9
Gastroenterologe 2013 · 8:287–295 DOI 10.1007/s11377-013-0765-3 Online publiziert: 7. Juni 2013 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013 K. Zerres · J. Glas · T. Eggermann · S. Rudnik-Schöneborn Institut für Humangenetik, RWTH Aachen Prinzipien der humangenetischen  Beratung und genetischen  Diagnostik in der Gastroenterologie Die Aufklärung der genetischen Basis erblicher Krankheiten hat nicht nur wesentlich zum Verständnis der Ent- stehung von Erkrankungen geführt, sie eröffnet auch diagnostische Mög- lichkeiten und hat damit Eingang in die medizinische Praxis gefunden. Der Umgang mit genetischer Infor- mation weist wichtige Unterschiede zu klassischen Methoden der medizi- nischen Diagnostik auf, die nicht zu- letzt in den Regelungen des Gendia- gnostikgesetzes ihren Niederschlag gefunden haben. Im Folgenden sol- len wichtige Grundprinzipien der me- dizinischen Genetik und genetische Aspekte wichtiger gastroenterolo- gischer Krankheitsbilder dargestellt werden. Humangenetische Beratung Bereits in der wichtigen Definition gene- tischer Beratung des Ad Hoc Commit- tee on Genetic Counseling der American Society of Human Genetics aus dem Jahr 1974, die Vorlage der „Leitlinie zur Gene- tischen Beratung“ des Berufsverbandes Medizinische Genetik e. V. in ihrer Fas- sung aus dem Jahre 2007 war [1], wird u. a. ausgeführt: Genetische Beratung ist ein Kommunika- tionsprozess, in dem menschliche Probleme behandelt werden, die mit dem Auftreten oder der Möglichkeit des Auftretens einer Erbkrankheit in einer Familie zusammen- hängen. Dieser Prozess beinhaltet das Be- mühen einer oder mehrerer entsprechend ausgebildeter Personen, einem einzelnen oder einer Familie dazu zu verhelfen, F medizinische Fakten einschließlich Diagnose, Krankheitsverlauf und Be- handlungsmöglichkeiten zu verstehen, F die Bedeutung von Erbfaktoren in der Ätiologie einer Erkrankung zu ver- stehen und Erkrankungsrisiken für bestimmte Verwandte richtig einzu- schätzen, F die Entscheidungsmöglichkeiten bei der Verarbeitung von Erkrankungsrisiken zu verstehen, F diejenige Verhaltensweise zu wählen, die in Anbetracht eines Erkrankungs- risikos und der familiären Zielvorstel- lung angemessen erscheint und sich entsprechend dieser Einstellung zu ver- halten, die bestmögliche Einstellung zu der Erkran- kung eines betroffenen Familienmitgliedes bzw. zu der Möglichkeit des Wiederauftre- tens einer Erkrankung zu gewinnen. (Über- setzung G. Wolff) Eine Einverständniserklärung zur Durch- führung der genetischen Beratung soll den Ratsuchenden u. a. wichtige Infor- mationen über die Humangenetische Be- ratung geben und strukturiert auf die- se Weise den Erwartungshorizont. Sie steckt gleichzeitig den Rahmen darü- ber ab, was der genetische Berater in der Regel zu leisten imstande ist, schützt ihn vor Überforderung und definiert damit einen sinnvollen Vertragsumfang im Be- reich der humangenetischen Beratung. In einem Musterentwurf der Deutschen Ge- sellschaft für Humangenetik (GfH) aus dem Jahre 1994 werden die obligaten In- halte der genetischen Beratung benannt (http://www.medgenetik.de/sonder- druck/1994-305.PDF, . Infobox 1). D    Die Abfassung des primär an die  Ratsuchenden gerichteten indivi- duellen „Beratungsbriefs“ ist ein  wichtiger Bestandteil der Beratung. Es sollten alle wesentlichen Aspekte ein- schließlich der oft komplexen formalen genetischen Überlegungen in einer für den Ratsuchenden verständlichen Form angesprochen werden. Infobox 1 Obligate Bestandteile einer genetischen Beratung laut GfH-Musterentwurf F Klärung Ihrer persönlichen Fragestellung  und des Beratungsziels, F Erhebung Ihrer persönlichen und fami- liären gesundheitlichen Vorgeschichte  (Anamnese), F Bewertung vorliegender ärztlicher  Befunde bzw. Befundberichte, F die körperliche Untersuchung von Ihnen  oder Angehörigen, wenn dies für Ihre  Fragestellung von Bedeutung ist, F Untersuchungen an Blut oder anderen  Geweben, wenn dies für Ihre Fragestel- lung wichtig ist, F eine möglichst genaue medizinisch-  genetische Diagnose, F eine ausführliche Information über die in  Frage stehenden Erkrankungen bzw. Be- hinderungen, F eine Abschätzung spezieller genetischer  Risiken, F eine Beratung über die allgemeinen  genetischen Risiken, F eine ausführliche Beratung über die  möglichen Bedeutungen dieser Infor- mationen für Ihre Lebens- und Familien- planung und ggf. für Ihre Gesundheit. Redaktion F. Lammert, Homburg/Saar S. Schreiber, Kiel 287 Der Gastroenterologe 4 · 2013| Schwerpunkt: Gastroenterologie und Humangenetik

Prinzipien der humangenetischen Beratung und genetischen Diagnostik in der Gastroenterologie

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Prinzipien der humangenetischen Beratung und genetischen Diagnostik in der Gastroenterologie

Gastroenterologe 2013 · 8:287–295DOI 10.1007/s11377-013-0765-3Online publiziert: 7. Juni 2013© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

K. Zerres · J. Glas · T. Eggermann · S. Rudnik-SchönebornInstitut für Humangenetik, RWTH Aachen

Prinzipien der humangenetischen Beratung und genetischen Diagnostik in der Gastroenterologie

Die Aufklärung der genetischen Basis erblicher Krankheiten hat nicht nur wesentlich zum Verständnis der Ent-stehung von Erkrankungen geführt, sie eröffnet auch diagnostische Mög-lichkeiten und hat damit Eingang in die medizinische Praxis gefunden. Der Umgang mit genetischer Infor-mation weist wichtige Unterschiede zu klassischen Methoden der medizi-nischen Diagnostik auf, die nicht zu-letzt in den Regelungen des Gendia-gnostikgesetzes ihren Niederschlag gefunden haben. Im Folgenden sol-len wichtige Grundprinzipien der me-dizinischen Genetik und genetische Aspekte wichtiger gastroenterolo-gischer Krankheitsbilder dargestellt werden.

Humangenetische Beratung

Bereits in der wichtigen Definition gene-tischer Beratung des Ad Hoc Commit-tee on Genetic Counseling der American Society of Human Genetics aus dem Jahr 1974, die Vorlage der „Leitlinie zur Gene-tischen Beratung“ des Berufsverbandes Medizinische Genetik e. V. in ihrer Fas-sung aus dem Jahre 2007 war [1], wird u. a. ausgeführt:

Genetische Beratung ist ein Kommunika­tionsprozess, in dem menschliche Probleme behandelt werden, die mit dem Auftreten oder der Möglichkeit des Auftretens einer Erbkrankheit in einer Familie zusammen­hängen. Dieser Prozess beinhaltet das Be­mühen einer oder mehrerer entsprechend ausgebildeter Personen, einem einzelnen oder einer Familie dazu zu verhelfen,

Fmedizinische Fakten einschließlich Diagnose, Krankheitsverlauf und Be­handlungsmöglichkeiten zu verstehen,

Fdie Bedeutung von Erbfaktoren in der Ätiologie einer Erkrankung zu ver­stehen und Erkrankungsrisiken für bestimmte Verwandte richtig einzu­schätzen,

F die Entscheidungsmöglichkeiten bei der Verarbeitung von Erkrankungsrisiken zu verstehen,

Fdiejenige Verhaltensweise zu wählen, die in Anbetracht eines Erkrankungs­risikos und der familiären Zielvorstel­lung angemessen erscheint und sich entsprechend dieser Einstellung zu ver­halten,

die bestmögliche Einstellung zu der Erkran­kung eines betroffenen Familienmitgliedes bzw. zu der Möglichkeit des Wiederauftre­tens einer Erkrankung zu gewinnen. (Über­setzung G. Wolff)

Eine Einverständniserklärung zur Durch-führung der genetischen Beratung soll den Ratsuchenden u. a. wichtige Infor-mationen über die Humangenetische Be-ratung geben und strukturiert auf die-se Weise den Erwartungshorizont. Sie steckt gleichzeitig den Rahmen darü-ber ab, was der genetische Berater in der Regel zu leisten imstande ist, schützt ihn vor Überforderung und definiert damit einen sinnvollen Vertragsumfang im Be-reich der humangenetischen Beratung. In einem Musterentwurf der Deutschen Ge-sellschaft für Humangenetik (GfH) aus dem Jahre 1994 werden die obligaten In-halte der genetischen Beratung benannt

(http://www.medgenetik.de/sonder-druck/1994-305.PDF, .Infobox 1).

D   Die Abfassung des primär an die Ratsuchenden gerichteten indivi-duellen „Beratungsbriefs“ ist ein wichtiger Bestandteil der Beratung.

Es sollten alle wesentlichen Aspekte ein-schließlich der oft komplexen formalen genetischen Überlegungen in einer für den Ratsuchenden verständlichen Form angesprochen werden.

Infobox 1 Obligate Bestandteile einer genetischen Beratung laut GfH-Musterentwurf

FKlärung Ihrer persönlichen Fragestellung und des Beratungsziels,

FErhebung Ihrer persönlichen und fami-liären gesundheitlichen Vorgeschichte (Anamnese),

FBewertung vorliegender ärztlicher  Befunde bzw. Befundberichte,

Fdie körperliche Untersuchung von Ihnen oder Angehörigen, wenn dies für Ihre Fragestellung von Bedeutung ist,

FUntersuchungen an Blut oder anderen Geweben, wenn dies für Ihre Fragestel-lung wichtig ist,

Feine möglichst genaue medizinisch- genetische Diagnose,

Feine ausführliche Information über die in Frage stehenden Erkrankungen bzw. Be-hinderungen,

Feine Abschätzung spezieller genetischer Risiken,

Feine Beratung über die allgemeinen  genetischen Risiken,

Feine ausführliche Beratung über die möglichen Bedeutungen dieser Infor-mationen für Ihre Lebens- und Familien-planung und ggf. für Ihre Gesundheit.

RedaktionF. Lammert, Homburg/SaarS. Schreiber, Kiel

287Der Gastroenterologe 4 · 2013  | 

Schwerpunkt: Gastroenterologie und Humangenetik

Page 2: Prinzipien der humangenetischen Beratung und genetischen Diagnostik in der Gastroenterologie

Obwohl Nichtdirektivität ein wesent-liches Prinzip einer genetischen Beratung ist, wurde in den letzten Jahren vorge-schlagen, Nichtdirektivität zugunsten der Erfahrungsorientiertheit als Beratungs-grundhaltung aufzugeben. Hierbei lässt sich der Berater sehr wesentlich von den gemeinsam erarbeiteten Beratungszielen und Bedürfnissen der Ratsuchenden lei-ten.

Eine „aktive“ Beratung, also die Kon-taktaufnahme des Beraters mit weiteren Familienangehörigen ohne deren aus-drücklichen Wunsch, wird abgelehnt. Es bleibt immer in das Ermessen des Ratsu-chenden gestellt, nahe Verwandte selbst zu informieren.

Genetische Diagnostik

Indikation

Die Frage der Indikation der molekular-genetischen Untersuchung erfordert vor dem Hintergrund der Komplexität der Analytik, des stetig wachsenden Wissens über die molekularen Grundlagen und der entstehenden Kosten eine fortwäh-rende Diskussion. An die Indikationsstel-lung zu einer molekulargenetischen Ana-

lyse sollten strenge Anforderungen ge-stellt werden. Eine Basis kann der „Al-gorithmus für die Entscheidungsfindung zur genetischen Diagnostik bei sehr sel-tenen Krankheiten“ darstellen (.Abb. 1, [2]). Das Gendiagnostikgesetz definiert darüber hinaus feste Rahmenbedingun-gen und erfordert für die Beratung eine spezifische Qualifikation. Die Absiche-rung der Diagnose allein durch den mole-kulargenetischen Nachweis einer ursäch-lichen Mutation ist noch keine hinrei-chende Begründung für eine Mutations-analytik. Der Algorithmus macht auch deutlich, dass sich mit wachsendem Er-kenntnisgewinn, z. B. hinsichtlich thera-peutischer Optionen, die Beurteilung än-dern kann.

Methodik und Aussagekraft molekularer Analysen

Erst durch die Entwicklung der Polyme-rasekettenreaktion (PCR) wurde auch die Sequenzierung, also die Einzelbasenpaar-charakterisierung eines DNA-Abschnitts, in dem Maßstab möglich, wie er heute Einsatz findet. Das menschliche Genom gilt auf der Ebene der Nukleotidsequenz

als vollständig entschlüsselt, obwohl we-der die genaue Anzahl noch die Funktion aller Gene, aber auch der nichtkodieren-den Sequenzen bis heute auch nur annä-hernd bekannt sind.

Vor der Wahl der genetischen Analyse zur Diagnoseabsicherung einer erblichen Erkrankung sind vor allem 3 Gesichts-punkte zu berücksichtigen:1. Erlaubt die klinische Verdachtsdia-

gnose eine rationale Auswahl eines bzw. mehrerer zu analysierender Gene? Die klinische Diagnose Leber-zirrhose allein wird eine Analyse des HFE-Gens nicht rechtfertigen, erst bei Nachweis einer pathologischen Eisenspeicherung wird die Erfolgsrate deutlich ansteigen.

2. Besteht bei der Erkrankung geneti-sche Heterogenie? Können Mutatio-nen in verschiedenen Genen das glei-che klinische Krankheitsbild erzeu-gen?Mutationen in verschiedenen Genen können ein hereditäres non-polypöses kolorektales Karzinom (HNPCC) verursachen. Die Auswahl des zu analysierenden Gens wird in diesem Fall vom Ergebnis der im-munhistochemischen Untersuchung abhängig gemacht. Genaue Kenntnis-se über die Häufigkeiten beteiligter Gene können ebenfalls ausschlagge-bend für die Auswahl des analysierten Gens/bzw. der Reihenfolge der Analy-se sein.

3. Wie hoch ist die Detektionsrate, und wie ist das Mutationsspektrum des ausgewählten Gens? Während die Testung der Mutationen C282Y und H63D im HFE-Gen in der Regel aus-reichend zur Bestätigung einer Hä-mochromatose ist, sind für viele ge-netische Erkrankungen eine Vielzahl von Mutationen bekannt, die über das ganze Gen verteilt vorliegen und die damit eine Analytik des gesamten Gens erfordern. Hier sind z. B. Mu-tationen im CFTR-Gen zu nennen: Zwar tritt hier die Mutation p.F508del (früher: ΔF508) bei bis zu 80% der mitteleuropäischen Patienten mit ty-pischer Mukoviszidose auf, in Abhän-gigkeit vom ethnischen Hintergrund und bei Patienten mit atypischer kli-nischer Verlaufsform, wie der chroni-schen Pankreatitis, können aber auch

nein

nein

nein

ja nein ja

ja

ja GENETISCHEDIAGNOSTIK

GENETISCHEDIAGNOSTIK

GENETISCHEDIAGNOSTIK

GENETISCHEDIAGNOSTIK

KEINE GENETISCHEDIAGNOSTIK

(Di�erential)diagnostisches Setting:Patient (Fetus) mit klinisch manifester Krankheit 1

Prädiktives Setting 2:Gesunde Person oder Gesundheitsstatus unbekannt

Könnte das Untersuchungsergebnisdas Fallmanagement beein�ussen?

- andere diagnostische Verfahren ersparen 3

- die Prognose präzisieren- die Behandlung/Therapie steuern

Beein�usst das Ergebnis einergenetischen Untersuchung

- die Präventionsmöglichkeiten?- die Lebensgewohnheiten?

Wird von Familienmitgliedern die Präzisierung genetischer Risiken verlangt?

Stellt das Fehlen einer genetischen Diagnose eine Belastung in sich selbst dar?

Abb. 1 8 Algorithmus für die Entscheidungsfindung zur genetischen Diagnostik bei sehr seltenen Krankheiten. (Nach [2]). 1 Es wird davon ausgegangen, dass der Patient klinisch untersucht ist, ggf. einschließlich nichtinvasiver Verfahren wie z. B. Bildgebung und Elektrophysiologie. 2 Einschließlich prädiktiver Pränataldiagnostik. 3 Hier ist in erster Linie an Verfahren zu denken, die belastend oder risi-kobehaftet für den Patienten sind

288 |  Der Gastroenterologe 4 · 2013

Schwerpunkt: Gastroenterologie und Humangenetik

Page 3: Prinzipien der humangenetischen Beratung und genetischen Diagnostik in der Gastroenterologie
Page 4: Prinzipien der humangenetischen Beratung und genetischen Diagnostik in der Gastroenterologie

andere und seltenere Mutationen auf-treten. Hier sind mutationsspezifische Tests meist nicht zielführend, viel-mehr müssen große Teile des Gens mittels DNA-Sequenzierung analy-siert werden.

Da vor allem bei genetisch heterogenen Krankheitsbildern sehr häufig nur bei einem Teil der analysierten Fälle die Dia-gnose molekulargenetisch bestätigt wer-den kann, kann bei diesen Krankheiten der fehlende Nachweis einer Mutation hingegen die Diagnose keinesfalls aus-schließen.

Mit der Entwicklung verschiede-ner Verfahren zum massiven parallelen Hochdurchsatzsequenzieren („massively parallel sequencing“), die unter dem Be-griff Next Generation Sequencing (NGS) zusammengefasst werden, ist nun die Analyse größerer Anteile bzw. des ganzer Genome und damit einer Vielzahl von Genen in einem Analyseschritt mit einem relativ geringen Kostenaufwand möglich. Die Komplettsequenzierung des Genoms innerhalb eines Tages für 1000 Dollar („1000-Dollar-Genom“) ist heute Wirk-lichkeit.

Die Möglichkeit der gleichzeitigen Analyse mehrerer Gene, z. B. bei Verdacht auf ein Krankheitsbild, das durch ver-schiedene Gendefekte verursacht werden kann, wird in Zukunft Überlegungen zur rationellen Diagnostik erleichtern. In sog. Panel-Analysen wird es zunehmend leich-ter möglich, eine größere Anzahl von Ge-nen gleichzeitig zu analysieren. Vor dem Hintergrund sinkender Analysekosten werden sich die Grenzen zur molekular-genetischen Analyse in einem klinischen Diagnostikalgorithmus zunehmend ver-schieben, die genetische Analytik wird an Bedeutung zunehmen.

In Abhängigkeit von der gewähl-ten NGS-Technik können je nach Fra-gestellung entweder spezifische genomi-sche Regionen gezielt analysiert werden ( „targeted NGS“), es können aber auch die kodierenden genomischen Bereiche al-ler humanen Gene („exome sequencing“ ) oder ganze Genome („whole genome sequencing“) charakterisiert werden. Die unterschiedlichen NGS-Verfahren unter-scheiden sich teilweise erheblich hinsicht-lich Kapazitäten, Fehlerraten und Leselän-

Zusammenfassung · Abstract

Gastroenterologe 2013 · 8:287–295   DOI 10.1007/s11377-013-0765-3© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

K. Zerres · J. Glas · T. Eggermann · S. Rudnik-SchönebornPrinzipien der humangenetischen Beratung und genetischen Diagnostik in der Gastroenterologie

ZusammenfassungFür den Gastroenterologen gewinnt die Hu-mangenetik zunehmend an Bedeutung. Da-bei unterscheidet sich die genetische Diag-nostik vielfach von derjenigen der klinischen Medizin. So erfordern die Indikationsstel-lung zur molekulargenetischen Analyse und die Interpretation der Ergebnisse umfassen-de genetische Kenntnisse. Die inzwischen in Teilen durch das Gendiagnostikgesetz gere-gelte Vermittlung dieser Zusammenhänge in Aufklärung und humangenetischer Beratung haben oft über die Diagnosesicherung für die untersuchte Person hinaus wichtige Impli-

kationen für weitere Familienangehörige. Im vorliegenden Beitrag werden wichtige Ent-wicklungen der molekulargenetischen Dia-gnostik skizziert. Weiterhin werden die Rah-menbedingungen für die genetische Diag-nostik und Beratung sowie genetische Aspek-te einiger wichtiger gastroenterologischer Krankheitsbilder dargestellt.

SchlüsselwörterGenetik · Erblicher Darmkrebs · Hereditäre Pankreatitis · Hämochromatose · Entzündliche Darmerkrankungen

Principles of genetic counseling and genetic diagnosis in gastroenterology

AbstractGenetics is becoming increasingly more im-portant in the field of gastroenterology. Ge-netic diagnosis differs from conventional clin-ical medicine in many aspects. Indications for genetic analysis and interpretation of the subsequent results require in-depth genet-ic knowledge. In Germany, genetic diagnos-tics has been regulated since 2010 by the Ge-netic Diagnosis Act which gives a framework for information, informed consent and genet-ic counseling when applying genetic tests. Genetic test results often have implications 

for other family members. In this paper new developments in molecular genetic analysis will be outlined. Furthermore, the regulations for genetic diagnosis and principles of genet-ic counseling will be summarized followed by a short overview about genetic aspects of se-lected relevant gastroenterological diseases.

KeywordsGenetics · Hereditary colon cancer · Hereditary pancreatitis · Hemochromatosis · Inflammatory bowel disease

gen. Allerdings sind die Potenziale und Limitationen aller 3 Strategien insbeson-dere vor dem Hintergrund der enormen Variabilität des menschlichen Genoms zu bewerten: So finden sich pro Individuum 3.000.000 Basenpaaraustausche („sing-le nucleotide polymorphisms“, SNP), die in der Regel ohne phänotypische Relevanz sind. Hinzu kommt eine Vielzahl von klei-neren oder größeren chromosomalen Umbauten (Deletion, Duplikationen, In-sertionen). Aus diesem Grunde existiert keine Standardsequenz des Menschen.

Beim Whole Genome Sequencing wer-den alle genannten Varianten erfasst und müssen bioinformatisch, z. B. in Hinblick auf ihre funktionelle Relevanz, bewertet werden – wegen der enormen Zahl nach-weisbarer Veränderungen eine derzeit für den Routinealltag nicht zu bewältigende Aufgabe. Werden nur die oben genann-

ten Exome sequenziert, so finden sich immer noch 20.000 bis 50.000 genomi-sche Veränderungen, die nur durch auf-wendige bioinformatische Algorithmen unter Verwendung spezifischer Kriterien (z. B. mögliche funktionelle Konsequenz) charakterisiert werden können. Es lassen sich bis zu etwa 500 Varianten als indi-viduelle „private“ Varianten nachweisen, unter denen dann eine krankheitsverur-sachende Mutation gesucht werden muss. Aus diesem Grunde halten derzeit zielge-richtete NGS-Strategien („targeted NGS“) in diagnostische Abläufe Einzug (Panel-Untersuchungen): Da hier in der Regel bekannte Gene und Sequenzen und da-mit auch bereits bekannte und validierte Varianten untersucht werden, ist die „Ge-fahr“ des Nachweises von Varianten un-klarer Bedeutung dadurch wesentlich re-duziert.

290 |  Der Gastroenterologe 4 · 2013

Page 5: Prinzipien der humangenetischen Beratung und genetischen Diagnostik in der Gastroenterologie

So elegant und effizient die neuen NGS-Verfahren also sind, so groß ist heu-te die Herausforderung an die bioinfor-matische Bearbeitung und Auswertung der erzeugten Datenmenge von 10–40 TB einzelner Arbeitsabläufe, die aufwendige IT-Lösungen erfordern.

Die genannten Methoden sind nicht getrennt zu betrachten und ersetzen sich nicht durch zunehmende Verbesserung z. B. des Auflösungsvermögens, sondern kommen je nach Fragestellung komple-mentär zum Einsatz. Der mögliche Nut-zen des Einsatzes der neuen Hochdurch-satztechnologien in der klinisch-geneti-schen Diagnostik muss jeweils individu-ell bewertet werden.

Bei Anwendung genomweiter Tech-niken wie DNA-Chips und NGS werden im Vergleich mit den oft zielgerichteten Analysen der Vergangenheit in wesentlich stärkerem Maße sog. Zusatzbefunde an-fallen, die nicht im Zusammenhang mit der Indikation für die Durchführung der Untersuchung stehen, jedoch von klini-scher Relevanz sein können.

Der Umgang mit diesen Zusatzbefun-den muss mit den Betroffenen und de-

ren Familie diskutiert werden. Da jedoch nicht alle denkbaren Befunde mitgeteilt werden können, ist eine Kategorisierung nach klinischer Bedeutung sinnvoll, wo-bei das Recht auf Nichtwissen und der Schutz nichteinwilligungsfähiger Perso-nen berücksichtigt werden müssen.

Gesetzliche Rahmenbedingungen für genetische Untersuchungen

Am 1. Februar 2010 ist das Gendiagnostik-gesetz (GenDG) in Kraft getreten (http://www.gesetze-im-internet.de/gendg/index.html), das den Umgang mit genetischen Untersuchungen stärker in Einwilligungs- und Aufklärungsregularien einbindet als andere ärztliche Untersuchungen. Eine genetische Untersuchung darf nur dann vorgenommen werden, wenn die betrof-fene Person über das Wesen und mögli-che Konsequenzen der Untersuchung auf-geklärt wurde und hierfür ausdrücklich und schriftlich gegenüber der verantwort-lichen ärztlichen Person eingewilligt hat.

Entsprechende Vordrucke stehen über die Gesellschaft für Humangenetik e. V.

(http://www.gfhev.de) oder den Berufs-verband Deutscher Humangenetiker e. V. (http://www.bvdh.de) zur Verfügung.

Nach den Begriffsbestimmungen des GenDG sind genetische Untersuchun-gen zu diagnostischen Zwecken (zur Ab-klärung einer bestehenden Symptoma-tik) von prädiktiven genetischen Unter-suchungen abzugrenzen. Die Aufklärung und Einwilligung für diagnostische gene-tische Untersuchungen dürfen durch den verantwortlichen Arzt vorgenommen werden, der keine spezielle humangene-tische Qualifikation benötigt. So kann je-der Arzt z. B. bei Verdacht auf eine ge-netisch bedingte Leberfunktionsstörung eine entsprechende Testung veranlassen. Der untersuchten Person soll nach § 10 Abs. 1 GenDG jedoch eine genetische Be-ratung angeboten werden.

Prädiktive genetische Untersuchun-gen schließen nach § 3 GenDG nicht nur Untersuchungen ein, die ein Erkran-kungsrisiko für später im Leben auftreten-de Erkrankungen für die untersuchte Per-son selbst vorhersagen, wie dies z. B. bei erblichen Krebserkrankungen der Fall ist. Sie beziehen sich darüber hinaus auch auf

26. bis 27. September 2013  |  Langenbeck-Virchow-Haus, Berlin

6 Deutscher InternistentagDer Berufsverband Deutscher Internisten e. V. lädt Sie herzlich 

zum 6. Deutschen  Internistentag nach  Berlin ein.

Veranstalter  Berufsverband Deutscher Internisten e. V. | Mehr Informationen unter  www.internistentag.de

Informieren Sie sich über wichtige 

 berufspolitische Themen mit Bezug zur 

Inneren  Medizin, und nutzen Sie gleich-

zeitig die breiten Möglichkeiten zur 

internistischen Fortbildung auf hohem 

klinisch-wissenschaftlichen Niveau.

BDI Kids Cornerkostenfreie Kinderbetreuung

Freitag  27.09.2013  |  Hörsaal  09.00 –10.30 Uhr

Vorsitz     Prof. Dr. med. J. Labenz, SiegenDr. med S. Heuer, Bielefeld

D  Ösophagus- und Magenerkrankungen

Prof. Dr. med. J. Labenz, Siegen

D   Dünn- und Dickdarmerkrankungen

Prof. Dr. med. A. Holstege, Landshut

D  Funktionelle Störungen des Gastrointestinaltrakts

Prof. Dr. med. Th. Frieling, Krefeld

D  Endoskopische Diagnostik und Therapie

Prof. Dr. med. R. Kiesslich, Frankfurt am Main

Fortbildung: Gastroenterologie  |  Neuigkeiten mit praktischer Relevanz

Page 6: Prinzipien der humangenetischen Beratung und genetischen Diagnostik in der Gastroenterologie

den Nachweis einer Anlageträgerschaft für Krankheiten, die nur einen geringen Beitrag zur Abklärung einer klinischen Symptomatik leisten, aber für die Fami-lienplanung eine größere Bedeutung ha-ben, z. B. Nachweis einer CFTR­Mutation im Zusammenhang mit einer chronischen Pankreatitis. Für prädiktive Untersuchun-gen fordert das GenDG obligat vor der Untersuchung und nach Eingang des Er-gebnisses eine genetische Beratung durch einen hierfür qualifizierten Arzt, ebenso für vorgeburtliche Untersuchungen.

Bei Minderjährigen gelten nach § 14 GenDG besonders strenge Regelungen, um das informationelle Selbstbestim-mungsrecht nichteinwilligungsfähiger Personen zu schützen. Eine prädiktive ge-netische Diagnostik ist dann angezeigt, wenn mit dem Auftreten einer Erkran-kung bei Minderjährigen zu rechnen ist und wenn sinnvolle medizinische Maß-nahmen zur Prävention oder Behandlung der Erkrankung ergriffen werden können. Dies gilt z. B. für die familiäre adenomatö-se Polyposis coli, bei der eine Darmresek-tion bei Anlageträgern bereits im Jugend-alter empfohlen wird.

Für eine erst im Erwachsenenalter auftretende Erkrankung, für die im Kin-des- bzw. Jugendalter keine Prävention zur Verfügung steht, z. B. HNPCC oder Lynch-Syndrom, darf dagegen bei Min-derjährigen keine prädiktive Diagnostik durchgeführt werden. Diese sollte immer und solange zurückgestellt werden, bis das Kind bzw. der Jugendliche nicht nur den genetischen Sachverhalt, sondern auch die emotionalen und sozialen Konsequen-zen der verschiedenen möglichen Unter-suchungsergebnisse verstehen kann. Die-ses Verständnis setzt zumindest Einwilli-gungsfähigkeit und damit im Allgemei-nen Volljährigkeit voraus.

Wichtige gastroentero-logische Krankheitsbilder

Familiärer Darmkrebs

Etwa 5% der Erkrankungsfälle treten im Rahmen von erblichen Tumorsyndro-men auf. Charakteristisch für erblichen Darmkrebs ist wie für sämtliche erbliche Tumorsyndrome eine familiäre Häufung, ein im Vergleich zu sporadischen Fällen

früheres Erkrankungsalter, das Auftreten von mehreren Tumoren gleichzeitig oder in zeitlicher Abfolge bei einem Erkrank-ten, ein spezifisches Spektrum zusätzlich auftretender extrakolonischer Tumoren sowie weitere spezifische Organbeteili-gungen.

Erbliche Darmkrebssyndrome folgen mehrheitlich einem autosomal-dominan-ten Erbgang. Die krankheitsverursachen-den Gene werden zur Gruppe der Tumor-suppressorgene gerechnet. Mutationsträ-gern und Risikopersonen für erbliche Tu-morsyndrome werden zur Früherken-nung spezielle Vorsorgeprogramme emp-fohlen. Eine vorhersagende (prädiktive) Diagnostik hat für Risikopersonen eine herausragende Bedeutung, da sich hieraus die Notwendigkeit der Teilnahme an den speziellen Vorsorgeprogrammen ergibt. Sie setzt eine Identifizierung einer krank-heitsverursachenden Mutation bei einem erkrankten Verwandten voraus. Sie soll-te zeitnah vor dem Zeitpunkt erfolgen, zu dem ein Beginn der endoskopischen Vor-sorgeuntersuchungen empfohlen wird.

Die erblichen Darmkrebssyndrome werden in das häufigere hereditäre nicht-polypöse kolorektale Karzinom (HNPCC, Lynch-Syndrom) und die selteneren gast-rointestinalen Polyposissyndrome unter-teilt. Obwohl ca. 20–25% aller kolorekta-len Karzinome familiär gehäuft auftreten, erfüllen die Mehrzahl jedoch nicht die Kriterien für ein familiäres Darmkrebs-syndrom. In diesen Fällen wird von einer multifaktoriellen Ursache unter Beteili-gung von genetischen Suszeptibilitätsva-rianten mit geringer Effektstärke ausge-gangen. Die Kenntnis dieser Varianten erlaubt bisher keine individuelle Risiko-einordnung, so dass derzeit keine Indika-tion für eine molekulargenetische Unter-suchung besteht.

Hereditäres nichtpolypöses kolorektales KarzinomDas autosomal-dominant erbliche HNPCC (Lynch-Syndrom) ist mit einem Lebenszeitrisiko von etwa 80% für das Auftreten eines kolorektalen Karzinoms verbunden. Zum HNPCC-assoziierten Spektrum gehören außerdem Tumoren des Endometriums, der Ovarien, des Ma-gens, des Dünndarms, des Pankreas, der Gallengänge, des Urothel, des Gehirns,

der Talgdrüsen sowie Keratoakanthome der Haut. Zur Abschätzung der Wahr-scheinlichkeit für das Vorliegen eines HNPCC dienen die sog. Amsterdam- bzw. Bethesda-Kriterien [3].

Dem HNPCC liegt ein Defekt der DNA-Mismatchreparatur(MMR)-Gene zugrunde. Charakteristisch für Tumoren des HNPCC-Spektrums ist eine hohe Mi-krosatelliteninstabilität (MSI-H). Durch eine immunhistochemische Untersu-chung im Tumorgewebe lässt sich in den meisten Fällen das wahrscheinlich be-troffene MMR-Gen ermitteln Die Wahr-scheinlichkeit eines Mutationsnachwei-ses bei Erfüllung der diagnostischen Kri-terien beträgt 60–80%.

HNPCC-Patienten bzw. Mutationsträ-ger sowie Risikopersonen, bei denen bis-her keine genetische Testung erfolgt ist oder in Hochrisikofamilien, bei denen keine krankheitsverursachende Mutation gefunden werden konnte, wird die Teil-nahme an speziellen Vorsorgemaßnah-men empfohlen [3].

Familiäre adenomatöse Polyposis coliDie klassische familiäre adenomatöse Po-lyposis coli (FAP) ist durch das Auftreten von mehr als 100 kolorektalen Adenomen gekennzeichnet, so dass die klinische Dia-gnose in der Regel keine Schwierigkeiten bereitet. Die FAP folgt einem autosomal-dominanten Erbgang und manifestiert sich meist im Jugendalter. Das Lebens-zeitrisiko für das Auftreten eines kolorek-talen Karzinoms liegt bei nahezu 100%. Ursächlich für die FAP sind Mutationen im APC-Gen, das ein klassisches Tumor-suppressorgen darstellt. Die Mutations-detektionsrate beträgt bei Erfüllung der genannten diagnostischen Kriterien et-wa 80–90%. Nach Auftreten zahlreicher Kolonpolypen stellt eine prophylaktische Kolektomie die wichtigste Behandlungs-maßnahme dar [4].

Hereditäre Hämochromatose

Die hereditäre Hämochromatose (HH) ist mit einer Prävalenz von 2–5/1000 eine der häufigsten erblich bedingten Erkrankun-gen in der europäischen Bevölkerung, der Erbgang ist autosomal rezessiv. Die Pro-gnose ist von einem rechtzeitigen The-

292 |  Der Gastroenterologe 4 · 2013

Schwerpunkt: Gastroenterologie und Humangenetik

Page 7: Prinzipien der humangenetischen Beratung und genetischen Diagnostik in der Gastroenterologie
Page 8: Prinzipien der humangenetischen Beratung und genetischen Diagnostik in der Gastroenterologie

rapiebeginn und dem Vorliegen der be-schriebenen Organschädigungen abhän-gig [5].

Für die klassische adulte Form einer HH sind Mutationen im HFE-Gen ver-antwortlich. Die wichtigsten mit einer HH assoziierten HFE-Mutationen sind C282Y und H63D, die in der europäi-schen Bevölkerung Häufigkeiten von et-wa 4% bzw. 15% aufweisen. Es existieren außerdem seltenere HFE-Mutationen, de-ren Relevanz für die HH nicht eindeutig geklärt ist.

Ein konkreter Verdacht auf eine HH ergibt sich bei meist durch Auffälligkeiten bestimmter Serumparameter (Transfer-rinsättigung, Serumferritin), die auf eine Eisenüberladung hindeuten. Eine Indika-tion für eine molekulargenetische Unter-suchung der Mutationen C282Y und H63D des HFE-Gens besteht außerdem für erwachsene erstgradig Verwandte von Patienten mit bestätigter HH. Bei ent-sprechender Klinik und Vorliegen einer homozygoten HFE-Mutation C282Y, die bei 85–90% aller HH-Patienten nachge-wiesen wird, ist eine HH diagnostisch gesichert. Dies gilt auch für einen kom-biniert heterozygoten Genotyp C282Y/H63D, den 3–5% der HH-Patienten auf-weisen.

Nach Diagnosestellung einer HH wird bei gleichzeitigem Vorliegen erhöhter Le-berenzymwerte (AST) bzw. auffälligem Sonographiebefund eine Aderlassthera-pie eingeleitet. Eine Leberbiospie ist hin-gegen nur noch selten erforderlich, etwa wenn das Ausmaß der Leberschädigung mit nichtinvasiven Verfahren nicht ein-deutig bestimmbar ist oder wenn die mo-lekulargenetische Diagnostik ein negati-ves oder uneindeutiges Ergebnis erbracht hat. Eine weitergehende Analyse des HFE-Gens kann bei einem abweichenden eth-nischen Hintergrund, einer klinisch und laborchemisch diagnostizierten HH bei Vorliegen einer nur heterozygoten C282Y-Mutation sowie bei einem auf eine HH hindeutenden Befund in der Leberhisto-logie sinnvoll sein [6].

BevölkerungsscreeningEin Bevölkerungsscreening zur Identi-fizierung von homozygoten bzw. com-pound-heterozygoten Anlageträgern (zwei verschiedene Mutationen) zur Iden-

tifizierung von Personen mit einen deut-lich erhöhten Risiko für die Ausbildung einer klinisch manifesten HH kann sinn-voll sein und wurde in Deutschland z. B. den Mitgliedern der Kaufmännischen Krankenkasse in Hannover angeboten. Zentrales Problem ist eine vorangegange-ne Aufklärung der Bevölkerung. Es muss vermittelt werden, dass nur ein kleiner Teil (ca. 13%) der homozygoten Anlage-träger für die C282Y-Mutation eine kli-nisch relevante Hämochromatose entwi-ckelt [7] und dieses Risiko für andere ge-netische Konstellationen wahrscheinlich noch geringer ist.

Hereditäre Pankreatitis

Eine chronische Pankreatitis ist in den meisten Fällen durch exogene Faktoren bedingt oder kann im Rahmen bestimm-ter teilweise erblicher Stoffwechselerkran-kungen (z. B. Mukoviszidose, Lipidstoff-wechselstörungen) auftreten. Hiervon wird die hereditäre chronische Pankrea-titis (HCP) abgegrenzt, die sich durch einen im Vergleich zu den exogenen For-men einer chronischen Pankreatitis deut-lich früheren Erkrankungsbeginn (durch-schnittlich etwa um das 10. Lebensjahr), eine familiäre Häufung teilweise im Sin-ne eines autosomal-dominanten Erbgangs sowie dem Fehlen anderer Ursachen aus-zeichnet.

Die klinischen Symptome einer vor-nehmlich exogen alkoholbedingten chro-nischen Pankreatitis und einer HCP unterscheiden sich nicht grundlegend, letztere zeigt meist jedoch einen lang-sameren Verlauf. Eine weiter bedeuten-de Langzeitkomplikation stellt die Ent-stehung eines Pankreaskarzinoms mit einem kumulativen Lebenszeitrisiko von etwa 40% für die HCP dar.

Die HCP wird zum einen mit Muta-tionen im PRSS1­Gen, welches das kat-ionische Trypsinogen kodiert, in Verbin-dung gebracht. Eine HCP auf Basis einer PRSS1-Mutation folgt einem autosomal-dominanten Erbgang mit einer inkom-pletten Penetranz. Darüber hinaus wur-den bei HCP-Patienten in seltenen Fäl-len Mutationen in weiteren Genen nach-gewiesen [8].

Eine Indikation für eine molekularge-netische Diagnostik besteht bei wieder-

holten Schüben oder einer chronischen Pankreatitis, für die keine bekannte Ursa-che vorliegt, sowie einer gleichzeitigen fa-miliären Häufung von Erkrankungsfäl-len. Die molekulargenetische Untersu-chung umfasst das PRSS1-Gen sowie das SPINK1-Gen. Eine weitere diagnostische Option ist eine Untersuchung des CFTR-Gens; hierbei muss jedoch berücksich-tigt werden, dass das Mutationsspektrum gegenüber der Mukoviszidose deutliche Unterschiede zeigt und HCP-assoziier-te CFTR-Mutationen bei Verwendung von kommerziellen Kits für die häufigs-ten CFTR-Mutationen dem Nachweis ent-gehen, während eine Komplettsequenzie-rung wegen der Größe des CFTR-Gens deutlich erschwert ist [8, 9].

Eine vorhersagende genetische Dia-gnostik bei klinisch gesunden Personen mit familiärer Belastung ist jedoch we-gen der inkompletten Penetranz nur be-grenzt aussagekräftig und hat für die Fra-ge der medizinischen Begleitung nur we-nig Relevanz, wenn man von allgemeinen Empfehlungen zur Vermeidung von schä-digenden Noxen absieht.

Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen: Morbus Crohn und Colitis ulcerosa

Die Ursache der chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED) ist multifakto-riell. Unter den exogenen Faktoren spie-len die Mikroorganismen der Darmflora sowie der Nikotinkonsum eine wichtige Rolle. Die CED zeigen in etwa 5–15% der Fälle eine familiäre Häufung. Das Erkran-kungsrisiko für Nachkommen in betroffe-nen Familien hängt dabei von der Anzahl erkrankter Personen und dem Verwandt-schaftsgrad ab [10].

Kopplungsstudien in betroffenen Fa-milien konnten zahlreiche krankheits-assoziierte Loci identifizieren. Der erste wichtige Meilenstein war im Jahr 2001 die Identifizierung des NOD2-Gens als ers-tes Suszeptibilitätsgen für M. Crohn. Seit dem Jahr 2006 wurden in großen CED-Kollektiven genomweite Assoziations-studien durchgeführt, die zur Identifika-tion zahlreicher weiterer Suszeptibilitäts-loci und dadurch auch neuer für die Pa-thogenese relevanter Signalwege geführt haben (z. B. durch Th17-Zellen vermit-

294 |  Der Gastroenterologe 4 · 2013

Schwerpunkt: Gastroenterologie und Humangenetik

Page 9: Prinzipien der humangenetischen Beratung und genetischen Diagnostik in der Gastroenterologie

telte Signalwege, Autophagie, Signalwe-ge unter Beteiligung des Prostaglandin-rezeptors EP4). Es sind inzwischen mehr als 150 bestätigte Suszeptibilitätsloci für die CED bekannt, von denen etwa 30 nur für M. Crohn und etwa 20 nur für die Co-litis ulcerosa bedeutend sind, während die Mehrzahl von mehr als 100 Loci zur Sus-zeptibilität für beide Erkrankungen bei-trägt [11]. Bemerkenswert ist auch, dass zahlreiche dieser Loci auch mit anderen chronisch-entzündlichen Erkrankungen und Autoimmunerkrankungen wie bei-spielsweise der Psoriasis und der ankylo-sierenden Spondylitis assoziiert sind.

Eine gewisse Bedeutung für die kli-nische Medizin hat bisher nur das M.-Crohn-assoziierte NOD2-Gen mit 3 Hauptmutationen erlangt, das mittler-weile routinemäßig untersucht wird. Bis zu 40% der M.-Crohn-Patienten tragen eine (heterozygote) NOD2-Mutation, und in bis zu 5% der Fälle liegt in beiden Gen-kopien (homozygot) eine NOD2-Mutati-on vor. Die Trägerschaft von NOD2-Mu-tationen zeigt eine starke Korrelation mit dem Auftreten von ilealen Stenosen [11]. Erste Studien haben gezeigt, dass eine Homozygotie für NOD2-Mutationen, insbesondere die Mutation L1007fsX1008, mit dem höchsten Risiko einer Entste-hung von Fisteln und Stenosen verbun-den ist. Dieser Befund rechtfertigt eine intensivierte Überwachung und eine frühzeitige immunsuppressive Therapie mit Antitumornekrosefaktor-α-Antikör-pern (Infliximab, Adalimumab; [12, 13]). Für die übrigen Suszeptibilitätsloci konn-ten dagegen bisher weder beim M. Crohn noch bei der Colitis ulcerosa wesentliche diagnostische oder therapeutische Kon-sequenzen abgeleitet werden [14, 15, 16].

Fazit für die Praxis

FDurch die wachsenden Erkenntnis-se über die genetische Basis, aber auch die verbesserten Möglichkeiten der molekulargenetischen Diagnos-tik gastroenterologischer Krankheits-bilder gewinnt die Humangenetik für den Gastroenterologen in der Praxis zunehmend an Bedeutung.

FDie Indikationsstellung zur moleku-largenetischen Analyse und die Inter-

pretation der Ergebnisse erfordern umfassende genetische Kenntnisse.

FDer Vermittlung dieser Zusammen-hänge bei der Aufklärung und hu-mangenetischen Beratung ist an die umfassenden Vorgaben des Gendiag-nostikgesetzes gebunden.

FOft haben die erhobenen Befunde über die Diagnosesicherung für die untersuchte Person hinaus wichtige Implikationen für weitere Familienan-gehörige.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. K. ZerresInstitut für Humangenetik,  RWTH AachenPauwelsstr. 30,  52074 [email protected]

Interessenskonflikt.  Der korrespondierende Autor gibt für sich und seine Koautoren an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Literatur

  1.  Berufsverband Medizinische Genetik (2007) Leitli-nien zur Genetischen Beratung. medgen 19: 452–454

  2.  Diagn Alogrithmus GfH Deutsche Gesellschaft für Humangenetik. Zur Definition des klinischen Nut-zens genetischer Diagnostik bei erblichen Krank-heiten – Eckpunkte für eine Kriterienentwicklung http://www.gfhev.de/de/leitlinien/Diagnostik_LL/Kriterienentwicklung_LL.pdfDiagnostikalogrith-mus

  3.  Steinke V, Engel C, Büttner R et al (2013) Heredita-ry nonpolyposis colorectal cancer (HNPCC)/Lynch syndrome. Dtsch Ärztebl Int 110: 32–38

  4.  Aretz S (2010) Differenzialdiagnostik und Früh-erkennung hereditärer gastrointestinaler Polypo-sis-Syndrome. Dtsch Arztebl 107: 163–173

  5.  Adams PC, Barton JC (2007) Haemochromatosis. Lancet 370: 1855–1860

  6.  Berufsverband Deutscher Humangenetiker e. V., Deutsche Gesellschaft für Humangenetik e. V. (2006) Leitlinie zur molekulargenetischen Diag-nostik der hereditären Hämochromatose. medgen 18: 273–277

  7.  European Association For The Study Of The Liver (2010) EASL clinical practice guidelines for HFE he-mochromatosis. J Hepatol 53: 3–22

  8.  Solomon S, Whitcomb DC (2012) Genetics of pan-creatitis: an update for clinicians and genetic cou-seleors. Curr Gastroenterol Rep 14: 112–117

  9.  Rosendahl J, Bödeker H, Mössner J et al (2007) Her-editary chronic pancreatitis. Orphanet J Rare Dis 2: 1–10

10.  Haverkamp F, Zerres K (1993) Genetische Aspekte von Morbus Crohn und Colitis ulcerosa. Empirische Wiederholungsrisiken und Fallbericht. Klin Pädiatr 205: 41–44

11.  Hampe J, Grebe J, Nikolaus S et al (2002) Associati-on of NOD2 (CARD 15) genotype with clinical cour-se of Crohn’s disease: a cohort study. Lancet 359: 1661–1665

12.  Brand S (2012) Homozygosity for the NOD2 p.Leu1007fsX1008 variant is the main genetic pre-dictor for fibrostenotic Crohn’s disease. Inflamm Bowel Dis 18: 393–394

13.  Brand S (2013) Moving the genetics of inflamma-tory bowel diseases from bench to bedside: first steps towards personalised medicine. Gut, 30. Ja-nuar 2013 (Epub ahead of print; doi: 10.1136/gutjnl-2012-304151)

14.  Jostins L, Ripke S, Weersma RK et al (2012) Host-microbe interactions have shaped the genetic ar-chitecture of inflammatory bowel disease. Nature 491: 119–124

15.  Baumgart DC, Sandborn WJ (2012) Crohn’s disea-se. Lancet 380: 1590–1605

16.  Ordás I, Eckmann L, Talamini M et al (2012) Ulcera-tive colitis. Lancet 380: 1606–1619

295Der Gastroenterologe 4 · 2013  |