen nicht vergessen, daß er in den Rhetorenschulen groß geworden ist — und durch sein rhetorisches Pathos erreicht er oft, „daß wir nur zu häufig das Gefühl haben, als wenn er zufriedener ist, wenn wir ein geistreiches Aperçu beklatschen, als dem der umgebundenen Phrase entkleideten Gedanken wegen seines inneren Gehaltes folgen2". Wir müssen dieses Brillierenwollen seiner Erziehung und seiner nicht zu verkennenden persönlichen Eitelkeit zugute halten. Daß auch Montaigne eine gewisse Koketterie nicht fremd ist, wurde schon angedeutet, und bei ihm wie bei Seneca dürfte das Element der Konversation in der Gesellschaft hierfür mitverantwortlich sein.

1 BICKBL, 1. c, S. 187. 2 NORDEN, i. c, S. 307.

Der Brief 49

Auch das Exempel fehlt nicht in den moralischen Briefen. Es hat, ähnlieh wie die Sentenz, eine doppelte Funktion: die Mahnung stärker einzuprägen und die Form der Mahnung aufzulockern (vgl. VI, 6; VII, 0; IX, 18; X, 1 usf.).

Die Ähnlichkeit mit Montaigne in der geschilderten Anwendung der Stil­mittel findet ihr Pendant in der Gedankenführung, oder beesor: in dem Sich-treibenlassen durch Analogie und Stichworte. Die Ep, 115 beginnt mit der Ermahnung, dem Stil nicht zu großen Wert beizumessen, sondern don Akzent auf den Inhalt zu legen. Aber der Stil ist Ausdruck des CharakterH und der Seele. Diese Beobachtung führt Seneca nun dazu, die Seele des tugendhaften Mannes zu schildern und ihr ein großes Loblied zu singen. Jedoch ist (lioae tugendhafte Seele oft unter Niedrigkeit und Armut verborgen, die Bosheit hingegen unter Reichtum versteckt. So achten und schätzen wir oft das Min­derwertige und denken nicht an das „Dahinter". Wir lassen uns tauschen durch Marmorwände und Goldtäfelung. Denn das Geld und das Gold haben uns den wahren Wert der Dinge verkennen gelehrt. Schon unsere Eltern machten uns zu Bewunderern des Goldes . . . usw. Man ist geradezu versucht, die Stichworte herauszulesen, die das Sprungbrett zum nächsten Gedanken und zum nächsten Stichwort abgeben: Stil, Seele, Tugend, Verkennung des wahren Wertes, Gold usw. Übrigens führt uns der Schluß der Epistel wieder an den Ausgangspunkt zurück: Der Reichtum bringt nur Sorgen — Glück (felicitatem) bringt nur die Philosophie ; ad hanc tarn solidam felicitatem, quam tempestas nulla coneuiiat, non perducent te apte verba contexta et oratio fluens leniter . . . (Ep. 115, 8). Damit ist der Ring geschlossen, mit einer eleganten Wendung ist er wieder bei dem Gedanken, mit dem er den Brief be­gonnen hat. Diese summarische Inhaltsangabe wollte nur andeuten, daß das Sich-treiben-lassen durch Assoziationen das gleiche ist wie bei Montaigne, der sich seiner Methode (wenn man hier überhaupt von Methode sprechen darf!) wohl bewußt war: Je n'ay point d'autre sergent de bande à ranger mes pieces que la fortune. A mesme que mes resveries se présentent, je les entasse; tantost elles se pressent en foule, tantost elles se traînent à la file. Je veux qu'on voye mon pas naturel et ordinaire, ainsi détraqué qu'il est. Je me laisse aller comme je me trouve . . ." (II, x, 102).

Bei Montaigne steht neben dem Sich-treiben-lassen die Einsicht in die Wandelbarkeit der eigenen Ansichten und Meinungen, die Überzeugung von der Relativität jeder menschlichen Erkenntnis. Auch bei Seneca findet sich — wenn auch nicht so ausgeprägt — eine ganz ähnliche Haltung. Auch Seneca revidiert seine Meinungen oder plädiert für beide Parteien, ob unbewußt oder „par essai", bleibe dahingestellt; und die Einsicht in die Veränderlichkeit menschlichen Urteils ist auch ihm gegeben: Fluctuamur inter varia consilia (Ep. 52, 1). Er war wie Montaigne ein großer Leser, der von seiner Lektüre beeindruckt wird und sich mit ihr auseinandersetzt1.

Noch ein kurzes Wort über die Sprache. Auch hier wieder eine frappierende Analogie in der Forderung nach Einfachheit und Natürlichkeit, die gleieher-

1 Vgl. OLTKAMARE, 1. c, p. 253.

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50 Dialogische Formen

maßen von Seneca und Montaigne erhoben wird. Wir sind uns dabei bewußt, daß diese Forderung Sénecas nicht allzu ernst genommen werden darf, da sie zuviel Ähnlichkeit mi t dem in den Rhetorenschulen gelehrten Topos von der Bescheidenheit ha t und der Widerspruch zu seinem brillierenden Sentenzenstil zu offensichtlich ist. Seneca sagt: adice nunc, quod quae veriiati operam dat oratio, incomposita esse debet et simplex (Ep. 40, 4; von Montaigne zitiert in I, xxvi) . . . haec sit -propositi nostri summa: quod sentimus loquamur, quod loquifmir sentiamus: coneordet scrmo cum vita {Ep. 75, 4). Und die entsprechen­den Worte Montaignes: Le parler que fayme, c'est un parler simple et naif, tel sur le papier qu'à la bouche, un parler . . . esloingné d'affectation, desreglé, des­cousu et hardy (I, xxvi , 222).

Montaigne hat te sich aus dem politischen Leben in sein Bibliothekszimmer zurückgezogen, als er seine Gedanken niederzuschreiben begann, als er seine Selbstbeobachtungen aufzeichnete, um sich selbst und durch sich den Menschen überhaupt kennenzulernen.

Auch ein Teil der philosophischen Schriften Sénecas ist in der Einsamkeit entstanden, nachdem er im J a h r e 62 den kaiserlichen Hof verlassen ha t te . Hier schrieb er „Von der Muße", „Vom glückseligen Leben", und auch die moralischen Briefe an Lucilius entstanden in der Muße dieser stillen Tage. „Ich habe mich verborgen und meine Tür verschlossen, damit ich Vielen nützlich sein kann . . . Nicht nur von den Menschen habe ich mich zurück­gezogen, sondern auch von den Dingen, besonders von meinen eigenen. Nun arbeite ich für die Nachwelt. Für sie schreibe ich einiges nieder, was ihr viel­leicht von Nutzen sein kann. Heilsame Ermahnungen, ähnlich den Mixturen nützlicher Medikamente, vertraue ich dem Papier an. An meinen eigenen Krankheiten habe ich erfahren, daß sie wirksam sind; wenn meine Krank­heiten auch nicht ganz geheilt wurden, so greifen sie doch nicht weiter um sich. Müde vom Umherirren habe ich spät den rechten Weg erkannt; ihn zeige ich anderen . . ." {Ep. 8, 1).

Wenn wir im Anschluß an Seneca noch die berühmte Briefsammlung des jüngeren Plinius erwähnen, so t un wir dies nicht, weil etwa die Briefe des Plinius eine Steigerung in der Reihe der essay-ähnlichen Formen innerhalb der Briefgattung darstellen. Sie sind uns vielmehr ein Zeugnis für die weiter oben angedeutete Entwicklung des Briefes in Richtung auf eine bloße rheto­rische Übung. Der Adressat wird nun völlig gleichgültig für die Themenwahl. Plinius h a t nicht mehr ihn, sondern sein ganzes Lesepublikum vor Augen, vor dem er sein Wissen und sein Können ausbreitet. ,,Du schreibst, daß Du baus t " — diese Anknüpfung ist ihm Rechtfertigung genug, dem Leser Beschreibungen seiner Landhäuser vorzusetzen (IX, 7).

Sicherlich, es gibt einzelne Elemente, die auch Stilmittel des Essays sind und die Plinius — vielleicht allzu bewußt und berechnend — anwendet. P E T B B ha t auch die Briefe des Plinius mit Essays verglichen1. So z. B. liegt es ihm

1 S. 117.

Der Brief 51

fern, einen Gegenstand erschöpfend zu behandeln (und er wählte wohl deshalb die Briefform), oder er verwendet häufig, um Abwechslung zu bieten, alle Möglichkeiten der Exkurse {egressus, die von Quintilian I X , 3, 12 in vier Klassen eingeteilt werden: laus hominum locorumque, descriptio regionum, expositio quarundarum rerum gestarum, laetitia fabularum1 und für die man bei Plinius reichlich Beispiele finden kann) . Man könnte vielleicht I, 20 als einen Essay „über die Vorzüge einer langen gegenüber einer kurzen Rede" bezeichnen oder V, 5 als einen biographischen Essay über C. Fannius. Doch immer h a t man beim Lesen das Gefühl des Gekünstelten und Gewollten. Sehr viel spricht er von sich selbst, so viel, daß man den Eindruck gewinnt, er habe die Briefform nur gewählt, um von sich sprechen zu können. Soviel Eigenlob. Ruhmsucht und fishing for compliments ist kaum zu überbieten. Die Be­sehreibung seines laurentinischen Landhauses (Brief an Gallus, I I , 17) ist eine Art Muster-Beschreibung; er will zeigen, wie glänzend er auch dieses Genre beherrscht! Es sind keine wirklichen Briefe mehr, sondern „Stilübungen in einer gehobenen Prosa, die nicht einzeln, sondern in ihrer geschickten Zusam­menstellung zu Büchern auf das Publikum wirken soll ten2". Diese Zusammen­stellung, die Anordnung der Briefe ist geleitet von dem Erfordernis der Delec-tat io — der Leser soll nicht durch zu lange Ausdehnung eines Themas ermüdet werden, sein Geist soll wie ein Schmetterling von einer Blüte zur andern flattern. So ist z. B. eine Themenreihe mit fast regelmäßigen Einschiebseln im V. Buch festzustellen: mit Werken der Literatur bzw. mit Schriftstellern beschäftigen sich V, 3, 5, 8, 10, 12, 15, 17 usw.

Wenn Bickel die Briefe des Plinius und des Fronto als „schöngeistige Essays in Briefform3" bezeichnet, dann kann „Essay" nur in seiner weitesten Be­deutung (die sich dann auf sehr viele literarische Erzeugnisse anwenden läßt) gemeint sein ; denn aueh die Briefe Frontos (der nächste nach Plinius erhaltene Briefwechsel) liegen in der gleichen Entwicklungslinie, die den Übergang zur bloßen rhetorischen Schulübung kennzeichnet.

Eine neue Blütezeit des Briefes bricht mit der Renaissance an. Briefe, die ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit best immt waren u n d die nur dem Gedankenaustausch zweier gedient hat ten, wurden veröffentlicht; man sam­melte die Briefe berühmter Männer, man fing ihre Briefe ab, um sie zu lesen und sich an ihnen zu begeistern, noch ehe der Empfänger sie in die Hände bekam. „Ein hübscher lateinischer Brief war ein Kleinod, um das man sich beneidete4 ." Denn nicht nur der glänzende Stil dieser Humanistenbriefe, auch ihr Inhal t interessierten nicht bloß Schreiber und Empfänger. Der Brief war die geläufige philosophische und wissenschaftliche Mitteilungsform geworden und kann unter diesem Gesichtspunkt den Vergleich mit modernen Zeitschrif­tenveröffentlichungen aushalten5 . Welchen Wert man auf die Form und den Stil der Briefe legte, geht vor allem aus den Trakta ten hervor, die man über die Kunst des Briefsehreibens verfaßte; so schrieb Erasmus seine Broschüre

1 Zitiert nach PETER, 1. c , S. 113. 2 ΚΒΟΙΛ, 1. c , S. 238. 3 S. 380.

4 HTJIZINGA, Erasmus, S. 117. 5 Vgl. HÜIZINGA, Erasmus, S. 117.

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52 Dialogische Formen

De conscribendis epistolis (erschienen 1522), und in einem Florilegium und Stilhandbuch des Albertus de Eybx finden wir neben einigen Seiten klassischer Briefschlüsse nicht weniger als 114 Anreden aller Schattierungen für alle Ge­legenheiten.

Uns interessieren an dieser Stelle nicht die Briefe, in denen dieses formale Element die Hauptsache ist, wo etwa mit ciceronianischen Floskeln dem Fürsten und Geldgeber Schmeicheleien gesagt werden, für die doch jeder warme und aufrichtige Ton fehlt, sondern die Briefe der Männer, denen das Latein eine lebendige Sprache geworden war ; denn dort erst, wo die Sprache von aller Pedanterie befreit ist, können wir eine persönliche Gestaltung der Materie und den Ausdruck eigener Gedanken und Empfindungen suchen.

PETRARCAS Haltung hat mit der eines Erasmus und eines Montaigne große Ähnlichkeit. (Vgl. S. 89.) Das Ablehnen objektiver Bindungen, die Scheu vor einem entschiedenen Ja oder Nein mit dem Ziel, die Freiheit der eigenen Persönlichkeit zu wahren, sind Charaktereigentümlichkeiten Petrarcas, Eras­mus' und Montaignes. Auch das abgeschlossene Leben in der Vaucluse hat hier seine Begründung und nicht etwa in einem mittelalterlichen Weltflucht­ideal2.

Ein großes Beispiel für das subjektive Erlebnis, das den Mitmenschen und der Nachwelt mitgeteilt wird, sind uns Petrarcas Briefe ; sicherlich, auch die meisten seiner Briefe waren ursprünglich nur für den Adressaten bestimmt, aber Petrarca selbst hat die Briefe sorgfältig gesammelt, in einzelne Gruppen ge­ordnet und damit auch der Mit- und Nachwelt überantwortet. — Und wenn er in diese Sammlung Briefe an verstorbene große Männer aufnimmt, ζ. Β. an Seneca3 oder an Titus Livius4, dann gibt er schon durch die gewählte Brief­form zu erkennen, daß er hier nicht irgendwelche Forschungen und objektive Erkenntnisse veröffentlichen will, sondern seine persönlichen Gedanken, sein eigenes Verhältnis zu Seneca und Livius wird zürn. Thema der Briefe gemacht. Sehr oft sind seine Briefe Selbstgespräche; er spricht von seinen frohen und düsteren Stimmungen, von seinem Talent, von seinen Arbeiten und Sorgen, ohne sich viel um den Adressaten und dessen Persönlichkeit zu kümmern. Sein geliebtes Ich ist immer wieder das Thema, in seinen Dialogen über die Weltverachtung, in seinem „Brief an die Nachwelt" wie in seinen Briefen an die Freunde.

Beispielhaft ist der berühmte Brief über die Besteigung des Mont Ventoux5. Der Brief ist zunächst ein Reisebericht, der sich mit den Schwierigkeiten und den Reizen des Unternehmens befaßt. Aber dieses Tagebuch der äußerlichen Begebenheiten wird dann zum Tagebuch der eigenen Gedanken und Empfin­dungen, zur Aufzeichnung eines Selbstgesprächs : Occupavit inde animum nova cogitatio atqtte a locis traduxit ad témpora. Dicebam enim ad me ipsum: ,Hodie decimus annus completur, ex quo, puerilibus studiis dimissis, Bononia excessisti;

1 ALBEBTTTS DE E Y B , Margarita poética. Argentinae 1503 (1. Ausg. 1472). 3 Vgl. W. RÜBGG, Cicero und der Humanismus. Zürich 1946, S. 37. 3 Farn. XXIV, 5. l Farn. XXIV, 8. 5 Farn. IV, 1.

Der Brief 53

et, o Deus immortalis, o immutabilis Sapientia, quot et quantas morum tuorum mutationes hoc medium tempus vidit1 Y Das Erlebnis des äußerlichen Geschehens wird nur noch ein Medium für die Gedanken und das Selbstgespräch Petrarcas ; es tritt ganz in den Hintergrund und wird nur noch im Unterbewußtsein erlebt : Bos inter undosi pectoris motus, sine sensu scrupulosi tramitis, ad ülud hospitiolum rusticum . . . remeavi2.

Sei es, daß er de Tkile insula famosissima sed incerta die verschiedenen Meinungen sorgsam gegeneinander abwägt, sei es, daß er an Laelius de perti­nacia spei humanae schreibt und eine lange Kette von Vergleichen und Bei­spielen aus der Natur und der Geschichte anführt oder de Cicerone atque eius operibus plaudert, immer haben wir den Eindruck, daß hier nicht bloß totes Material zusammengetragen und aneinandergereiht ist, sondern daß dieses Material von einer starken Persönlichkeit frei und überlegen gestaltet wird3. Dies ist es auch, was Montaigne von den Kompilatoren unterscheidet: der Stoff, den Geschichte und Erfahrung lieferten, steht nicht mehr um seiner selbst willen, sondern ist den Gedanken Montaignes dienstbar gemacht. Von der ganzen Briefsammlung der Familiari aber, die genau wie Montaignes Essais die verschiedensten Formen und Inhalte aufweist, schreibt Petrarca Worte, die mit der gleichen Berechtigung am Schluß der Essais stehen könnten : „Ein Buch aus meinen Tändeleien zusammengewoben, sehr ungleich an Inhalt und Stil. Nicht mit Unrecht werden verwöhnte Ohren sich beleidigt fühlen. Allerdings wird ja vielleicht manch einem, dem der Inhalt als solcher nicht gefällt, gerade die Vielfältigkeit Wohlgefallen. Denn der Geist der Sterblichen ist ja unstet und unbeständig" {ondoyant et divers, sagt Montaigne) „und jedem steht es frei, zu wollen, was ihm beliebt4."

Ein Teil von dem, was wir von Petrarca gesagt haben, gilt in gleichem Maße für die andere überragende Gestalt des Humanismus, für ERASMUS. Auch hier die absolute Beherrschung der Sprache, die das amüsante Plaudern wie die Prägnanz des Ausdrucks erst ermöglicht. Auch hier die Einflechtung der eigenen Person — man denke nur an die vielen Briefe, in denen er frische Reiseberichte bringt oder von seinen wirtschaftlichen Sorgen, von seinen Arbeiten und Plänen schreibt. Deshalb hat auch die große Ausgabe seiner Briefe von ALLEN5

das Bild des Erasmus um viele Züge und Nuancen bereichert. Wir können es uns nicht versagen, ein längeres Beispiel für seinen Stil, für seine geistvolle Plauderei und die immer wieder neue Beleuchtung desselben Themas zu geben:

Puer meus tuo iussu tuisque verbis formidolosum me appellauit, quod ob nescio cuius pestilentiolae metum solum verterim. Non ferendum conuicium, siquidem

1 Zitiert nach der Ausgabe von Vittorio Rossi: Francesco Petrarea, Le Familiari. Firenze 1933 ff. (Bd. I, S. 157). 2 PETRARCA, Farn. I, S. 160.

3 Vgl. auch die Analyse eines Briefes von Petrarca bei RXTEGG, 1. c , S. 56ff. 4 Zitiert nach der Auswahl der Briefe von NACHOD U. STERN, Berlin 1931, S. 237. Es

handelt sich um den letzten Brief des 24. Buches der Familiari. 5 Opus Epistolarum Des. Erasmi Boterodami. Denuo recognitum et auctum per P. S.

A L L E N . Oxonii 1906ff.

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54 Dialogische Formen

in militent Eluetium dicatur; at in hominem poeMcum ocii vmbraeque amantem neutiquam haeret. Quanquam huiusm,odi in rebus nihil formidare equidem non strennui hominis, sed slipitis esse dum. Vbi eo cum hoste res est qui propulsari, qui referiri, qui vinci contra pugnando potest¡ ibi qui fortis videri cupit, per m.e Ucebit, Lemea ilia Hydra, extremus durissimusque laborum IJerculis, ferro qut-dem domari non potuit, at Graeco tarnen igni confiai potuit. Huic malo quid tan­dem factes, quod nee cerní queat nee vinci? Quaedam melius fugiuntur quam superantur. Vir fortis Aeneas non congressus est cum Syrenibus sed longe a periculoso littore proram deflexü. At nihil est, inguies, periculi. At ego interim cura periculum mullos interire vídeo. Vulpem imitor Horatianam,

Quia me vestigia terrent Pier a que. te aduersum spectantia, pauea retrorsum.

In hac ego rert/m facie non Aureliam modo, sed etiam ad Gades illas hercú­leas, vel ad Arcliadtim extremarum extremam vsque non dubitarim auolare . . A

In dieser Krwkierung an Faustus Andrelinus, die in ihrem lustigen Witz geradezu kennzeichnend ist für den geistvollen Plauderer Erasmus, haben wir gleich eine Musi crkarte von verschiedenen literarischen Elementen auf kleinem Raum beisammen: geschickt eingewobene Beispiele, den Einwand des Gegners {At nihil est, inquias, periculi) und das klassische Zitat. Trotzdem wird niemand sagen können, es sei eine Zurschaustellung seiner klassischen Bildung, ein Prahlen mit seiner großen Belesenheit, — bei Tertullian wurden wir diesen Verdacht nicht ios und bei Guevara ist er sicherlich begründet — das über­nommene Material ist vielmehr so fest in den Gedankengang eingebettet und mit ihm verwachsen, daß es nicht mehr aufdringlich und unabhängig hervor­treten kann. Voraussetzung hierfür ist die vollendete Kenntnis der Antike, um jeweils das treffendste Beispiel einsetzen zu können, — und mit dieser souveränen Kenntnis der Antike auch die Unabhängigkeit und Selbständig­keit des eigenen Geistes. Dieser Individualismus spricht auch aus dem Brief 116 (lîd. I, S. 268): Erasmus schreibt an Johann Sixtin von einem Gastmahl, bei dem sich ein theologischer Disput entspinnt, der schließlich bedrohliche Formen annimmt, so daß Erasmus die Gemüter durch eine reizende Fabel, die er angeblich in einem Kodex, dessen Autorcnnamc und Titel das Alter und die Motten vertilgt hat ten, gelesen ha t . Es ist eine launige Nacherzählung der Geschichte von Kain und Abel, — zweifellos die freieste, ja frivolste Para­phrase der Bibel, die Erasmus je geschrieben hat . Als Beispiel sei hier nur an eine Steile erinnert : Ka in will guten Samen aus dem Paradies (genannt viri-darium) stehlen und versucht den Wachengel am Eingangstor zu bereden und aufzuhetzen : Gott messe dieser Angelegenheit keine große Bedeutung mehr bei; und ob er, der Engel sich in seiner Holle denn gefalle, die Gott ihm zu­gedacht hat? Ex angelo carnificem te fecit, ut miseros nos et perditos crudelis arceres a patria. Zu derartigen Diensten hä t ten sic, die Menschen, sieh längst Hunde herangebildet!

1 ERASMUS (ALLEN), Epistolae, Bd. I, S. 311f. (Brief vom 20. Nov. 1500 an Faustus Andrelinus).

Der Brief 55

Solehe Worte setzen eine erstaunliche Selbständigkeit gegenüber Bibel und Dogma voraus. Es ist eine Erzählung, die die Gesellschaft und angeregte Kon­versation hervorgebracht h a t : Hohes fabulant, Sixtinc, inter pocula dietam atque inibi inter pocula natam, atque adeo ex ipsis, si übet, poculis, quam volui ad te perscribere1.

Ein Beispiel, das für viele dieser Art angeführt wurde, ha t schon oben auf eine cssayartige Form seiner Briefe aufmerksam gemacht: es war die auf­gelockerte Behandlung eines Themas, das durch Exempel und Zitat nuanciert und abgewandelt wurde. Erwähnt sei an dieser Stelle noch der Brief 1800 (Bd. VI, S. 483ff.), dessen Mittelstück schon von A L L E S als Essay bezeichnet worden ist2.

Bei Erasmus ist es, wie wir sahen, der ungezwungene Stil der Konversation, die von jeder aufdringlichen Erudit ion freie Betrachtung des Gegenstandes, die uns in seinen Briefen essayistische Formen erkennen läßt, bei GUISVARA, von dem noch kurz gesprochen werden soll, die Art der Kompilation, die uns an die Methode der Essais von Montaigne, wenigstens an die der ersten Periode, erinnert. Guevara, ,,der Meister der höfischen Rhetorik ' ' , wie ihn P F A N D ] , nennt3 , war Bischof von Guadix und von Mondoñedo, in erster Linie aber Hof­prediger und Hofhistoriograph Karls V., und so ist auch die Eitelkeit des Höf­lings in stärkerem Maße Kennzeichen seiner Schriften als Aufrichtigkeit und historische Zuverlässigkeit. Wenn wir dem Bischof Guevara Glauben schenken sollen, so wurden seine Briefe ihm gestohlen und veröffentlicht, aber der Höf­ling Guevara kann es sich nicht versagen, darauf hinzuweisen, in welch guter Gesellschaft er sich mit diesem Ereignis befinde ; denn ebenso sei es dem Divin Piaton, Phalaris le Tyran, Seneque Espagnol et Cicerón le Romain ergangen und der pathetische Schwur et si confesse à Dieu qu'oneques n'escrivy lettre en inten­tion qu'elle deusse estre imprimée11 verliert an Wert, wenn man an den Schwin­del denkt, den er 10 J a h r e vorher mit Mark-Aurel getrieben hat te 5 . Die erste Ausgabe seiner Epístolas familiares erschien 1539, die französische Übersetzung, die wir hier zitieren8 und die auch Montaigne gelesen hat , erstmalig 1556.

Nur ein Teil der Briefe, die in der Sammlung enthalten sind, war tatsächlich an Freunde und Bekannte geschrieben, der andere und größere Teil jedoch ist fingiert. Die durchschnittliche Länge der Briefe beträgt etwa 3 Seiten; einige Themen, die auch in anderen Kompilationen des 16. Jahrhunder ts immer wiederkehren, z. B. seine Abhandlungen Über die Medizin und über die Pflich-

1 Bd. 1, S. 270f. 2 Vorbemerkung von ALLEN, S. 483: ,,. . . the central portion, which is in the nature of

an essay on Chrysostom . . ." 3 L. PFÄNDE, Spanische lÀteratur geschickte, Berlin und Leipzig 1923, Bd. I, S. 90. 4 Vorrede Guevaras an den Leser. 0 Libro áureo de Marc Aurelio (1528 u. 1529); es enthält eine Biographie und Briefe

Marc Aurcls, die aber Guevara selbst verfaßt hat; jedoch gab er vor, sie nach einem alten Text herauszugeben, was man auch einige Zeit lang glaubte.

6 ANTOINE DE GCEVARE, Epistres Dorées Moralles et Familières. Trad. d'Espagnol en Françoys par le Seigneur de Guterry. Lyon ]558.

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58 Dialogische Formen

Noch ein Wort über Montaignes Stellung zum Brief. Er selbst hat sich mit dem Gedanken getragen, seinen Schriften die Briefform zu geben. Sur ce sub­ject de lettres, je veux dire ce mot, que c'est un ouvrage auquel mes amys tiennent que je puis quelque chose. Et eusse prins flus volontiers cette forme a publier mes verves, si j'eusse eu a qui parler. Il me fàloit, comme je l'ai eu autrefois, un certein commerce qui m'attirast, qui me soustint et souslevat. Gar de negotier au vent, corne d'autres, je ne saurois que de songes, ny forger des vains noms à entretenir en chose sérieuse, ennemi juré de toute falsification (I, XL, 327). (Vielleicht kann man aus den letzten Zeilen- wiederum seine Polemik gegen Guevara heraus­lesen.) Einzelne seiner Kapitel tragen auch in der Tat eine "Widmung, das Kapitel II, vm {De l'affection des peres aux enfans) beginnt sogar mit der Anrede „Madame . . .". Aber daß er den Gedanken, Briefe zu sehreiben, fallen ließ, brauchen wir wohl kaum zu bedauern. Denn die Briefform hätte seinen hierhin und dorthin abschweifenden Gedanken Schranken auferlegt; schon allein die Person des Adressaten würde seinem Geiste Grenzen vorgezeichnet haben, denn an irgendwen zu schreiben, widerstrebte ihm, vor allem, nachdem sein Freund La Boétie gestorben war, auf den die oben zitierten Worte zweifel­los hindeuten (Il me falloit, comme je Vay eu autrefois, un certain commerce qui m'attirant.. .).

Das Kennzeichen der späten Essays, das Parler indifféremment de tout ce qui se presente à ma fantasie (I, xxvi, 188) wäre kaum an seinen Epistres fest­zustellen. Ein Essay wie Du repentir ist als Brief kaum vorstellbar.

Biographie und Autobiographie „Or ceux qui escriventlesvies, d'autant qu'ils s'amusent plus aux conseils qu'aux evenemens, plus à ce qui part du dedans qu'à ce qui arrive, au dehors, ceux là me sont plus propres."

(MONTAIGNE, Essaie, II , x, 113.)

Eins der auffallendsten Merkmale, das sich schon beim flüchtigen Überlesen eines Montaigneschen Essays förmlich aufdrängt, ist das der Selbstanalyse und gelegentlich auch das der Selbstbespiegelung. Doch so stark dieses Element auch ist, es wirkt nie systematisch oder methodisch : Montaigne schreibt trotz aller persönlichen Bekenntnisse keine Autobiographie. Wollte man alle Stellen, in denen Montaigne über sich selbst spricht, sammeln und zusammenstellen, so erhielte man immer noch keine Biographie, sondern bestenfalls Montaneana. Und wenn Montaigne auch gelegentlich wenig Schmeichelhaftes von sich be­richtet, so ist diese Art Beichte bei ihm doch nicht aufzufassen im Sinne der Augustinischen Gonfessiones (die er kaum gekannt haben dürfte), sondern in manchen Fällen sogar nur als ein Kokettieren mit den eigenen Fehlern, das dem Leser durch das „ich bin auch nicht besser als du" schmeichelt. (In dieser Richtung zielt beispielsweise die Bemerkung über sein schlechtes Gedächtnis, die sich durch die ungeheure Zahl von Reminiszenzen in seinen Essais wider­legen läßt.)

Trotzdem ist dieses autobiographische Element bei Montaigne nicht zu unter­schätzen, wenn es hier auch weniger leicht ist als anderswo, die genauen Ein­flüsse etwaiger Vorgänger festzustellen. Auf diese Schwierigkeit hat bereits VILLEY hingewiesen: A vrai dire, je n'ai pas rencontré dans les Essais la trace matérielle de cette ample littérature biographique moderne1.

Welche Bedeutung auf diesem Gebiet vor allem PLTJTAJJCH durch die Ver­mittlung Amyots auf Montaigne hatte, wurde von Villey bereits nachgewie­sen: Les essais 38, 41, 44, 45 et 47 du premier livre sont inspirés directement par les Vies; le quarante-sixième et le quarante-huitième portent les marques d'une lecture toute fraîche*. Dabei grenzt Villey die Einflußsphäre der Viten gegen die der Moralia scharf ab: Et ici, si Von veut établir une distinction, il semble bien que les Vies ont plus contribué à lui donner le sens de la complexité psycho­logique et l'intelligence souple du coeur humain, tandis que les Opuscules auraient eu pour leur part surtout de détacher son imagination des grands principes stoïciens et de Vorienter vers une morale plus familière et plus pratique. De concert, Vies et Opuscules vont modifier profondément la forme de l'essai3.

Ein kurzer Vergleich zwischen der Methode Plutarchs in den Viten und der in entsprechenden Montaigneschen Essays zeigt diesen Einfluß unverkennbar. Plutarch gibt uns in Nicias selbst einen Einblick in seine Methode: Parquoi

1 VILLEY II, S. 129. a ibid., S. 103. 3 ibid., S. 102.

S c h o n , Vorformen 5

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62 Biographie und Autobiographie

schiedenen Haltung bei der Absicht wirken doch die beiden Porträts in ihrer liebevollen Kleinmalerei sehr ähnlich.

Bei dem Überblick über die autobiographischen Werke fallt besonders noch CABDANO auf (1501—1576), der ähnlich wie Montaigne sich selbst betrachtet1: er sieht wie Montaigne seine Fehler ein, konstatiert sie ruhig, aber ohne eine moralische Empfindung oder gar Reue zu verspüren. Während aber Montaigne gelegentlich über sich selbst lächelt, registriert Cardano nur ; es ist eben nicht umsonst das Werk eines Naturforschers. Auch bei Cardano findet sich ein Selbstporträt wie bei Montaigne (Caput ΠΙ) . Diese Porträts stimmen bis auf kleine Einzelheiten überein, nur hat Cardano mehr Wert auf die anatomischen Eigentümlichkeiten gelegt. So hat also Montaigne mit Cardano die leiden­schaftslose Beobachtung gemeinsam, unterscheidet sich aber von ihm durch die weniger streng wissenschaftliche Art.

1 HlBRONVMüa CARDANÜS MEDIOLANENSIS, De 'propria vita. %>· ed. Ametelaedami 1654. Ob Montaigne das Werk gekannt hat , ist nicht mit Sicherheit festzustellen.

Die Kompilationsliteratur

Exempel und Exempelsammlungen

„Mais venons aux exemples, qui sont proprement du gibier des gens foibles de, reins, comme moy . . . "

{MONTAIGNE, Eesaia, I, xiv, 69.)

Der auf den ersten Blick überraschende Reichtum an Fabeln, Anekdoten, Gleichnissen und Histörchen aller Art, die sich aus den Montaigneschen Esaais herauskristallisieren lassen, ist ein Formelement, das schon in der Antike sehr gepflegt wurde. Dies geht allein schon daraus hervor, daß z. B. das Griechische eine stattliche Anzahl von Spezialfonnen des Exemplums entwickelt und mit verschiedenen Namen belegt hat, wie Apophthegma, Apomnemoneuma, Chreia u. a. So verschieden diese Sonderformen auch erscheinen mögen, (das Apo­phthegma z, B. ist eine kurze ernste oder witzige Streitrede, die von einer entsprechenden Tat begleitet sein kann1, die Chrie dagegen berichtet einen von einer bestimmten Persönlichkeit im Anschluß an eine kurz angedeutete Situation getanen, durch eine frappante Wahrheit wirkungsvollen Ausspruch oder eine im Anschluß an die Situation nicht mißzuverstehende Handlung2), gemeinsam ist ihnen allen der Exempelcharakter. Der Strom dieser eigenartigen Literatur fließt weiter in den großen Sammlungen der römischen Kaberzeit, in den kirchlichen Beispielsammhmgen für Predigtzwecke im Mittelalter und schwillt von neuem an mit der Flut der Kompilationsliteratur während der Renaissance. Apophthegmen, Chrien, res memoria dignae, Facetien, histo­rische Anekdoten, Witzworte, sensationelle Ereignisse, merkwürdige Begeben­heiten, Sitten und Gebräuche fremder Länder, Wahres und Erdichtetes, —- in Form und Inhalt disparate Elemente sind hier zusammengetragen: für den Fakten- und Raritätenhunger der Renaissance eine unausschopfliche Fund­grube. Man begann, die einzelnen Exempla zu kommentieren (Ansätze waren schon in antiken Exempelsammlungen vorhanden); es war verhältnismäßig leicht, durch Kommentar und verbindende Worte interessante kleine Abhand­lungen zu schreiben ; denn die meisten Sammlungen waren ohnehin nach Sach­gebieten geordnet : Hier liegen die Anfänge der Montaigneschen Essais.

Aber nicht nur dieser handwerkliche Gesichtspunkt, nicht nur diese äußere Entwicklung ist es, die die Exempelsammlungen für unser Thema bedeutungs­voll werden läßt. Der Geist, den diese Exempelsammlungen atmen, ist dem der Essais verwandt. Das Anfügen von Beispiel an Beispiel, das die Tendenz zum Nicht-mehr-aufhören-können in sich schließt, das Gegenüberstellen verschie-

1 Vgl. W. GEMOLL, Das Apophthegma, Wien—Leipzig 1924, S. 5. a Vgl. G. VON WAKTESSLEBEN, Begriff der griechischen Chreia und Beiträge zur Ge­

schichte ihrer Form, Heidelberg 1901, S. 5.

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56 Dialogische Formen

ten der Eheleute, sind ausführlicher behandelt. Eingestreut sind auch Homilien über ein Wort der Bibel, — angeblich haben Freunde ihn gebeten, diese vor Karl V. gehaltenen Predigten ihnen mitzuteilen.

Der Gesamteindruck der Briefe ist wenig ansprechend. Zu sehr ist immer der Autor im Vordergrund, und man kann sich des Gefühls nicht erwehren, daß er gerne seine Briefe, seinen rhetorischen Stil, sein Wissen über die Antike bewundert sehen möchte. Bei allen Gelegenheiten, die sich bieten, werden Beispiele, Apophthegmen, Zitate aus der Antike gebracht. Manchmal sind diese Beispiele sehr ausführlich erzählt u n d bilden den Hauptgegenstand eines Briefes (vgl. S. 251 die Geschichte der drei Kurtisanen), manchmal tauchen zur Bestätigung seiner Ansicht lange, nicht-enden-wollende Exempelreihen auf. Oft ha t man den Verdacht, daß eine bestimmte Redewendung, ein be­stimmter Gedanke nur gesagt wird, um ein Zitat oder einige Beispiele aus der Antike anbringen zu können. Er kann das Zitieren kaum erwarten, wenn er einen Brief begonnen hat . Einige Beispiele für seine Exempelsucht und seinen rhetorischen Stil mögen hier Platz finden :

Er schreibt an den vor Toledo im Felde stehenden Don Anthoine de Cunigne : Par ainsi le bon Chevalier doit changer maintenant les gantz perfumez en gante-letz, les mules en chevaux, les brodequins en grèves, les bonnetz ferrez en morions, les pourpoints en harnois, la soye en maille, For au fer, et la chasse à la guerre: de sorte que le bon Chevalier ne se doit priser d'avoir bonne librairie, mais bonne armoirie. Car pour le bien de la République autant est nécessaire que le chevalier s'arme, que le Prestre se reveste . . ,1 und so weiter in diesem Pathos. Es folgen aneinandergereiht 7 Beispiele tapferer Feldherren, und den Schluß bildet eine Figur, die Guevaras Schmeichelei zugleich mit der Hochachtung, die er vor sich selbst hat, zeigt: . . . que pourrez tenir pour assuré, que si vostre lance ressemble à celle à"Achilles, ma plume sera semblable à celle d'Homère2. Und daß er über einen unerschöpflichen Schatz an Beispielen verfügt, deutet er so an : Et si en un homme seul se trouvoit la beauté d'Absalon, la force de Samson, la sagesse de Salomon, Vagilité d'Azael, les richesses de Cresus, la libéralité d'Alexan­dre, la vigueur et dextérité de Hector, Veloquence d'Homère, la fortune d'Auguste, la iustice de Traían, et le zèle de Cicerón, qu'il se tienne pour certain qu'il ne sera orné de tant de graces, comme de nombre d'envieux poursuivy . . , A la poison de Socrates, au bannissement d'Eschines, à la mesfiance de Cresus, à la destruction de Darie, à la desfortune de Pyrrhus, à la fin de Cirrhus, à l'infamie de Catilina, au grand infortune de Sophonisba, personne porta envie, ains pitié .. A

Nur ganz wenige Briefe Guevaras bilden von dieser allgemeinen Charakte­ristik eine Ausnahme. Einer seiner schönsten Briefe ist der à Don Pierre Giron, en laquelle ΓAutheur touche la maniere antique d'escrir*. Der Brief ist eine Ant­wort auf einen in völlig unleserlichem Zustand angekommenen Brief, u n d Guevara gibt uns hier eine gelehrte Plauderei über das Schreibwesen in der Antike. Die Beispiele sind so eingefügt, daß sie immer wieder gegen den

1 GUEVABE, Lettres 1. c , S. 29. 2 S. 31. 3 GUEVARE, Lettres I. c , S. 73. 4 ibid., S. 36ff.

Der Brief 57

Schreiber des unleserlichen Briefes verwendet werden können. Amüsant zu lesen ist z. B. folgende Stelle: J'ay donné à lire vostre lettre à Pierre Cotronel, pour savoir si elle estoit en Hebrieu: le Vay monstrée à Mahumet Abducarin, pour savoir si elle estoit en Arabie . . . finablement la monstray aux Alemans, Flammans, Italiens, Anglois, Escossois, et François: lesqueL· m'ont dit que cestoit lettre de moquerie, ou lettre d'enchanterie . . ,1, worauf er ihn einem negro-mantien vorlegt und dem Schreiber schließlich wünscht, er wäre der Sekretär aller Irrlehrer gewesen iamais homme ne les eut peu lire2. — Zu diesen Briefen, in denen Exempel und Zitate mehr in den Hintergrund t re ten und nur noch Nuancen des ganzen Briefes darstellen, zählt auch das Schreiben an den Arzt Melgar3, wo Guevara im ersten Teil launig seine Erfahrungen, die er mit den Ärzten gemacht hat , erzählt.

Die Methode, die Guevara in seinen Briefen anwendet, d. h. die Kompilation von Exempeln und Sentenzen, die er in seinen Gedankengang einbettet, ist die gleiche Methode, die auch in den sogenannten Diverses Leçons geübt wird, einem Genre, von dem später noch die Rede sein wird. Wie die Diverses Leçons sind auch die Briefe Guevaras kleine Abhandlungen, verbrämt mit dem Ma­terial, das die Antike und — für einen Bischof und Hofprediger obligatorisch — die Bibel lieferte. Mit gutem Gewissen können wir seine Briefe nicht als Essays bezeichnen. Aber sie haben das Genre eingeleitet4, das auf die Form der Mon-taigneschen Essais anfänglich großen Einfluß hat te . Der direkte Einfluß in bezug auf Ideen und Stoff mag vielleicht nicht so groß gewesen sein, wie man gelegentlich angenommen hat5 , aber der direkte oder indirekte Einfluß der Form ist unbestreitbar.

Nach dem, was wir über Guevaras rhetorischen Stil, über die selbstgefällige Ausbreitung seines Wissens und sein arrogantes Wesen gesagt haben, ist es leicht begreiflich, daß Montaigne den Epistres dorées —• diesen Beinamen hat ten sie in Frankreich bekommen6 — das Epitheton dorées absprechen möchte: . . . ceux qui les ont appellees dorées, faisaient jugement bien autre que celuy que fen fay (I, XLVin, 375). Auch Montaigne versteht es manchmal, sein Wissen von der Antike zu zeigen, aber er weiß es dann wenigstens geschickt zu tarnen und es in seine fantaisies einzuspinnen und ihnen unterzuordnen. Aber seinem parier simple kann man als diametralen Gegensatz fast nur die Briefe des „Meisters der höfischen Rhetorik" entgegenstellen.

1 ibid., S. 38. 2 ibid., S. 39. 3 Lettre an Seigneur Melgar Médecin, en laquelle est gracieusement recité le dommage et

proufit, que font les medicines. S. 188ff. 1 Vgl. P. VILLEY, Les Sources d'Idées. Paris 1912, S. 210. 5 Vgl. L. CLÉMBXT, Antoine de Guevara. Ses lecteurs et ses imitateurs français au XVI"

siècle. In: Rev. d'Hist. litt, de la France VII u. VIII (1900/1901). Dazu vgl. VILLEY 1, S.155 A.

β Wohl in Analogie zu dem schon genannten Livre doré de Marc Aurele, in dessen Vor­rede es heißt: J'ay voulu intituler ce livre, le livre doré qui veult dire d'or. Pource que en tant d'estime le doyvent tenir les vertueux et descouvrir en leur temps avec ses sentences, comme, tiennent les princes les mines d'or en leurs Indes. (Fol. Β i der Ausg. Paria 1542, übers, von R. B. de la Grise.)

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64 Die Kompilationsliteratur

dener Meinungen und sich widersprechender Fakten, das Spielen mit Gegen­sätzen, das sind Merkmale derExempelsammlungen u n d devEssais, und zwar nicht nur der ersten Kapitel, die schon rein stofflich gesehen ihre Ahnen nicht verleugnen können, sondern auch noch der späten großen Kapitel, die in Ma­terial und Form sich von den ersten tastenden Versuchen Montaigncs unter­scheiden.

Aus diesen Gründen dürfte es angebracht sein, der Exempelliteratur als einer der wichtigsten Ahnenreihen der Essais breiteren Raum zu widmen.

Die in den antiken Exempelsammlungen festgehaltenen Fakten, Berichte, Aussprüche usw. haben jeweils den Zweck, eine bestimmte Tatsache zu ver­anschaulichen und hervorzuheben oder eine Behauptung zu stützen und zu beweisen. Damit fällt ihnen in der antiken Literatur, vor allem in der Rhetorik, eine große Rolle zu : Das Exemplum ha t für alle Gebiete des Lebens bei den antiken Schriftstellern eine ähnliche Bedeutung gehabt wie heute noch die Zusammenstellung von wirklich geschehenen oder erdachten Fällen bei ju­ristischen Plädoyers1. Diese Beispiele, mit denen ein Redner seine Ausfüh­rungen schmückte und belebte, konnten allen Lebens- und Wissenschafts­gebieten entnommen sein: naturwissenschaftliche und medizinische Beobach­tungen standen neben psychologischen Erfahrungstatsachen, einmalige Er­eignisse neben einer Vielfalt von Fällen, in denen ein bestimmtes Gesetz immer wieder zur Anwendung gelangte. Doch war die Funktion des Exempcls nicht nur material bedeutsam, sondern sie diente auch dazu, eine Rede aufzu­lockern, ihr Sehlaglichter aufzusetzen und den Zuhörer durch interessante Daten und Fakten zu fesseln. Zu diesem Zweck eigneten sich neben Gleich­nissen und Legenden profanen oder sakralen Ursprungs besonders gut Er­zählungen aus fernen und barbarischen Ländern, die durch ihren abenteuer­lichen oder merkwürdigen Inhal t das Interesse wachriefen und erhielten, wobei die Redner natürlich auch gelegentlich auf die Sensationslust der Menge spe­kulierten. Daraus ergibt sieh schon das Bedürfnis nach Schaffung von Exempel­sammlungen, in denen die Redner die für ihren Vorwurf geeigneten Exempla zusammengestellt fanden. Andrerseits aber w^ar es ζ. Β. auch für die Philo­sophen das Gegebene, Exempla aller Art zur Stützung ihrer Theorien anein­anderzureihen. Und tatsächlich sind die Verfasser mancher griechischer Exem­pelsammlungen kynische Philosophen, die besonders das Apophthegms pfleg­ten. Ihre Lchrteclmik stützte sich auf die Streitrede, die kynische Diatribe, deren formaler Charakter Verwandtschaft mit dem Apophthegma aufweist2. Aber auch die Historiker fanden in den Exempla und vor allem in den Apo-phthegmen eine wertvolle Quelle zur Bereicherung ihrer Kenntnisse, die sie vor allem aus StadtChroniken, Priesterlisten und Siegerverzeiehnissen der na­tionalen Spiele zusammengetragen hat ten. Durch ausführliche Motivierung u n d Schilderung der gegebenen Situation entwickelten sich die Apophthegmen

1 Über die Bedeutung der Exempla in der römischen Rechtsprechung, vgl. H. KORN-IIAEDT, Exemplwn. Dias. Göttingen 1936, S. 65ff.

2 Vgl. GEMOLL, 1. c, S. 105.

Exempel und Exempelsammlungen 65

immer mehr zu abgerundeten, anekdotenhaften Geschichten, die eine Persön­lichkeit oder eine Situation manchmal treffender charakterisieren konnten als eine noch so ausführliche Abhandlung.

Die Ordnung des Materials in solchen Exempelsammlungen war keineswegs einheitlich ; sie konnte nach sachlichen Gesichtspunkten vorgehen, konnte aber auch eine chronologische Aneinanderreihung bringen und schließlich auch eine durch keinen äußeren oder inneren Faktor gebundene „Form" annehmen. Dabei schrieb ein Sammler vom andern ab, ließ aus, was ihm nicht gefiel, fügte nach Hörensagen oder sogar aus eigener Phantasie Momente hinzu, so daß der Ursprung eines solchen Exemplums sich nur selten feststellen läß t : „Tausen­derlei Klatsch geht um, willkürliche Altersangaben, die irgendeiner einmal errechnete, wilde Diadochai, die erfundenen Todesarten hermippisch-ncan-thischer Phantasie, die Erzeugnisse römischer Familieneitelkeit, die von der Priesterschaft propagierten göttlichen Wunder, Volkssagen, Anekdoten, du­neben gute historische Nachrichten . . A" Aus dem Gesagten geht schon her­vor, daß die Exempelliteratur der Biographie und Autobiographie einen großen Auftrieb verdankt , und es ist kein Zufall, daß Schriftsteller wie HYOUNÜS und N E P O S gleichzeitig De vins illustribus und Exempelsammlungen verfaßten. Andere Wurzeln dieser Exempelsammlungen liegen in den wissenschaftlichen Zusammenstellungen der Ees memoria dignae, die von ARISTOTELES begründet und von den Peripathetikern sehr gepflegt worden waren. Diese Sammlungen dienten als Belegmaterial für wissenschaftliche Werke, in denen aus ihnen physikalische Gesetze abgeleitet wurden, wie z. B. in der Naturalis historia des PLINITJS oder in den Herum memoria dignarum libri des V B E E I Ü S ELACCFS.

Damit fließen also in den Exempelsammlungen zwei Bestrebungen zusam­men: einerseits wollte man wissenschaftliches Belegmaterial zusammenstellen, das den Rhetorikern, Historikern, Philosophen, Naturwissenschaftlern zur Stützung ihrer Theorien wertvollste Dienste leisten konnte, andererseits aber sollte es auch ganz allgemein den Gebildeten helfen, ihre Kenntnisse zu er­weitern. Am beliebtesten und verbreitetsten waren vor allem die Sammlungen, die historisch-moralisierendcn Charakter trugen und in denen die ethische Ziel­setzung besonders stark hervortrat , die also dem Schüler der Rhetorensehulen, dem Redner und dem Schriftsteller in bequemer Anordnung Material lieferten. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Seneca, der den belehrenden Wert der Beispiele außerordentlich hoch eingeschätzt ha t : Longum iter est per praeeepta; breve et efficax per exempla (Ep. 6,0). Diese moralpsychologische Er­kenntnis des verba docent, exempla trahunt führt dann in der christlichen Li­teratur und Homiletik zu einer wahren Blüte der Beispielsammlung. Das Bei­spiel war schon bei den alten orientalischen Völkern in der Form von Gleich­nissen, Legenden, Fabeln usw. bekannt, und die Gewohnheit der römischen Kaiserzeit, dem Exemplum ein moralisierendes Nachwort anzufügen, das sogenannte Epimythion, gelangt in der christlichen Homiletik zu höchster

1 C. BOSCH, Die Quellen des Valerius Maximus. Ein Beitrag zur Erforschung der Litera­tur der historischen Exempla. Stuttgart 1929, S. 111.

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66 Die Kompilationsliteratur

Blüte. Bei Montaigne wird es einen subjektiven, persönlichen Charakter er­halten.

Das starke Bedürfnis der römischen Spätzeit nach dem typischen Beispiel hat sogar dazu geführt, gewisse Kaisergestalten als Idealtypen bestimmter Tugenden herauszustellen, eine Gewohnheit, die ihre Vollendung in der Aus­prägung der christlichen Heiligengestalten erfahren hat. Welch große KoIIe die FJxempelliteratur für die Kirchenväter und die mittelalterlichen Schriftsteller gespielt hat, weist besonders Porteau nach : Ces recueils ont servi dans la suite de modèles et de sources d'inspiration aux Pères et aux écrivains ecclésiastiques et .. . plus spécialement ceux de Valere Maxime et de Fronton ont été fortement exploités à partir de la seconde moitié du XIIe siècle par les moralistes, les pré­dicateurs et surtout par les comploteurs de recueils d'exempta1. Dabei erhielt sich die einmal festgelegte Form eines Exemplums und seine Einordnung in eine bestimmte Rubrik mit großer Konstanz: „Dieselben Exempla werden immer wieder so zu dem rhetorischen Zweck und unter derselben Rubrik angeführt, daß man unbedingt annehmen muß, jeder Verfasser von Exempla oder Facta et dicta memorabilia habe den Hauptbestand seiner Vorgänger mit großen wörtlichen Übereinstimmungen übernommen, d. h. : die Quellen seiner Exem-pelsammlung sind vornehmlich ältere Exempelsammlungen2."

Nahe verwandt mit den Apophthegmensammlungen sind die Sammlungen der Witzworte bei den Römern, die sich zu einer eigenen Literaturgruppe aus­wuchsen; formal standen sie den Apophthegmen nahe, inhaltlich den Epi­grammen. Die erste maßgebliche Sammlung dieser Art verdanken wir zur Augusteischen Zeit Domitiue Marsus mit De urbanitate, dem C. Melissus, ein Freigelassener des Maecenas, 150 Bücher Ineptiae, bzw. Joci, folgen ließ, und in denen sowohl Ciceros Freude am geistreichen Witz zur Geltung kommt, die soweit ging, daß er lieber sein Leben als einen Witz opfern wollte, wie auch der frivole Esprit Julias, der Tochter des Augustus. Ein später Nachfahre dieser Sammlungen von Witzworten und Anekdoten um einen berühmten Mann dürften die ,,-ana" sein, die bis ins 17. und 18. Jahrhundert hinein in Frank­reich sehr beliebt waren (Molériana, Bolaeana u. a. m.).

Die in antiken Schriften immer wieder erwähnten, berühmtesten Beispiel-sammlungen des Altertums dürften die von Hyginus und Nepos gewesen sein, die jedoch nicht auf uns gekommen sind. Dadurch ist die Quellenkritik der Exempla außerordentlich erschwert. Die umfassendste römische Exempel-sammlung, die wir besitzen, ist die des VALERIUS MAXTMUS, der aber in der Angabe der von ihm benutzten Vorlagen ziemlich unzuverlässig ist, erwähnt er doch seine Hauptquellen Cicero und Livius nur ein einziges Mal und erklärt, sein Werk sei eine vollkommen originale Sammlung — ein Ausdruck verlogener Autoreneitelkeit, der sich bis in die Vorwörter der ,,-ana" gerettet hat8. Das Vorbild, dem Valerius Maximus augenscheinlich gefolgt ist, ist vermutlich

1 1 . c, S. 10f.f Anm. 2. a BOSCH, I. c, S. 10. 8 Vgl. Vorwort zu den Bolaeana ou Entretiene de M. de Monchesnay avec l'auteur. Amster­

dam 1742.

Exempel und Exempelsammlungen 67

C. Julius Hyginus gewesen, dessen Sammlung mehrere Jahrhunderte hindurch Fundgrube für Schriftsteller blieb1. „Die einzelnen Kapitel waren sehr reich und enthielten viel mehr Exempla als die des Valerius Maximus. Vor allem arbeitete der Auetor exemplorum gründlich . . . dem guten Brauche der grie­chischen Paradigmensammlungen folgend, versah er seine Angaben reichlich mit Autorenzitaten. Sein Werk war ein angesehenes Handbuch ; denn es wurde sehr viel benutzt, nachweisbar von Velleius Paterculus, Valerius Maximus, Verrius Flaccus, Plinras, Seneca, Apulems, Frontin, Lactantius, Macrobius; es existierte also im 4. Jahrundert p. C. noch2."

Der Redner Domitius Marsus flocht nach dem Zeugnis Quintilians (InMüu-tio oratoria VI, m, 42) in seine Rede gern witzige Erzählungen ein und gab ebenfalls urbane dictorum libri heraus. Auch der berühmte Jurist Masurius Sabinus erörterte in seinen Memorabilium libri nicht bloß staatsrechtliche Be­griffe, sondern erzählte auch lustige Geschichten. Beide sind Zeitgenossen von Valerius Maximus, doch ist seine Beispielsammlung die berühmteste von allen. Er wurde sogar unter die klassischen Autoren gezählt mit Rücksicht auf den historischen und moralischen Inhalt des Werkes, vielleicht auch mit Rücksicht auf seinen Namen; Villon schreibt in der 20. Strophe des Gr. Test.; Valere pour vray le nous dit, Qui fut nommé le Grant à Bomme.

Das Werk war als Handbuch für die Rhetorenschulen gedacht, wie Valerius Maximus schon in seiner Einleitung erkennen läßt : Urbis Romae exterarumque gentium facta simul ac dicta memoratu digna, quae apud alios latins diffusa sunt quam ut breviter cognosci possint ab Ulustribus electa auctoribus digerere con­stituí, ut documenta sumere volentibus longae inquisitiones labor absit. nee mihi cuneta conplectendi cupido incessií. . .

Die Sammlung ist nach sachlichen Gesichtspunkten geordnet. Die Kapitel­überschriften, unter denen die Beispiele zusammengefaßt sind, sind z. T. eiser­ner Bestand für die Sammlungen der Exempel und Diverses Leçons bis in die Renaissance hinein geblieben, z. B. de religione, de omimbus, de prodigns, de somniis, de indole, de fortitudine, und manche kehren sogar als Überschriften von Montaigneschen Essays wieder: de amicitia (Essais I, 28), de parentum amore et indulgentia in liberos (Essais Π, 8), de otio (Essais Ï, 8), de crudelitate (Essais II , 11). Die Kapitel beginnen meist mit einer Einleitung, die entweder eine Überleitung vom vorhergehenden Kapitel versucht oder die betreffende Eigenschaft lobt oder tadelt. Die Überleitungen sind meist gezwungen und an den Haaren herbeigezogen und weisen keine originellen Ideen auf. Am Anfang jedes Kapitels stehen Beispiele aus der römischen Geschichte, denen Belege aus anderen Ländern folgen.

Ein gutes Beispiel für Aufbau und Überleitung eines Kapitels bietet de crudelitate (IX, 2): Einleitung: Haec societas vitiorum laseivi vultus et novae cupiditati inhaerentium oculorum ac delicato cuUu affluentis perqué varios in-

1 Vgl. A. KLOTZ, Studien zu Valerius Maximus und den Exempla. München 1942. (Sitzunge­ber, d. Bayr. Ak. d. W., phil.-hist. Abt., Jg. 1942, Heft 5.)

2 BOSCH, I. c, S. 110.

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70 Die Kompilationsliteratur

Trak ta t aufzulockern oder zu illustrieren, sondern daß man es um seiner selbst willen schätzte und pflegte. So sind die Exempelsammlungen des Mittelalters zwar auch noch wie diejenigen des Altertums ein Nachschlagewerk für Pre­diger, Magister, Rhetoren, Jur is ten usw., aber sie werden auch schon um ihrer selbst willen vom Publikum gelesen. Und sie werden bald ¡zu einer Art Konversationslexikon für die gebildeten Schichten jener Zeit, zumal sie in steigendem Maße nicht nur historische Pak ten enthielten, sondern auch aus dem Bereich der Medizin, Völkerkunde, und Naturkunde Wissenswertes zu­sammentrugen. Besonders reich ist die Exempelliteratur des 13. und 14. Jahr­hunderts , die zumal von den Wanderpredigern der Bettelorden sehr gepflegt wurde. Die meisten Kompilatoren lassen ihren Sammlungen ein Vorwort vor­angehen, das über den Plan des Werkes Aufschluß gibt, und versuchen, den gegebenen Stoff in Kapitel und Rubriken ein- und unterzuteilen. Dabei scheuen sie sich nicht, in ihre Sammlungen auch solche Facta aufzunehmen, deren Augen- und Ohrenzeugen sie angeblich selbst gewesen sind, — wodurch der Aktuali tätswert dieser Schriften wesentlich gesteigert wird.

Wie groß die Bolle des Exemplums auch in der mittelalterlichen Rhetorik noch war, dafür bietet ein gutes Beispiel die Verteidigungsrede für den Herzog von Burgund, die Jean Pet i t 1408 in Paris hielt und in der er seinen Mandanten wegen der Ermordung Ludwigs von Orleans zu rechtfertigen suchte. Tenor seiner Rede ist : Radix omnium malorum cupiditas. Die Begierde erzeugt Verrat und Abtrünnigkeit, die an drei Beispielen demonstriert werden : Luzifer, Absa­lom und Athalia. Dann erfolgt eine Zusammenstellung von 8 Wahrheiten, die den Verrätermord rechtfertigen : Jeder, der sich gegen den König empört, ver­dient Tod und Verdammnis — um so mehr, je höher er steht. Diese Wahrheit wird durch 12 Gründe zu Ehren der 12 Apostel bewiesen: 3 davon sind Aus­sprüche von Theologen, 3 von Philosophen, 3 von Juris ten und 3 aus der Hei­ligen Schrift. Auf diese Weise wird mit jeder der 8 Wahrheiten verfahren. Aus dieser Rede geht hervor, wie sehr man im Mittelalter bei allen Ereignissen nach der ,,Moralität'c, d. h. nach der sittlichen Bedeutung aller Dinge fragte. Will man jemand von einem Sehritt abhalten, so zählt man ihm sämtliche Miß­erfolge auf, die sich jemals in Vergangenheit oder Gegenwart daraus ergehen haben. Jedem Ereignis wird sofort ein verwandtes an die Seite gestellt, wo­durch es gleichzeitig Beweiskraft erhält. Der Mensch des Mittelalters lebte auf festem Boden: En religion, en politique, en morale, la tradition lui fixait une ligne de conduite •— et une ligne de pensée aussi — parfaitement définies1.

In diese festgefügte Welt brach für die Menschen der Renaissance sehr viel Neues ein, das sowohl aus der wiederentdeckten Antike, wie aus der geogra­phischen Erschließung bis dahin unentdeckter Erdteile s tammte. Damit wurde das Bedürfnis, das Wissen der Zeit zu etikettieren und zu katalogisieren, immer noch stärker. Mit besonderer Freude wandte man sich den merkwürdigen Sitten und Gebräuchen der Neuen Welt zu, woraus geradezu ein Rari tätenhunger

1 VlLLEY, 1. C, S. 60.

Exempel und Exempelsammlungen 71

entstand. Amerika scheint auch im 16. Jahrhunder t das Land der unbegrenzten Möglichkeiten gewesen zu sein. Mit welchem Genuß diese Merkwürdigkeiten wiedergegeben werden, zeigt ein Kapi te l beiMontaigne ( Ι , χ χ π ι ) : Er erzählt von Völkern, bei denen Ringe in den Nasenlöchern und Wangen getragen werden — wo man die Pinger an den Fußsohlen abwischt — wo die Männer sich ohne jeden Grund scheiden lassen können — wo die Frauen militärische Ränge be­kleiden können — wo ein Soldat in den Adelsstand erhoben wird, wenn er dem König sieben feindliche Köpfe präsentiert — wo man die Läuse mit den Zähnen tötet , weil man es für grausam hält, sie mit den Pingernägeln zu knik-ken usw. Dieser Rari tätenhunger gibt den Exempelsammlungen der Re­naissance zumindest nach außen hin den Charakter eines gemütvollen, heiteren Spiels, doch darf man nicht vergessen, daß in ihrer leichten Form neben den Sonderbarkeiten fremder Völker auch die tiefe Lebensweisheit und Sittenlehre der Antike zu Wort kommt, deren Autorität unbestri t ten ist : Neben dem Werk De Rebus von DINOTH 1 , das schon in den Titeln seiner Bücher

1. De mirabilibus arboribus 2. De gemmis 3. De mirabilibus lacubus, fluviis et fontibus 4. De montibus eruetantibus ignem 5. De monstrosis animalibus

die Freude am Merkwürdigen verrät, neben den Facetiensammlungen, die namentlich in Italien blühten und unter deren Verfassern sich gelehrte Huma­nisten, Staatsmänner, Päpste und Personen fürstlichen Geblüts befanden, stehen Werke, wie Lycosthenes' Apophthegmensammlung, über deren Inhal t und Zweck am besten das kurze Vorwort an den Leser auf dem Titelblat t Aus­kunft gibt : En hohes in hoc volumine, amice lector, clarissimorum Philosopho-rum, Oratorum, Imperatorum, Regum, Principum, Ducum, sanctorum Patrum, Pontificum, privatorumque hominum, selectissima, non tanttim ex utriusque linguae scriptoribus veteribus, sed neotericis etiam GXXX numero autoribus, Apophthegmata, sive insignia de rebus diversis quae in communi hominum vita agitantur, Responsa: tarn apte atque concinne in Locorum communium ordines (odditis ubique autorum testimoniis) disposita, ut sive publice, sive privatim dictiones, insiruetissimum Promptuarium habeos, ex quo exornandae atque am-plificandae orationis materiam, atque ipsos quasi nervös depromas. Opus sane non tantum in Ecclesia concionatoribus, atque declamatoribus in scholis, sed ómni­bus etiam bonorum atque honestissimarum artium amatoribus, propter civilis etiam vitae usum, non minus utile quam necessarium, iam primum in lucem editum2.

Natürlich sind diese Sammlungen auch in der Renaissance nicht nur Selbst­zweck, sondern dienen dem Bedürfnis der Schule und darüber hinaus der Ge-

1 R. DiNOTin, Xormanni Constantinatis, De rebus et ¡actis memorabüibus loci communes historici. Basileae 1580.

2 COSRADI LYCOSTHEMTS . . . Apophthegmatum sive responsorum memombilmm . ., Loci communes . . . Basileae 1555.

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68 Die KompilatïonsKteratur

lecebrarum motus volitantis animï: crudélitatis vero horridus habitus, truculenta species, viólenti spiritus, vox terribilis, omnia minis et cruentis imperils referta, cui silentium donare crementum est adicere: etenim quern modum sibi ipsa statuet, si ne suggillationis quidem frenis fuerit revocata? ad summam, cum penes illam sit timeri, penes nos sit odisse. — 1. römisches Beispiel: L, Sulla . . . quattuor legiones obtruncare iussit. . .; 2. römisches Beispiel: Cuius ta/iwn crudélitatis G. Marius invidiam levât. , .; 3. römisches Beispiel: Damasippus nihil laudis habuit, quod corrumperet, itaque memoria eius licentiore accusatione perstringi-tur . . . ; 4. römisches Beispiel : Numatius etiam Flaccus . , . efferatam crudeli-tatem suam . . . exercuit; 1. fremdländisches Beispiel: Transgrediemur nunc ad illa, quibus ut par dolor, ita nullus nostrae civitatis rubor inest...;... 7. aus­ländisches Beispiel: Apertior et taetrior alterius ochi . . . crudélitatis . . .; 8. aus­ländisches Beispiel Sicut Uli barbari, quos ferunt mactatarum pecudum intestinis et visceribus egesüs homines inserere, ita ut capitibus tantummodo emineant, quoque diutius poenae sufficiant, cibo et potione infelicem spiritum prorogare, donec intus putrefaeti laniatui sint animalibus, quae tabidis in corporibus nasci soient. Queramur nunc cum rerum natura, quod nos multis et asperis adversae valetudinis incommodis obnoxios esse voluerit hatitumque caelestis roboris huma-nae conditioni denegatum moleste feramus, cum tot cruciatus sibimet ipsa mor-talitas inpulsu crudélitatis excogitaverit.

Der Ehrgeiz des Valerius Maximus, sein Werk als eine zusammenhängende Einheit zu präsentieren, ist für diese Gewaltsamkeit der Komposition der Kapitelübergänge, die sich manchmal bis zur Unerträglichkeit steigert, ver­antwortlich: „So kommt eine Spitzenleistung erzwungener Übergänge zuwege; jene künstlerische Komposition ohne Fuge, wie sie bei den Römern Ovids Metamorphosen zeigen, wird in der Aufsatzkunst des Rhetors Valerius Maxi­mus ins Bizarre versetzt1."

Um das rein phänomenale Bild des Grausamen zu zeichnen, stellt er ihn in Gegensatz zu dem Leichtsinnigen, den er im vorhergegangenen Kapitel be­handelt hat. Hat jener weichliche Züge, so ist dieser das vollkommene Bild des Menschenfressers, wie ihn sich ein Schuljunge vorstellt : mit rollenden Augen, donnernder Stimme und keuchendem Atem. — Valerius Maximus erfaßt die Grausamkeit nur als Handlung nach außen, ohne eine psychologische Ver­tiefung zu geben, ohne sie als Charaktereigenschaft in das Gesamtbild eines Menschen einzuordnen, in dem sie sowohl krankhafter Sinnlichkeit wie titanen­haftem Größenwahn, Selbstbeweisung eigener Machtvollkommenheit wie in­quisitorischer Rechtswahrung entspringen kann. Er hat nur Freude am reinen Faktum, wie es der Zweck seiner Sammlung auch verlangt, doch hätte die Einleitung seine Kapitel jeweils zu einer Abhandlung erheben können. So fehlt also der souverän ordnende Geist — und übrig bleibt der Abklatsch von Historie und Histörchen.

Wie sehr aber Valerius Maximus bei aller Mittelmäßigkeit mit seinem Buch einem bestehenden Bedürfnis entgegenkam, zeigen folgende Umstände: „In

1 BICKEL, 1. c, S. 374.

Exempel und Exempelsammhmgen 69

einer beliebten Suasorie riet man dem Cicero, den Antonius nicht um sein Leben zu bitten, sondern tapfer zu sterben; zu diesem Zwecke zählte man auf exempta hominum qui ultra mortem adprehenderunt (Sen. suas. 6, 8), von denen einer natürlich Cato war {ibid. 2.). Nun zählt Seneca der Sohn ep. 24,4ff. eben­falls Beispiele für harteria auf: zunächst Rutilius und Metellus, die das Exil standhaft ertrugen, dann Mucius Scaevola; dann läßt er sieh unterbrechen decantatae, inquis, in omnibus scholis fabuiae istae sunt: iam mihi, cum ad contemnendam mortem ventum fuerit, Catonem narrabis, was er dann auch wirk­lich tut, indem er hinzufügt: non in hoc exempta nun congero, ut ingenium exerceam sed ut te adversus id quod maxime terribile videtur, exhorter; es folgt endlich noch zum Beweis, daß auch Feiglinge tapfer gestorben seien, Scipio, der Schwiegervater des Pompeius. Bei Valerius Maximus lesen wir alle diese Beispiele zu ebendemselben Zweck1." Das ergibt sich auch aus der Forderung Quintilians an die Redner (XII, 2, 29) : quae sunt tradita antiquitas dicta et facta praeclare, et nosse et animo semper agitare conveniat.

Das Exemplum spielte aber nicht nur in der profanen Literatur des Alter­tums eine große Rolle, sondern es war auch in den kirchlichen Schriften sehr beliebt. Diese Tradition reicht bis zu den Evangelien zurück, deren Reichtum vor allem an Gleichnissen außerordentlich groß ist, — waren doch die Wander­predigten Christi gespickt mit Exempla, die sowohl dem Alltagsleben der Mensehen, wie dem Leben der Natur entnommen waren. In dieser Tradition folgten dem Meister seine unmittelbaren und mittelbaren Jünger ; die Predigten und Lehrschriften der Kirchenväter sind eine reiche Fundgrube für Exempla. Zur Zeit der karolüigischen Renaissance sind vor allem biblische und hagio-graphische Exempel beliebt, zu denen sich, wie im Altertum, historische und naturgeschichtliche Beispiele gesellen.

Auch die didaktische Literatur läßt sich die reichen Möglichkeiten des Exempels nicht entgehen, und vom 12. Jahrhundert ab macht sich in der Auslegung der christlichen Doktrin und Moral eine regelrechte Vorliebe für das Anekdotenhafte breit: Prédicateurs, professeurs et moralistes s'y adaptent sans peine et font désormais une plus large part à Vexemplum, soit dans le ser­mon, soit dans le traité d'édification, d'instruction et de morale pour attirer, captiver, instruire et moraliser leurs auditeurs2. Natürlich lassen sich auch die Geschichtsschreiber derselben Zeit die Möglichkeit nicht entgehen, ihre Schrif­ten durch reiches Einflechten von Beispielen aller Art interessanter und leben­diger zu gestalten. Es handelt sich dabei nicht nur um Anekdoten, die sich auf historische oder fiktive Personen beziehen, sondern vor allem auch um Wunderberichte, teratologische Erscheinungen, Naturereignisse und ähnliches, wobei die Sensationslust ebenso auf ihre Kosten kommt wie die ernste histo­rische Forschung. Diese Freude am Exemplum ging so weit, daß man es bald nicht mehr als Mittel zum Zweck benutzte, nämlich, um eine Predigt oder einen

1 NOKDEN, 1. c , S. 303f. 3 J . -TH. WELTER, L'exemplwm dans la littérature religieuse et didactique du Moyen Age,

Thèse. Paris—Toulouse 1927, S. 34.

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72 Die Kompilationsliteratur

lehrtenwelt. Selbst die Dichtung wird mit antiken Worten, Bildern und Anek­doten durchsetzt, die ihr geradezu einen Florilegiencharakter verleihen1. Doch dient das Kleid der Antike nicht dazu, eigene Schwäche zu verhüllen, sondern es wird benützt, um dem eigenen Gedanken größere Weihe und Würde zu verleihen. Huizinga2 hat sehr schön nachgewiesen, wie die Freude am Stoff und am geschmeidigen, biegsamen Wort die Renaissance zu einer Überfülle von Bildern und Ausdrücken führt. Zwei solch verschiedene Geister wie Eras­mus von Rot te rdam und Rabelais ergötzen sich an einer immer wieder vari­ierten Aufzählung von Namen und Dingen: Bei Rabelais herrseht ein ver­wirrendes Übermaß von Bildern und von Wörtern, die er ζ. Τ. selber erfindet, zusammen mit der verschmitzten Freude eines Erzählers, der den Bourgeois erschrecken will. Bei Erasmus ist der ästhetische Impuls der eines musika­lischen Themas mit Variationen, geordnet und sinnvoll. Wenn er 50 Wen­dungen anhäuft, um zu sagen: „Dein Brief ha t mir viel Vergnügen gemacht" oder „Ich denke, daß es Regen gibt", so drückt sich darin nur sein Bedürfnis aus, den ganzen Reichtum und die Variabilität seiner Ausdrucksformen zur Schau zu stellen. Eine besonders schöne Frucht dieser Neigung sind die Adagia des Erasmus, in der die ganze Lebensweisheit und Sittenlehre der Antike in jener Eleganz der Form erscheint, in der Erasmus Meister war. Damit aber wird die Kompilationsliteratur nicht mehr nur Nachschlagewerk für bestimmte Zwecke — es entstehen jetzt Bücher, deren Zweck es ist, den Leser zu ergötzen, wie z. B. Domenichis Facetiensammlung3 .

In der Renaissance begnügte man sich aber nicht nur damit, Exempelsamm-lungen als Nachschlagewerke herauszubringen, sondern man hielt in den Schu­len die Lernenden dazu an, sich sogenannte Loci-communes-Hefte anzulegen4 : Diese Hefte waren so angeordnet, daß unter einem bestehenden Stichwort in alphabetischer Reihenfolge: Abbitte, Abenteuer, Abstinenz, Absturz, Abzah­lung, Anklage . . . alle möglichen Ausdrücke und Beispiele notiert wurden. Um den Geist weiter zu schulen, stellte man diesem Stichwort dann gelegentlich das Gegenteil gegenüber, z. B. Tugend-Laster, Alter-Jugend, Geiz-Freigebigkeit. Die Schüler wurden dazu angehalten, in den Texten, die sie lasen, Stellen an­zustreichen, die sich zum Eintragen in die Loci-communes-Heîte eigneten, d. h. Fabeln, Sprichwörter, Geschichtchen u. ä., die zu einer Tugend, einem Laster, zu einer der gebräuchlichen Kapitelüberschriften in Beziehung gebracht wer­den konnten. So wurden als Material antike und moderne Sprichwörter, Maxi­men, Sentenzen, Apophthegmen und Vergleiche unter die Rubriken verteilt, und ein fleißiger Schüler konnte sein Liber Locorum Berum zu einer ansehn­lichen Sammlung anschwellen lassen. Welch großen pädagogischen Wert man dieser Methode beimaß, durch die der Schüler sich selbst eine Exempelsamm-

1 Vgl. K. BORINSKI, Die Antike in Poetik und Kunsttheorie. Leipzig 1914, Bd. I, S. 114. 2 Vgl. HUIZINGA, Erasmus, S. 138. 3 LoDOVico DOMENICHI, Facétie, motti, e burle di diversi signori e 'persone private

raccolte per L, D. Vinetia 1565. 4 P, PORTEAU, Montaigne et la vie pédagogique de son temps. Paria 1935.

Exempel und Exempeleammlungen 73

lung erarbeitete, zeigen die Aufzeichnungen von Verrepaeus, Dickius und Tabourot des Accords, die über Methode und Zweck dieser Sammlungen han­deln1. Verrepaeus weist vor allem auf ihre Nützlichkeit für das spätere Leben hin. Man soll den Schüler auffordern, diesen kostbaren und unermeßlichen Sehatz sein ganzes Leben lang zu bewahren, damit er diese reichhaltige Ma­terialsammlung immer zur Hand habe, um über irgendein Thema abhandeln zu können, für das er Belege braucht. Wie hoch der Humanist es veranschlagte, eine solche Sammlung sein eigen zu nennen, verrät uns Verrepaeus mit den Worten: (Non) dives avarus tantam capit voluptatem ex auri expectu et diligenti contemplatione, quantam vir eruditus ex Locis communibus a se in adolescentia copióse Ínstructis%. Fü r den Humanisten war ein solches Werk ein Handbuch, in dem seine ganze Philosophie, seine ganze Welt wohlgeordnet, klassifiziert und etikettiert, enthalten war. Um sich eine Vorstellung von den vielseitigen Anwendungsmöglichkeiten eines Exemplums oder einer Sentenz zu machen, genügt es, einen Blick in die mit immensem Fleiß nach verschiedenen Gesichts­punkten angelegten Indices eines der großen Kompilationsbücher der Renais­sance zu werfen und herauszusuchen, wie das Exemplum oder die Sentenz „verzet te l t" wurde.

Eine einzelne Rubrik des Liber Locorum, etwa der Abschnitt „Standhaftig-ke i t " mußte am Ende der Schulzeit eine beträchtliche Anzahl von Geschichten, Apophthegmen und Sentenzen aufweisen, de sorte qu'à la fin, au lieu de simples lieux communs, ce leur serait autant de matière préparée pour bâtir des discours, voire des livres entiers, sur tous sujets qu'ils entreprendraient de traiter3.

Montaigne ha t in seinen ersten Kapiteln nichts anderes getan, als diese Mög­lichkeit verwirklieht ; denn diese ersten Kapi te l sind aus Exempeln, Sentenzen und verbindenden Worten, die den Mörtel abgeben, gebaut. Voylà mes trois contes tres-véritables, sehreibt er im Kap. De Trois Bonnes Femmes (II, xxxv , 563f.) und weist hin auf die unzähligen très-belles histoires qui se rencontrent dans les livres, um fortzufahren: Et qui en voudroit bastir un corps entier et s'entretenant, il ne faudroit qu'il fournit du sien que la liaison, comme la soudure d'un autre metal. Oder an anderer Stelle schreibt er: Si festoi faisur de livres, je fairoi un registre commanté des mors diverses (I, x x , 111). Montaigne ha t zu­erst nichts anderes getan, als eine in der Schule geübte Methode angewandt, um sich zu üben, seine facultés naturelles, sein jugement zu erproben. Wenn sich auch später die Form der Kapitel ändert und die letzten Kapitel sieh von der Art der ersten wesentlich unterscheiden, so ist er doch bis zuletzt in gewisser Hinsicht der Methode des Sammeins und Einheimsens treu geblieben; wenn ihm beim Lesen einfiel, daß dieses oder jenes Wort in seiner Ausgabe von 1588 noch zu einem Gedankengang, zu einem anderen Zi ta t passen würde, dann notierte er es in s e i n e m Liber Locorum, in seinem Exemplar der Essais. Im Kapitel Du pédantisme wirft er den pédants vor, daß sie ihre Weisheit nur aus Büchern zusammenklauben und sie wieder ausspeien. Und als er diese Stelle

1 Vgl. die Zitate bei PORTEATT, 1. c , S. 180ff. 2 Zit. nach PORTEAU, S. 184. 3 TABOUROT DES ACCORDS, Bigarrures I, IV, chap. 1 (zit. nach PORTEAU).

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74 Die Kompilationsliteratur

in seinem Exemplar nach 1588 einmal las, stellte er erstaunt fest, daß er ja selbst im Glashaus sitzt : C'est merveille combien proprement la sottise se loge sur mon exemple. Est ce pas faire de mesmes, ce que je fois en la plus part de cette composition? Je m'en vois, escorniflant par cy par la, des livres de sentances qui me plaisent, non pour les garder, car je n'ay point de gardoires, mais pour les transporter en cetuicy, ou, a vrai dire, elles ne sont non plus mienes qu'en leur premiere place (I, xxv, 176).

Wie weit Montaigne bewußt diese Schulmethode der Loci-communes-$a,mm-lungen angewandt hat , ist nicht mehr festzustellen. Aber sie ist im Grunde nichts anderes als die Möglichkeit, die jeder nach Sachgebieten geordneten Exempelsammlung innewohnt: die Sachgebiete durch verbindende Wor te zu kleinen Abhandlungen zu machen. Ansätze sahen wir schon in der Antike. Aber von dieser Möglichkeit hat erst die Renaissance reichen Gebrauch gemacht in ihrem Bestreben, altes und neues Bildungsgut zu vulgarisieren. So ist Mon­taigne nicht der einzige, der in jener Zeit aus dem vorhandenen und klassifi­zierten Material kleine „discours''1' zusammenbaut. Die übrigen, in ähnlicher Weise verfaßten Werke dürfen in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben.

Die „Diverses Leçons"

„Si j'estoi faiswr de livres, je fairoi un registre commanté des mora diverses."

(MONTAIGNE, Essais, I, xx, 111.)

Es ist nicht so, als sei das Sammeln von Legefrüchten mit dem Ziel, aus ihnen kleine Aufsätze zu bauen, erstmalig in den Schulmethoden der Renais­sance geübt worden. Das Zusammentragen von merkwürdigen oder wissens­werten Stellen aus fremden Autoren braucht ja nicht nur als pädagogische Maßnahme in Erscheinung zu treten ; es kann auch dem Bestreben entspringen, sich praktisches Wissen zu erwerben und sich einen Überblick über das vor­handene Bildungsgut zu verschaffen — oder die Absicht, das gesamte Wissen zusammengedrängt und doch zugleich in gefälliger Form darzubieten, k a n n bei einem solchen Unternehmen Pate stehen. Diese Tendenz der Vulgarisierung t r i t t in der Renaissance stark in den Vordergrund ; sie war durch die Erfindung des Buchdrucks wesentlich erleichtert. — Doch bevor von dieser Elut der Renaissance-Vulgarisationsliteratur gesprochen werden soll, wollen wir auf ein Werk der römischen Antoninenzeit zurückblicken, das in der Art seiner Ents tehung der vorhin betrachteten Methode ähnelt und in seiner Anlage auf das Genre der Diverses Leçons hinweist.

Aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhunder t sind uns die 20 Bücher der Noctes Atticae des ATJLUS GELLIUS erhalten. In der Vorrede spricht Aulus Gellius über die Ents tehung des Buches : sein Ziel sei gewesen, mit diesem Werk seinen Kindern eine Art von literarischer Erholung zu verschaffen, wenn sie

Die „Diverses Leçons" 75

von den Geschäften ermüdet Ablenkung suchten. So habe er beim Lesen eines griechischen oder römischen Buches, oder auch, wenn er etwas Merkwürdiges berichten hörte , in zufälliger Reihenfolge sich Notizen gemacht und sich zur Gedächtnisstütze eine Art literarischen Mundvorrats, literarum penus, auf­gespeichert, 'um auf diesen Schatz nötigenfalls leicht und schnell zurückgreifen zu können (Praef. 1—3).

Dieses Sammeln, Zusammentragen und Ergänzen will er immer weiter in seinen Mußestunden fortsetzen: . . . ea omnia subsieiva et subseeundaria tém­pora ad coüigendas huiuscemodi memoriarum delectatiunculas conférant. Progre-dietur ergo numéros librorum . . . cum ipsius vitae . . . (Praef. 23f.). So entstan­den seine 20 Bücher, die er, wie in der Vorrede berichtet wird, während der Nächte seines Aufenthalts in Griechenland zusammenschrieb und für die er deswegen einfach und mit ländlicher Bescheidenheit, ut captus est noster, den Titel Noctes Atticae wählte (Praef. 10). Ausdrücklich weist er da raufh in , daß er mit Absicht keinen jener prätentiösen Titel wählte, wie sie andere Schrift­steller Büchern dieser Art zu geben pflegten: namque alii Musarum inscrip-serunt, alii silvarum, Ule τιέπλον, hic Άμαλ&είας κέρας, alius κηρία, partim

λειμώνας, quidam lectionis meae . . . usw. (es folgen noch über 20 Beispiele von Buchtiteln).

Die einzelnen Kapitel seiner Bücher sind fast alle kurz und behandeln meist nur einen Gedanken, eine historische Begebenheit (gesehen unter dem Aspekt des Exemplums, z. B. X I I , v n i ; Reditiones in gratiam nobilium virorum memo-ratu dignae), philologische Probleme, naturwissenschaftliche Fragen etc. Aulus Gellius ha t dabei nicht die Absicht, ein Thema erschöpfend darzustellen; oft will er nur andeuten und anregen (Praef. 17). Die Noctes Atticae „plaudern sich zu einer Einheit zusammen, ohne daß an eine Einheit gedacht ist", so charak­terisiert B I C K E L 1 den Geist dieser Schriftstellerei und fährt dann fort: ,,Dies römische Streben nach Auflockerung der literarischen Formen, wie es an ihren eigensten Dichtungsgattungen erwiesen, in der Prosa wiederkehrt, hat sie zu Meistern im Essay jeder Art gemacht."

Dieses Bedürfnis nach unterhaltsamer Belehrung h a t auch in späteren Jahr ­hunderten, vor allem in der Renaissance, viele Bearbeiter dazu veranlaßt, ihren Stoff in verwandte Form zu gießen. So faßte der Italiener CAELITJS RHODIGINUS in seinen Lectiones antiquae (1516) die eigenen Lesefrüchte und Gedächtnis-sehätze zu kleinen Abhandlungen zusammen. Besonders gepflegt wurde dieses Genre in Spanien, dessen berühmteste Sammlungen von ANTONIO DE GUEVARA und P E R O MEXÍA (Silva de varia lección) stammen. Obwohl letzteres Werk bereits 1542 erschienen war, beeinflußt es einen großen Teil der Literatur sogar noch des späten 17. Jahrhunder ts entscheidend. Es wird Vorbild für un­zählige Nachahmer in Spanien, Italien und Frankreich, von denen insbeson­dere in Frankreich P I E B R E BOUAYSTUAU mit seinen Histoires prodigieuses be­kannt wurde ; dieses Werk ha t t e solchen Anklang gefunden, daß Tesserand und Belieferest es weitergeführt haben. Du V E R D I E R schrieb eine Fortsetzung zu

M. c„ S. 81.

S cil un , Vorformen 6

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76 Die Kompilationsliteratur

der Silva de varia lección von Mexía, die 1572 von Gmget ins Französische über­setzt wurde, und J E A N DES CAURRES betont in dem Titel seiner Kompila­tionen ausdrücklich den Zweck der unterhaltsamen Belehrung : Oeuvres morales, et diversifiées en histoires, pleines de beaux exemples, enrichies d'enseignemens vertueux, et embellies de plusieurs sentences et discours . . . (1575).

Obwohl H E X Í A S Werk ausdrücklich in der Absicht geschrieben worden ist, Belehrung zu bieten, und obwohl einzelne Kapitel streng wissenschaftlich ge­halten sind (Von der Größe und dem Untergang des römischen Reiches, Über die Kalenderreform und die sieben Weltwunder, "Über die Kugelgestalt der Erde u. a.J und Wissenschaftlern bei ihrer Forschung dienen sollen, finden sich doch ebenfalls eine ganze Reihe anderer Kapitel, deren Themensetzung und Durchführung weniger dem ernsten Studium als der spielerischen Freude am Wunderbaren und Sensationellen gewidmet sind (Vom Alter der Menschen im Alten Testament, Von Frauen, die oft verheiratet waren u. a.) bis zu solchen Fragen, die keinerlei historische Bildung voraussetzen und deshalb auch von einem größeren Kreis ebenso gern gelesen wurden wie von einem Gelehrten, zumal sie Daseinsformen und Phänomene betreffen, deren Betrach­tung und Erklärung um so frappanter wirkte, je alltäglicher sie im Grunde waren (Warum der Lorbeer das Zeichen des Sieges ist, Warum Betrunkene alles doppelt sehen usw.).

Wie bei Pero Mexía in einem Kapitel historische, philosophische und natur­wissenschaftliche Probleme bei Behandlung einer einzigen Frage angeschnitten werden können, zeigt sehr schon I I , 7: Que l'imagination est une des principales puissances intérieures, prouvée par vrais exemples et notables histoires. An den Anfang des Kapitels wird eine philosophisch-psychologische Erkenntnis ge­stellt, die als Gesetz unantastbar ist: So wie es 5 äußere Sinne gibt, ha t der Mensch auch 5 innere: le sens commun, l'imagination, le jugement, la fantaisie, et la memoire. Nur von der Imagination soll hier gesprochen werden, deren Eigenschaft und Aufgabe es ist, retenir les images et figures que le sens commun reçoit premièrement des sens extérieurs, et puis elle les envoyé au jugement, d'où elles vont après à la fantasie, et de là en la caisse et coffre, qui est la mémoire. Nach dieser Umgrenzung der allgemeinen Funkt ion der Phantasie folgt die Analyse ihrer besonderen Funktionsweisen, die von normalen Reaktionen all­täglicher Natur bis zu psychopathischen Krankheitsbildern führen; letztere überwiegen, und wieder bricht die Freude der Renaissance am Seltsamen, Merkwürdigen, Sensationellen durch, wenn er mit besonderer Liebe auf gro­teske Ausgeburten der Phantasie hinweist : Die Imagination ruht nicht, wenn der Mensch schläft. Sie kann die Leidenschaften erwecken und das Unters te zu oberst kehren: L'imagination peut faire un homme malade, ou le guérir. Sie erzeugt Freude und Furcht , daß das Herz zit tert und die Stimme bebt. Sie be­wirkt, daß Leute in Ohnmacht fallen, wenn sie andere bluten sehen. Wenn wir andere bit tere und saure Sachen essen sehen, spüren wir irgendeinen scharfen Geschmack im Mund und entsprechend das Gegenteil bei süßen Speisen. SÍ nous voulons des exemples d'estranges imaginations, nous en pourrons ouyr

Die „Diverses Leçons" 77

beaucoup. Der hl. Augustinus behauptet , einen Manu gekannt zu haben, der auf Grund seiner Einbildungskraft schwitzen konnte, wann er wollte. Und er erzählt von einem anderen, der bei einem traurigen Lied ohnmiiehtig wurde u n d nichts mehr spürte u n d erst wieder zu sich kam, wenn man einen fröh­lichen Gesang anst immte. Plinius erzählt etwas Ähnliches von einem gewinnen Hermotim. Guillaume de Paris berichtet von einem Mann, der nur vmn An­blick einer Medizin s'en purgeoü. Ähnlich verhält es sich mit denen, die 1 tan men, daß sie sich verbrennen und den Schmerz auch spüren, ohne daß ein Feuer da ist. Die Einbildung kann so stark sein, daß sie selbst anderen ein Merkmal aufdrückt, so wie das Kind die Zeichen der Dinge an sich trägt , welehe die Mutter während der Schwangerschaft zu essen verlangte. König Cyrtin, In/w-f ayant par grande attention, ven combattre deux taureaux, il se mit vu, jour à dormir, ayant ceste imagination au devant, mais au resveil, il se trouva dru cornes de taureau, gui lui estoyent venues en la teste. Wenn das stimmt, dann hat. die vertu vegetative, angestachelt von der imagination, die Säfte zum Kopf geführt, die Hörner wachsen lassen. Marc Damascene erzählt von einer Frau in einem Ort bei Pisa, die ein Mädchen mit einem Fell gebar, weil sie seit der Empfängnis immer das Bild Johannes des Täufers betrachtet ha t te . Folgt noch eine Ansicht Avicennas und ein Zitat aus Thomas von Aquin. Beispiel von einem Mann, der in einer Nacht alt geworden ist. Encore void-on bien sou­vent, que Vimagination faict devenir les hommes fous, et telle fois si fort malades que c'est grande merveille de ses effets.

Trotz all dieser Anhäufung von Gelehrsamkeit versteht es aber Pero Mexía im Gegensatz zu seinen Vorläufern, seinen Stoff in liebenswürdiger Weise auf­zulockern und ihm eine anspruchslose volkstümliche Form zu geben. Darin besteht der Reiz des Buches und das Geheimnis seines Erfolges, der sich am besten in der Zahl der Auflagen und Übersetzungen spiegelt ; P F A N D L 1 sehätzt ihre Zahl auf 29.

Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Vergleich mit einem Montaigne-schen Essay, der ebenfalls die Imagination zum Thema h a t : Ι , χ χ ι : De la

Force de l'Imagination. Montaigne stellt kein psychologisches Gesetz an die Spitze seines Essays, aus dem er zunächst doktrinär das Wesen und die Funk­tion der Phantasie ableitet. Er geht von sich aus, erweitert seine Erkenntnis auf die menschliche Psyche im allgemeinen und reiht dann in sehr lockerer, gefälliger Form, immer wieder durchsetzt mit Selbstanalysen, eine Reihe von Exempla aneinander, die z. T. die gleichen sind wie bei Pero Mexía. Psycho­logische Erwägungen wie ζ. Β., daß die Kraft der Phantasie besonders stark auf die Seele des Volkes wirke, weil in ihr weniger Widerstandskräfte lebten, fehlen bei Pero Mexía vollkommen. Doch ist beiden Betrachtungen gemeinsam die Freude am enzyklopädischen Wissen, das in loser Form gefällig dargeboten wird. (Das Kapitel von Montaigne s tammt aus der ersten Zeit seines Schreibens.)

1 L. PFANDL, Geschichte der spanischen Nationalliteratur in ihrer Blütezeit. Freiburg 1929, 8.91.

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78 Die Kompilationsliteratur

Die französischen Nachfahren von Alexia, wie ζ. Β. Du VERDIER 1, sind jτη allgemeinen trockener und steifer. Schon die ersten Kapitelüberschriften ver­raten die engere Stoffbegrenzung: De Dieu, Des oeuvres que Dieu créa en six jours, en quel jour furent créés les Anges, Des bons Anges du -paradis terrestre usw. Diese theologisch-philosophische Hierarchie fehlt bei Mexia vollkommen. Auch die Durchführung ist wesentlich steifer. Das Raisonnement tritt fast vollkommen in den Hintergrund, und die Einleitung und Verbindung der ein­zelnen Kapitel ist genau so dürftig wie bei Valerius Maximus. Die Suite der Diverses Leçons ist lediglich ein weiteres Zusammentragen anderer Beispiele. In der Tat bedeutet sie in unserer Entwicklungsreihe einen Schritt nach rück­wärts. Oft sind Einleitungen ganz weggelassen, und ein Kapitel ist nichts anderes als eine Aneinanderreihung von Exempla, deren Anordnung keinerlei Originalität verrät. Tritt eigenes Raisonnement auf, dann handelt es sich meist um eine Moralpredigt, die derart von Gemeinplätzen strotzt, daß auch sie kaum als eigenes Raisonnement bezeichnet werden darf.

Auf derselben Linie bewegt sich JEAN DES CATXRRES, von dessen Œuvres morales et diversifiées Villey zu verstehen gibt, sie seien eine pesante compiL·-tion eines pédant2.

Es steht jedenfalls fest, daß Montaigne dieser Gattung der Kompilations­literatur für die Form seiner ersten Essays zu Dank verpflichtet ist und daß in einer Ahnenreihe essayistischer Formen die Diverses Leçons unmittelbar vor seinen eigenen ersten Kapiteln stehen müssen. Seine ersten Kapitel stellten kaum mehr als Diverses Leçons dar. Sein Werk war zu Beginn kaum etwas anderes als die Werke eines Pierre Messie, Du Verdier, Bouaystuau oder Des Caurres, die gerade in jenen Jahren, als er zu schreiben begann, Modeliteratur waren. Wie er sich von jenen Kompilatoren unterschied, worin seine zuneh­mende Originalität bestand, soll im letzten Kapitel gezeigt werden.

Exkurs: Exemplum und Geschichtsauffassung

Dem Exemplum fiel bereits in der antiken Geschichtswissenschaft eine füh­rende Rolle zu, gleichgültig ob es sich um Annalistik oder pragmatische Ge­schichtsschreibung handelte. Bei der ersten Richtung diente es vor allem der Charakterisierung einzelner Begebenheiten oder Personen und trug wesentlich zur Auflockerung des Stoffes bei. Im zweiten Falle dagegen hatte es vor allem die Funktion des Beweisführens von einem ganz bestimmten Blickwinkel aus. Da die Exempelliteratur sehr weit verbreitet war, hatten es die Historiker verhältnismäßig leicht, aus dieser Quelle zu schöpfen, die jedoch wegen ihrer Unzuverlässigkeit einer kritischen Überprüfung vielfach nicht standhält. Des­halb haftet vor allem der Annalistik, die sich mit vergangenen Zeiten beschäf-

1 ANTOINE DU VERDIEE, Les Diverses Leçons suivant edles de Pierre Messie, ConUnans plusieurs histoires, discours et faicts memorables. 5e éd. Tournon 160á (I. Aun. 1577).

2 P. VILLEY, Le.s Essais de Michel de Montaigne, Paris 1932, S. 150.

Exkurs: Exemplum und Geschichtsauffassung 79

tigt und daher auf bereits niedergeschriebenes Material angewiesen ist (im Gegensatz zu der pragmatischen Geschichtsschreibung, die das Warum der augenblicklichen Zustände ergründen will und die Dinge noch aus eigenem Miterleben kennt), ein gewisses Odium der Kritiklosigkeit an, von dem sogar Livius nicht auszunehmen ist. In bezug auf seine Forschertätigkeit sagt Bickel von ihm: „Wertvolle Unterrichtung bietet er dort, wo er wertvolle Quellen ausschreibt. . . Im allgemeinen zeigt sich, daß Livius seine Quellen nicht unter Abwägung und Kritik zur Auffindung des Richtigen benutzt hat, sondern um Stoff zur gefälligen Gestaltung eines patriotischen Lesewerkes zu erhalten . . . Der Instinkt, der Livius immer wieder zu den Geschichtenerzählern statt zu den Forschern und ernsten Berichterstattern geführt hat, war eben dadurch bedingt, daß er selber nichts als den Stoff rhetorisch zurechtzurücken, z. T. in naiv-unbewußter Weise, zum Vorsatz hatte. So hielt er sich unwillkürlich am liebsten an solche Geschichtsliteratur, die jenes Geschäft der rhetorischen Zuspitzung und Zurechtrückung der Ereignisse bereits vollzogen hatte. Dabei war es sein gläubiges Glück, kein Falsch hinter den Zeugen zu wittern, die statt der Geschichte die spannendsten Fabeln zu berichten gewußt hatten1."

Die pragmatische Geschichtsschreibung eines Sallust und Tacitus war we­sentlich kritischer, da sie durch den antiken Respekt vor dem geschriebenen Wort nicht so gehemmt war wie Livius und die Dinge aus eigener Anschauung kannte. Trotzdem darf festgestellt werden, daß das Geschichtsbild des gebil­deten Römers stark vom Exemplum, vom typischen Fall beeinflußt war. Die historische Einordnung und Begründung stand weniger im Vordergrund als überragende Einzelgestalten und ihre Qualitäten. Die beispielhafte Persönlich­keit wurde zum Prototyp einer durch sie symbolisierten Eigenschaft.

Mit dem Untergang der antiken Welt versinkt auch die Geschichtsschrei­bung, die erst durch Chronisten wie Froissart und Commynes wieder belebt wird; obwohl diese Werke für die Gesamtentwicklung sehr bedeutsam sind, interessieren sie in unserem Zusammenhang insofern nicht, als das Exempel des antiken Bildungsgutes bei ihnen kaum eine Rolle spielt. Als aber die Renaissance mit ihrem Kult der Antike sich erneut auf deren Bildungsformen besann, gelangt auch das Exempel wieder zu höchstem Ansehen. Schon im frühen 15. Jahrhundert wies SPEEONI DEGLI ALVAROTTI in seinen Discorsi auf die erzieherische Rolle der Geschichte hin, die im Exempel ihre verdichtete Wirkung erfahrt. Und BODINUS entwickelt in dem Prooemium seines Methodus2, das bezeichnenderweise schon den Titel führt De facilitate, oblectaiione et utili-tate historiarum, die These, daß die geschichtlichen Studien keinerlei Vorberei­tung bedürfen und großen Reiz für den Lernenden bieten, ihm also sozusagen im Spiel die Vorbilder geben, nach denen er sein Leben ausrichten soll. Um aber wirkliche Frucht aus diesen Studien zu ernten, muß die verwirrende Viel­falt der Geschichte entsprechend klassifiziert werden, da sie sonst dem Ge­dächtnis entgleitet und man ihren Sinn nicht begreift, id est, ut hei communes

1 BICKEL, 1. c, S. 163 u. 164. 2 Methodus ad facilem historiarum cogniiiontm. Benutzte Ausgabe : Basileae 1576.

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80 Die Kompilationsliteratur

rerum memorabilium certo quodam ordine, componantur, ut ex iis, velut ex thesau-ris, ad actiones dirigencias exemplorum vartetatem proferamus (S. 30f.), und zu diesem Zweck stellt er selbst ein Verzeichnis der in Frage kommenden loci communes auf, das serait pour effarer l'historien d'aujourd'hui1

:,Priore libro singulares hominum actiones et casus humanos eo quo diximus ordine consti-tuemus. Primus locus erit de generis obscuritate ac nobilitate; alter de vita et morte; tertius de vitae commodis; tum de opibus et inopia; deinceps de vitae splendore ac parsimonia, da ludis et speclaculis, de voluptate ac dolore,, de gloria et infamia, de corporis foedítate ac forma, de robore ac imbecillitate, de barbarie et humanitate, de ignorâtione ac scientia . . . ' : (p. 41). Hier ist das Exempel wie­der auf derselben Stufe wie bei der Geschichtsschreibung eines Livius, und auf dieser Stufe steht es auch, noch bei Montaigne, der, wie Porteau glaubt2, sich sein Liber Locorum auf diesen Ra t Bodins angelegt hat .

Sentenz und Florilegien

„Aille devant υν apres, un'utile, .sentaría1, un beau traic-t est toujours de saison. S'il n'est pas bien a ce qui va devant, ny a ce qui vient après, il est bien en soi."

(ΜοΝΤaigne Essais, Τ, χχντ, 220.

Ebenfalls dem Bedürfnis der Rhetore η schulen nach Klassifizierung des vor­handenen liildungsmaterials dienten die antiken und mittelalterlichen Flori­legien, die Sentenzen, Homoiomata, Gnomen und andere Kleinformen ent­hielten. Charakteristisch für diese Formen ist, — im Gegensatz zu den Exem-peln, bei denen mehr die Fabel an sich interessierte als ihre Herkunft, — daß sehr oft, angegeben ist, von welchem Schriftsteller der betreffende Ausspruch s tammt. Auf diese Weise ha t sieh antikes Gedankengut nicht nur anonym wie beim Kxempel, sondern tatsächlich mit dem Nachweis der Urheberschaft bis in unsere Zeit hinübergerettet. Die Funktion solcher Sammlungen war der­jenigen der- Exempelsanvmlungen naturgemäß sehr ähnlich: Hier wie dort sollten sie Material für die moralische Unterweisung bieten, Gedächtnisstützen schaffen durch besonders prägnante Sätze —• und überdies sollten sie dem Be­dürfnis all derjenigen entgegenkommen, die für Plädoyers, Predigten, Beden aller Art Material zu bestimmten Themen suchten. Neben dieser praktischen Bedeutung, welche die Florilegien mit den Exempelsammlungen gemeinsam hat ten, steht aber ein sehr wichtiger, nach innen gerichteter Faktor, der, wie Huizinga nachgewiesen hat , charakteristisch ist für „das Bedürfnis, jeden Lebensfall zu einem moralischen Vorbild auszugestalten, alle Urteile in Sen­tenzen zu sondern, wodurch sie etwas Substantielles und Unantastbares be­kamen3 . Dafür genügte es aber nicht, -wenn man selbst Sentenzen ableitete

1 PORTEAU, 1. c. S. 188. a PORTKAU, 1. c, S. 207. 3 J. HUIZINGA. Herbst des Mittelalters. München Ί924, S. 318,

Sentenz u n d Florilegien 81

und herauskristallisierte, sondern m a n hielt sieh dabei an bei'ühmt.e Vorbilder, deren Lehren über jeden Zweifel erhaben waren. Zunächst war dieses Bedürf­nis im beginnenden Mittelalter deshalb nicht so stark gewesen, weil die Heilige Schrift jedem Bildungsbeflissenen, jedem nach Moraltheologie Strebenden, einen Schatz von Zitaten zur Verfügung stellte, aus dem er nach Belieben schöpfen konnte. Mit der beginnenden Renaissance aber traten die antiken Sentenzen neben die biblischen. Dieser Entwicklung kam es sein· zustatten, daß schon frühe kirchliche Autoren, wie ζ. Β. Martin von Bracara vor allem Séneca als einem Heiden, der würdig gewesen wäre, ein Christ zu sein, zum Fortleben verhalf, indem er aus seinen Werken Auszüge machte, die sonsl nirgends erhalten sind; und die Brüder vom gemeinsamen Leben bevorzugen ihrerseits aus demselben Grunde in ihren Rapiarien Seneca und Virgil. Λυf diese Weise sind Bruchstücke aus alten verloren gegangenen Originaltexten doch noch auf uns gekommen1. Andererseits aber erborgten sieh Spruchsamm-lungen den. berühmten Autornamen erst im Mittelalter, so daß man oft die Autorschaft nicht mit Sicherheit festlegen kann. Biekel weist in diesem Zu­sammenhang daraufhin , daß die Sententiae Varronis ebensogut spätantiken wie mittelalterlichen Ursprungs sein können2 .

Daß diese Florilegien nicht nur Bildungsgut des Geistes sein wollten, sondern gleichzeitig eine erzieherische Tendenz hat ten, zeigt sieh sehr schön in einer der ältesten Sammlungen dieser Art, der Margarita poética (1472) des ALBEKTUS DE E Y E , deren Titel die Zielsetzung sehr deutlich erkennen läßt : Preciosa haec grammatica in se continet: praecepta, clausulas, auctoritates atque sentencias memoratu dignas ex diversorum philosophorum, hisloricorum, oratorum, poeta-rum multorumque aliorum clarorum virorum libris in unum collectas: quaegue ad artem bene dicendi recteque vivendi formam plurimum condueunt. . A

Unter diesen Sammlungen zeichnet sich G E U T E R U S 4 durch eine besondere Anordnung nach Autoren aus: Nach dem Alphabet werden Gnomae ethico-politicae gebracht, dann P. Syri Mirai et Senecae, sententiae, Gnomae Paroe-miaeque. Darauf folgen „Gruteri Notae" welche die Gnomae wiederholen und Quellen angeben.

Die äußere Ordnung dieser Sammlungen ist derjenigen der Exempelsamm­lungen sehr ähnlich ; sie richtet sich nach sachlichen Gesichtspunkten, nach denen unter einem Oberbegriff {Abstinentia, Dolor) Definitionen, Äußerungen etc., kurz möglichst viele Zitate zusammengefaßt werden. Auch dafür ist der Titel einer dieser Sammlungen bezeichnend (Bartholomaeus Amantius):

,,Flores celebriorum sentontiarum graecarum ac latinarum, définitionum, item virtu-tum et vitiorum, omnium exemplorum, proverbiorum, apophthegmatum, apologorum, similium et dissimilium, simulque graviter dictorum ac factorum, tam ex veteri, quam novo Testamento, eorumque interpretibus : nempe sacratissimis Eccelesiasticis Doctoribus, porro et Philosophis, Poetis. Oratoribus ac Historicis . . . plus quam viginti quatuor annis,

1 Vgl. BICKEL, 1. e, S. 28. 2 Vgl. BiCKeL, 1. c, 8. 407. 3 Zit. nach der Ausgabe Argentina© 1503. 4 JAKUS GKÜTERLTS. Florilegium Ethieo-Politicum. . . . Francoforti 16J0.

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82 Die Kompilationsliteratur

summa fide, studio, sechilitate, ad communem studiosae iuventutis utilitatem passim selecti, simulatque demum in ordinem alphab. quam exactissime redacti1 ."

Von hier aus führten dann philologische Bedürfnisse zu einer Zusammen­stellung von Redewendungen, so daß DOLET, Phrases et formulae ein regel­rechtes Wörterbuch geworden ist, das klassische Zitate vor allem aus Cicero bringt, um dem Benutzer das Schreiben eines möglichst klassischen Lateins zu erleichtern. Es weist Ähnlichkeit mit modernen Wörterbüchern auf, wie sich leicht aus folgendem Beispiel ersehen läßt :

„ D e n s generaliter id omne dieitur, a quo aliquid teneri, vel extrahi potest. Dentés vero peculiariter sunt, qui cibum conterunt.

Dentea in ore constructi (folgt klass. Beleg) „ candiduli ,, ,, „

etc.2.

Aus all den Florilegien der Antike und des Mittelalters hebt sich eines be­sonders hervor (das in der Renaissance oft bearbeitet und ediert wurde), weil es durch Materialreichtum und Formenfülle fast Vorläufer Montaignescher Essays wurde und aus dem viele andere Sentenzen- und Exempelsammler ab­geschrieben hatten: Das spätantike Anthologion des Johannes von Stoboi, das sowohl Sentenzen wie Exempel, Gnomen und Apophthegmen enthält, — und zwar derart angeordnet3, daß zuerst die Dichter zu Wort kommen, wonach erst die Prosaschriftsteller angeführt werden. Unter die bekannten Loci com­munes wie etwa de prudentia, de timiditate, de fortitudine, de iustitia werden Philosophen- und Dichterworte, Sentenzen, Gnomen, Exempel und eine Reihe der bereits angeführten Kleinformen eingeordnet, ohne daß der Verfasser je­doch (und hier liegt der bedeutsame Unterschied zum Werke Montaignes) eigene Gedanken zum Thema äußert, Stellung nimmt oder sich gar Abschwei­fungen erlaubt. Immerhin umfassen seine Themen aber fast das gesamte an­tike Bildungsgut: Buch I und II des Anthologion, die Eclogae physicae et ethicae behandeln philosophische und erkenntnistheoretische Grundsätze, rhe­torische und dialektische Begriffe sowie Poetik und Moraltheorie. Buch I I I und IV, das eigentliche Florilegium, die Sermones, behandeln im Gegensatz dazu das praktische Leben, Tugenden und Laster, Politik, Familie, Hauswirtschaft und die Künste.

Wie weit dieses hochberühmte antike Werk noch vom Geiste der Renaissance entfernt ist, zeigt schon ein sehr flüchtiger Vergleich mit manchen Erasmischen Adagia, von denen es nur noch ein kleiner Schritt bis zu den Montaigneschen Essays ist. Waren für den spätantiken Schriftsteller die Dichterworte noch das einzig Aufschreibenswerte, so nimmt Erasmus das Adagium der Alten oft zum

1 Zit. nach der Ausgabe Dilingae 1556. a Phrases et formulae linguae latinae elegantiores, Stephano Doleto autore. Nunc denuo

recognitae . . . Argentorati 1576, S. 70. a JOHAIÍNTS STOBAEI sententiae ex thesauris Graecorum delectas . . . in' sermones sive

locos communes digestae, nunc primum a Conrado Gesnero . . . traductae . . . Tiguri 1543.

Die „ A d a g i a " des E r a s m u s 83

Anlaß, um eine eigene Stellung dazu zu nehmen; es durch Exempel zu erläu­tern, die z. Τ. nicht aus anderen Quellen stammen, sondern selbsterlebt sind, Exempel, bei deren Erzählung er sich nicht auf die nackten Tatsachen be­schränkt, sondern persönliche Wertungen und Gefühlsmomente einfließen läßt.

Die „Adagia" des Erasmus

Eine Sentenzen- und Sprichwörtersammlung hat mit einem Essay nicht mehr gemein als eine Kompilation von Exempla. Doch sie tragt genau so wie eine Exempelsammlung die Entwicklung zum Essay als Möglichkeit in sich ; denn dort, wo ein schöpferischer Geist sie zum Anlaß nimmt, nachzudenken und seine Gedanken in kleinen Abhandlungen niederzulegen, dort beginnt diese Möglichkeit sich zu realisieren, — genau so wie Montaigne Exempla, Sentenzen und Lesefrüchte als Material, als Objekte für die essais de jugement wählte. Die Adagia des Erasmus sind ein solcher Fall, in dem aus der Betrach­tung anläßlich einer Sentenz, eines Sprichworts oder nur einer Redensart Essays entstanden sind. Die Voraussetzungen dafür waren in der Persönlich­keit Erasmus' gegeben, denn die Haltung des Erasmus weist manche Parallele zum Geist Montaignes auf.

Die Begeisterung des Humanisten Erasmus für die Welt der Antike spricht aus allen seinen Schriften, selbst aus den religiösen, denn sein ganzes Leben lang versuchte er, eine Synthese zu finden zwischen dem Geist der Antike und dem Christentum. Das tertium comparationis, die Brücke zwischen beiden Welten war für ihn die Erkenntnis des Gesunden, Heilsamen, Natürlichen, das er auch in der antiken Literatur fand (ausgedrückt in einer Sprache, die für den Humanisten Ideal, unerreichbares Vorbild war)* Diese Erkenntnis war eine der wesentlichsten Voraussetzungen für den Humanismus ; sie trennt das Mittel­alter von der Renaissance, indem sie für den Christen das Odium des Heid­nischen, Sündhaften von der antiken Literatur nahm und die „bonae literae" in neuem Licht erscheinen ließ. Das Wort des Erasmus, nichts sei unglücklich, wenn es seiner Natur nach lebe1, ist ein Gedanke, der genau so aus der neuen Bewertung der Antike entspringt wie das Montaignesche heureusement, puisque c'est naturellement (III, π, 37). „An Stelle einer von der Kirche umspannten Welt, wie sie Thomas von Aquino und Dante geschaut und beschrieben hatten, sah Erasmus eine andere Welt voll Zauber und Erhabenheit, in die er seine Zeitgenossen hineinführen wollte2." Diese Welt der Antike tritt in seinen Wer­ken stets neben dem christlichen Gedankengut auf, fast möchte man sagen, gleichberechtigt ; denn um eine Behauptung zu stützen und zu beweisen, ist ihm ein antikes Zitat ebenso willkommen wie Worte der Kirchenväter. Es ergibt sich daraus aber eine Geisteshaltung, die auch die andere Seite der Dinge sieht, die auch die Meinung des Gegners achtet, die schroffe Stellungnahme vermei-

1 ERASMUS, Encomium moriae, Baseler Ausg. v. 1515. Faksimile Basel 1931, S. G 4 v. 2 HUTZINGA, Erasmus, S. 123.

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84 Die Kompilationsliteratur

det. Zeit seines Lebens hat Erasmus es vermieden, in manchen Fragen klare Positionen zu beziehen; Rom und Reformation betrachteten ihn als einen der Ihrigen. Montaignes Wort chaque chose a plusieurs biais et 'plusieurs lustres könnte ebensogut von Erasmus stammen, wie sich Huizingas Worte : „In allen Fragen des menschlichen Geistes erkannte er die ewige Ambiguität"1 auf Montaigne beziehen könnten. Diese Haltung, die alle engen Fesseln starrer Doktrinen ablehnt, ist überhaupt Voraussetzung für das Schreiben von Essays im Montaigneschen Sinne.

Eine andere Erscheinung in Erasmus' Werk ist dieser Einstellung des Geistes verwandt : es ist die Stimmung des Spiels2, die uns aus seinen Colloquia ebenso entgegenleuchtet wie aus dem Laus stultitiae und aus den Adagia. Es ist die Lust am Variieren des Ausdrucks, die Freude daran, daß man auf 50 verschie­dene Arten sagen kann: „Ich denke, daß es Regen gibt" (De copia verborum ac rerum), das Entzücken über die Menge der Argumente und Beispiele, die sich für eine Behauptung finden lassen, und die deshalb alle angeführt werden, weil man auf keins verzichten kann. Die gleiche Freude gab den Impuls zum Sammeln der Apophthegmata und der Adagia, verbunden mit der Absicht, die Weisheit der Antike allen zugänglich zu machen ; dieser Gedanke der Vulgari­sierung trug ihm von anderen Humanisten den Vorwurf ein: „Erasmus, du schwatzest unsere Mysterien aus3." Aber im Grunde ist es die gleiche Vulgari-sierungstendenz, die uns auch aus der Literatur der Diverses Leçons be­kannt ist.

Eine andere Voraussetzung bei Erasmus für das Schreiben von Essays wurde bereits angedeutet : die Handhabung des Lateins wie einer Muttersprache. Der Humanismus entkleidete das Latein des Charakters einer toten Sprache und ersetzte die streng syllogistische Form der scholastischen Ausdrucksweise durch eine lockere Form; er näherte das Latein der natürlichen Ausdrucksweise des täglichen Lebens4. Wenn vielleicht die Behauptung, manche von Erasmus' Schriften seien Essays, trotz aller oben geschilderten Voraussetzungen einem gewissen Vorbehalt begegnen mag, — liegt das nicht daran, daß über diesen „Essays" der Schleier des Lateins eines Humanisten liegt, der die Sprache ein wenig zu virtuos beherrscht und der auf eine schöne Redefigur ciceronianischer Prägung nicht verzichten kann ?

In der Sammlung der Adagia gibt es mehrere Sentenzen oder sprichwört­liche Redensarten, bei deren Kommentierung Erasmus über das sonst geübte Maß hinausgeht. Es sind antike Zitate, die ihn besonders anregten, von denen Themen berührt werden, die ihm besonders angelegen waren und die in seinen Briefen und Colloquia immer wiederkehren. Hier sind wirkliche Essays von Erasmus geschrieben worden.

Die erste Ausgabe der Adagia erschien im Jahre 1500 in Paris und enthielt etwa 800 sprichwörtliche Redensarten, die Erasmus aus antiken lateinischen Autoren zusammengetragen hatte : Es sind Redewendungen wie Similes habent

1 Erasmus, S. 155. 2 Vgl. HUIZINGA, Homo luäms, S. 292. 3 HUIZINGA, Erasmus, S. 50. * Vgl. HUIZINGA, Erasmus, S. 52.

Die „Adagia" dea Erasmus 85

labra lactucas, Risus Sardonicus, Sanctum dare canïbus, Manus manum fricot etc. Die Erläuterungen zu den einzelnen Wendungen, die ihren Sinn und ihre Verwendungsmöglichkeiten erklären und gegebenenfalls weitere klassische Be­legstellen geben, umfassen nur wenige, bis zu 20 Zeilen. Zunächst bedeutet diese Sammlung nicht mehr als seine Sammlung der Apophthegmata, als seine Parabolae oder das ebenfalls einen großen Vorrat an Ausdrücken bietende sti­listische Lehrbuch De copia verborum ac rerum. Er weist in der Vorrede auf die Nützlichkeit hin, wenn ein Autor einen großen Sehatz an alten Sentenzen be­sitze ad persuadendum, ad decus et gratiam orationis, ad intelUgendos óptimos quosque autores. Aber das war nur der Anfang eines Werkes, dem er sich in den folgenden Jahren immer wieder zuwandte, in das er immer mehr Adagia, auch aus griechischen Autoren, aufnahm, so daß ihre Zahl von 800 auf mehrere Tausend anwuchs. Mit dieser quantitativen Erweiterung (auch der Erläuterung einzelner Adagia: der Kommentar zu Risus Sardonicus z. B. wuchs von 16 Zei­len auf 3% Folioseiten) gewann das Werk auch eine neue Bedeutung: Die Adagia wurden ein Instrument, das den Geist des Altertums einem großen Kreis übermittelte, und bedeuteten für Erasmus die Möglichkeit, die Überein­stimmungen zwischen antiker Philosophie und christlicher Lehre zu beweisen. Die Erläuterungen vieler Wendungen blieben nicht mehr auf das Philologisch-Stilistische beschränkt, sondern wurden Anlaß, seine Ideen über Krieg und Frieden, über Mißstände in Staat und Kirche zu propagieren. Mit jeder quan­titativen Erweiterung gab er dem Werk ein Stück mehr von seinem eigenen Ich mit, und aus der trockenen Sammlung stilistischer Wendungen wurde ein per­sönliches Werk, das den Stempel Erasmischen Geistes trug: Chaque Adage de plus était comme une note nouvelle, inscrite par la vie au coeur d'Erasme1.

Die großen Adagia, d. h. die, deren Kommentar sich über viele Seiten er­streckt, lassen zweifellos das ursprüngliche Ziel der Sammlung außer Acht. Sie werden Selbstzweck. Scarabaeus Aquilam quaerit (Ad. 3600) vergleicht den schlechten Herrscher mit dem stolzen und raubgierigen Adler und wird zu einem regelrechten Fürstenspiegel. Dulce bellum inexpertis (Ad. 4000) zeigt die Naturwidrigkeit und die Schrecken des Krieges. Es ist ein Thema, das ihm be­sonders am Herzen liegt, das er ebenfalls in der anonymen Dialog-Satire gegen den Papst Julius exclusus e Coelis, in der Querela pacis, in der Oratio de pace et discordia und in einem Brief vom März 1514 an den Abt von St. Bertin be­handelt. Dieser Brief an Antonius von Bergen2 liegt dem Adagium Dulce bellum inexpertis zugrunde. Sileni Alcibiadis (Ad. 3200) beklagt die weltliche Haltung der Bischöfe usw.

Wieweit ein solcher Aufsatz von Erasmus wirklich ein Essay ist, kann nicht besser gezeigt werden als durch eine Wiedergabe eines dieser Adagia, die hier nur auszugsweise erfolgen kann. Das Einfügen von Zitaten, Beispielen, per­sönlichen Erlebnissen und Betrachtungen geht aus der Wiedergabe so klar hervor, daß eine eingehendere Analyse überflüssig erscheint.

1 T. QTTOHIAM, Erasmus, Paris, 1935, S. 34. 2 A L L E N , I. c, S. 288.

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86 Die Kompilationsliteratur

Spartam nactus es, hanc orna1.

Die Erläuterungen beginnen mit einer Sinnerklärung: Das Sprichwort sei eine Mahnung, uns dem Amt, das wir nun einmal bekommen haben, anzu­passen und uns seiner würdig zu zeigen. Es folgen dann Belege für das Sprich­wort aus Schriftstellern der Antike und eine Aufzählung von Anwendungs­möglichkeiten (z. B. „wenn wir jemand ermahnen wollen, die Rolle, die er übernommen hat, geziemend auszufüllen: Du bist ein Bischof, dann handle nicht wie ein Satrap, sondern wie ein Bischof; du bist verheiratet, dann erfülle auch die Pflichten eines Ehemannes" usw. Erasmus fährt dann fort (S. 486) :

Den Spruch müßte man allenthalben an den Höfen der Fürsten in Stein einmeißeln: Σπάρταν έλαχες, ταύταν κόσμει, denn kaum wirst du einen finden, der wohl erwägt, was es heißt, die Bolle eines Fürsten zu spielen und der, mit seinem Gebiet zufrieden, nicht versucht, seinen Grenzen noch etwas einzuverleiben. Des Fürsten Amt ist es, mit allen Mitteln für das Wohl des Staates zu sorgen und die öffentliche Freiheit zu hüten; den Frieden zu fördern, Verbrechen unter möglichst geringem Verlust der Seinen zu verhüten; zu sorgen, daß er gewissenhafte und untadelige Beamte habe. Doch wenn er sich um diese Dinge nicht kümmert , wenn er würfelt, tanzt , hur t , musiziert, jagt und Geschäfte macht, kurz anderweitig ganz in Anspruch genommen ist, dann muß man ihm warnend dies Wort entgegenrufen: Σπάοταν έλαχες, τανταν κόσμει. U n d wo das eigene Land vernachlässigt wird, wo der Fürs t nach draußen schaut, nach anderen Reichen giert, die Seinen in tiefste Not führt und völlig aussaugt, sich und das Glück aller dem Zufallsspiel des Krieges überantwortet, auf daß er das eine oder andere Städtchen seinen Grenzen einverleibe, da muß man ihm entgegenhalten: Sparta hast du bekommen! Es gibt für einen Fürsten nichts Schöneres, als sein Land, das nun einmal das Schicksal ihm gab, durch ¡seine Weis­heit, Tugend, Umsicht herrlicher zu machen. Wenn es nur ein Städtchen ist, dann ahme Epaminondas nach: sorge, daß dieses unscheinbare Städtchen durch deine Taten viel berühmter und viel reicher werde. Wenn du ein ungezähmtes und schwer zu behandelndes Volk hast, mühe dich ab, auf daß es bald gesittet lebt und den Gesetzen gehorcht. Wenn du ein wenig glänzendes Königreich beherrschst, quäle nicht die Nachbarn, sondern ver­schönere deinen Besitz, ohne Fremden Schaden zuzufügen. Selten hat ein Angriff auf frem­des Gebiet glücklich g e e n d e t . . . Auch Xerxes, Cyrus und Alexander der Große hät ten länger gelebt und hät ten sich wahrhafteren Ruhm verdient, wenn sie ihre Staaten recht verwaltet hätten, s tat t fremde mit Waffengewalt anzugreifen. Wenn Karl von Burgund, des jetzigen Herzogs Großvater, seine reichen Geistesgaben und seine Seelengröße dazu verwandt hät te , das Seine zu bereichern, s ta t t Fremdes zu erobern, wäre er nicht eines unglücklichen Soldatentodes gestorben, und man hät te ihn zu den glorreichsten Fürsten rechnen können . . . Karl, König von Frankreich, seines Namens der VIII . , durchzog ganz Italien und kehrte dann zu den Seinen zurück, doch mit solchem Unglück und unter solchen Gefahren für sich und die Seinen, daß sein Erfolg verdroß. Im übrigen behaupten manche, er hät te das Greisenalter erlangen können, wenn er Italien den Italienern gelassen hät te . Was soll ich von Philipp, dem Vater des jetzigen Karl, erzählen ? Er zog nach Spanien, nioht um das Kriegsglück zu versuchen, sondern herbeigerufen, um seinen Teil des König­reichs in Besitz zu nehmen. Überall herrschte Frieden — und doch, wie beweinte das Vaterland diesen zu glücklichen Zug; wurde es nicht durch Abgaben ausgeplündert? Er selbst schwebte oft in großer Lebensgefahr . . . Und was soll ich von dem allerehristlichsten König der Franzosen, Ludwig X I L , sagen? Er griff die Venetier an, die zu jener Zeit un­bezwingbar schienen, und in einem einzigartigen Kampf gewann er für den Papst Julius

1 Ad. 2400. Inhaltsangabe und Übersetzung nach der Ausgabe von 1559 : Adagiorum, Chiliades Des. Erasmi Boterodami IV cum eesquicenturia ex postremo autoris recognitione. Basel, Froben. S. 485—489.

Die „Adagia" des Erasmus 87

viele Städte zurück und viele für Kaiser Maximilian und für sich. Er kehrte heim, nachdem anscheinend alles glücklich verlaufen war. Doch welcher Strom von Leid ergoß sich dann über die Gallier? Die mit ihrem Blut so viele Triumphe für Julius erkauft hat ten, wurden durch seine Machenschaften unter noch größerem Blutverlust aus Italiens Gebiet hinausgeworfen . . . Was soll ich von dem erlauchten König der Schotten, Jakob, erzählen ? Jener Mann hät te größtes Glück mit höchstem Ruhm verbunden, wäre er immer mit seinen Grenzen zufrieden gewesen. Er war von einer Gestalt, die schon von weitem den König erkennen Heß, von herrlichem Geiste und verfügte über eine unglaubliche Kenntnis aller Dinge ; er besaß eine unübertroffene Seelengröße, echt königliche Würde, höchste Güte und größte Freigebigkeit. Es gibt keine gute Eigenschaft, die einem großen Fürsten geziemt, in der er sich nicht so auszeichnete, daß selbst die Stimmen der Feinde ihn lobten. Die Schwester des erlauchten Königs Heinrich VII I . von England, Margareta, war seine Gemahlin. Ihre Gestalt, Klugheit und Gattenliebe waren derart, daß er sich von den Überirdischen keine Bessere hät te wünschen können. Das Königreich Schottland, das schon durch seinen Reichtum, seine Bevölkerung und sein Ansehen berühmt war, machte er durch seine guten Eigenschaften so angesehen und förderte und verwaltete es so, daß er den Titel eines wahrhaft ausgezeichneten Fürsten verdient hät te , wenn er in diesen Grenzen seines Ruhmes geblieben wäre. Aber nie ist es für das Reich und selten für den Fürsten glückbringend, wenn er sein Land verläßt. Doch da er dem König der Gallier sehr freundschaftlich verbunden war, überschritt er die Grenzen seines Landes und begann Krieg mit den Engländern, um den König Britanniens, der mit seinem Angriff den Staat der Gallier bedrohte, zur Verteidigung seiner Insel zurückzurufen. Und wozu ? Er fand einen zwar tapferen, aber unglücklichen Tod, unglücklich mehr für sein Reich denn für ihn. In der Blüte seiner Jahre starb er. Lange hät te Schottland einen solchen Fürsten, lange Margareta einen solchen Gatten und lange sein Sohn {denn sie hatte ihm einen Sohn geschenkt) einen solchen Vater haben können, und er andererseits hä t te all dies und seinen Ruhm genießen können, wenn er sich dies Leben gegönnt hät te . Zusammen mit diesem tapferen Vater wurde auch sein Sohn, der dieses Vaters wirklich würdig war, getötet, der Erzbischof Alexander, zwar erst ein Jüngling von etwa zwanzig Jahren, doch keine gute Eigenschaft des reifen Mannes vermißte man bei ihm. Von wunderbarer Gestalt, edler Würde und herrlicher Vornehmheit war er; er besaß einen sanftmütigen Geist, der jedoch hartnäckig war im Erlernen aller Wissenschaften. Ich verkehrte nämlich mit ihm im gleichen Hause. Damals wurde sein Geist von mir in den Vorschriften der Rhetorik und im Griechischen geschult. Mein Gott, wie schnell, wie glücklieh, wie auf­fassungsfreudig war sein Geist in allem, wieviel konnte er zu gleicher Zeit betreiben! Er studierte damals auch Jurisprudenz; doch liebte er sie nicht besonders wegen der Bei­mischung der Unkultur und des häßlichen Wortschwalls der Kommentatoren. Er hörte die Worte des Vortragenden, sprach über ein gegebenes Thema und übte in gleicher Weise Wort und Feder. Er lernte Griechisch, und täglich trug er das, was gelehrt worden war, zur festgesetzten Zeit wieder vor. In den Nachmittagsstunden widmete er sich der Musik, spielte Monochord, Flöte und Laute ; oft übte er sich im Singen. Nicht einmal die Essens­zeiten waren für das Studium verloren . . . So war jeder Teil des Lebenslaufs dem Studium gewidmet, ausgenommen nur der Gottesdienst und die Schlafenszeit. Denn wenn auch irgendwann einmal etwas Zeit übrigblieb (was bei einem so abwechslungsreichen Studium kaum vorkam), so widmete er sich sogleich dem Studium der Historiker; denn mit deren Kenntnis beschäftigte er sich vorzüglich. So kam es, daß dieser Jüngling von kaum 18 Jahren in allen Wissenschaften so weit vorgeschritten war, wie man es sonst mit Recht bei einem Mann bewundern würde. Und dabei war es auch nicht so, wie es sonst oft zu sein pflegt, daß er zwar für die Wissenschaft, doch weniger für die guten Sitten gut veranlagt gewesen wäre. Seine Sitten waren sehr zurückhaltend, doch so, daß man eine wunderbare Klugheit bei ihm feststellen konnte. Sein Herz war zart und weit entfernt von allen schmutzigen Leidenschaften, doch ohne Starrheit und Hochmut. Alles fühlte, vieles verbarg er, und nie konnte man ihn zum Zorn reizen. So stark war die Sanftmut seines Charaktere und die Mäßigung seines Herzens. An Witzen hatte er sehr viel Freude, doch nur an geistvollen

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88 Die Kompilationsliteratur

und nicht an groben, d. h. nicht an solchen, die mit dem schwarzen Salz des Momus, sondern an denen, die mit dem glanzenden Salz Merkurs gewürzt waren. Und wenn einmal vielleicht im Haus Zank unter den Dienern ausgebrochen war, so war es wunderbar, mit welcher Geschicklichkeit und Natürlichkeit er ihn beilegte. Schließlich war er sehr religiös und fromm, und nichts Abergläubisches war in ihm. Kurz, niemand war würdiger, der Sohn eines Königs, eines solchen Königs zu sein. Wäre doch nur seine Ehrfurcht vor dem "Vater auch so glückbringend gewesen, wie sie bewundernswert war. Er zog mit in den Krieg, um den Vater nicht im Stich zu lassen. Ich frage, was hattest du mit Mars, dem stupidesten aller Dichtergötter, zu tun, der du den Musen, der du Christus geweiht warst ? Was h a t diese Gestalt, dieses Alter, eine so sanftmütige Natur , ein solch glänzender Geist mi t Kriegsgetümmel, Kanonen und Schwert gemeinsam ? Was hat schließlieh ein Gelehrter m i t einer Schlacht zu t u n ? Was ein Bischof mit WaffenÎ Deine unbändige Liebe zum Vater war zweifellos der Grund; da du ihn so sehr liebtest, starbst du unglücklieh mit ihm zusammen. Solche Talente, soviel Tugend und soviel Hoffnungen vernichtete der Sturm einer einzigen Schlacht. Auch mir ging dabei viel verloren. Denn die Mühe, die ich bei deiner Erziehung aufwandte, und das, was durch meinen Fleiß in dir geboren wurde, beanspruche ich für mich. Welch unermeßliches Glück wäre es gewesen, wenn nicht ein schlechter Geist den König veranlaßt hät te , die Grenzen seines Reiches zu ver­lassen und auf fremden Feldern mit wildem Kriegsvolk die Geschicke des Mars auf sich zu nehmen? H&tte er doch das, was er so wunderbar begonnen, auch vollendet! Das un­vergängliche und schönste Ruhmesfeld für Könige liegt nur innerhalb der Grenzen ihrer Reiche. Im Bienenvolk können alle hierhin und dorthin fliegen. Nur die Königin, die keinen Stachel hat , besitzt im Verhältnis zu ihrem Körper viel zu kleine Flügel, so daß sie nioht zum Fluge taugt . Die Alten stellten die Venus dar, wie sie mi t einem F u ß auf einer Schildkröte stand. Damit wollten sie andeuten, daß die Mutter der Familie nie das Haus verlassen soll, da ja ihr ganzer Pflichtenkreis von den häuslichen Wänden umschlossen werde. Noch viel zweckmäßiger wäre es, den König durch dieses Symbol zu mahnen. Denn wenn er einen Fehler begeht, dann schadet er nicht einer Familie, sondern dem ganzen Erdkreis. Gibt es denn zu Hause so wenig Aufgaben, daß draußen solche gesucht werden müssen? So groß ist überall die schmutzige Flut der Verbrechen; überall gibt es eoviel Frevel, Raub , Unterdrückung, Unrecht, Schimpf, korrupte Behörden, Gesetze, die entweder von Tyrannen erlassen oder zu Tyrannendienst verdreht sind — um von jenen weniger wichtigen Dingen gar nicht zu sprechen, von den vernachlässigten Straßen der Städte , den verfallenden Kirchen und nicht regulierten Flußläufen. Hier gebiete Einhalt , denn dies Heilmittel kostet nicht das Blut deiner Bürger; die Gemeinschaft fühlt dieses Geschenk und keine Lasten. Ist dies nicht die erhabene Pflicht des Fürsten und unsterb­lichen Ruhmes würdig ? Wenn du überhaupt den Kreis deines Ruhms über deine Landes­grenzen hinaus erweitern willst, dann handle so, daß deine Nachbarn deine Größe durch deine Wohltaten und nicht durch deine Übeltaten erfahren. Dörfer brennst du nieder, zertri t tst Saatfelder, zerstörst Städte, treibst Vieh weg, metzelst Menschen nieder, und so erkläret du dich schließlich für groß. Ein schöner Kampf, wenn du ihn gegen die Böse­wichte unternommen hät tes t ! Hesiod schreibt: ein schlechter Nachbar sei ein großer Schaden, hingegen ein guter ein riesiger Vorteil. Danach beurteilen dich deine Nachbarn. Handle so, daß sie dich als groß ansehen, weil sie deine Güte bewundern. — Doch genügend Raum habe ich jetzt meinem Schmerz und genug dem Gedächtnis meines Schülers ge­geben. Wir müssen zur Betrachtung der Sprichwörter zurückkehren.

Dieses „Revenons à nos moutons", mit dem Erasmus seine Digression ein­gesteht, besehließt den Aufsatz. Wenn wir einen Montaigneschen Essay neben dieses Adagium stellen, dann ist es im wesentlichen die Sprache, die den Unter­schied ausmacht. Man muß erst von dem kraftvollen Stil, dem „parier simple et naïf, succulent et nerveux" des Gascogners absehen, — oder aber sich Erasmus' Worte von Montaigne wiedergegeben denken, dann wird man dieses

Die „Adagia" des Erasmus 8®

Kapitel der Adagia ohne Vorbehalt als Essay bezeichnen können. Erasmus' Sprache ist, mit der Montaignes verglichen, etwas zu geschmeidig, zu glatt; wenn Montaigne oft auf ein Exempel nicht verzichten kann, so kann der Hu­manist nicht auf eine elegante Formel verzichten.

Aber die Welt beider, Montaignes und Erasmus', ist die gleiche. Aus beider Werk spricht die Haltung dessen, der nicht mit beiden Füßen in der rauhen und wirren Welt des 16. Jahrhunderts steht. Petrarca im Tal der „Vaucluse , Erasmus in der Offizin des Froben und Montaigne im Turmzimmer seines Schlosses bei Bordeaux : alle drei lieben die Zurückgezogenheit und hassen das laute Getümmel von draußen, das gedämpft bis zu ihnen dringt. Trotz aller Lebendigkeit des Geistes von Montaigne und Erasmus ist ihr Kontakt mit dem Leben nie ganz vollständig. Von Erasmus sagt Huizinga (und man konnte es auch von Montaigne sagen) : „Durch sein ganzes Werk hört man keinen Vogel singen und keinen Wind rauschen1."

1 Erasmus, S. 140.

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Der Montaignesche Essay

„Les abeilles pillotent deçà delà les fleurs, mais elles en font après le miel, qui est tout leur; ce n'est plus thin ny mariolaine: ainsi les pieces empruntées â"autruy, il les transformera et con-fondera, pour en faire un ouvrage tout sien: à sçavoir son juge­ment." {MONTAIGNE, Essais Ι ,χχνι, 196.)

Literarische Gebilde, die in ihrer Form und in dem Geist, aus dem sie geboren wurden, mit dem Werk Montaignes Ähnlichkeit haben, ha t es schon vor Montaigne gegeben. Aber alle sind nur Vorformen, und nirgends konnte ein Werk gefunden werden, das mehr als nur Vorläufer wäre, das in seiner ganzen Erscheinung mit Montaignes Essays auf gleiche Stufe gestellt werden könnte, genau so, wie auch wohl kaum ein Buch der folgenden Jahrhunder te in Form und Absicht dem Montaignes entspräche. Er ha t zwar als erster den Titel Essais gebraucht, aber alle, die nach ihm sich dieser Bezeichnung bedienten, schrieben keine Essays im Montaigneschen Sinne1. Sein Werk steht als etwas Einmaliges vor uns, zu dem viele Fäden hinführen und von dem viele wieder ausgehen, und solche kompositorischen Ähnlichkeiten wie in anderen litera­rischen Gattungen, wie etwa zwischen Werken der dramatischen Dichtung, gibt es zum Werk Montaignes nicht. Und wenn wir nach dem Wesen, nach einer Definition des Montaigneschen Essays fragen, um dieses Einmalige zu charak­terisieren, müssen wir bekennen, daß es einen Prototyp des Essays auch bei Montaigne gar nicht gibt. Wir können nur feststellen, daß die verschiedenen Formen seiner Kapitel Stufen einer Entwicklung darstellen, die parallel ver­läuft mit der inneren Entwicklung Montaignes. Aber vielleicht läßt sich doch etwas herauskristallisieren, das allen Stufen gemeinsam ist und ihre Form er­klärt , einen Begriff, der die Verschiedenheit dieser Formen geradezu als Not­wendigkeit erscheinen läßt.

Die ersten Kapitel, die Montaigne schrieb, sind noch sehr den Formen der Kompilationsliteratur verhaftet, die kurze Zeit vor ihm und noch zu seinen Lebzeiten Erzeugnisse etwa vom Typus der Diverses Leçons hervorbrachte. Es ist noch wenig in diesen ersten Kapiteln zu finden, das aus Montaignes eigener Eingebung entsprungen ist. V A L E E I U S MAXIMÜS und P E R O M E X Í A

haben im Grunde dasselbe Verfahren angewandt. Die Originalität Montaignes liegt in dem Wenigen, das in diesen frühen Kapiteln aus seiner Feder s tammt, begründet in seinem Stil aspre et desrleigneus, ayant ses dispositions libres et desreglées (II , x v n , 417)! „Ich habe bewußt jene lässige Art nachgeahmt", so

1 In Torrn und Absicht kommt ihm vielleicht manches Erzeugnis der Tagebuchliteratur, vor allem des 19. Jahrhunderts, am nächsten, in dem die Selbstanalyse mit dem Ver­arbeiten von Lesefrüchten, äußeren Eindrücken und Erlebnissen verquickt ist, wie etwa in Tagebüchern Hebbelscher Prägung.

Der Montaignesehe Essay 91

schreibt er nach 1580 ( Ι , χ χ ν ι , 223), „in der die heutige Jugend ihre Kleider t r äg t : den Mantel quer, den Umhang über eine Schulter, den Strumpf schlecht hochgezogen, — all das zeigt einen Stolz, der den ausländischen Putz verachtet und allem Gekünstelten gleichgültig gegenübersteht". Diese fierté desdeigneuse spricht aus ihm, wenn er sich am liebsten nur jener Wörter bedienen möchte, die man in den Markthallen von Paris gebraucht ! Hier liegt im wesentlichen die Originalität jener ersten Abschnitte, in dem parler succulent et nerveux eines souveränen Geistes, der sich zwar alter Formen bedient, der aber in den wenigen Worten, die sein geistiges Eigentum sind, eine starke Individuali tät verrät und selbständiges Schaffen ankündet . Aber noch ist der Prozentsatz des Fremden in seinem Werk zu groß. Sentenzen und Exempla, d. h. die Ergebnisse seiner Lektüre, geben das Material ab , das er verarbeitet, das er in der Art eines „Auf­satzes" nach der in Schulen seiner Zeit üblichen Methode um ein „Thema" gruppiert. Oft sind nur Einleitung, verbindende Worte und eine „Conclusion" alles, was er selbst hinzufügt. „Que sont ce ici aussi", so charakterisiert er seine Arbeit vor 1576, „. . . que Grotesques et corps monstrueux, rappiecez de divers membres . . ." (Ι, χ χ ν ι ι ι , 238). Wäre er auf der Stufe dieser unpersön­lichen Form stehen geblieben, so wäre sein Werk wahrscheinlich in der großen Flut der Kompilationsliteratur untergegangen, und der Name Montaigne würde uns heute nicht mehr bedeuten als der eines Du Verdier oder Des Caurres. Was ihn über jene Kompilatoren für immer erhob, ist jene Form der späteren Kapitel, die er nach und nach als seine eigene und ihm gemäße erreichte, und mit der die Ichdarstellung engstens verknüpft ist. Anlaß und Ausgangspunkt der Montaigneschen Gedankengänge ist in den frühen Kapiteln meist das Exempel (vgl. die Analyse von De la Conscience S. 8ff. ; dort, wo das Exempel aufhört, die tragende Rolle zu spielen, wo es mehr und mehr zurücktri t t und schließlich nur noch dazu dient, innerhalb der assoziativen Gedankenreihen und Raisonnements gelegentlich Auflockerung, Illustration oder Beweis zu sein, dort beginnt die endgültige Form der Montaigneschen Essays.

In dem 1588 erschienenen I I I . Buch der Essais greift Montaigne ein ähnliches Thema wieder auf, wie er es um 1572 in De la Conscience behandelt ha t t e : Du Repentir (III , π ) . Um die Komposition dieses Kapitels untersuchen zu können, und um dadurch einen Begriff vom Wesen dieses späten und endgültigen Typus zu gewinnen, soll zunächst der Gedankengang dieses Essays in großen Zügen paraphrasierend wiedergegeben werden:

Ausgangspunkt ist nicht wie in dem zu Anfang der Arbeit analysierten Kapitel ein Exempel, sondern eine psychologische Betrachtung, die anschei­nend nicht direkt zum Thema Du repentir gehört ; aber sie erscheint wichtig genug, um als Motto über dem gesamten Werk Montaignes stehen zu können :

Es gibt Autoren, die den Menschen bilden, aber er (Montaigne) will ihn erzählend dar­stellen. Doch da die ganze Welt und mit ihr das menschliche Sein in ständiger Bewegung ist, kann seine Darstellung immer nur einen bestimmten Moment erfassen, so daß er nie das Wesen der Dinge selbst treffen kann, sondern immer nur einzelne Punkte des Über­gangs herausgreifen muß; sie ist also ein Register tie divers et muables aeeidens et d'imagina -

S c h o n , Vorformen 7

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92 Der Moiitaignesche Essay

tione irrésolues {p. 20). Die Widerspräche, die in einer solchen Darstellung auftreten können, sind nur scheinbar Widersprüche, denn seine Aussagen über die Dinge sind jeweils nur Funktionen veränderlicher Faktoren. Diese Veränderlichkeit ist der Grund, weshalb er für seine Untersuchungen keinen festen Ausgangspunkt finden kann, und weshalb er sich darum dem Gegenstand zuwendet, den er am besten in seinem ständigen Wandel beob­achten kann, dem Menschen, und zwar dem Sonderfall Michel de Montaigne. Vielleicht ließen sich von hier aus auch allgemein gültige Ergebnisse finden, denn chaque homme porte la forme entière de l'humaine condition {p. 21).

Die einleitenden Betrachtungen sind damit zu Ende, und Montaigne wendet sich ohne direkte Anknüpfung dem in der Überschrift genannten Thema zu und stellt fest: Je me repens rarement (p. 22), um sich dann nochmals in einem Satz auf die Gedanken der Ein­leitung zurückzuwenden und damit den Hauptteil wenigstens lose mit ihnen zu ver­knüpfen ; . . . que je -parle enquerant et ignoranta, me rapportant de la resolution, purement et simplement, aux créances communes et legitimes. Je n'enseigne poind, je raconte.

Nach einer moralpsychologischen Klärung der Begriffe vice-ignorance und repentance· raison ergibt sich die Frage nach dem Maßstab für Laster bzw. Tugend und damit für die innere Ruhe und Heiterkeit der Seele. Dieser Maßstab ist nicht gegeben in der öffentlichen Meinung eines verderbten Jahrhunderts , ja nicht einmal im Urteil wohlmeinender edler Freunde, sondern nous.. . devons avoir estably un patron au dedans, auquel toucher nos actions . . . J'ay mes loix et ma court pour juger de moy . . . (p. 25). Dieser inneren Recht­sprechung entziehen sich vielleicht die Gewohnheitslaster, denn da die Reue nichts anderes ist als eine desditte de nostre volonté, muß bei ihnen der Wille auf seiten der Laster stehen. Diese sind um so schwerer zu erkennen, je mehr sie sieh vom öffentlichen Leben in die Bezirke des Privaten zurückgezogen haben, da man von der brave apparence auf die con­stitution interne schließt (p. 28), und da die Menschen sich im öffentlichen Leben meist mehr von ihrer guten Seite zeigen als daheim in der Familie, wo sie sich gehen lassen: Peu d'hommes ont esté admirez par leurs domestiques (p. 26). Aber gerade deshalb ist das private Leben für das Studium dieser Bezirke so ergiebig, weil die Seele dort keine Maske t rägt : Il les faut doncq juger par leur estât rassis, quand elles sont chez elles ...; ou au moins quand elles sont plus voisines du repos et de leur naifve assiette . . . (p. 28). Die natürlichen Neigungen können nicht ausgetilgt werden, man kann sie nur zudecken und verbergen, und die Sittenlehrer können nur die vices de l'apparence, aber nicht die vices de l'essence reformieren, was ja obendrein auch billiger ist und größeren Ruhm einträgt. Dafür aber gibt es in jedem Menschen une forme maistresse, qui luicte contre l'institution et contre la tempeste des passions (p. 29), ein ruhendes ewiges Prinzip, das Maßstab und inneres Forum für alle Neigungen und Handlungen des Menschen ist. Selbst hartgesottene Gewohnheits­sünder zahlen diesem Forum ihren Tribut, indem sie durch gelegentliches Wiedergut­machen sich von seinem Urteilsspruch freizukaufen beabsichtigen. Mit diesem zwar ge­ringen Aufflackern immerhin echter Reue hat natürlich eine termingebundene (von oben vorgeschriebene) Reue nichts zu tun, da sie durch keine Kompensation das Laster aufhebt.

Von dieser allgemeinen Erörterung leitet Montaigne mit seinem beliebten Quant à moy (32) zum 3. Teil über, in dem er seine eigene Veranlagung zur Reue analysiert und sein Verhalten und Handeln vor sein inneres Forum bringt. ,Ich bin so, wie ich bin; ich kann mich zwar besser wünschen, kann mein Handeln mit den Taten edlerer Menschen ver­gleichen, doch ha t dies alles nichts mit Reue zu t un ; es ist höchstens ein Gefühl des Be­dauerns. Auch wenn ich an fehlgeschlagene Unternehmungen zurückdenke, kann ich keine Reue empfinden. Meine Entschlüsse waren damals die gleichen, die ich heute unter den genau gleichen Umständen wieder fassen würde, und wenn ich Freunden einen Ra t erteilte, der sich später als falsch erwies, so war ja dieser Ra t ebenfalls zeitgebunden und von den Umständen abhängig. Bei Fehlschlägen gebe ich mir allein die Schuld, handle nach eigenem Ermessen und möchte im übrigen meine Ruhe haben' (letzter Gedanke Zufügung nach 1588).

Die Veränderungen der Natur , die das Alter mit sich bringt, haben eine Art Reue im Gefolge, die gar nichts mit dem Gewissen zu tun hat , sondern auf körperlichen und geistigen

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Ausfallserscheinungen beruht. Wenn das Alter die Begierden schwächt, so kann man nicht von Tugend reden. Der alternde Montaigne fügt hier nach 1588 ein: Miserable sorte de remede, devoir à la maladie sa santé (p. 36). In der Blüte seiner Jahre habe er an seiner Vervollkommnung gearbeitet, und es sei schändlich, wenn er seine Altersschwäche höher einschätzen müsse als seine gesunden, heiteren und kraftvollen Jahre . Das Wesentliche sei nicht le mourir heureusement, sondern le vivre heureusement. Es ist zweifellos der pathe­tische Höhepunkt dieses Kapitels von der Reue, wenn Montaigne, vielleicht kurz vor seinem Tode, die Worte schreibt, die trotz ihres renaissance-heidnischcn Stolzes an das paulinische bonum certamen certavi gemahnen : Si j'avois à revivre, je revivrois comme j'ay vescu: ny je ne pleins le passé, ny je ne crains l'advenir . . . (p. 37). Und er dankt seinem Schicksal, daß er jedes Ding zu seiner Zeit gekannt habe: das Grün und die Blüten, die Frucht , und jetzt die Dürre: heureusement, puisque c'est naturellement.

Eine moralische Besserung ist nur möglich, wenn das Gewissen besser wird durch Stärkung des Verstandes und nicht durch einen Kräfteverfall. Die „sagesse" des Alters ist oft nichts anderes als Appetitlosigkeit, und wir geben im Alter weniger unsere Fehler auf, wir wechseln vielmehr, und zwar zum Schlimmeren: Stolz, Schwatzhaftigkeit, Launen, Aberglaube, Geiz, Neid, Ungerechtigkeit und Boshaftigkeit, das sind die Kennzeichen des Alters, das unseren Geist noch mehr durch Runzeln zeichnet als unser Gesicht.

Altern sei eine Krankheit , sagt er abschließend, gegen die man sich wappnen müsse, um wenigstens ihren Fortschrit t zu verlangsamen. ,Doch wie sehr ich mich auch ver­schanze, ich fühle, daß sie langsam mehr und mehr Macht über mich gewinnt. Ich leiste Widerstand, so gut ich kann, aber ich weiß nicht, wohin sie mich schließlich führen wird. Jedenfalls bin ich zufrieden, wenn man weiß, woher ich kam. '

D i e s i s t i m w e s e n t l i c h e n d e r I n h a l t d e s K a p i t e l s ü b e r d i e R e u e . I n d e n Ge­

d a n k e n g a n g s ind Beisp ie le e ingefügt : Beisp ie le a u s d e r A n t i k e , d ie a u s se iner

Plutarchlektüre s tammen; z. T. sind sie zur Beweisführung nur angedeutet

(S. 21 : Demades) oder sind zur Illustration als kleine Geschichten eingefügt

(S. 26 : Bias, Jul ius Drusus, Agesilaus; S. 3 5 : Phoeion); Beispiele aus seiner

eigenen Erfahrung, die bezeichnenderweise einen verhältnismäßig breiten

Raum einnehmen (S. 26: En mon climat de Gascogne . . .; S. 29: Le langage

latin m'est comme naturel. . . und vor allem die Geschichte von dem Dieb

(S. 30f.). Auch andere Lesefrüchte, die als Fortsetzung des eigenen Gedanken­

ganges brauchbar sind, werden benutzt. Manchmal sind sie als fremdes Ge­

dankengut ohne weiteres gar nicht erkennbar {Le vice laisse . . . aus Plutarch :

De la tranquillité de l'âme). Aber alles Fremde ist gegenüber der frühen Form

der Kapitel in den Hintergrund getreten, und wo es benutzt wird, ist es ein­

gefügt, ohne daß die Fugen und Risse im Gebäude des Kapitels störend in

Erscheinung treten. Er zählt sich nicht mehr unter die gens foibles de reins, —

so ha t te er 1572 geschrieben, um den reichen Gebrauch von Exempeln ent­

schuldigend zu begründen {I, xrv, 69) — er fügt jetzt fremde Sätze, wenn sie

seine Ideen gut wiedergeben, ein und verschweigt mit Vorbedacht die Namen

der zitierten Autoren1 . Je n'ayme point de tissure où les liaisons et les coutures

•paroissent, so sagt er 1579/80 (Ι, χχντ, 223), und diesen Stil h a t er in der späten

Stufe seiner Essays auch erreicht.

Deutlich lassen sich im Kapitel über die Reue drei Gedankenkreise unter­

scheiden : 1 . . . j'ai à esciant ommis par fois d'en marquer l'autheur . . . (II, χ, 101, 1579 und nach

1588).

7*

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1. Zu Anfang versucht Montaigne, die in den Essais verfolgte Methode zu erklären und zu begründen: Die Welt, d. h. die Außenwelt, die Erkenntnis­objekte, sind in immerwährendem Wechsel begriffen, und auch das Ich, das erkennende Subjekt, ändert sich ununterbrochen, so daß keine allgemeingül­tigen Aussagen gemacht werden können. Als einzige Möglichkeit bleibt die Beobachtung des eigenen Ichs, der Funktionen der eigenen facultés naturelles, die fortlaufend in den Essais zu Protokoll genommen werden.

2. Es folgt eine theoretische Untersuchung über die Begriffe Laster, Tugend, Reue, Gewissen. Als wichtigstes Ergebnis wird festgestellt, daß es im Menschen einen ruhenden Pol gibt, etwas Unveränderliches, un patron, . . . une forme sienne, . . . une forme maistresse, die unabhängig ist vom äußeren Wandel der Dinge.

3. Im letzten Teil unterwirft Montaigne sein eigenes Handeln dem Richt­spruch seines inneren Forums. Es ist ein Rechenschaftsbericht über sein Leben, ein Rückblick von der Warte des Alters aus (und er stellt fest, daß er den gegebenen Umständen entsprechend richtig handelte, daß es für ihn nichts zu bereuen gibt).

Die kompos i to r i s che Verknüpfung dieser drei Gedankenkreise ist nun­mehr leicht zu erkennen :

1 mit 2: Dem ewigen Wandel der Außenwelt (1) steht gegenüber der ruhende, beständige Teil im eigenen Ich (2).

2 mit 3 : Mit dem inneren Forum (2) wird das eigene Leben konfrontiert und damit ein Rechenschaftsbericht (3) gegeben.

1 mit 3: Die Darlegung der in den Essais verfolgten Methode (1) und der Rechenschaftsbericht über sein Leben gehören zusammen : Einheit von Ich und Werk („les essais de ma vie").

So sehe ich die „Komposition" dieses Kapitels. Es soll dadurch, daß mit Du Repentir zur Analyse einer der Essays der Spätstufe ausgewählt wurde, nicht behauptet werden, es lasse sich jedes Kapitel dieser Epoche ähnlich aufgliedern und dabei eine ähnliche „Komposition" aufweisen. Oft genug beschränkt sich die ganze „Komposition" auf das assoziative Auftreten eines neuen Gedankens, der ausgeführt wird und eine neue Assoziation gebiert. In solchen Fällen wäre es jedoch ungerecht, von einer Unordnung oder einem Mangel an ausgegliche­ner Komposition zu sprechen, denn der Titel eines Kapitels (denn nur im Hin­blick auf die Überschrift stellen wir ja diese „Unordnung" fest) ist oft nach Montaignes eigener Absicht mehr oder weniger zufällig: Les noms de mes chapitres n'en embrassent pas toujours la matière; souvent ils la dénotent seule­ment par quelque marque . . . (II, ix, 270).

Der Begriff einer „Ordnung" oder „Komposition" würde dem Wesen der Essais auch widersprechen. Um zu versuchen, dieses Wesen der Essais zu er­läutern, muß nochmals auf den Anfang des Kapitels „Du repentir" zurück­gegriffen werden.

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Der Gedanke von der ewigen Wandelbarkeit aller Dinge hat Montaigne im Laufe seiner Untersuchungen oft und in zunehmendem Maße beschäftigt. So hat er vermutlich das Kapitel „Par divers moyens on arrive à pareille fin" an die Spitze seiner Bücher gestellt (obgleich es wohl kaum als erstes nieder­geschrieben wurde) wegen des dort geäußerten Gedankens von der Unbestän­digkeit und Wankelmütigkeit des Menschen1 : Certes c'est un subject merveilleuse­ment vain, divers, et ondoyant, que l'homme. Il est malaisé d'y fonder jugement constant et uniforme (I, i, 6). Hier, in der Einleitung zu Kapitel III , ii, äußert er sich am ausführlichsten über die Dinge der Außenwelt in ihrem Sein als Erkenntnisobjekte: Die Welt ist in ewiger Bewegung, in der die Dinge nicht nur durch die Schwingungen des Universums, sondern außerdem noch durch Eigenschwingungen hin- und hergeworfen werden; selbst die Ruhe ist nichts anderes als eine langsame, mattere Bewegung (un branle plus languissant). Ein Objekt, das ich untersuchen will, kann ich nicht fixieren, sondern ich kann es nur erfassen, wie es gerade in diesem Augenblick ist, und was ich von ihm aus­sagen kann, ist nicht sein Wesen, sondern immer nur ein Punkt des Übergangs von einem Zustand zum nächsten.

Und zu diesen für eine Untersuchung ungünstigen objektiven Bedingungen muß noch der Zustand des betrachtenden Subjekts, des Ichs, in Betracht gezogen werden, denn auch der Mensch ändert sich oder sieht das Objekt vom veränderten Standpunkt aus in anderer Perspektive.

Diese Unsicherheit der Erkenntnis ist von Montaigne oft mit ähnlichen Worten an anderen Stellen seiner Essais ausgesprochen worden, indem er die Unsicherheitsfaktoren des Objekts, des Subjekts oder beider betont:

II n'est rien si soupple et erratique que nostre e n t e n d e m e n t . . . et il est double et divers, et les matières doubles et diverses (III , χ ι , 320).

Ma raison a des impulsions et agitations journallieres et casuelles ( III , viii, 191).

. . . je me remue et trouble moy mesme par l'instabilité de ma posture; et qui y regarde primement, ne se trouve guère deux fois en mesme estât (II , i, 6).

La raison a t an t de formes, que nous ne sçavons pas à laquelle noue p r e n d r e . . . il n'est aucune qualité si universelle en cette image des choses que la diversité et variété ( I I I ,x i i i ,360) .

In Gedankengang und Vokabular hat die folgende Stelle aus Kap. II, xii, 366 eine auffallende Ähnlichkeit mit dem hier untersuchten Text:

Finalement, il n 'y a aucune constante existence, ny de nostre estre, ny de celuy des objects. Et nous, et nostre jugement, et toutes les choses mortelles, vont coulant et roulant sans cesse. Ainsin il ne se peut establir rien de certain de l 'un à l 'autre, et le jugeant et le jugé estans en continuelle mutation et branle.

Alle Aussagen, die wir machen können, haben also nur einen relativen Wert : sie gelten nur für einen bestimmten Augenblick unter bestimmten Bedingungen. So sind auch gelegentliche Widersprüche nur scheinbar : Si je parle diversement de moy, c'est que je me regarde diversement (II, ι, 6).

1 Vgl. die Chronologie der Essais im IV. Band der großen Ausgabe.

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Das Ergebnis dieser Erkenntnis von der Relativität des Subjekts wie des Objekts (Gedankengänge, die uns sehr modern anmuten) ist zunächst das Ein­geständnis des Nicht-Wissens : Il n'y a que les fols certains-et résolus (I, xxvi, 196), aber eines Nicht-Wissens, in dem der Beginn eines neuen Wissens liegt: Qui veut guérir de l'ignorance, il faut la confesser. . . ignorance pour laquelle concevoir il n'y a pas moins de science que pour concevoir la science {III, xi, 314).

Es gilt also, die Fehlerquelle möglichst gering zu halten, ein Objekt zu stu­dieren, bei dem ich den Vorteil habe, die genauesten und gültigsten Aussagen zu machen, das eigene Ich : Jamais homme ne traicta subject qu'il eniendist ne cogneust mieux que je fay celui que j'ay entrepris . . .

Um dieses Werk zu schaffen: Je n'ay besoin d'y apporter que la fidélité. So "wird also die Form seines Buches zwangsläufig durch diese Überlegungen

bestimmt. Denn das, was man überhaupt aussagen kann, c'est un contrerolle de divers et muables accidens, es sind nur „Versuchsprotokolle", laufend fort­geführte Aufzeichnungen, wie er, wie sein Geist, seine Urteilskraft auf die Dinge reagieren, und si mon ame pouvoit prendre pied, je ne m'essaierois pas, je me reaoudrois, d. h., könnte ich für meine Untersuchungen von einer festen und gesicherten Basis ausgehen, dann brauchte ich keine „Versuchsprotokolle" zu schreiben, sondern könnte fertige wissenschaftliche Abhandlungen vorlegen1. Ziel der Erkenntnis, für ihn das einzig mögliche Ziel, ist also das eigene Ich :

Je m'eetudie plus qu'autre subject. C'est ma metaphisique, c'est ma phisique (III, x n i , 371).

Je ne vise icy qu'à découvrir moy mesmes, qui seray par adventure autre demain, si nouveau apprentissage me change (I, xxv i , 191).

Es ist ein Vorhaben, das dauern wird, solange er lebt :

Et quand seray-je à bout de représenter une continuelle agitation et mutation de mes p e n s é e s . . . ? ( I l l , i s , 204).

Die Arbeitsmethode ist das beständige Aufzeichnen, das Führen des con­trerolle, das registre der Funktionen seiner facultés naturelles, seines jugement :

Il y a plusieurs années que je n 'ay que moy pour visée à mes pensées, que je ne con­trerolle et estudie que moy, et si j 'estudie autre chose, c'est pour soudain le coucher sur moy, ou en moy, pour mieux dire (II, v i , 59).

Le jugement est un util à tous subjects, et se mesle par tout . A cette cause, aux essais que j'en fay ici, j ' y employe toute sorte d'occasion (I, L, 386).

Quant aux facultez naturelles . . . dequoy c'est icy l'essay — (I, xxvi , 188).

. . .n ' es t qu'un r e g i s t r e d e s e s s a i s (Versuchsprotokolle) de ma vie . . . ( Π Ι , χ η χ , 379).

C'est icy purement l'essay de mes facultez naturelles (II , x, 100).

Der Gedanke des „contrerolle", des „registre des essais" löst auch die Frage nach der „Unordnung" und den Abschweifungen in den Essais. Denn das Protokoll seiner gedanklichen Untersuchungen notiert auch gewissenhaft alle Assoziationen, alle Fäden, die von einem Thema zum andern führen; denn er

Vgl. III, ix , 267 : et faict des essais qui ne sauroit faire des effaicts.

Der Montaignesche Essay 97

will ja nicht nur Des coches schreiben, sondern auch das registrieren, wohin ihn seine Gedanken geführt haben; auch das gehört zum estre universel des Michel de Montaigne. A mesme que mes resveries se présentent, je les entasse . . . Je veux qu'on voye mon pas naturel et ordinaire, ainsin détraqué qu'il est (II, x, 102). Die innere Einheit eines solchen Kapitels ist eine rein subjektive, sie liegt im Menschen Montaigne.

Auch die späteren Hinzufügungen, die oft den ursprünglichen Gedanken­gang unterbrechen, gewinnen ihre Rechtfertigung, ihre Notwendigkeit aus dem Entschluß, gewissenhaft das Tagebuch der Gedanken weiterzuführen.

Und die Essays der ersten Stufe? Sie erhalten unter diesem Gesichtspunkt betrachtet vielleicht den Aspekt der ersten tastenden Versuche, oder, mit an­deren Worten ausgedrückt, sie sind gleichsam die Materialsammlung für die später auszuführende Arbeit.

Die Essais sind somit die literarische Form, die allein für Montaignes Absicht gerechter Ausdruck sein kann. Diese Form entspricht dem Wahlspruch, den er 1576 auf ein Medaillon schlagen ließ, dem „Que sais-je ?", das weniger Ausdruck eines Skeptizismus, als vielmehr die Ausgangsfragestellung jedes experimen­tellen Forschens sein muß, und sie entspricht dem „j'examine", das er um die gleiche Zeit auf einen Deckenbalken seines Arbeitszimmers schreiben ließ. Das eben erwähnte Medaillon trug als Wappen eine Waage, deren Schalen auf gleicher Höhe standen — Symbol für das Abwägen von Für und Wider, wie er es in den „essais de jugement" übte; dieses Bild der Waage erinnert uns an den Ausgangspunkt dieser Untersuchungen, an die wortgeschichtliche Betrach­tung: habetis aginam, exagium facile . . .

Die Essais sind also wirkliche Versuche, oder Versuchsprotokolle, Versuche nicht im Sinn eines bescheidenen oder bescheiden sein wollenden Literaten, sondern eines ernsten experimentellen Forschers.

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Nachwort

Diese Arbeit ist im wesentlichen vor dem Kriege entstanden und 1940 von der Philosophischen Fakultät der Universität Köln als Dissertation angenommen worden. Die Anregung zu der Bearbeitung des Themas und wertvolle Hinweise im einzelnen verdanke ich Herrn Professor SCHALK. Zum Zwecke einer früheren Drucklegung, die durch die Ungunst der Verhältnisse verhindert wurde, habe ich das Manuskript in den Jahren 1946—47 umgearbeitet. Das Material mußte damals neu beschafft werden, da alle meine Auszüge und Notizen im Krieg vernichtet worden waren.

Inzwischen erschien die umfassende Darstellung Montaignes von HTJGO FRIEDRICH (Montaigne, Bern 1949). Dieses Buch enthält ein wichtiges Kapitel über die Form der Essais, in dem der Verfasser auch auf die literarischen Vor­formen eingeht. Auf die ausführlichere wortgeschichtliche Betrachtung bei FRIEDRICH möchte ich besonders aufmerksam machen.

ERICH AUERBACH hat einen Teil des Kapitels „Du repentir" (Essais I I , n), das ich S. 91 ff. analysiere, in seinem Buch Mimesis (Bern 1946) interpretiert. Wenn auch AT/ERBACH der Intention seines Buches entsprechend ein anderes Ziel verfolgt, so soll doch an dieser Stelle auf seine ergebnisreiche Interpretation hingewiesen werden.

Ich hielt es für richtig, die vorliegende Arbeit in der Fassung von 1946—47 zu veröffentlichen und die Publikationen, die nach dem Kriege auf dem Gebiet der klassischen Philologie und der Romanistik erschienen sind, nicht mehr zu berücksichtigen. Ich glaube nicht, daß auf Grund dieser Neuerscheinungen we­sentliche Punkte der vorgelegten Ergebnisse zu korrigieren wären.

Zum Schluß möchte ich Herrn Professor SCHRAMM meinen besonderen Dank dafür aussprechen, daß er mit dieser Arbeit die Reihe „Mainzer Romanistische Arbeiten" eröffnet.

Verzeichnis der benutzten Werke

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BOUCHET, GUILLAUME S I E U R D E BEONCOUET : Les Serées. Divisées en trois livres, Lyon

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1855. — Epistularum ad Qu. fratrem libri tres recognovit H. Sjörgren (Scripta vol. X I ) . Leipzig

1914. — Cato maior — De senectute. Erklär t von Julius Sommerbrodt. Berlin 1877. CORROZET, G I L L E S : Hécatomgraphie (1550). Préface et Notes critiques de Ch. Oulmont.

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Namenregister

Accords, Tabourot des 73 Aleuin 22 Allen 53, 54, 55, 85 Amantius 81 Amyot 38f., 59f. Apuleius 67 Aristoteles 65 Arrian 38 Auerbach 98 Augustinus 23, 27, 59 Augustus 66

Bacon 4 Baumgartner 36 Beck, F. A. 32 Bergen, Antonius von 85 Beyer 3 Bickel 15, 34, 35, 36, 37, 45,

46, 47, 48, 51, 68, 75, 79, 81

Bion 30 Bi r t30 Bodin 79 f. Boissier 42, 43 Boiste 6 Borinski72 Bosch, C. 65, 66, 67 Bouaystuau 75, 78 Bultmann 29, 30, 38 Burdach 21

Cardano 62 Castiglione 23 Cato 18 f. Caurres, J. dea 76, 78, 91 a c e r o 17ff., 35, 37, 42, 46,

66, 69 Clément 57 Collofino 7 Commynes 79 Curtius 35, 42

D'Alembert 6, 15, 32 Dante 83 Descartes 4, 14 Despériers 21 Dickius 73 Diderot 6

Dinoth 71 Döderer 4 Dolet 82 Domenichi 72 Domitius Marsus 66, 67 Du Gange 4 Du Verdier 75, 78

Ennius 19 Epiktet 30, 37, 38 Erasmus 14, 21 , 22, 24f.,

43, 51, 52, 53f., 72, 82, 83 ff.

Euripides 36 Eyb, Albertus de 52, 81

Friedrich, H. 98 Froben 24, 89 Proissart 22, 79 Frontin 67 Fronto 51 Furetière 6

Geffcken 30, 41 , 42, 43 Gellius 5, 33, 74f. Gemoll 29, 63, 64 Gleichen-Biusswurm 3, 4 Godefroy 5 Goethe 6 Grabisch 37 Grimm, J. 18 Grimm, W. 18 Gruterus 81 Gudemann 20 Guevara 54, 55ff., 75 Guterry 55

Haibauer 27, 28 Hebbel 90 Heep 25 Heinze 31, 32 Hesiod 10, 12 Hieronymus 36 Hirzel 10, 12,15,16, 18, 20,

23, 27, 28, 29, 32, 34, 38, 44 ,45

Horaz 30 ff.

Huizinga 23, 35, 51, 72, 80, 83, 84

Hyginus 65, 66, 67

Jaeger 16

Kaegi, W. 23 Kaiser, B. 4 Karl d. Gr. 22 Karl V. 55, 56 Kießling 29 Kleiniae 29 Klotz 67 Kornhardt 64 Kroll, W. 28, 35, 46, 51

La Boétie 58 La Croix du Maine 6 Lactantius 67 La Primaudaye 26, 31 Larousse 7 Lebègue 34 Leo, F . 60 Livius 52, 66, 79, 80 Lucüius 46, 47, 48, 50 Ludwig v. Orléans 70 Lukian 10, 20f., 23 Lycosthenes 71

Macrobius 67 Maecenas 66 Mark Aurel 27, 55, 61 Martin v. Bracara 81 Melissus 66 Mendheim 18 Merker (-Stammler) 3 Meurier 22 Mexia 25f., 75ff., 90 Montaigne passim Musonius 30, 37 M u t h é

Nachod 53 Naselli 7 Nepos 65, 66 Norden 2, 28, 29, 30, 35, 38,

41 , 45, 48, 69

Oehler 41 Oltramare 27, 33, 34, 36, 49

Namenregister 105

Overbeck 22 Ovid68

Paulus 36 Pauly (-Wissowa) 30 Peter, H. 34, 35, 45, 46, 51 Petit , J . 70 Petrarca 2, 23f., 52f„ 89 Pfandl'öÖ, 77 Plato 3, 10,12,15f. , 17,18,

23, 28, 29, 36 Plinius 26, 46, 50f., 65, 67 Plutarch 3, 38ff-, 46, 59ff. Porteau 14, 66, 72, 73, 80

Quintilian 51, 67 Quoniam 85

Rabelais 72 Rhodiginus 75 Richelet 6 Ritschi 46 Rossi 53 Rüegg 52, 53 Sabinus, Masurius 67 Sallust 79

Schalk 98 Schenk 31, Schenkl 27, 28 Schüler 18 Schramm 98 Schultz, J. M. 38 Seneca 20, 26, 30, 35ff., 44,

46ff„ 52, 67, 81 Sidonius 36 Sokrates 28, 38 Solon 60 Sommerbrodt 18 Speroni degli Alvarotti 79 Stammler (Merker-St.) 3 Statius 31 Stern 53 Stobaeus 82 Stössl 3 Stroweki 5 Suetou 31, 60

Tacitus 20, 79 Tahureau 26 Teles 29, 30

Tertulüan 14, 29, 36, 41ff. Thalee 60 Thomas v. Aquin 83 Thomas, J. 11

Valerius Maximue 65, 66ff., 78 ,90

Varro 32, 42, 45, 46, 81 Velleius Paterculus 67 Verrepaeus 73 Verrius Flaccus 65, 67 Villey 1 , 2 , 5 , 2 1 , 2 6 , 4 1 , 5 7 ,

59 ,78 Villon 67 Virgil 81 Voltaire 6 Vossler 1

Warteneleben 63 Welter 69 Wendland 30 Wilamowitz-Moellendorff29 Wissowa (Pauly-W.) 30 Wittkower 11, 60 Zeno von Verona 4