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Nr. 424/425 März/April 2007 € 4,– G9861 INTERNATIONALE PRESSEKORRESPONDENZ Italien Prodi unter Druck von links Polen Bewegung für das Recht auf Abtreibung Kuba Castrismus nach Castro Bolivien Das Labyrinth der Revolution Balkanstaaten Undurchsichtige Neudefinitionen die internationale RSB: Der Kapitalismus ist das Problem! isl: Zum Stand der Parteifusion Protektionismus als Mittel alternativer Politik? Langer Kampf für die Schuldenstreichung

Protektionismus als Mittel alternativer Politik? Langer ... · IMPRESSUM Inprekorr ist das Organ der IV. Inter-nationale in deutscher Sprache. In-prekorr wird herausgegeben von der

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Nr. 424/425 März/April 2007 € 4,–

G9861

I N T E R N A T I O N A L E P R E S S E K O R R E S P O N D E N Z

Italien Prodi unter Druck von links Polen Bewegung für das Recht auf Abtreibung Kuba Castrismus nach Castro Bolivien Das Labyrinth der Revolution Balkanstaaten Undurchsichtige Neudefinitionen die internationale RSB: Der Kapitalismus ist das Problem! isl: Zum Stand der Parteifusion

Protektionismus als Mittel alternativer Politik?

Langer Kampf für die Schuldenstreichung

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IMPRESSUM

Inprekorr ist das Organ der IV. Inter-nationale in deutscher Sprache. In-prekorr wird herausgegeben von der deutschen Sektion der IV. Internatio-nale, von RSB und isl. Dies geschieht in Zusammenarbeit mit GenossInnen aus Österreich und der Schweiz und unter der politischen Verantwortung des Exekutivbüros der IV. Internatio-nale.

Inprekorr erscheint zweimonatlich (6 Doppelhefte im Jahr). Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung des herausge-benden Gremiums wieder.

Konto: Neuer Kurs GmbH, Postbank Frankfurt/M.(BLZ: 500 100 60), KtNr.: 365 84-604

Abonnements: Einzelpreis: € 4,–Jahresabo (6 Doppelhefte): € 20,–Solidarabo: ab € 30,–Sozialabo: € 12,–Probeabo (3 Doppelhefte): € 10,–Auslandsabo: € 40,–

Website:http://inprekorr.de

Redaktion: Michael Weis (verantw.), Birgit Althaler, Daniel Berger, Wilfried Du-bois, Thies Gleiss, Jochen Herzog, Paul Kleiser, Oskar Kuhn, Björn Mer-tens, Lex Schmidt.E-Mail Redaktion: [email protected]

Satz: Grafikkollektiv Sputnik

Verlag, Verwaltung & Vertrieb:Neuer Kurs GmbH, Dasselstr. 75-77, D-50674 Köln.

Kontaktadressen:RSB, Revolutionär Sozialistischer BundLandzungenstraße 8, D-68519 Mannheim

isl, internationale sozialistische linkeDasselstr. 75-77, D-50674 Köln

Soal, Postfach 395,A-1070 Wien

Inprekorr, Güterstr. 122, CH-4053 Basel

Eigentumsvorbehalt: Die Zeitung bleibt Eigentum des Verlags Neuer Kurs GmbH, bis sie dem/der Gefan-genen persönlich ausgehändigt ist. „Zur-Habe-Nahme“ ist keine persön-liche Aushändigung im Sinne des Eigentumsvorbehalts. Wird die Zeit-schrift dem/der Gefangenen nicht persönlich ausgehändigt, ist sie dem Absender unter Angabe der Gründe der Nichtaushändigung umgehend zurückzusenden.

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ItalienRomano Prodi unter Druck von links, Flavia D’Angeli ........................................................3

PolenDie polnische Bewegung für das Recht auf Abtreibung – immer

noch in einer verzwickten Lage, Katarzyna Gawlicz ........................................................4

BalkanstaatenDie neuen Balkanstaaten: Die undurchsichtige Neudefinition der Eigentums-

und der nationalen Rechte, Catherine Samary ..................................................................6Erste Schritte der Arbeiterbewegung in Bosnien-Herzegowina, Goran Markovic .............14

KubaDer Castrismus nach Castro, Janette Habel ........................................................................18

BolivienDas Labyrinth der bolivianischen Revolution , Pablo Stefanoni ........................................37

ÖkonomieDer Mythos der Mikrokredite, Alexander Cockburn ..........................................................40Der Kampf für die Annullierung der Schulden in historischer Perspektive,

Eric Toussaint ..................................................................................................................42Der Protektionismus als Mittel alternativer Politik?

Interview mit Michel Husson und Jacques Sapir ............................................................46Abschlusserklärung des VII. Weltsozialforums .................................................................52

die internationaleArbeitsplatzvernichtung, Sozialabbau, Ausgrenzung und Armut: Der Kapitalismus ist das

Problem, nicht die Lösung!, RSB ....................................................................................21Zum Stand der Parteifusion – Eine Kurskorrektur ist dringend nötig, isl ...........................28

Liebe Leserinnen und Leser,

In der Ausgabe 422/23 fehlte der Hinweis, dass der Artikel zur bolivia-nischen Revolution unvollständig wiedergegeben wurde und die Fortset-zung in der Folgeausgabe erscheint. Wir bitten dies zu entschuldigen. Die vorliegende Ausgabe enthält im Innenteil („Internationale“) die Be-schlussdokumente von RSB und isl, der beiden deutschen Sektionen der IV. Internationale, zur politischen Lage, wie sie auf den jeweiligen Konfe-renzen verabschiedet wurden.

Angesichts der Brisanz und Aktualität des Themas möchten wir schon jetzt darauf verweisen, dass die kommende Ausgabe die unterschiedlichen Positionen unserer französischen Schwesterorganisation zur Präsident-schaftskandidatur in Frankreich zum Thema haben wird.

Die Redaktion

Thies Gleiss Sonderkonto; Kto.Nr. 478 106-507Postbank Köln (BLZ 370 100 50)

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ItALIEN

Nach zweitägiger Diskussion am 27. und 28. Januar mit über 400 Teilneh-mern beschloss Sinistra Critica, eine eigene Assoziation zu gründen, ohne sich deshalb von der PRC abzuspal-ten.

Die Eröffnungsrede hielt ein Ge-nosse des Widerstandskomitees aus Vi-cenza, das gegen die Erweiterung der NATO-Basis kämpft. Er führte aus, wie die Regierung die Erwartungen der Be-völkerungsmehrheit nach Frieden ver-raten hat und rief zur Teilnahme an der landesweiten Demonstration am 17. Februar auf. Anschließend nahm Gior-gio Cremaschi von der MetallerInnen-gewerkschaft FIOM die Sozialpolitik der Regierung und besonders die un-längst angekündigte Renten“reform“ ins Visier. Elisa Coccia von der Bewe-gung der Lesben, Schwulen, Bisexuel-len, Transgender und Queer (LGBTQ) kritisierte das feige Lavieren der Re-gierungskoalition Unione in der Frage der Homosexuellenrechte, denen die in anderen europäischen Ländern gängige oder geplante Gleichstellung der Le-bensgemeinschaften verweigert wird. Daniel Bensaïd von der französischen LCR erinnerte an die Notwendigkeit, die antikapitalistische Linke auf euro-päischer Ebene zu vernetzen.

Sodann wurde die neoliberale und Kriegstreiberpolitik bilanziert, die in den vergangenen 15 Jahren sowohl von der Rechten als auch von Mitte-Links an der Regierung betrieben wurde. Mit Verweis auf die Verabschiedung des Haushaltsplans für 2007 – dessen Di-mension des Sozialabbaus einmalig in der Geschichte der Republik ist – die Truppenentsendung in den Libanon, den fortdauernden Militäreinsatz in Af-ghanistan und die unverminderte Un-

terordnung in Fragen des Zivilrechts und der Trennung von Kirche und Staat unter das Diktat des Vatikan unterstri-chen die GenossInnen der Sinistra Cri-tica, wie dringlich die Schaffung einer

linken Opposition zu dieser Regierung ist, um dem wachsenden Unmut in der italienischen Bevölkerung gerecht zu werden.

Es reicht mittlerweile nicht mehr aus, sich auf den parteiinternen poli-tischen Kampf zu beschränken, wie dies noch vor Eintritt in die Regierung der Fall war. Vielmehr muss jetzt eine Opposition zur politischen Linie der PRC-Mehrheit organisiert werden, da diese inzwischen die neoliberale Poli-tik mitverantwortet und mehr und mehr als Bremser der Mobilisierungen der Betroffenen gegen diese Politik wirkt. Die anstehende Organisationskonfe-renz der PRC wird Gelegenheit bieten, die Resonanz dieser Opposition in der zunehmend passiven und ratlosen Ba-sis zu testen.

Die Assoziation der Sinistra Criti-ca versteht sich als Instrument für au-tonome politische Initiativen. Ihre Auf-gabe ist es, aufzuzeigen, dass eine an-

dere „Rifondazione Comunista“ auf-gebaut werden kann, die ihren antika-pitalistischen Anspruch nicht aufgibt. Wie es in der Diskussion formuliert wurde, „wird die aktuelle Linie der PRC von der Basis nur mangels Alter-native und aus Furcht vor der Wieder-kehr einer Regierung Berlusconi tole-riert. Und wir müssen mit unseren be-scheidenen Kräften beweisen, dass ei-ne solche Alternative durchaus mög-lich ist!“ In verschiedenen Beiträgen wurden die Achsen einer solchen Op-position zur Regierungspolitik umris-

sen, die von einem wirklichen Engage-ment in den sozialen Bewegungen als treibende Kraft der Mobilisierungen ausgehen muss.

Den Schluss der Konferenz bildeten Redebeiträge von Salvatore Cannavò und Franco Turrigliatto, Abgeordneter bzw. Senator der PRC und der Sinistra Critica, die noch einmal ihre Weigerung bekräftigten, im kommenden März für die Verlängerung des Militäreinsatzes in Afghanistan zu stimmen, auch wenn die Regierung – die im Senat über nur eine Stimme mehr als die Rechte ver-fügt – damit die Vertrauensfrage ver-knüpft. Denn „wenn es um Krieg geht, darf eine Regierung wohl gestürzt wer-den und eine Linke ist nicht mehr links, wenn sie es hinnimmt, den Krieg zu un-terstützen.”Übersetzung: MiWe Flavia D’Angeli ist Mitglied von Sinistra Cri-tica sowie der italienischen Sektion der IV. In-ternationale.

Romano Prodi unter Druck von linksDie Bilanz der Beteiligung der PRC (Partei der Kommunistischen Wie-dergründung) an der von Prodi geführten Mitte-Links-Regierung ist niederschmetternd. Zu diesem Ergebnis kamen die GenossInnen von Sinistra Critica (Linke Kritik), eine Strömung in der PRC, auf ihrer Kon-ferenz. Um die Opposition auch über die Reihen der Partei hinaus zu verbreitern, beschlossen sie, sich als Assoziation zu konstituieren.

Flavia D’Angeli

Demonstration am 17. Februar in Vicenza

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ItALIEN

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„Das größte Verbrechen im Rahmen des Strafrechts“ – so nannte ein deutscher Wissenschaftler ein Gesetz, mit dem Schwangerschaftsabbrüche bei Strafe verboten werden. So ein Gesetz ist lei-der niemals in der Lage, irgendeine Hil-fe zu bieten, sondern hat das Potenzi-al, großen Schaden anzurichten. Viel-leicht werden diejenigen, die solche Ge-setze in ihren friedlichen Büros aushe-cken, sogar erschauern, wenn ihnen die Beispiele von toten jungen Frauen und schwerer, unheilbarer gesundheitlicher Schäden aufgelistet werden, die Folge der gegenwärtigen verhärteten Rechts-lage sind. Und wenn dazu noch die indi-rekten Folgen einbezogen werden, wie Selbstmorde, Kindstötungen und andere Katastrophen, dann wird verständlich, wie richtig es ist, diese Gesetzesartikel als „größtes Verbrechen im Rahmen des Strafrechts“ zu benennen.

Dieses Zitat stammt von 1930. Aber es könnte auch heute geschrieben wor-den sein. Sein Autor, Tadeusz Boy-Ze-lenski, war einer der ersten Verfechter dessen, was heute „reproduktive Rech-te“ genannt wird, und er wurde für seine Ideen verachtet und belächelt. Die heu-tigen UnterstützerInnen des Rechts auf legale Abtreibung werden beschuldigt, den „Holocaust“ von unschuldigen, un-geborenen Kindern zu wollen, während die Frauen weiterhin zu heimlichen Ab-treibungen gezwungen sind und dabei oft ihre Gesundheit, wenn nicht ihr Le-ben riskieren. Jedes Jahr registriert die Polizei zudem mehrere Dutzend Bei-spiele von Kindstötungen oder ausge-setzten Babys. Genau wie 1930 wird in Polen mal wieder die Zeit zurückge-dreht.

Die gegenwärtige Regelung der Zu-lässigkeit von Abtreibungen stammt aus dem Jahr 1993 und wurde unter dem starken Druck der römisch-katholischen Kirche eingeführt, die damals persön-liche Unterstützung von Papst Johannes

Paul II. erfuhr. Besonders bitter ist, dass unter den Urhebern des strengen Ge-setzes auch frühere AnhängerInnen der oppositionellen Solidarnosz-Bewegung sind, die damals eine große Unterstüt-zung innerhalb des Gesundheitswesens erhielt. Das Gesetz wurde beschlossen, obwohl 1,3 Millionen Menschen eine Petition unterzeichnet hatten, mit der ein nationales Referendum zu den Plä-nen der Verschärfung des Abtreibungs-gesetzes gefordert wurde. Das Referen-dum fand niemals statt. Die einfachen Bürger, und darunter die Frauen, kamen in der Debatte nicht vor.

Das Gesetz erlaubt nur dann eine Abtreibung, wenn das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren bedroht ist, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Fötus ernsthaft geschä-digt ist oder wenn die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist. Auch wenn die Frauen für eine illegale Ab-treibung nicht bestraft werden, so wer-den doch alle, die ihnen dabei geholfen haben, mit bis zu drei Jahren Gefängnis bedroht. Allerdings so streng dieses Ge-setz auch klingt, so betonen die Aktivi-stInnen der Bewegung für das Recht auf Abtreibung, dass die Wirklichkeit noch viel schlimmer ist, da auch die Frauen, die eine rechtmäßige Abtreibung vor-nehmen lassen könnten, dies dennoch oftmals ablehnten. In einem Land mit ungefähr zehn Millionen Frauen im gebärfähigen Alter, werden pro Jahr nicht mehr als 200 legale Abtreibungen durchgeführt. Ärzte missbrauchen ihr Recht, die Durchführung einer Abtrei-bung aus Gewissensgründen zu verwei-gern, in dem sie selbst solchen Frauen die Abtreibung verwehren, die schwer-wiegende gesundheitliche Probleme ha-ben. In einem Fall wurde eine Frau mit starken Sehstörungen und Maculadege-neration zur Geburt gezwungen, in de-ren Folge sie ihr Augenlicht fast voll-ständig verlor. Eine andere Frau, die

unter Veneninsuffizienz litt, kann heu-te kaum noch gehen. Ebenso verbrei-tet ist die Weigerung, pränatale Unter-suchungen durchzuführen. Es gibt das viel erwähnte Beispiel einer Frau, die bereits ein Kind mit einer seltenen ge-netischen Anomalie zur Welt gebracht hatte und der, als sie wieder schwanger wurde, pränatale Tests verweigert wur-den, worauf die Frau ein Kind mit ge-nau der gleichen Behinderung gebar. Sie klagte daraufhin vor Gericht, das ihr eine teilweise Entschädigung durch die Klinik zusprach.

Gleichzeitig ist es kein Problem, eine illegale Abtreibung durchzufüh-ren – sofern die Frau genügend finan-zielles, soziales und kulturelles Kapi-tal ihr eigen nennt, um die Geheimspra-che in den Zeitungsanzeigen von Frau-enärzten zu entziffern („Voller gynäko-logischer Service“ oder „Wir bringen Ihnen ihre Periode zurück“), sofern sie Leute kennt, die wissen, wo eine Abtrei-bung vorgenommen wird und sofern sie einen Betrag zwischen 350 und 1000 Euro bezahlen kann. Offensichtlich ist die Abtreibung ebenso zu einer Klas-senfrage geworden wie das Recht, über ein neues Leben entscheiden zu kön-nen. Dieses Recht ist ein Privileg einer kleinen Minderheit unter den Frauen, weil laut Zentralamt für Statistik sech-zig Prozent aller Haushalte in Polen am oder unter dem so genannten Sozialmi-nimum von 200 Euro pro Monat leben. Dennoch wird geschätzt, dass zwischen 80 000 und 200 000 illegale Schwan-gerschaftsabbrüche im Jahr durchge-führt werden, ohne jegliche Kontrol-le über deren Qualität oder die Bedin-gungen, unter denen sie ausgeführt wer-den. Manchmal werden sie ohne Betäu-bung und in der Regel mit der gefähr-lichen Absaugmethode vorgenommen. Es gibt Todesfälle nach illegalen Ab-treibungen, aber auch bei Frauen, de-nen nicht nur eine Abtreibung, sondern

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POLEN

Die polnische Bewegung für das Recht auf Abtreibung – immer noch in einer verzwickten LageKatarzyna Gawlicz

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jegliche medizinische Hilfe verweigert wurde, weil dies den Fötus gefährden könnte. Es gibt auch Fälle von selbst versuchten Abtreibungen, zum Beispiel durch Injektion von Reinigungsmitteln in den Uterus.

Solche Tatsachen geraten aber sel-ten in die öffentliche Diskussion. Die Sprache, mit der über die Abtreibungen öffentlich, wenn überhaupt, diskutiert wird, ist von den Gegnern eines Rechts auf Abtreibung geprägt. Sie nennen sich selbst „Für das Leben“. Frauen, die ei-ne Schwangerschaft abbrechen, wer-den als Mörderinnen von „werdenden“, „ungeborenen“ oder einfach nur „Kin-dern“ bezeichnet und als Kriminel-le dargestellt. Die Sprache der Abtrei-bungsdebatte ist eine verzerrte Sprache des Moralismus oder sogar der Men-schenrechte und des Nationalismus. So, wenn gesagt wird, jede Person hätte ein Recht auf Leben, angefangen mit den unschuldigsten Wesen. Die Frauen tau-chen darin überhaupt nicht auf und ha-ben entsprechend selbst keinerlei Rech-te, einschließlich des Rechts auf Leben. Das wurde einmal mehr deutlich, als ei-ne der Parteien aus der gegenwärtig re-gierenden Koalition, die rechtsextreme Polnische Familienliga, einen Antrag zur Verfassungsänderung unterbreite-te, mit dem der Schutz des Lebens al-ler Bürger vom Augenblick der Zeu-gung an Verfassungsrang erhalten soll-te. Sollte dies angenommen werden, dann würde ein solcher Verfassungsarti-kel in der Praxis jedwede Abtreibung il-legalisieren, selbst wenn das Leben der Schwangeren in Gefahr wäre. Gleich-zeitig unternehmen diejenigen, die ge-gen Abtreibungen sind, nichts, um den Frauen zu helfen, Schwangerschaftsab-brüche zu vermeiden. Sie sind aktiv, und leider auch erfolgreich, gegen alle Ver-suche, freie Verhütungsmittel verfüg-bar zu machen und sorgen dafür, dass Schulmädchen in den Unterrichtsstun-den zur „Vorbereitung auf das Famili-enleben“ – das ist die polnische Varian-te von Sexualkunde – beigebracht wird, dass Verhütung nicht funktionieren kön-ne. Darüber hinaus hat das Parlament gerade eine Kampagne gestartet, den so-wieso schon stark beschränkten Zugang zur Antibabypille weiter zu erschweren, indem ein Aufdruck „Gesundheitsge-fährdend“ auf die Packungen kommen soll, ähnlich dem bei Zigaretten.

Während die einflussreichsten Ver-treter der „Pro-Leben-Bewegung“ sich

sehr um die „ungeborenen Kinder“ sor-gen, sind sie weit weniger an den bereits geborenen interessiert. Fragen wie das nur kümmerlich funktionierende Adop-tionssystem oder das hohe Niveau der Unterernährung bei Kindern, gewinnen

selten ihre Aufmerksamkeit. Und ihre Unterstützung für die Todesstrafe und – wie bei einigen Politikern der gegen-wärtig regierenden Koalition der Fall – für die polnische Truppenentsendung in die Kriege im Irak und in Afghanistan, lassen die Sorge um das Leben noch mehr zweifelhaft erscheinen.

Aber es ist zweifellos richtig, dass es hier nicht ums Leben geht. Es geht um die Kontrolle der Frauen, dass sie für die Fortpflanzung sorgen, damit Po-len stark bleibt und seine Mission voll-enden kann, Europa vor der „Zivilisati-on des Todes“ zu retten. Jedoch so pa-thetisch solch eine nationalistische und von der römisch-katholischen Kirche inspirierte Sprache auch klingen mag, sie hat das öffentliche Bewusstsein in-fiziert. Wie eine ernsthaft kranke Frau, die zur Geburt ihres Kindes gezwun-gen wurde, das dann zur Adoption frei-gegeben wurde, sagte: „In Polen herr-schen die Reichen, die sich Kinder lei-sten können. Sie wollen, dass Polen auf Kosten der anderen wächst. Mütter sol-len gebären und Kinder großziehen, und wenn sie zur Aufzucht nicht in der La-ge sind, dann sollen sie die Kinder weg-geben. Sie denken einfach nicht daran, was das bedeutet.“ In ihrem Stolz auf die angeblich hohen moralischen Werte der polnischen Nation zögern die Akti-vistInnen der Bewegung gegen die Ab-

treibung dennoch nicht, Frauen jegliche Würde zu nehmen und ihnen die Mög-lichkeit zu verbauen, unabhängige mo-ralische Entscheidungen zu treffen.

Den Status Quo in Frage zu stellen, erfordert den Bruch mit einem mäch-

tigen gesellschaftlichen Tabu. Aber in den vergangenen Wochen haben im-mer mehr Frauen und Männer dies ge-tan. Anfang November fand eine lan-desweite Demonstration für die Lega-lisierung der Abtreibung statt. Zugleich gab es bereits drei öffentliche Versamm-lungen von Frauen, die trotz Hasskam-pagnen und Anklagen, sie wären Mör-derinnen ein „Abtreibungs-coming out“ vor dem Parlamentsgebäude auf-führten und bekannten, dass sie einen Schwangerschaftsabbruch vorgenom-men hätten. Solche Aktionen werden fortgesetzt. Bedeutsam ist auch, dass die feministischen Aktivistinnen der Bewe-gung für das Recht auf Abtreibung im-mer mehr Unterstützung vom bisher so männlich geprägten und männlich ori-entierten linken Gewerkschaftsflügel und anderen Teilen der ArbeiterInnen-bewegung erhalten.

Unterdessen arbeiten spezielle Parla-mentsausschüsse an weiteren Beschrän-kungen des Rechts auf Auftreibung und des Zugangs zu Verhütungsmitteln. Es wäre gut, ihnen deutlich zu machen, dass sie ihre Haltung noch einmal über-denken sollten. Ein englischsprachiger Offener Brief kann unter www.federa.org.pl/signatures herunter geladen und unterzeichnet werden.Übersetzung aus dem Englischen: Thies Gleiss

Anfang November fand eine landesweite Demonstration für die Legalisierung der Abtreibung statt

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POLEN

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Seit dem Ende des NATO-Krieges (März-Juni 1999), der zur Errichtung des UNO-Protektorates im Kosovo [al-banisch: in Kosova] führte, versucht die Europäische Union (EU) im „west-lichen Balkan“ eine regionale Vorge-hensweise mit einer Einzelfallbehand-lung der aus dem Auseinanderbrechen der früheren jugoslawischen Föderati-on entstandenen Staaten zu verbinden. Darin zeigt sich die Angst vor dem Do-minoeffekt der jeweiligen Einzelent-scheidungen – z. B. die Auswirkung ei-ner möglichen Unabhängigkeit des Ko-sovo auf die FYROM1 (Mazedonien) oder auf Bosnien-Herzegowina (BiH), sowie der Wille, diesen Risiken durch die euroatlantische Integration zu be-gegnen. Diese Integration könnte je-doch rein militärisch bleiben.

Der Aufbau einer „Marktwirt-schaft“ wurde als Ziel des „Übergangs“ hingestellt. Hinter dieser unbestimmten Formulierung verbarg sich in Wirklich-keit die Restauration des Kapitalismus durch die Verallgemeinerung der Wa-ren- und somit Geldbeziehungen mit der Errichtung und Entwicklung von Kapital-, Arbeits- und Dienstleistungs-märkten. Die Privatisierungen sind in den Augen der Washingtoner Exper-

1 Die frühere jugoslawische Republik Mazedo-nien (FYROM); Benennung der UNO, weil Griechenland gegen den Namen Mazedonien Einspruch erhob.

ten, die an der Spitze der Institutionen der Globalisierung stehen, und der Eu-ropäischen Union das „Kennzeichen“ des Bruchs mit den früheren Systemen, die sich auf den Sozialismus beriefen, geworden. Auf dieser Grundlage wird beurteilt, in wieweit die angestrebten Ziele erreicht worden sind. Der norma-tive und systematische Aspekt dieses Kriteriums zeigt sich auch in den Pro-tektoraten, die in BiH und dem Koso-vo eingerichtet worden sind, sodann in den Zielen des Stabilitätspaktes für Südosteuropa2 und in den „Kopenha-gener Kriterien“ von 1993, die die Be-dingungen eines Beitritts zur EU zu-sammenfassen.

Doch diese Orientierung bringt ei-nerseits die sozialen Schutzmaßnah-men in Gefahr, weil sie mit dem Selbst-verwaltungsstatut der vormaligen For-men des gesellschaftlichen Eigentums verbunden waren, und führt außerdem zu einer endlosen Desintegration der früheren Föderation. Der wirkungslose Charakter der Rezepte – sofern man als einfaches Kriterium ihrer Wirksamkeit die Verbesserung der Lebensbedin-gungen der Menschen und den Zusam-

2 Man lese Sami Makki, „Prévention des conflicts et ,paix libérale´ : sécurité et dynami-ques d’intégrations transatlantiques en Europe du Sud-Est“, Le débat stratégique euro-améri-cain 2000-2001, in : Cahier d’Etudes Stratégi-ques 32, Groupe de Sociologie de la Défense de l’EHESS.

menhalt der Gesellschaft hernimmt – hat sich auf dramatische Weise gezeigt: Für die „Übergangsgesellschaften“, in denen es keinen Krieg gab (von den andern erst gar nicht zu reden) hat die Weltbank die Bilanz der ersten zehn Jahre des Übergangs als einen wahren und geschichtlich einmaligen Sturz-flug beim Anstieg von Armut und Un-gleichheit beschrieben. Aber die Legi-timität dieses Prozesses wird selten in Frage gestellt.

Wer hatte im früheren Jugoslawien das Recht, Privatisierungen durchzu-führen?

DAS ERBE TITOS: DIE EIGEN-TuMS- uND NATIONALEN RECHTE ALS FAKTOREN DER ANNäHERuNG uND DER STABILISIERuNG

In der letzten jugoslawischen Verfas-sung von 1974 hatten die Eigentums-rechte einen „gesellschaftlichen“ [„so-ciétal“] Inhalt bekommen; dies war ei-ne Reaktion auf zuvor aufgetauch-te Tendenzen. Man wollte explizit je-de Aneignung von Rechten der Leitung und der Veräußerung (Verkauf, Über-tragung) dieses kollektiven Eigentums durch den Staat sowohl auf der Ebene Jugoslawiens wie auch der Teilrepub-liken untersagen. Die Verfassung ver-bot auch jede Form von Gruppenei-gentum, die die Leitung und das Recht auf Verkauf von gesellschaftlichen Er-rungenschaften, die nur den Unterneh-menskollektiven zustanden, ermöglicht hätte.

Doch die Bürokratisierung des Sys-tems der Einheitspartei hatte die Ten-denz, die Funktionsprivilegien mehr und mehr mit der Zunahme der Macht der Republiken und Provinzen zu ver-binden. Daraus ergab sich eine wach-sende Transformation der Republiken und Provinzen zu Basiseinheiten des Systems – in Wirklichkeit rivalisierten

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BALKANStAAtEN

Die neuen Balkanstaaten: Die undurchsichtige Neudefinition der Eigentums- und der nationalen RechteDie Krise Jugoslawiens führte zu einer Desintegration des gesell-schaftlichen Eigentums und zu einer transformation des Inhalts des Begriffs „Nation“ zugunsten von neuen Staaten: Diese haben sich das allgemeine Recht angeeignet, in den Gebieten, in denen sie die Nation neu definiert haben, die Reichtümer zu privatisieren. Die Än-derung der Eigentumsverhältnisse und die transformation der nati-onalen Rechte sowie der Verlust gesellschaftlichen Zusammenhalts, den sie mit sich brachten, stehen im Mittelpunkt des endlosen Aus-einanderbrechens der früheren jugoslawischen Föderation und der instabilen Beziehungen zwischen den neuen Balkanstaaten. Doch diese Fragen betreffen auch den Aufbau Europas insgesamt.

Catherine Samary

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sie mit den anderen von der Verfassung anerkannten Subjekten, den Arbeite-rInnen der Selbstverwaltung und den „Völkern“.

Parallel zur Infragestellung der Selbstverwaltungsrechte wurde auch der Sinn oder die Tragweite der Be-griffe „Nation“ oder „Volk“, wie sie unter Tito verstanden wurden, in der Krise verändert. Die Transformation des Staates auf „völkischer“ Grundla-ge stand im Mittelpunkt des doppelten Prozesses, der die Eigentums- und die Rechte der „Völker“ beschnitt.

In der jugoslawischen Verfassung wurde die Staatsbürgerschaft (die zi-vilen Rechte und Pflichten, die sich auf das ganze Territorium bezogen, das vom gemeinsamen Staat verwal-tet wurde) vom Begriff der subjektiven und historischen „Völker“ oder der „Nation“ („narod“ im ethnisch-natio-nalen Sinn der „Volksgruppe“) unter-schieden. Man war BürgerIn Jugosla-wiens (und der Republiken als Staaten) und gehörte außerdem zu einem der sechs konstituierenden slawischen Völ-ker (Serben, Kroaten, Slowenen, Ma-zedonier, Montenegriner – und seit den sechziger Jahren bosnische Muslime) oder zu einer minoritären nationalen Gemeinschaft.

Für die kommunistischen Füh-rungen, die dieses System theoreti-siert hatten, sollten diese beiden Ansät-ze (Bürgerrecht/Volk) und die gemein-same Verwaltung des Erbes als gesell-schaftliches Eigentum sowohl die An-erkennung der Verschiedenheit als auch die Einheitlichkeit der individuellen und gesellschaftlichen Bürgerrechte, die un-abhängig von der Volkszugehörigkeit die gemeinsame Anbindung an den ju-goslawischen Bundesstaat begründe-ten, ermöglichen. Die gesellschaftliche (Klassen-)Realität und die allgemeine Verbesserung des Lebensstandards re-duzierten die Unterschiede in der Ent-wicklung und sollten eine Überwindung der Nationalismen als Ideologien der Spaltung ermöglichen.

Gleichzeitig sollte die Anerkennung der Nationen (oder Völker) auf histo-rischen und subjektiven Grundlagen die in den Kämpfen der Vergangenheit und im Widerstand gegen den Druck der Assimilierung und des Unitarismus des ersten Jugoslawien oder in den Bru-derkriegen im Zweiten Weltkrieg aus-gedrückten Erwartungen befriedigen. Die anerkannten Nationen besaßen un-

abhängig von ihrer zahlenmäßigen Be-deutung bestimmte Rechte: Dies führ-te in der Föderationskammer zu einem Funktionieren im Konsensprinzip, oder zu einer kollegialen Präsidentschaft, in der jede Republik oder Provinz in glei-cher Weise repräsentiert war und es ei-ne jährliche Rotation der Präsident-schaft gab. Es gab auch kein mit den Völkern verbundenes Territorialprin-zip: Die Geschichte der Kriege und der Grenzziehungen, die Geschichte der wechselnden Staaten und Kräftever-hältnisse hatte zu Vermischungen und Bevölkerungsverschiebungen geführt, deren Ergebnis in einer Verteilung von Völkern auf verschiedene Republiken bestand. Die Völker (Nationen) Jugo-slawiens wurden als solche anerkannt – auch wenn sie in einer Republik ei-ne Minderheit waren – und dies un-abhängig vom jeweiligen Prozentsatz. So waren die Serben in Kroatien (da-mals etwa 20% der Bevölkerung) ein die Republik konstituierendes „Volk“. Genauso war Bosnien-Herzegowina ein Staat seiner drei Völker – des ser-bischen (etwa 33% der bosnischen Be-völkerung), des kroatischen (ungefähr 18%) Volkes und der bosnischen Mus-

lime (etwas über 40%) – ohne dass auf ihre Größe oder ihre Verteilung auf die Republik geachtet wurde.

Der jugoslawische Rahmen ohne Binnengrenzen und die nicht territori-alisierten gesellschaftlichen Rechte auf der Grundlage des gesellschaftlichen Eigentums erleichterten die Binnen-migration und die Möglichkeiten zur Vermischung.

Bei den neuen, in der Zeit Titos anerkannten Nationen – die Mazedo-nier und die bosnischen Muslime3 – zeigten sich sicherlich auch spezifische Ziele des Regimes (insbesondere die Festigung der Grenzziehung gegenü-ber Bulgarien oder der Ausgleich zwi-schen dem serbischen und dem kroa-tischen Nationalismus), aber es achte-

3 In den ersten Volkszählungen der Nach-kriegszeit konnten sich die Muslime als Ser-ben, Kroaten oder „nicht zugehörig“ erklä-ren und die Mehrheit kreuzte letzteres an; als in den 1960er Jahren die Möglichkeit geschaf-fen wurde, Muslim anzukreuzen (in einem sä-kularisierten, ethnisch-nationalen Sinn), taten sie dies massiv. Die Religion war ein Teil ih-rer Geschichte gewesen – wie die Orthodoxie für die Serben und der Katholizismus für die Kroaten. Dies bedeutete jedoch nicht, dass es eine „Verpflichtung zu einer fingierten Identi-tät“ gegeben hätte.

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BALKANStAAtEN

Staaten des früheren Jugoslawien

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te auch auf die wirklich ausgedrückten Erwartungen und Frustrationen, die auf das erste Jugoslawien nach dem Ersten Weltkrieg zurückgingen. In jedem Fall gehörten sie nunmehr zum historischen und subjektiven Erbe.

Für die Fragen der Identität bestan-den somit keine fingierten normativen Grundlagen: die Erklärung der Zuge-hörigkeit zu einem Volk ergab sich in den Volkszählungen aus einer indi-viduellen und subjektiven Entschei-dung – man musste weder eine natio-nale Zugehörigkeit abstreiten noch sie „beweisen“ und man konnte sich auch „nicht entscheiden”; es gab in den letz-ten Volkszählungen sogar einige Hun-derttausend Bürger und Bürgerinnen, die als Volkszugehörigkeit „jugosla-wisch“ angaben, während früher die jugoslawische Zwangsjacke abgelehnt wurde. Der jugoslawische Rechtsrah-men und die fehlenden Grenzen mach-ten die Frage des Territoriums zu einer nachrangigen Frage. Doch die Aner-kennung der Diversität bedeutete auch die Anerkennung der unterschiedlichen Geschichte und Kulturen (in einem breiten Sinn, wobei auch die Rolle der Religionen im früheren osmanischen Reich Eingang fand).

In diesem Sinn hatten die verschie-denen Verfassungen des Jugoslawien unter Tito die Völker als Basisein-heiten anerkannt, die über das Recht auf Selbstbestimmung verfügten – je-de Veränderung von Grenzen muss-te im Konsens herbeigeführt werden. Aber die Form der Entscheidungsfin-dung war nicht genau festgelegt wor-den. Das Auseinanderbrechen der Fö-deration sollte genau diese bedeutsame Frage aufwerfen.

DIE FAKTOREN DER INSTABILI-TäT DES SySTEMS

Diese Verschiedenheit war ein attrak-tiver Reichtum – sofern sie nicht von der Logik der Einheitspartei, den mit Funktionen verbundenen Privilegien und der Macht der Bürokratie erstickt wurde. Und solange sie nicht von einer separatistischen nationalistischen Lo-gik bedroht wurde. Außerdem drückten sich darin die Frustrationen derjenigen aus, die sich durch die Nichtanerken-nung als „Volk“ diskriminiert fühlten – was zum Auftauchen der albanischen Frage führte.

Auf folgenden Ebenen blieb das System zerbrechlich:

• Die Ungleichheiten des Status – die albanische Frage

Die nicht-slawischen Gemein-schaften – besonders die Ungarn in der Vojvodina und die Albaner im Kosovo, in Mazedonien und in Mon-tenegro – die sich auf einen andern Staat außerhalb der Föderation be-ziehen konnten (abgesehen von den Roma, einer staatenlosen ethnischen Gemeinschaft) wurden nicht als Ba-sissubjekte, die Jugoslawien gegrün-det hatten, angesehen, und verfügten somit nicht über das Selbstbestim-mungsrecht. Doch die Geschichte, die zur Verteilung der Serben auf mehrere Republiken geführt hatte, hatte auch zur Aufteilung der Ungarn und der Albaner geführt (von letzteren lebten etwa die Hälfte auf dem Gebiet Jugo-slawiens). Die Anerkennung als ser-bische Provinzen – der Vojvodina mit einer starken ungarischen Minder-heit und des Kosovo mit albanischer Mehrheit – war auf dem Gebiet der Verfassung durchaus keine Kleinig-keit. Und der Anspruch auf gleichen Status führte das Regime dazu, ihre Rechte zu verändern.

Die AlbanerInnen in Jugoslawien, die vor allem im Kosovo (ca. 80% der dortigen Bevölkerung) und in Maze-donien (25%) leben, waren viel zahl-reicher und weisen größere ethnische Besonderheiten auf als die Montene-griner, die als „Volk“ anerkannt wor-den waren. Aber diese Ungleichheit im Status war in Wirklichkeit das Ergeb-nis des Schismas von 1948 zwischen Tito und Stalin: Es zwang die jugosla-wischen Kommunisten zu einem Rück-zug in ihrem jugoslawischen Projekt, weil sich ein Konflikt mit dem alba-nischen Nachbarn Enver Hoxha ergab, der lieber den fernen „großen Bru-der“ in der UdSSR unterstützen wollte als den Nachbarn Tito. Doch die „Ex-kommunikation“ des Titoismus durch Moskau setzte dem Projekt einer Bal-kankonföderation4 mit den Nachbar-staaten ein Ende. Dieses Projekt hät-te eine egalitäre Behandlung der Al-banerfrage, insbesondere im Kosovo,

4 Vgl. Milovan Djilas, Conversations avec Stali-ne (Gespräche mit Stalin), Paris 1962. Zu den Konflikten mit Albanien vgl. Jean-Arnault Dé-rens, Balkans: la crise, Paris 2000; über die wiederkehrenden Debatten der Linken auf dem Balkan zur Balkan-Konföderation lese man „The Balkan socialist tradition“, in Revolutio-nary History, Bd. 8, Nr. 3, Porcupine Press, So-cialist Platform Ldt., London.

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Tito und Stalin 1945

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erleichtert; entsprechende Vorschläge wurden im Verlauf des Zweiten Welt-kriegs gemacht.

Die anfängliche Unterdrückung der albanischen Bevölkerung im Kosovo – die einzige, die sich gegen die Grün-dung des neuen Jugoslawien zur Wehr setzte – war auch von einem Belgrader Zentralismus über die Provinz beglei-tet, der den serbischen Nationalismus zufrieden stellen sollte.

Aber die allgemeinen Tendenzen zu einer größeren Dezentralisierung und Föderalisierung durch die Re-formen von 1965, die Demonstrati-onen der AlbanerInnen 1968 im Koso-vo zugunsten des Republikstatus und die sowjetische Intervention in die CSSR (die von Jugoslawien und Al-banien verurteilt wurde, wodurch sich eine Phase der Annäherung ergab) än-derten die Orientierungen maßgeb-lich, wenn auch in widersprüchlicher Form.

Trotz der Unterdrückung der De-monstrationen verwandelte die Verfas-sung von 1974 den Kosovo in ein Ge-bilde, das einer Republik vergleichbar war (wobei in allen Institutionen der Provinz eine albanische Mehrheit etab-liert wurde).

Um den als Diskriminierung ange-sehenen Status einer „Minderheit“ zu vermeiden, erfand das Tito-Regime den Begriff der „Nationalität“ (narodnost), die ohne Selbstbestimmung und somit von der „Nation“ (narod) unterschie-den blieb, die aber ansonsten im We-sentlichen gleiche Rechte haben sollte. Insbesondere sollte die lokale Sprache offiziell werden und eine Universität in albanischer Sprache eingerichtet wer-den, die einen massiven Zustrom von jungen AlbanerInnen in die höhere Bil-dung ermöglichte. Das Ganze geschah im Zuge einer Annäherung an das be-nachbarte Albanien.

Belgrad verlor die Kontrolle über die schulischen und universitären Pro-gramme – und dies im Rahmen einer allgemeineren Tendenz zur Dezentrali-sierung der Leitung der Universitäten. Die serbische Bevölkerung verließ zum Teil die Provinz, um in die reiche Voj-vodina zu gehen, auch aus Gründen des sozioökonomischen und des kultu-rellen Drucks (der Kosovo war arm und die Erde unzureichend, um eine wach-sende albanische Bevölkerung zu er-nähren; die SerbInnen gingen lieber in die Vojvodina, wo sie kulturell von ei-

ner serbischen Mehrheit umgeben wa-ren).

Schließlich erhielten der Kosovo und die Vojvodina in der Verfassung von 1974 in den Instanzen der Födera-tion die gleiche Vertretung und diesel-ben Rechte wie die Republiken – ob-gleich beide formal serbische Provin-zen blieben (daher die Benennung als Quasi-Republiken).

Aus diesem Widerspruch ergab sich auf beiden Seiten eine Quelle der Frustrationen und der wachsenden Spannungen.

Die Albaner verfügten noch immer nicht über denselben Status und muss-ten (offensichtlich zu Recht) befürch-ten, dass Belgrad die Doppeldeutigkeit der Quasi-Republik im Sinn des Ab-baus von Rechten in Frage stellen wür-de; in Belgrad wurde die Bilanz des Titoismus als für die SerbInnen nega-tiv bewertet, weil ihr früher dominie-render Status als Mehrheit in Frage ge-stellt worden war, was zu einer zuneh-menden Unsicherheit für die serbischen Minderheiten führte.

• Die sozioökonomischen und poli-tischen Faktoren der Krise: Die feh-lende Transparenz und Demokratie, die Konsolidierung der Bürokratien, ver-bunden mit der Staatsmacht der Repu-bliken und Provinzen.

Das System der Einheitspartei pro-duzierte auch in seiner weichen, titois-tischen Variante, und trotz der beträcht-lichen Gewinne beim Lebensstandard und bei den Rechten, Bürokratismus und Repression, die die Tragweite und die Wirksamkeit der geschilderten ge-sellschaftlichen und nationalen Rech-te aushöhlten, die bis in die siebziger Jahre hinein zugenommen hatten. Das Fehlen von adäquaten kollektiven und demokratischen Entscheidungsmecha-nismen begrenzte den Horizont der Selbstverwaltung auf lokale und kurz-fristige Entscheidungen, was zu Ver-schwendung, zu Verschuldung und zu makro-ökonomischen Ungleich-gewichten führte. Die Elemente der Umverteilung im System wurden un-ter dem Druck der reichen Republiken abgeschwächt; doch sie wurden auch

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Josil Broz Tito

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durch verschwenderischen und büro-kratischen Gebrauch in ihrer Wirkung in den begünstigten Republiken und Provinzen beschnitten. Der Abstand im Einkommen pro Einwohner nahm schließlich wieder zu, obwohl insge-samt Fortschritte zu verzeichnen wa-ren. Und wegen des Fehlens einer plu-ralistischen Diskussion, die die Gründe für das schlechte Funktionieren heraus-arbeiten und alle Bürokratien in Frage hätte stellen können, gewannen natio-nalistische Interpretationen an Boden, wobei jeder „dem andern“ die Gründe für die Ineffizienz in die Schuhe schob und sich als diskriminiert hinstellte.

In anderen Worten, es gab reale in-nere, politische und sozioökonomische Ursachen für die ungenügenden Leis-tungen und die Krise. Aber das kann nicht bedeuten, dass ein multieth-nischer Bundesstaat oder eine Konfö-deration an sich künstlich oder unmög-lich wären.

• Die ethnische Territorialisierung der Eigentumsrechte� und des National-staats – also der Zusammenbruch der Föderation – entsprachen dem Inter-esse der Mehrheit der Bürokratien der früheren Staatspartei (mit Ausnahme der Armee, deren Privilegien und vor-herrschende Ideologie organisch und historisch mit dem jugoslawischen Bundesstaat verbunden waren). Be-vor die Staatsmacht privatisieren konn-te, musste sie sich das Recht zu priva-tisieren aneignen; dies stand im Wider-spruch zum „gesellschaftlichen“, nicht territorial gebundenen Charakter des gesellschaftlichen Eigentums.• Die von außen kommenden Faktoren der Krise – der Druck der Gläubiger vom Internationalen Währungsfonds (IWF) in den achtziger Jahren im Rah-men der globalen Krise der sozialis-tischen Projekte in dieser Zeit – begün-stigten in Jugoslawien wie anderswo neoliberale Antworten. Doch die Priva-tisierungen stießen sich mit den Cha-rakteristiken des Gesamtsystems: den Eigentumsrechten und den multinatio-nalen Dimensionen der Föderation und der Republiken.

Die Entscheidungsprozeduren konnten nicht demokratisch und legal

5 Ich habe die Etappen der Privatisierungen in Jugoslawien in meinem Aufsatz „Réinsérer la Serbie dans l’analyse de la transition“, in: Re-vue d’études comparatives Est/Ouest, vol. 35. März-Juni 2004, Nr. 1-2, CNRS, S. 116-156 im Einzelnen dargestellt.

sein, eben weil es darum ging, grundle-gende Rechte des Systems in Frage zu stellen. Der Prozess wurde hinter einer Instrumentalisierung von Angst und Gewalt versteckt, um die Bevölkerung dahin zu treiben, sich von einer Logik der Solidarität abzuwenden und sich auf den Schutz der jeweiligen Gemein-schaft durch den jeweils neuen Staat zu beziehen.

DIE äHNLICHKEIT IM VERHAL-TEN DER SERBISCHEN uND ALBANISCHEN MINDERHEITEN GEGENüBER DEN NEuEN VERFASSuNGEN uND DER VOLKSABSTIMMuNG üBER DIE SELBSTBESTIMMuNG

Demoratische Prozeduren können als solche nur anerkannt werden, wenn sie auf einem bestimmten Gebiet auch von der Mehrheit akzeptiert werden. Insofern die nationalen Fragen ein sensibles und umstrittenes Feld sind, konnten die Abstimmungen nur Indi-katoren sein, aber die Boykottaufrufe, die massiv befolgt wurden, waren hin-sichtlich eines entscheidenden Pro-blems genauso bedeutsam. Die vom früheren französischen Justizminister Badinter geleitete Juristenkommissi-on, die von der EU eingesetzt wurde, hatte zur Lage in Kroatien und Bos-nien-Herzegowina zur Vorsicht mah-nende Ansichten geäußert. Doch sie wurde überhört.• Die SerbInnen hatten das Referen-dum in Kroatien boykottiert, weil die neue Verfassung ihnen zu Anfang der neunziger Jahre ihren Status als Volk wegnahm. Ihre Ängste wurden von den aus Belgrad gekommenen Milizen instrumentalisiert, die sie gegen ihre kroatischen Nachbarn in den selbster-nannten „autonomen serbischen Re-gionen“ in eine gewaltsame Sezessi-on trieben. Aber was sie als potenti-elle Bedrohung wahrnahmen, verwan-delte sich in eine Realität: Im Verlauf des Sommers 1995 ging die kroatische Armee (im Schatten der an der musli-mischen Enklave Srebrenica von bos-no-serbischen Milizen begangenen Massaker, die die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zogen) zur „eth-nischen Säuberung“ von mehreren Hunderttausend SerbInnen über – was ihren Anteil in Kroatien von 12% auf 5% reduzierte. Alles geschah unter den Augen des Internationalen Straf-

gerichtshofs für das frühere Jugosla-wien in Den Haag.6

• Auf analoge Weise hatten die Albane-rInnen des Kosovo die Wahlen und In-stitutionen, die im Rahmen der neuen Verfassung von Serbien gegen die Pro-vinz durchgedrückt worden waren, boy-kottiert. Sie riefen die autonome Repu-blik Kosovo aus, wählten ein Parlament und ihren Präsidenten Ibrahim Rugova. Bis 1998 organisierten sie auf friedliche Weise und getrennt ihre politischen In-stitutionen, das Schulwesen und den Gesundheitsdienst ihres Landes. Die Blockade und das Schweigen bei den Verhandlungen in Dayton (1995) über den Kosovo, die die Macht von Belgrad konsolidierten, führten zu einer Kritik an der pazifistischen Strategie: Es ent-stand die Befreiungsarmee des Kosovo (UÇK) mit dem Willen, den Konflikt ge-waltsam zu internationalisieren. Dabei wurde sie vom Versprechen der USA er-mutigt, im Falle „exzessiver“ Repressi-on Belgrad zu bombardieren.• In Mazedonien führte die Verfas-sung von 1991 zum gleichen Boykott des Referendums über die Unabhän-gigkeit von Seiten der AlbanerInnen. Es wurden nur ein „Volk“ (die sla-wischen Mazedonier) und ihre offizi-elle Sprache anerkannt. Die vom ma-zedonischen Präsidenten Gligorov ge-troffenen Maßnahmen, Parteien der Al-baner in die Regierung aufzunehmen, sollten den Ausbruch von Gewalttätig-keiten verschieben. Trotzdem sollte die Benachteiligung im Status der Albane-rInnen, und insbesondere in ihrer Spra-che sie – mit einer gewissen Notwen-digkeit – für die Entwicklung der Lage im Kosovo empfänglich machen.

NATIONALE RECHTE uND PRIVATISIERuNGEN: DAS KOSOVO-SyNDROM

Der Kosovo stellt ein extremes, doch bezeichnendes Symbol dar. Im Allge-meinen haben die Privatisierungen das territorialisiert, was gemeinsamer Be-sitz der jugoslawischen Völker war, wobei die gesellschaftlichen Rech-te des früheren Eigentums abgeschafft wurden. Die Führer Serbiens suchten ihr Recht auf Aneignung des Koso-

6 Das Haager Tribunal klagte die bosno-serbi-schen Führer wegen des Massakers von Sre-brenica an – was es Slobodan Miloševic er-möglichte, an ihrer Stelle in Dayton zu spre-chen. Der Kroate Franjo Tudjman starb 2000, ohne angeklagt worden zu sein.

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vo auf der Grundlage nationaler Herr-schaft als Mehrheit auf der Ebene der Republik durchzusetzen – und dies auf dem Rücken der AlbanerInnen, aber auch, indem sie die Rechte der jewei-ligen Bevölkerungen aller betroffenen Nationalitäten mit Füßen traten. Möch-ten die Führer der Kosovo-Albane-rInnen ihrerseits den Kosovo auf ähn-licher Grundlage in ihre Gewalt brin-gen, indem sie das Ausmaß der Terri-torialisierung ändern? Und können sie dies tun, indem sie sich auf die euro-atlantischen Institutionen stützen, die das internationale „Recht des Stärke-ren“ propagieren, also die Willkür?

Die von uns aufgeworfene Frage – wer hat das Recht, in den früheren Republiken und Provinzen des titois-tischen Jugoslawiens Privatisierungen durchzuführen – nimmt hier einen In-halt in drei wahrnehmbaren Dimensi-onen an: Die Rivalität zwischen Bel-grad (serbische Mehrheit), Prischtina (albanische Mehrheit) und den äuße-ren Mächten, die das Protektorat leiten (Herrschaftsbeziehung und mögliche Rivalitäten). Die Konflikte mit Bel-grad über die Eigentumsfragen stan-den in der Tat im Zentrum der Ver-handlungen vom 23./24. März 2006, die von Stephan Lehne, einem Gesand-ten der EU, über den endgültigen Sta-tus geführt wurden: „Serbien fordert einen Stopp der Privatisierungen im Kosovo”7 war ein Artikel aus Prischti-na vom 30. März betitelt. Laut Verfas-sung von Serbien-Montenegro – aber auch für das nun getrennte Serbien – stellt der Kosovo nach wie vor eine ser-bische Provinz dar.

Doch das Protektorat macht die An-gelegenheit nur noch deutlicher, aber auch den Zwangscharakter der Privati-sierungen als Kriterium eines „gelun-genen“ Transformationsprozesses der Gesellschaften.

Was jedoch die „ethnisierten“ For-mulierungen im Kosovo wie im üb-rigen Ex-Jugoslawien verschweigen, ist die Existenz einer vierten Dimensi-on, die unsichtbar bleibt, weil sie von den bestehenden Kräfteverhältnissen ausgelöscht wird: das legale Eigentum im früheren, titoistischen Jugoslawien. Es handelt sich dabei um die Selbstver-waltung der Arbeitenden, Menschen

7 Titel eines Artikels von Arbana Xharra in Prishtina, erschienen am 30. März in der Wirt-schaftsbeilage der Tageszeitung Koha Ditore; vgl. Balkan insight, laut Courrier des Balkans vom 5. April 2006.

aller Nationalitäten, denen überall ih-re Rechte von oben und auf undurch-sichtige Weise genommen worden sind – man streute ihnen Sand in die Augen, als man ihnen sagte, sie könnten die Arbeit und einen Status als Aktionä-

rInnen, aber ohne reale Entscheidungs-befugnis, behalten.

Dieses Element der Selbstverwal-tung im jugoslawischen Recht ist in den Reden der Gegner von Miloševic wieder aufgetaucht, als dieser noch an der Macht war, um seinen Sturz zu be-schleunigen. Als es darum ging, den Nepotismus der „sozialistischen“ Di-rektoren anzuprangern und sie von ih-ren Posten zu entfernen, war es den Gegnern von Miloševic von Nutzen, die Rechte und den Elan der Arbei-terselbstverwaltung zu unterstützen. Doch dieser Ansatz wurde nach der „Pseudo-Revolution“ vom Oktober 2000 in Serbien schnell erstickt und li-quidiert. Auch im Kosovo konnte man Spuren der früheren Eigentumsrechte bei den Angriffen gegen die von Bel-grad auf undurchsichtige Weise in den neunziger Jahren vorgenommenen Pri-vatisierungen auftauchen sehen. Dies trifft z. B., wenn auch auf doppeldeu-tige Weise, auf ein Interview mit Bahri Shabini, dem Vorsitzenden der Union der unabhängigen Gewerkschaften des Kosovo (BSKP)8 zu. Dort sagte er mit

8 Vgl. „Transition économique au Kosovo: un processus bloqué“, in: Courrier des Balkans, 23. Mai 2004.

Blick auf die Entwicklung der Indus-trie im Kosovo, dass „der größte Bei-trag von den Arbeitern des Kosovo ge-leistet worden ist, gleich ob sie Albaner oder Serben waren. Die in der Zeit von Miloševic vorgenommenen Transfor-

mationen des Eigentums sind sowohl für die Kosovaren wie für die interna-tionale Gemeinschaft inakzeptabel“. Für die internationale Gemeinschaft? In Wirklichkeit gleichen diese Verän-derungen der Eigentumsstrukturen, auch in ihrer etatistischen und klien-telistischen Form den in den meisten „Übergangs”-Ländern, die nun Kan-didaten für die EU sind, vorgenom-menen Übertragungen. Und was die liberalen Führer überall beunruhigen könnte, sind die Angriffe auf die Le-gitimität der Privatisierungen, die sich angesichts von Schmiergeldern, Kor-ruption, der offensichtlichen Gesetzlo-sigkeit und Unwirksamkeit dieser Ver-geudung des Jahrhunderts überall dro-hend erheben.

äNDERT DIE DuRCHSETZuNG EINES PROTEKTORATS DIE EIGENTuMSRECHTE?

Die Streitereien betreffen die Frage der Schulden, die diese Unternehmen bei internationalen Gläubigern kredi-tiert hatten, als sie noch „gesellschaft-liches Eigentum“ waren. Nun werden sie Serbien zugeschustert, weil es die Rechtsnachfolgerin von Jugoslawien

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Slobodan Miloševic

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sein soll (es soll sich um 1,5 Mrd. Dol-lar drehen). Wenn aber die EU und die UNO meinen, dass Belgrad über keine Eigentumsrechte an den fraglichen Un-ternehmen mehr verfügt, dann müssten sie nach aller Logik, bevor sie zum Ver-kauf schreiten können, sich selbst um die geforderte Schuldenrückzahlung kümmern. Und natürlich fordert Bel-grad kohärentes Verhalten ein: Muss es die Schulden übernehmen, weil es rechtmäßiger Eigentümer ist, oder nicht?

Im Jahr 2002 hat die MINUK (die Kosovo-Verwaltung der UNO) die Ko-sovo Trust Agency (KTA) ermächtigt, unter Kontrolle der EU Privatisie-rungen vorzunehmen (die als Vermie-tung von öffentlichen Aktiva auf 99 Jahre versteckt wurden). Im Mai 2003 haben die Verkäufe begonnen und es wurden (bis zum 1. März 2006) Ver-träge unterzeichnet, die 102 Unter-nehmen betreffen. Die KTA hat auf der Basis der Aktiva der öffentlichen Unternehmen 240 neue Operationen gestartet und möchte 90% der öffent-lichen Gesellschaften des Kosovo pri-vatisieren. Belgrad steht also direkt mit der KTA (und damit der UNO und der EU) in Konflikt.

Mehrere Millionen Euro aus den „Vermietungen“ der KTA sind im Au-genblick blockiert, bis ein Urteil des Obersten Gerichtshofes gesprochen ist. Man kann sich jedoch fragen, wer hier Richter und wer Partei ist. Denn es ist von der MINUK ein Sondertri-bunal beim Obersten Gerichtshof ein-gerichtet worden, um die gegen die Agentur9 eingehenden Klagen zu be-handeln. Und im Juni 2003 hat die MI-NUK zur Reduzierung der Risiken ent-schieden, dass die KTA im Protektorat über die völlige Immunität verfüge. Sie hat sogar von den Vereinten Nationen verlangt, den Mitgliedern der KTA ei-ne Immunität zu verleihen, die in der ganzen Welt für alle Handlungen im Rahmen ihrer Arbeit im Kosovo gel-ten sollte – was ihr aber am 9. Oktober 2003 verweigert wurde. Die internatio-nalen Repräsentanten der KTA fürchte-ten, außerhalb des Kosovo vor Gericht gezerrt zu werden, und haben sich ge-weigert, die Privatisierungsverträge zu unterzeichnen. Und der Direktor der KTA, Jürgen Mendriki, hat – aus „per-

9 Vgl. „Privatisations au Kosovo: mais à qui ap-partienent les entreprises?“, IWPR, Courrier des Balkans vom 27. Oktober 2003.

sönlichen Gründen“ – seinen Rücktritt eingereicht.

Die fehlenden Garantien haben viele potentielle Investoren abge-schreckt, obgleich die Bodenschätze des Kosovo bedeutsam sind – die Res-sourcen bei den Rohstoffen werden auf 13,5 Mrd. Euro geschätzt.10 Der Direk-tor der unabhängigen Kommission für Minen und Mineralien (ICCM), Rainer Hengstmann, schätzt, dass die Braun-kohlevorkommen des Kosovo zu den größten Reserven in ganz Europa zäh-len. In den Minen- und Energiesek-tor soll bereits fast eine Milliarde Eu-ro geflossen sein; sie kamen von der Weltbank und der Europäischen Agen-tur für Wiederaufbau (EAW). Aber die EinwohnerInnen und die Fabriken kön-nen nicht mit einer regelmäßigen Ver-sorgung mit Energie rechnen (Strom-abschaltungen kommen häufig vor).

Das völlige Fehlen von Plänen für das Protektorat auf sozioökonomischer Ebene ist offensichtlich; es gibt ei-ne Arbeitslosenrate von über 50 Pro-zent. Im Frühjahr 2006 brach ein Skan-dal bei den französischen Streitkräf-ten der Nordbrigade der KFOR aus, die seit sechs Jahren die Kranken- und die Rentenversicherungen ihrer serbischen und albanischen Zivilangestellten nicht bezahlt hatten11 – und dies unter dem Vorwand, der Status der Provinz sei un-geklärt.

Nichts konnte bislang die Verhand-lungen über den Status der Provinz aus der Sackgasse herausführen. Zu viele Fragen der Region hängen damit zu-sammen.

üBER DEN KOSOVO HINAuS: WELCHE EuROPäISCHEN uND uNIVERSELLEN RECHTE?

Auf direkte Art und Weise in den (Qua-si)-Protektoraten (durch Abfassung der Verfassungen oder von Texten, die sie grundlegend verändern) oder indirekte Weise durch die Verhandlungen über eine Aufnahme in die EU „setzen“ die europäischen Institutionen Recht – mit welcher Kohärenz?

Wird das Kosovo-Statut den Ver-einbarungen von Ohrid (in Mazedoni-en) von 2001 gleichen oder der Verfas-

10 Laut einer Studie der Leitung der Minen und Mineralien des Kosovo und der Weltbank. Vgl. „Richesses minières: le patrimoine inexploité du Kosovo“, IWPR, in: Courrier des Balkans vom 20. Mai 2005.

11 gl. Courrier des Balkans, 13. April 2006.

sung von Bosnien-Herzegowina, die aus den Vereinbarungen von Dayton (1995) hervorgegangen ist – die selbst eine Neuauflage von anderen Verhand-lungen waren? Oder etwa der Verfas-sung von Kroatien, deren Sinn durch die massive „ethnische Säuberung“ auf Kosten der SerbInnen aus Kroatien im Verlauf des Sommers jenes Jahres „verdeutlicht“ wurde?

In allen diesen Pseudoreglements gibt es keine Kohärenz und keine ega-litären oder solidarischen gesellschaft-lichen Gewinne, und somit auch kei-ne mögliche Stabilisierung der neuen Staaten.

Die Verallgemeinerung der Protek-torate auf dem Balkan verschafft den euroatlantischen Institutionen eine von außen kommende Rolle – die sicht-barer ist als andernorts–, über die Ori-entierungen, ja sogar über die anzu-nehmenden Verfassungen zu bestim-men. Es besteht das Risiko, dass sich jene Abhängigkeit, die mit der Zeit von einigen auch positiv gesehen werden könnte, weil sie heftige Spannungen im Innern im Zaum hält oder Hilfe herbeischafft, sich in ein „Abhängig-keitssyndrom”12 verwandelt. Dadurch könnte sie zu einer zusätzlichen Quel-le von Spannungen und Ablehnungen führen, weil sie als neokolonial ange-sehen wird oder auch als Ursache der Probleme und nicht als Mittel zu ih-rer Lösung. Aber gibt es Instabilität nur auf dem Balkan?

Die Diplomatie der USA hat ab 1995 mit Bosnien-Herzegowina (Ab-kommen von Dayton und Paris) und in den Verhandlungen von Rambouil-let über den Kosovo die jugoslawi-sche Krise genutzt, um die NATO zu erhalten, ihr neue Ziele zu geben und sie einzusetzen, sowie den Aufbau der EU in diesen atlantischen Rahmen ein-zubeziehen. Das Ziel besteht in der parallelen und koordinierten Integra-tion aller Länder des westlichen Bal-kans in die NATO und die EU.13 Darü-

12 Vgl. Christophe Solioz und Svebor Dizdare-vic (Hrsg.), Ownership process in Bosnia and Herzegovina, Sarajevo 2001; sowie Christo-phe Solioz, L’après-guerre dans les Balkans – l’appropriation des processus de transition et de democratisation pour enjeu, Ed. Karthala, Paris 2003.

13 Vgl. Ghoerghe Ciascai, „Quelle approche pour l’OTAN dans les Balkans à la lumière des évo-lutions de la sécurité dans la région?“ NATO Defense College, Monograph series Nr. 23, hrsg. von Jean Dufourq und Cees Coops, Paris 2005. Siehe auch Fußnote 2.

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ber hinaus geht es bei diesen Entschei-dungen um den Aufbau Europas und die Ausweitung der NATO nach Osteu-ropa insgesamt.

Wenn alle neuen Mitglieder der EU und die Staaten des westlichen Balkans nun in verschiedenen Formen in die eu-roatlantischen Beziehungen und militä-rische Kontrolle einbezogen sind, wird die Integration in die EU, so wie sie ist, noch schwieriger. Die militärische Prä-senz ist keine Garantie für eine wirk-liche friedliche Annäherung auf der Ebene des Kontinents. Und noch viel weniger für die Fähigkeit, ein europä-isches stabilisierendes „Sozialmodell“ aufzubauen. Viele kürzlich erschienene Artikel stellen die Fähigkeit der EU in Zweifel, ihre Versprechungen gegenü-ber dem „westlichen Balkan“ einzu-halten.

Wie bei allen neuen und alten Mit-gliedern der EU drängen sich die sozi-oökonomischen Fragen in den Vorder-grund und wiegen schwer in der all-gemeinen Krise der repräsentativen Demokratie. Arbeitslosigkeit und Ar-mut lassen die Menschen sich von ei-ner aktiven Teilnahme am politischen Leben abwenden; sie können sich auf der Suche nach Sündenböcken aber leicht auch für eine fremdenfeindliche Stimmabgabe entscheiden. Das An-wachsen rechtsextremer Parteien bei Wahlen und des Euroskeptizismus in Polen hat einige Gemeinsamkeiten mit den Wahlergebnissen in Serbien – aber auch mit dem Aufstieg der Ideologien von Le Pen in Frankreich. Eine Mehr-heit der WählerInnen in Europa geht je-doch nicht zur Urne.

Die Frage der Demokratie, der „souveränen“ Entscheidung steht zu-gleich im Zentrum der sozialen Fra-gen (hier und weltweit: Wer entschei-det über die wesentlichen Geschicke der Gesellschaft?) wie auch der „nati-onalen“ Fragen (Welche Verschieden-heit ist schützenswert?). Der Begriff des „Gemeinwohls“ und des „Erbes der Menschheit“, zusammen mit den kollektiven Rechten des Zugangs zu diesen Gütern machen es erforderlich, dass man auf der jeweils wirksamen Ebene eine gemeinsame Verwaltung erfindet. Das Recht auf Handel und die Privatisierungen sind zu „Zielen“ ge-worden, statt Mittel zu sein, die frei ausgehandelten Zwecken untergeord-net werden.

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Die Gründe für die Schwäche und das Auseinanderbrechen des titois-tischen Jugoslawien lagen nicht im Hass zwischen den verschiedenen Eth-nien. Sie waren sozioökonomisch und

politisch – die nationalen Fragen waren selbst Teil dieser Gemengelagen. Da-her kann man im Übrigen hoffen, dass der europäische Rahmen es allen be-troffenen Völkern ermöglichen könnte, ihren Platz zu finden, ungeachtet der dunklen Seiten und der Kriege der Ver-gangenheit. Aber ist die Instabilität der neuen Staaten, die aus der Krise Jugo-slawiens entstanden sind, typisch „für den Balkan“ und somit eine Besonder-heit – oder symptomatisch für den Auf-bau Europas insgesamt, für seine eige-ne Zerbrechlichkeit?

Das Recht auf Selbstbestimmung muss seinen Sinn (Entwicklung, Ziele, Bedingungen einer „gerechten“ An-wendung) finden: Es ist die Anerken-nung der Demokratie, was bedeutet, dass die betroffenen Bevölkerungen die beste Art und Weise bestimmen kön-nen müssen, ihre Würde und ihre Rech-te zu verteidigen – und eben nicht die Schiedsrichter der Großmächte. Und dieses Recht nimmt immer mehr einen Inhalt an, in dem sich nationale, sozi-ale, kulturelle und politische Rechte gegenseitig bedingen und bereichern. Wer aber sind die „Völker”? Wie kann man die aus den verschiedenen Pha-sen der Geschichte ererbten Konflikte

Die Kosovo Trust Agency (KTA) ermächtigt, unter Kon-trolle der Eu Privatisierungen vorzunehmen.

auf ein und demselben Territorium lö-sen? Und welches ist die beste Art und Weise, eine Kultur, seine Rechte, seine Würde zu verteidigen?

Für alle diese Fragen gibt es nicht

einfach eine juristische Antwort und noch weniger eine universelle. Die Rechtsgleichheit ist das grundlegende Prinzip. Dessen Anerkennung verbietet eine Form von „Selbstbestimmung“ eines gegebenen Volkes, das seine Ent-scheidung auf dem Rücken einer Min-derheit oder mittels Verleumdung an-derer Bevölkerungsgruppen durch-drückt. Die historisch geteilten Territo-rien – was für fast alle Teile des Bal-kans zutrifft – sind ein gemeinsames Gut und Erbe der Balkanvölker mit all ihren Menschen. Aber wie bei Euro-pa oder dem Planeten gilt auch für den Balkan, dass die Elemente dieses Erbes gemeinsam verwaltet werden müssen, ohne dass man sie in eine Zwangsja-cke steckt, die die Diversität der ver-schiedenen Gemeinschaften mit ihren Facetten, zu denen die Menschen ge-hören, zum Verschwinden brächte. Die Demokratie, die fähig ist, diese Diver-sität und diesen Reichtum aufzuneh-men, muss erfunden werden und alle Bereiche des täglichen Lebens durch-dringen, wo die Bedingungen für eine wirkliche Gleichheit beheimatet sind.

Übersetzung: Paul B. Kleiser

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BOSNIEN–HERZEGOWINA

Wie bekannt hat Bosnien-Herzegowi-na eine Phase von Bürgerkrieg und ex-plodierendem Nationalismus durchlit-ten, der nicht nur die Vernichtung öko-nomischer Ressourcen, sondern auch die Spaltung der Arbeiterklasse ent-lang ethnischer Linien zur Folge hat-te. In der Sozialistischen Bundesrepub-lik Jugoslawien hatte die Arbeiterklas-se nie vorher gekannte Rechte, konnte sie aber wegen ständiger Spannungen mit der herrschenden Bürokratie häu-fig nicht wahrnehmen. Ungeachtet des-sen hatte die Arbeiterklasse die Mög-lichkeit, in einigen Betrieben eine Ent-scheiderrolle einzunehmen, und ihre soziale Position war sehr stark. Die Ge-werkschaften waren de facto unter der Kontrolle der Kommunistischen Partei, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie in den Ländern des Sowjetblocks. Unsere Arbeiterinnen und Arbeiter hatten kei-ne Klassenkampferfahrungen. Sie un-terstützten ein System, das sich als so-zialistisch bezeichnete, in dem sie aber nicht wirklich die herrschende Klasse waren.

Die Zerstörung Jugoslawiens und der sozialistischen Werte verursachte große Enttäuschung und Desorientie-rung unter den Arbeiterinnen und Ar-beitern. Kurz nach der formalen Auf-lösung des kommunistischen Systems begann der Bürgerkrieg, und die Arbei-ter wurden in die nationalen Armeen eingegliedert. Nationalistische Gefühle breiteten sich aus. Alles was im Land geschah, nicht nur während des Kriegs, sondern bis zum heutigen Tag, beein-flusste die Arbeiterklasse stark in ne-gativem Sinne, so dass sie nicht in der Lage ist, irgendeine unabhängige Rol-le in den sozialen Kämpfen zu spielen. Man könnte sogar sagen, dass eine or-ganisierte Arbeiterbewegung in Bosni-en-Herzegowina nicht existiert.

Die Beschäftigten in Bosnien-Her-zegowina haben nicht viel Erfahrung mit Klassenkämpfen. Die meisten von ihnen verbrachten ihr halbes Arbeitsle-ben in Betrieben, in denen sie extrem abgesichert waren und sogar das Recht zur Selbstverwaltung und zur Wahl und Kontrolle der Manager hatten. Danach kämpften sie im Krieg, und viele von ihnen verloren ihren Arbeitsplatz in Folge des Krieges und der Privatisie-rungen nach dem Krieg. Die wenigen, die ihre Arbeit behielten, haben nicht viele Rechte und stehen unter ständi-ger Bedrohung, ihren Job zu verlieren, nicht nur wegen Bankrotts ihres Unter-nehmens, sondern auch wegen der Ty-rannei ihrer Unternehmer.

ALTE …

In einer solchen Situation ist es wich-tiger denn je, einen organisierten Kampf für die Rechte der Beschäf-tigten zu entwickeln. Aber das ist ziem-lich schwierig. Die offiziellen Gewerk-schaften haben ihre Infrastruktur nach dem Krieg schnell wieder hergestellt. Es entstanden zwei Organisationen ent-lang der ethnischen Grenzen: die Alli-anz der Gewerkschaften der Republika Srpska ist ein bürokratischer Zusam-menschluss in der Republika Srpska, während die Allianz Unabhängiger Ge-werkschaften von Bosnien und Herze-gowina ein solcher Zusammenschluss in der Föderation von Bosnien und Her-zegowina ist.1 Beide wurden aus den Überresten der früheren Allianz Unab-hängiger Gewerkschaften von Bosnien

1 Im Abkommen von Dayton 1995 blieb Bosni-en-Herzegowina zwar erhalten; es wurde aber – etwa entlang der Waffenstillstandsgrenzen –in zwei „Einheiten“ geteilt: die Serbische Re-publik (Republika Srpska) und die (bosnia-kisch-kroatische) Föderation von Bosnien und Herzegowina – d.Üb.

und Herzegowina gebildet, die bis zum Kriegsausbruch existiert hatte. Obwohl die bürokratischen Strukturen sehr schnell erneuert wurden, bedeutet das nicht, dass wirklich lebendige Organi-sationen entstanden sind. Die Beschäf-tigten staatseigener Unternehmen blie-ben formal weiter Gewerkschaftsmit-glieder, sie haben ihren Mitgliedsstaus aus der Vorkriegszeit praktisch erneu-ert. Doch Gewerkschaften existieren nicht wirklich als ernsthafte Organisa-tionen. Ihre Grundeinheiten in den Be-trieben halten keine regelmäßigen Tref-fen ab. Arbeiterinnen und Arbeiter tref-fen sich nur, um formell ihre Gewerk-schaftsvorstände zu wählen, die ih-ren Mitgliedern nicht wirklich verant-wortlich sind und oftmals auch nicht viele Aktivitäten entfalten. Gewerk-schaftsführungen berichten nicht über ihre Politik und ihre Aktivitäten. Hö-here Gewerkschaftsleitungen werden total bürokratisch bestimmt, ohne dass aktive Arbeiterinnen und Arbeiter ir-gendeine Chance hätten, eigene Kan-didaten durchzubringen. Beschäftigte zahlen ihre Mitgliedsbeiträge oft so, dass die Buchhaltung ihrer Unterneh-men 1% ihrer Bruttogehälter einbehält und an die Gewerkschaften überweist. Vor einigen Jahren tauchte die Infor-mation auf, dass die Allianz der Ge-werkschaften der Republik Srpska fi-nanzielle Unterstützungen von der Re-gierung der Republik Srpska erhielt.

… uND NEuE GEWERKSCHAFTEN

Wenige Jahre zuvor waren oppositi-onelle Gewerkschaften entstanden. Sie waren als Ergebnis von Frakti-onskämpfen innerhalb der Gewerk-schaftsbürokratie gebildet worden. Die Grundsatzprogramme und Aktivitäts-formen dieser Gewerkschaften unter-scheiden sich nicht von denen der of-fiziellen Gewerkschaften, und sie sind auch meist aus der Gewerkschaftsbüro-kratie zusammengesetzt. Gewöhnliche Gewerkschaftsmitglieder haben nie

Erste Schritte der Arbeiter-bewegung in Bosnien-Herzegowina10 Jahre nach dem Krieg erwacht die Arbeiterbewegung in Bosnien-Herzegowina wieder zum Leben. Die Schwierigkeiten sind erheblich und die Bürokraten nicht immer eine große Hilfe.

Goran Markovic

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auch nur irgendeine Rolle bei den Ent-scheidungen über die Spaltung der of-fiziellen Gewerkschaften gespielt. Der-zeit arbeiten zwei offizielle Gewerk-schaftsorganisationen im Bund der Ge-werkschaften von Bosnien und Herze-gowina zusammen, der keine neue Or-ganisation, sondern ein ziemlich lo-ckeres Bündnis zweier offizieller Ge-werkschaften ist. Er ist, wie seine Be-standteile, dem Internationalen Bund Freier Gewerkschaften angeschlossen.

Es ist unmöglich, eine genaue Zahl der Gewerkschaftsmitglieder zu nen-nen. Es ist ziemlich sicher, dass prak-tisch alle Beschäftigten der staatsei-genen Betriebe wegen des Automatis-mus’ Mitglieder sind. Auf der ande-ren Seite gibt es in Privatunternehmen keine Basisorganisationen, außer in den gerade erst privatisierten Staats-betrieben. Um die Bedeutung dieser Tatsache zu verstehen, muss man sich daran erinnern, dass die Wirtschaft von Bosnien und Herzegowina über-wiegend aus Klein- und Mittelbetrie-ben besteht, nachdem vom sozialisti-schen Regime aufgebaute große Ein-heiten zerstört worden sind. In die-sen kleineren Unternehmen gibt es je-weils nur wenige Beschäftigte, und sie haben nicht einmal die elementar-

sten sozialen Rechte. Gewerkschaf-ten haben nichts getan, um sie zu or-ganisieren und ihre Arbeitsbedingun-gen zu verbessern. Einige Quellen be-haupten, dass 40% aller Beschäftigten im schwarzen Sektor arbeiten. Auch wenn wir nicht sicher wissen, ob die-se Zahlen exakt sind, können sie doch nicht weit von der Wahrheit entfernt sein, wenn man an Folgendes denkt: offizielle Arbeitslosenrate ist 44%, ob-wohl verschiedene Schätzungen der realen Arbeitslosigkeit zwischen 21% und 31% schwanken.2 Der Gegensatz

2 Andere Wirtschaftszahlen: Preissteigerung 1% pro Jahr, öffentliche Verschuldung ent-spricht 60% des BIP und das Haushaltsdefizit liegt bei 3% des BIP. Das BIP pro Kopf be-trägt nur 8% des EU-Durchschnitts erreicht etwa 60% des Vorkriegswerts. Ausländische Direktinvestitionen stiegen von 161,1 Millio-nen Euro 2000 auf 344,4 Millionen Euro 2004. Die Auslandsverschuldung macht 33% des BIP aus. Die Wirtschaftswachstumsrate war unmit-telbar nach dem Krieg sehr hoch, hauptsäch-lich in Folge der ausländischen Investitionen in die Infrastruktur. Doch dann fiel sie schnell und 2003 lag die Wachstumsrate nur noch bei 3,5%. Schätzungen zeigen deutlich, dass 60% der Betriebe ihre Potenziale und Möglichkei-ten nicht voll ausnutzen. Das Außenhandels-defizit hat einen Rekordwert von 3 Mrd. Euro im Jahr 2004 erreicht, was 50% des BIP ent-spricht. Wenn offizielle Zahlen etwa 20% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze sehen, ist das eine krasse Unterschätzung des Problems.

zwischen offizieller und realer Ar-beitslosenrate ist Ergebnis der Metho-de der Bestimmung von Erwerbslosig-keit. Offizielle Stellen registrieren alle Menschen, die eine Arbeit suchen und keine reguläre Beschäftigung haben, wozu nicht nur die mit Teilzeitjobs, sondern auch diejenigen gehören, die Vollzeit schwarz arbeiten und daher nirgends als Beschäftigte registriert sind. Beschäftigte im privaten Sektor sind völlig schutzlos. Oft arbeiten sie 12 oder sogar 14 Stunden am Tag trotz der strikten gesetzlichen Grenzen von 8 Stunden am Tag und 40 Stunden in der Woche. Man kann sehen, dass das Problem des Schutzes der Arbeiter-klasse im (inzwischen vorherrschen-den) privaten Sektor der Wirtschaft ei-ne große Bedeutung bekommen hat.

PRIVATER SEKTOR

Die offiziellen Gewerkschaften be-haupten, die Arbeiterinnen und Arbei-ter im privaten Sektor würden kein In-teresse an irgendeiner Form gewerk-schaftlicher Organisierung zeigen. Das ist nur die halbe Wahrheit. Denn es stimmt nicht, dass sie kein Interes-se gezeigt hätten, sondern sie haben Angst, sich gewerkschaftlich zu orga-

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Weit mehr als die offiziell angegebenen 20% der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, das Außenhandelsdefizit lag 2004 bei 3 Milliarden Euro

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nisieren. Angesichts der hohen Arbeits-losigkeit und der völligen Schutzlosig-keit der Beschäftigten gehen diejeni-gen, die es wagen zu protestieren und Gewerkschaften zu organisieren, ein hohes Risiko ein, ihren Job zu verlie-ren. Und die Arbeiterinnen und Arbei-ter, die am härtesten ausgebeutet wer-den, arbeiten gewöhnlich in kleineren Betrieben oder Geschäften, wo es ohne Verbindungen und Solidarität zwischen den Betrieben praktisch unmöglich ist, einen Streik oder ähnliche Aktionen zu organisieren. Bislang haben wir keine Bereitschaft zu solchen Aktionen gese-hen. Mehr noch, die Beschäftigten in diesen Unternehmen sind meist jung und glauben nicht an die Möglichkeit von Kämpfen. Die meisten sind ein-geschüchtert, unerfahren und, was ein sehr großes Problem ist, mit provinzi-ellem Bewusstseinsstand. Leider ha-ben die offiziellen Gewerkschaften nur allzu sicher nicht versucht, diese Be-schäftigten in alternativen Organisati-onsformen zu organisieren oder ihnen in anderer Form zu helfen sich zu or-ganisieren.

Vor wenigen Jahren hatte die Alli-anz der Gewerkschaften der Republik Srpska zu einem eintägigen General-streik aufgerufen, der völlig scheiter-te. Er war ohne klare Ziele oder kon-krete Forderungen organisiert worden, und die Arbeiterinnen und Arbeiter, die bereits jedes Vertrauen in die Führung verloren hatten, verweigerten in vie-len Fällen die Teilnahme. 2002 orga-nisierten dieselben Gewerkschaften ei-nen Protesttag in der ganzen Republik Srpska. Arbeiterinnen und Arbeiter so-wie Rentnerinnen und Rentner versam-melten sich zu Stadtforen und formu-lierten ihre Forderungen. Diese Protes-te waren nur schwach besucht. In Bi-jelma beispielsweise, einer Stadt mit 50 000 Einwohnern, beteiligten sich nur 400. Die Kommunistische Arbei-terpartei von Bosnien und Herzego-wina (Radnicko-komunisticka partija Bosne i Hercegovine – RKP) beteilig-te sich an dieser Aktion für sich allein und verteilte Flugblätter mit konkre-ten Forderungen, die die Arbeiter stel-len sollten. Wir forderten auch von den Organisatoren, an der Kundgebung for-mell teilnehmen zu dürfen. Da dies ab-gelehnt wurde, schickten wir einen Ge-nossen als Vertreter der „unabhängigen Rentner“, um zu der Versammlung zu sprechen.

KERNE VON ORGANISIERuNG

Anfang diesen Jahres schlug die RKP den örtlichen Führungen der Gewerk-schaften und Rentnerverbände in Bije-lina vor, gemeinsame Aktionen als Pro-test gegen die Entscheidung des Stadt-parlaments, die Bezüge des Bürgermei-sters auf monatlich 1600 Euro (was das Siebenfache eines Durchschnittslohns ist) zu erhöhen, vorzubereiten, doch sie lehnten unter dem Vorwand ab, dass dieses Thema nicht in ihre Kompetenz falle und dass sie sich nicht an den Ak-tionen irgend einer Partei beteiligen wollten. Tatsächlich verweigern die Ge-werkschaften strikt jede Kooperation mit politischen Parteien und bemühen sich, ihren überparteilichen Charakter herauszustellen, obwohl sich die oppo-sitionellen Gewerkschaften der Repu-blik Srpska noch vor wenigen Jahren an einer vom Bund Unabhängiger Sozial-demokraten organisierten Protestaktion beteiligten, während die Führung des Bundes Unabhängiger Gewerkschaften von Bosnien und Herzegowina 2002 ein Treffen mit einer Delegation der Sozial-demokratischen Partei hatte.

Häufig werden von der Basis Ak-tionen organisiert, die von den zentra-len Gewerkschaftsführungen nicht ge-

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billigt oder unterstützt werden. Streiks werden hauptsächlich im Gesundheits- und Bildungssektor organisiert. Sie werden oft von Funktionären geführt, die zur zentralen Gewerkschaftsfüh-rung gehören, und sie sind manchmal recht erfolgreich. Leider kann man das nicht von den Funktionären in anderen Sektoren sagen, vor allem in Industrie und Handel, die wirtschaftlich am Bo-den liegen und in denen die Beschäf-tigten am schlimmsten ausgebeutet werden. Wenn die Gewerkschaftsbasis oder die Beschäftigten in den Betrieben Streiks organisieren und Hilfe von ih-ren Führern fordern, bekommen sie oft zu hören, es sei zu spät für einen Streik und unmöglich, ihnen auch nur techni-sche und juristische Hilfe zu geben. Auf der anderen Seite sind unsere Streiken-den in einigen Fällen fest entschlossen zu streiken, haben aber keinerlei Er-fahrung. Manchmal müssen sie Ge-werkschaftsgruppen neu gründen oder ein Streikkomitee bilden, wenn keiner-lei Gewerkschaftsstrukturen existieren. Aber manchmal denken sie auch, dass sich mehr als die Hälfte der Beschäf-tigten an einem Streik beteiligen müss-ten, und wenn diese Bedingung nicht erfüllt ist, lassen sie den Gedanken an einen Streik fallen. Manchmal konnten

Gewerkschaftshaus in Mostar – durch internationale Solidarität nach dem Krieg wieder auf-gebaut

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Mitglieder der Kommunistischen Ar-beiterpartei von Bosnien und Herzego-wina (RKP) Gewerkschaftern mit ju-ristischer oder organisatorischer Hilfe beistehen, so in den Städten Modrica, Banja Luka und Bijeljina. In Banja Lu-ka konnte auf einer Betriebsversamm-lung von 600 Arbeiterinnen und Arbei-tern der RKP-Präsident zu den Anwe-senden sprechen. In Bihac schrieb die kommunistische Zeitung Stimme der Freiheit während eines 100-stündigen Hungerstreiks über den Kampf der Ar-beiterinnen und Arbeiter, und die Zei-tung wurde von den Streikenden selbst verteilt. In Zenica nahmen Beschäftigte einer Fabrik Teile der Parteiplattform in ihren Forderungskatalog auf und in Sa-rajevo verlasen Arbeiterinnen und Ar-beiter bei einer Verkehrsblockade unser Solidaritätstelegramm.

Generell gibt es mehr aktive Ar-beiterinnen und Arbeiter auf Basisebe-ne. Auch wenn man noch nicht von ei-ner organisierten Arbeiterbewegung im Lande sprechen kann, bilden sich doch erste Konturen in Form untereinander nicht vernetzter Aktiver ohne ausrei-chend Erfahrung und mit nur unklaren Vorstellungen, was zu tun und wie es zu tun ist. Die meisten sind klar link-sorientiert, aber keine Parteigänger, mit Respekt vor den revolutionären Tradi-tionen Jugoslawiens, aber ohne re-volutionäre Perspektive. Die meisten respektieren den Wunsch der RKP nach Kooperation und Unterstützung, aber sie fürchten, dass jeglicher Kon-takt mit Kommunisten ihren Kampf er-schweren könnte. Aber viele Dutzend sind mit unserem Vorschlag einverstan-den, eine Konferenz aktiver Gewerk-schafterInnen zu organisieren und ein Koordinationskomitee der Arbeiterge-werkschaften zu bilden. Eine Konfe-renz, deren Veranstaltung und Ausrich-tung von unserer Partei erwartet wird. Doch unglücklicherweise haben weder wir noch unsere GenossInnen von den Gewerkschaften genug Geld, um so et-was zu organisieren. Trotz ihrer Bereit-schaft, auf diesem Treffen zusammen-zukommen und sogar im Komitee mit-zuarbeiten, sind viele nicht bereit, mit den Gewerkschaften zu brechen, denen sie formal angehören.

Die offiziellen Gewerkschaften ha-ben die vorherrschende neoliberale Ideologie akzeptiert und unterstützen den Prozess der Privatisierung. Obwohl

sie immer wieder die Notwendigkeit der Erfüllung des sozialen Programms betonen, haben sie noch nie gesagt, wie das erreicht werden soll. Ausgearbeitete Programme ökonomischer und sozialer Maßnahmen, die die Regierung umset-zen soll, sind von den Gewerkschaften noch nie vorgestellt worden. So kann man wohl sagen, dass sie weder ein Grundsatzprogramm noch irgendeine Idee haben, welches die zur Durchset-zung dieser Ziele erforderlichen Mit-tel sind. Im Jahre 2002 hatten die Ge-werkschaftsführer ein Treffen mit dem Hohen Repräsentanten3 und akzeptier-ten die Notwendigkeit der Umsetzung der Bankrottpolitik. Ihre offizielle Po-sition dazu ist folgende: Der Übergang zur Marktwirtschaft auf Grundlage pri-vaten Eigentums ist notwendig und so-gar nützlich, obwohl er mit Sozialpro-grammen ergänzt werden sollte, die je-ne unterstützen, die ihren Arbeitsplatz im Zuge von Privatisierung und Bank-rott verlieren könnten.

GEGEN PRIVATISIERuNG

Kämpferische Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter haben eine et-was andere Position, obwohl sie den-ken, dass irgendetwas anderes als der Kampf für unmittelbare und sehr ge-mäßigte Forderungen blanke Utopie wäre. Doch in vielen Fällen forderten sie die Rücknahme der Privatisierung ihrer Betriebe, und dies manchmal sehr erfolgreich (die Unternehmen „Alhos“ in Sarajevo und „Zitoprerada“ in Bi-hac), während in anderen Fällen der Prozess der Rückumwandlung noch anhält (zwei Fälle in Bijeljina und ei-nigen anderen Städten). Kämpferische Gewerkschafterinnen und Gewerk-schafter ohne Antrieb oder gar Unter-stützung durch die Führer aus den hö-heren Sphären ihrer Organisationen, griffen zu radikalen Kampfmethoden, um ihr Ziel, die Privatisierungen rück-gängig zu machen, durchzusetzen. Ei-nige organisierten Hungerstreiks wäh-rend andere den Verkehr oder Regie-rungsinstitutionen blockierten. Bei die-sen Aktionen wurden sie von Arbeite-rinnen und Arbeitern aus anderen Städ-ten unterstützt. In einzelnen Fällen or-ganisierte die Kommunistische Arbei-

3 Von der UNO eingesetzter faktischer Staats-chef mit diktatorischen Vollmachten – d.Üb.

terpartei von Bosnien und Herzegowi-na symbolische Solidaritätsaktionen. In einem großen Betrieb in Banja Lu-ka mit Namen „Cajavec“ stellte ei-ne unabhängige Gewerkschaft die bis-lang radikalste Forderung auf. Sie for-derte von der Regierung, die Privatisie-rung des 35%-igen Staatsanteils rück-gängig zu machen und diesen der Ge-werkschaft zur Verwaltung zu überge-ben. Wir haben diese Forderung ein-deutig unterstützt. In einem Betrieb im Industriezentrum von Zenica kauf-ten die Arbeiterinnen und Arbeiter Ak-tien auf und wurden Mehrheitseigner. Trotz dieser positiven Beispiele haben die Beschäftigten der meisten Betriebe kein klares Bild davon, was sie nach der Umkehr der Privatisierung tun sol-len. Wir haben versucht sie zu überzeu-gen, nicht bei dieser Forderung stehen zu bleiben, denn nach der Umkehr der Privatisierung würden neue folgen, die ihre Position alles andere als verbes-sern würden.

Zusammenfassend kann man sa-gen, dass sich eine Arbeiterbewegung in Bosnien und Herzegowina in ele-mentaren Konturen abzeichnet. Die Arbeiterinnen und Arbeiter haben sehr wohl verstanden, wer ihre Feinde sind und woher ihre Probleme kommen. Sie verstehen auch sehr gut, dass eine ethnische Spaltung der Arbeiterklas-se zu nichts anderem führen würde als zu neuen und tiefen Niederlagen. Die meisten Gewerkschafterinnen und Ge-werkschafter gehören zu einer älteren Generation. Junge Beschäftigte beteili-gen sich an den Kämpfen nur in ver-schwindend kleinem Anteil. Unsere Arbeiterinnen und Arbeiter brauchen die Hilfe von ihren Genossinnen und Genossen im Ausland, um zu lernen zu kämpfen und sich in konkreten Si-tuationen richtig zu verhalten. Und sie brauchen Hilfe beim Aufbau klassen-kämpferischer Gewerkschaften.

Goran Markovic ist Präsident der Kommu-nistischen Arbeiterpartei von Bosnien und Herzegowina (RKP). Diese Partei wurde 2000 gegründet; sie ist gegen Nationalis-mus und für Arbeiterselbstverwaltung, par-tizipatorische Demokratie und den Wieder-aufbau eines sozialistisch-föderalen Jugosla-wiens. Internet: http://www.rkp-bih.cjb.net/?lang=english

Übers.: Björn Mertens

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Der im Juli 2006 verkündete „provi-sorische“ Übergang der Macht hat alle Chancen, dauerhaft zu sein. Die Nach-Castro-Ära hat tatsächlich begonnen. Auch wenn Raúl Castro, der Bruder des Gründers des revolutionären Regimes, als Garant der institutionellen Kontinu-ität bestellt wurde, ist eine echte Ablö-sung der Generationen kurzfristig un-vermeidlich. Angesichts schwerwie-gender Probleme der wirtschaftlichen Entwicklung, wachsender Ungleich-heit und Korruption und schließlich an-gesichts der stets realen Drohung einer Einmischung der USA wird es der zu-künftigen Führung sehr schwer fallen, ihre Legitimität zu sichern. Das pater-nalistische Charisma des historischen Führers kommt nicht mehr an, aber wie wird es möglich sein, ein demokra-tischeres institutionelles Paradigma zu entwickeln, das die sozialen Errungen-schaften bewahrt?

„Kuba ist ein einzigartiges System, und man muss sich davor hüten, ihm eine fix und fertige Analyse aufzustülpen.“1 Diese Äußerung von Pierre de Charen-tenay sollte für jede Analyse des cas-tristischen politischen Systems seit einem halben Jahrhundert die Regel sein. In einem Moment, in dem die Fra-ge des Postcastrismus aktuell ist, wür-den die Kommentatoren, die unauf-hörlich den „Tropen-Gulag“ beschwö-ren, gewinnen, wenn sie sich davon in-spirieren ließen. Die Frage der Nach-folge Fidel Castros (er ist am 13. Au-gust 2006 achtzig Jahre alt geworden) wurde in Kuba einige Monate vor dem chirurgischen Eingriff aufgeworfen und führte zum „provisorischen“ Über-gang der Macht an Raúl Castro. Die Zeit nach Fidel Castro war seit Anfang 2006 Gegenstand öffentlicher Kom-mentare seines designierten Nachfol-gers und des Außenministers Felipe Pérez Roque. Am 26. Juli 2006, dem Jahrestag des Beginns der Revolution, äußerte sich Fidel Castro fünf Tage vor der Bekanntmachung seiner Operation

1 P. de Charentenay, „Église et État à Cuba“, Études, Dezember 1988.

ironisch in Richtung USA: „Die Nach-barn im Norden sollen sich nicht sor-gen, ich habe nicht vor, meine Funk-tionen auszuüben, bis ich 100 werde …“

Indem er anerkannte, dass er nicht ewig ist, hat der Comandante, der seit einem halben Jahrhundert eine unge-teilte Macht ausübt, ein Tabu gebro-chen, das seiner Nachfolge. Die Ablö-sung steht also auf der Tagesordnung. Aber während in der Verfassung Raúl Castro zum einzigen Erben bestimmt ist, hat Fidel Castro erkannt, dass es sich um ein Generationenproblem han-delt. Die Generation der Revolution ist dabei zu verschwinden. Sicher sollte sein Bruder ein Garant der Kontinuität für die Zeit nach Fidel sein, aber der Abstand von fünf Jahren, der ihn von seinem älteren Bruder trennt, beweist den provisorischen Charakter dieser Lösung und ist für diejenigen keine Be-ruhigung, die befürchten, dass das Ver-schwinden des Comandante die Krise eröffnet und ins Chaos mündet.

DIE WIDERSPRüCHE DER GESELLSCHAFT

Tatsächlich „sind die Widersprüche der kubanischen Gesellschaft offensicht-lich und beunruhigend“2. Fidel Castro wird nicht mehr so gehört, wie es in der Vergangenheit der Fall war, und seine Legitimität wird schwächer. Sein Dis-kurs entspricht nicht mehr den alltäg-lichen Problemen der Mehrheit der ku-banischen Bevölkerung. Seit dem Zu-sammenbruch der UdSSR hat die Be-völkerung die schrecklichen Auswir-kungen von 16 Jahren Krise, der „spe-ziellen Periode in Friedenszeiten“, wie man in Havanna sagt, ertragen müssen. Die auf den Zusammenbruch der UdS-SR erfolgte wirtschaftliche Zerrüttung hat die ganze Gesellschaft erschüttert. Wir ermessen in Europa kaum, wie schwer die Krise ist, die die Insel be-troffen hat.

Bis 2004 hat die 1993 beschlos-sene Dollarisierung die frühere, ziem-

2 J.L. Anderson in: El País, 4.8.2006.

lich egalitäre Lohnhierarchie modifi-ziert. Der Währungsdualismus und der Wechselkurs zwischen Dollar und Pe-so hat die im öffentlichen Sektor ar-beitenden Kubaner, deren Einkom-men in Pesos ausgezahlt wird, schwer getroffen. Infolge fehlender Investiti-onen liegt der öffentliche Verkehr da-nieder, der Zustand der zu wenig vor-handenen Wohnungen ist katastrophal, die Nahrungsmittel in den Supermärk-ten und auf den freien Bauernmärkten sind sehr teuer, und mit der libreta (der Rationierungskarte) kann man sich nur zehn bis zwölf Tage ernähren. Bis zur jüngst auf Initiative von Fidel Castro erfolgten Einführung von Stromerzeu-gungsaggregaten auf der gesamten In-sel stellten bis vor kurzem mehrstün-dige Stromsperren eine unerträgliche Beeinträchtigung dar. Generell ist die Infrastruktur (u.a. die Wasserkanali-sation) in einem sehr schlechten Zu-stand.

Dieser Verfall der Lebensbedin-gungen vollzieht sich in einem schwie-rigen internationalen Kontext. Nach-dem Havanna seine engen Verbündeten verloren hatte, befand sich Kuba in den 90er Jahren auf internationaler Ebene isoliert und war in Lateinamerika mit der sich im Aufstieg befindenden neo-liberalen Politik konfrontiert. Um der Krise zu begegnen, musste Castro zö-gernd marktwirtschaftliche Reformen akzeptieren (die Legalisierung des Dollars, die Zulassung bislang verbo-tener freier Bauernmärkte, privatwirt-schaftliche Aktivitäten, Kooperativen in der Landwirtschaft, Auslandsinve-stitionen, Entwicklung des Tourismus usw.) Diese Reformen führten, wenn-gleich sie begrenzt waren, zu bedeu-tenden Ungleichheiten unter der kuba-nischen Bevölkerung zwischen denen, die keinen Zugang zu Dollars haben, und denen, die darüber dank Geldsen-dungen (remesas) ihrer Angehörigen im Ausland oder infolge des Tourismus über US-Dollar verfügen.

Diese Ungleichheiten wurden sehr schlecht vertragen: Der soziale Auf-stieg, von dem die ärmsten Schichten

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KUBA

Der Castrismus nach CastroJanette Habel

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seit der Revolution profitiert hatten3, wurde in Frage gestellt, wenngleich die Bevölkerung immer noch das kosten-lose Gesundheits- und Bildungssystem genoss. Von nun an war der Dollar Kö-nig, unabhängig von beruflicher Kom-petenz. „Die soziale Pyramide wurde umgedreht“ und mit ihr die „Werte“ und die Ethik der Revolution.

Ein weiterer demografischer Grund hat die Situation verschlimmert: Eine kulturelle und politische Kluft hat sich zwischen der Generation der Revoluti-on und der nach 1959 geborenen Mehr-heit der Bevölkerung aufgetan. Die Ju-gend hat nicht nur die Batista-Dikta-tur nicht kennengelernt, sondern sie hat nur die Krise kennengelernt. Und die sozialen Errungenschaften – kos-tenlose Erziehung und Bildung, Voll-beschäftigung –, an die Fidel Castro ständig erinnert, reichen nicht aus, um ihre Erwartungen zu befriedigen. Sie möchte reisen, aber sie kann es nicht. Der Internetzugang wird kontrolliert. Die Bildung und das hohe kulturelle Niveau der neuen Generationen – Er-rungenschaften der Revolution – sto-ßen auf die von Fidel Castro auferlegte Zwangsjacke. Heute wollen die jungen Menschen über Konsumgüter verfü-gen, die bislang unzugänglich waren.

Diese Kluft zwischen den Genera-tionen hat eine weitere Konsequenz. Der Comandante, dessen rednerisches Talent die Massen faszinierte und der stundenlang vor einem aufmerksamen Publikum reden konnte, ist nun Opfer des Patriarchensyndroms. Sein Cha-risma wird Routine. Auch wenn das Schild des Castrismus auf dem latein-amerikanischen Kontinent wieder ver-goldet wird, so reichen seine außen-politischen Erfolge nicht aus, den Ver-schleiß seines Bildes auf der Insel aus-zugleichen – auch wenn es wahr ist, dass die vom Liberalismus hervorgeru-fenen Katastrophen auf dem Kontinent – 50% der Armen und Notleidenden dort leben mit weniger als 2 Dollar am Tag – die Lage der bedürftigsten Kuba-ner relativieren.

3 Darüber herrscht in Europa ein totales Miss-verständnis: Die parasitäre Großbourgeoisie und die Mittelschichten wurden durch die Re-volution benachteiligt, auch wenn gutsituier-te Teile in den ersten Jahren aus ideologischen Gründen Fidel Castro unterstützt haben, zu Las-ten ihrer materiellen Interessen. Ganz anders bei den Ärmsten (vor allem den Schwarzen), deren sozialer Status sich bis zur Krise verbes-sert hatte. Sie sind bislang die Hauptstütze des Castrismus gewesen.

Die Wirtschaftskrise, die Reformen und die in den öffentlichen Sektor ge-schlagene Bresche haben eine Zunahme der Korruption bewirkt. Der Schwarz-markt blüht und wird von Diebstählen

im staatlichen Sektor genährt. Das Auf-blühen privater Aktivitäten in einem System, in dem es der extremen staatli-chen Zentralisierung nicht gelingt, die alltäglichen Bedürfnisse zu befriedi-gen, hat die Entwicklung eines infor-mellen Sektors begünstigt: Installateu-re, Mechaniker, Anstreicher üben ih-re Tätigkeit aus, während sie ihre An-bindung an einen Staatsbetrieb wahren, um ihre sozialen Rechte zu erhalten. Ihr Betrieb liefert auch die notwendigen Materialien für die Ausübung ihrer pri-vaten Aktivität. Das jüngste Beispiel ist der massive Diebstahl von Sprit – mit der Komplizenschaft der Tankwar-te – an den Tankstellen. Die durch die-se Diebstähle – entdeckt im Jahr 2005 durch eine von Fidel Castro mobilisier-te Armada junger Sozialarbeiter – her-vorgerufenen Verluste würden sich auf Dutzende Millionen Dollar belaufen. Es fällt nicht schwer, sich die Gewinne vorzustellen, die von den Wiederver-käufern – die im Übrigen überzeugte Revolutionäre sein können – vorenthal-ten wurden. Die „Doppelmoral“ nimmt in Kuba zu und wird durch die Unmög-lichkeit gerechtfertigt, „normal“ zu le-ben, denn, wie zahlreiche Kubaner sa-gen, um unter diesen Bedingungen zu überleben, „muss man stehlen oder das Land verlassen“ – oder zusammenbre-chen.4

Die wirtschaftlichen, sozialen, po-litischen und demografischen Span-nungen erfordern also einen Wechsel der Orientierung. Aber in welche Rich-

4 J.L.Anderson, a.a.O.

tung? Die oft von europäischen und amerikanischen Offiziellen als beispiel-haft angeführten Versionen des spa-nischen oder chilenischen Übergangs beinhalten einen Abbau des ökono-

mischen und politischen Systems. Da-gegen fügen sich die von zahlreichen Teilen der Bevölkerung erwarteten Än-derungen noch in den Rahmen des Sys-tems ein, auch wenn andere meinen, dass es gescheitert ist und man eine Marktwirtschaft errichten muss.

Für Fidel Castros Nachfolger sind die Schwierigkeiten vielfältiger Na-tur. In erster Linie muss das Lebensni-veau verbessert werden. Welche Wirt-schaftsreformen müssen durchgeführt werden? Zum Preis welcher sozialer Spannungen? Dann muss mittelfristig ein neuer institutioneller gesetzlicher Rahmen geschaffen werden, der sich auf eine effektive Beteiligung der Be-völkerung stützt. Es existiert keiner-lei Möglichkeit, das bestehende poli-tische System fortzusetzen, wenn Fidel Castro erst einmal verschwunden ist. Schließlich müssen diese politischen und ökonomischen Veränderungen im konfliktgeladenen Kontext einer dro-henden Einmischung durch die Bush-Administration durchgeführt werden.

DIE REZENTRALISIERuNG DER WIRTSCHAFT, DAS ENDE DER REFORMEN

Raúl Castro übernimmt – vielleicht provisorisch – die Leitung des Landes in einer besonderen Lage. Nach über einem Jahrzehnt marktwirtschaftlicher Reformen hat Fidel Castro in den letz-ten Jahren die in den 90er Jahren wäh-rend der offenen Krise eingeleitete Öffnung in Frage gestellt. Seit Herbst

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KUBA

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2004 sind Transaktionen in Dollar nicht mehr gültig. Der Dollar wur-de seitdem durch den konvertierbaren Peso (CUC) für alle Barzahlungen auf der Insel ersetzt.5 Aber dieser CUC, der mit dem Dollar auf der Insel paritä-

tisch ist – ist im Ausland nicht konver-tierbar. Der andere, gewöhnliche Pe-so, hat einen Wechselkurs von 26 Pe-so je Dollar und bleibt für die Löhne die laufende Währung. Was die Staats-betriebe betrifft, die Konten in konver-tierbaren Pesos führen, so können sie sie nicht mehr mit Dollars füttern. Das-selbe gilt für die Handelsgesellschaften mit 100% kubanischen Anteilen.

Seit dem 1. Januar 2005 wurde ein einheitliches Konto für die staatlichen Deviseneinkünfte geschaffen, auf das alle von der Zentralkasse erhaltenen Einkommen in konvertierbaren Devi-sen eingezahlt werden müssen. Die im Rahmen gemischter Unternehmen von den kubanischen Partnern erhaltenen Gewinne müssen ebenfalls auf dieses Einheitskonto eingezahlt werden. In anderen Worten, die Unternehmen (und die Banken) brauchen die Zustimmung des Bewilligungskomitees, um über die erforderlichen Ressourcen für ihre Ak-tivitäten zu verfügen. Diese verschärf-

5 Drei Währungen waren in Kuba im Umlauf: der Dollar; der konvertierbare Peso für die ge-gen Dollar verkaufenden Spezialgeschäfte zum Kurs von 1:1; und der traditionelle Peso für die Auszahlung der Löhne und den Binnenmarkt. Nunmehr sind nur noch zwei Währungen im Umlauf.

te Zentralisierung wird die finanziellen Kontrollen verstärken, indem die Auto-nomie der Unternehmen eingeschränkt wird. Dabei werden die früheren Re-formen in Frage gestellt. Das vorher eingeführte System der Leitung sah

faktisch die Selbstfinanzierung der Staatsbetriebe vor, wobei jede Einheit ihre Ausgaben durch ihre eigenen Ein-nahmen decken und Gewinne erwirt-schaften sollte. Da die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Arbeiten-den von den Einkünften der Betriebe abhängt, haben die rentabelsten Unter-nehmen manchmal ihre Beschäftigten begünstigt, ohne sich um die Angemes-senheit bezüglich der anderen Werktä-tigen zu kümmern. In Fälle von Kader-korruption, besonders in Unternehmen der Tourismusbranche, waren auch Ver-antwortliche der Regierung verwickelt.

Die Situation, die Raúl Castro erbt, ist paradox. Die wirtschaftliche Be-ruhigung, die das Land dank höherer Nickelpreise, der zunehmenden Ein-nahmen aus dem Tourismus (etwa 2,3 Millionen Besucher im Jahr) sowie der günstigen Konditionen des Han-dels mit Venezuela und China erfährt, hat die Schwierigkeiten der Kubaner, die im staatlichen Sektor arbeiten (et-wa 75% der aktiven Bevölkerung) oder derjenigen, deren Überleben von ma-geren Pensionen abhängt, nicht ge-mildert. Diese haben die Hauptlast der Krise getragen und waren am meisten von den Wirtschaftsreformen und den

mit ihnen einhergehenden Kaufkraft-unterschieden betroffen. Sie profitie-ren wenig von der Verbesserung der makroökonomischen Lage. Dagegen sind neue soziale Kategorien aufge-taucht, „Neureiche“ laut offizieller Ter-minologie: kleine Handwerker und pri-vate Unternehmer, deren Aufstieg mit der Liberalisierung der 90er Jahre zu-sammentrifft; Eigentümer von kleinen Restaurants (paladares), die nicht mehr als zwölf Gedecke gleichzeitig bedie-nen können; Kleinbauern, die auf den Märkten ihre landwirtschaftlichen Pro-dukte zu sehr hohen Preisen verkau-fen. Sie haben vom Warenmangel pro-fitiert, um Güter und Dienstleistungen anzubieten, die der Staat nie sicherge-stellt hat, während der Status der klei-nen Warenproduktion stets verteufelt wurde.

In diesem Kontext ist die von Fi-del Castro 2005 lancierte x-te Offen-sive gegen die Korruption zum Schei-tern verurteilt. Parallel dazu führt Fi-del Castro eine ideologische Kam-pagne zur Mobilisierung der Bevölke-rung: „die Schlacht der Ideen“. Aber diese „Schlacht“ bleibt für die Kuba-ner, die in den Schwierigkeiten des All-tags stecken und alle in unterschied-lichem Ausmaß zum Überleben Zu-flucht im Schwarzmarkt gesucht ha-ben, eine Abstraktion. Dies umso mehr, als das Staatseigentum von der Bevöl-kerung entgegen dem offiziellen Dis-kurs nicht als ihr Eigentum begriffen wird, sondern als ein Eigentum, das ihr fremd ist. Die Kubaner haben nicht den geringsten Einfluss auf die ökono-mischen Entscheidungen. Abgesehen davon, dass die „Schlacht der Ideen“ an den Prozess der rectificación der 80er Jahre erinnert, ruft sie Verärgerung her-vor. „Dass sie den Benzindiebstahl ein-dämmen ist gut, aber nicht dass sie die unterdrücken, die versuchen ihren Le-bensunterhalt zu bestreiten!“, schimpft ein fliegender Händler, als man bei ihm 500 CDs konfisziert.

WELCHE ENTWICKLuNG? WELCHE ÖKONOMISCHE STRATEGIE?

Die kubanische Wirtschaft wies nach den offiziellen Zahlen für 2005 eine Wachstumsrate von 11,8% auf. Aber diese Angaben werden von internati-

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KUBA

Raúl und Fidel Castro

Fortsetzung auf Seite 33

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die 1internationale 2007

EINLEITuNG

Im Sommer 2006 hatte die Fußball-Weltmeisterschaft in der Öffentlichkeit für einen Moment die gesellschaft-liche Realität verhüllt und nationalen Gefühlsaufwal-lungen Hochkonjunktur ver-schafft. Dennoch konnte der global vermarktete Sturm-lauf kickender Millionäre nur zeitweise vom neoliberalen Sturmlauf der herrschenden Klasse und ihres politischen Personals ablenken.

Nur wenige Wochen spä-ter hat der blutige Konflikt im Nahen Osten eine weitere hochbrisante Zuspitzung im globalen „Krieg gegen den Terror“ ermöglicht. Er drehte sich nicht um eine „Befrei-ungsaktion“ für verschlepp-te israelische Soldaten, son-dern es geht um eine impe-rialistische Neuordnung des Nahen Ostens. Sie soll hel-fen, die Vormachtstellung der USA beim Kampf um die Öl- und Erdgasvorräte des Mitt-leren Ostens auszubauen.

Europäische Union (EU) und Bundesregierung versu-

chen in dieser für sie schwie-rigen Situation, ihre eige-nen Interessen in der Regi-on zu wahren. Unabhängig vom Ausgang des unerklär-ten Krieges im Libanon dro-hen ein beschleunigter Aus-bau der militärischen Struk-turen der EU und ein wei-terer Abbau demokratischer Rechte unter dem Vorwand der „Bekämpfung des Terro-rismus“.

Wenn Kanzlerin Merkel Seite an Seite mit Münte-fering vom „Sanierungsfall Deutschland“ schwadroniert, will sie die Fortführung der als „Agenda 2010“ getarnten brutalen Umverteilung von unten nach oben rechtferti-gen. Diese Politik findet im Rahmen des „Lissabon-Pro-zesses“ statt, der „die [Euro-päische] Union bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensba-sierten Wirtschaftsraum der Welt … machen „ soll. Der „deutsche Standort“ hat sei-ne Hausaufgaben bereits er-ledigt. Denn Deutschland war unabhängig vom Aus-

gang des Fußball-Turniers Weltmeister – nämlich Ex-portweltmeister.

Auch die EU als Ganzes hat aufgeholt. Sie ist mitt-lerweile nicht nur „Champi-on“ beim Export von Kriegs-gerät in alle Welt. Das Han-delsblatt berichtete am 16. Juni 2006 über den Stand der Dinge: „Europas börsenno-tierte Konzerne verringern ihren Abstand zu den großen Wettbewerbern in den USA. Die Umsätze und Gewinne steigen auf dem alten Kon-tinent viel rasanter … Trotz der Rekordergebnisse stellen aber nur wenige Unterneh-mer neue Mitarbeiter ein.“

Von wegen nur weni-ge Neueinstellungen! Mas-senhaft vernichten Großkon-zerne Arbeitsplätze, um den grenzenlosen Profitzielen ih-rer GroßaktionärInnen ge-recht zu werden. Das seiner-zeit aktuellste Beispiel hier-für bot der Münchner Versi-cherungs- und Finanzkonzern Allianz, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. August 2006 als „Geldma-schine“ bezeichnete. Trotz eines auf rund 6 Milliarden Euro gesteigerten Netto-Re-kordgewinnes im Jahr 2006 sollen 7.500 Arbeitsplät-

ze vernichtet werden. Vor-standschef Diekmann brach-te in einem Interview mit dem Spiegel diesen radikalen Kurs auf den Punkt: „Es gibt keine Tabus mehr.”

Auch die öffentlichen Hände nutzen den selbst ver-ursachten „Sparzwang“ als Vorwand zur Privatisierung staatlicher Unternehmen und zur fortgesetzten Arbeits-platzvernichtung. Anhaltende Massenarbeitslosigkeit, Aus-weitung der Niedriglohnsek-toren und die massive Zunah-me von Armut und Existenz-angst sind die beabsichtigten Folgen dieser Politik.

Es war um so wichtiger, dass auch während der FI-FA-WM 2006 die Proteste der Studierenden, der aktu-elle, jedoch nach wie zer-splitterte Widerstand gegen Arbeitsplatzabbau, Lohnkür-zungen und Arbeitszeitver-längerung (etwa bei Freu-denberg, VW und anderen Unternehmen) oder die Fort-führung des Ärztestreiks bei kommunalen Krankenhäu-sern die sozialen und poli-tischen Konflikte dieser Re-publik haben sichtbar wer-den lassen.

Und es war angesichts dieser Lage von nicht zu un-

Arbeitsplatzvernichtung, Sozialabbau, Ausgrenzung und Armut: Der Kapitalismus ist das Problem, nicht die Lösung!

Resolution der Delegiertenkonferenz Dezember 2006 des Revolutionär Sozialistischen Bundes (RSB / IV. Internationale)

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terschätzender Bedeutung, dass noch kurz vor Beginn der WM eine bundesweite Demonstration gegen Sozi-alabbau organisiert werden konnte.

DIE AKTuELLEN ANGRIFFE

Als (wirtschafts)politische Strömung ist der Neoliberalis-mus schon in den 30er Jahren entstanden, konnte sich aber als (wirtschafts)politisches Modell erst nach der lan-gen Welle mit expansivem Grundton ab Mitte/Ende der 70 Jahre allmählich durch-setzen; zunächst mit der ge-waltsamen Machtübernah-me in Chile 1973 und in sich steigerndem Tempo in allen imperialistischen Metropo-len und danach im Rest der Welt mit der Ausnahme der wenigen verbliebenen Über-gangsgesellschaften.

Kohl praktizierte einen sukzessiven Abbau des So-zialstaates und musste ange-sichts der Wiedervereinigung auf zu restriktive Maßnahmen verzichten. Der Anschluss der DDR an das Herrschafts-gebiet des deutschen Kapi-tals führte zu einem über die Versicherungssysteme finan-zierten zeitlich begrenzten Wirtschaftsaufschwung und damit zu einem verspäteten Einstieg in die brutalere Va-riante des Kapitalismus. Die Angriffe der letzten Jahre finden auf immer breiterer Grundlage statt. Sie betref-fen zunehmend alle Teile der abhängig Beschäftigten und der Bedürftigen und zwar in allen Lebensbereichen: Ar-beitszeitverlängerung, He-raufsetzung des Rentenein-trittsalters, Massenentlas-sungen, Gesundheitsreform, Hartz IV, Studiengebühren usw. Den Auftakt für den generalisierten Angriff bil-dete die Agenda 2010. Die Große Koalition setzt dies ungebremst und verschär-fend fort.

Ein Blick auf die Agenda der Herrschenden zeigt, dass nach den Beschlüssen über die Erhöhung der Mehrwert-steuer sowie nach dem ALG II-„Optimierungsgesetz“ und der damit einhergehenden „Missbrauchs”-Kampagne für sie derzeit auf bundes-politischer Ebene vor allem folgende Themen Vorrang haben:• Die „Gesundheitsreform“,

die für die Versicher-ten weitere massive Ver-schlechterungen und zu-sätzlich spürbare finan-zielle Belastungen brin-gen wird, ohne etwas an der Profitlogik des Ge-schäftes mit der Krank-heit zu verändern. Zum Wegfall der paritätischen Finanzierung (seit 2004) und Leistungseinschrän-kungen (beim Zahnersatz, Wegfall des Sterbegelds, Reduzierung von Heil-verfahren usw.) kommen die Erhöhung der Zuzah-lungen, der Kassenbeiträ-ge 2007 um 0,5%, die Pra-xisgebühr, der Sonderbei-trag von 0,9% und Zusatz-beiträge (= kleine Kopf-pauschale) hinzu. Das be-stehende Zweiklassen-system im Gesundheits-wesen wird um die drit-te Klasse der Sozialparia im Hartz IV-Staat ergänzt, die sich das Gesundheits-system nicht mehr lei-sten kann und ihm deshalb fernbleibt.

• Aktuelles Beispiel ist das sog. Optimierungsge-setz, das die bürgerlichen Rechte (Hausbesuche, Re-sidenzpflicht) und die Er-rungenschaften der Arbei-terbewegung (freie Berufs- und Arbeitsplatzwahl) ten-denziell abschafft.

• Die Frage des Lohndum-pings, bei deren Beant-wortung eine Verbindung von Mindestlohn und Kombilohn und damit ei-ne „legale“ Ausdehnung des Sektors der Nied-

rig- und Armutslöhne an-gestrebt wird.

• Die 20 Millionen Rent-nerInnen sind ein beson-deres Objekt der Begier-de seitens des kapitali-stischen Staates. Im drit-ten Jahr des Rentenstopps (= Rentenabbaus um 6-7%) werden sie nach einem jahrzehntenlangen Arbeitsleben als Parasiten stigmatisiert, die auf Ko-sten der jüngeren Genera-tion leben. In unseriöser und demagogischer Wei-se wird von einer „Über-alterung“ der Gesellschaft gesprochen und ein „Ge-nerationenkonflikt“ kon-struiert, der nur dann be-steht, wenn alle Vorga-ben der neoliberalen Po-litik und Politikbegrün-dung akzeptiert werden. In Wirklichkeit bildet die stets steigende Produk-tivität die Grundlage da-für, dass die Gesellschaft ständig reicher wird. Nur ist dieser Reichtum sehr ungleich verteilt und wird auch noch ständig von un-ten nach oben umverteilt. Die Erhöhung des Ren-teneintrittsalters zemen-tiert zusätzlich die Mas-senarbeitslosigkeit. Die geplante „Erhöhung des Rentenalters“ auf 67 Jah-re ist in Wirklichkeit eine weitere Rentenkürzung.

• Die Unternehmenssteu-erreform soll vor allem den großen Kapitalgesell-schaften weitere Steuer-erleichterungen besche-ren. Die bevorstehen-de Absenkung der Unter-nehmenssteuern auf unter 30 %, die Forderung nach Abschaffung der Gewer-be- und Körperschafts-steuer (2001 von 42% auf 25% reduziert) engen den Handlungsspielraum des Staates auf sozialem Ge-biet weiter ein. Das Ver-hältnis von Lohnsteuer zu Vermögen und Gewin-nen hat sich im Verlauf

der Jahrzehnte zuungun-sten der Lohnsteuer um-gekehrt. Eine Erhöhung der Erbschaftssteuer (sie ist viermal höher in Fran-kreich, neunmal höher in den USA) wird zum Un-tergang des Abendlandes erklärt. Für die Einfüh-rung der Vermögenssteu-er gilt ähnliches. Die so-zialintegrative Seite des Klassenstaates verschwin-det aus dem neoliberalen Blickfeld. Notwendiger-weise muss sein repres-siver Charakter erweitert werden.

• Die „Föderalismusreform“ wird den Standort-Wettbe-werb der Bundesländer in vielen Bereichen zu Un-gunsten der breiten Mas-se verschärfen. Die Föde-ralismusreform als umfas-sendste Grundgesetzän-derung regelt die Bezie-hungen zwischen Bund und Ländern neu. Durch die Übertragung der Kom-petenzen z.B. in Fragen des Haftvollzugs, Umwelt-schutzes, Versammlungs-rechtes, Ladenschlussge-setzes etc. werden weitere Bereiche des Lebens dere-guliert und entsprechende Schutzbestimmungen aus-gehebelt.

Der aktuelle neoliberale Durchmarsch verstärkt nicht nur die Tendenz zum starken Staat, sondern hat ihn bereits punktuell etabliert (Durch-leuchtung von Erwerblosen, [Bundes]Polizei, Absenkung des Datenschutzes). Weitere Planungen betreffen zuneh-mende Bundeswehreinsätze in aller Welt, die auch im In-land von konservativer Seite gewünscht sind.

Trotz der Fortführung des Generalangriffs auf so-ziale und demokratische Er-rungenschaften sind die Ge-werkschaftsapparate nicht bereit, eine koordinierte Ge-genwehr zu organisieren und

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für ein politisches und sozi-ales Alternativprogramm zu kämpfen. Im Gegenteil: Die Spitzen des DGB und der Einzelgewerkschaften haben sich mit der Großen Koali-tion als „kleinerem Übel“ zu „Schwarz-Gelb“ weitgehend arrangiert. Darüber können weder die verbalen Kritiken an der „Reformpolitik“ noch der offene Streit zwischen IGBCE und IGM/Verdi über die Notwendigkeit gewerk-schaftlicher Proteste hin-wegtäuschen. Vielmehr dro-hen die gewerkschaftlichen Kundgebungen gegen Sozi-alabbau zu einer folgenlosen Aktion zu verkommen.

Die WASG und die PDS/die Linke sind nach wie vor weitgehend mit sich selbst und ihren parlamentarischen Perspektiven (inklusive „Re-gierungsfähigkeit“) beschäf-tigt. Ein nicht unwesentlicher Teil der radikalen Linken ist auf diese politische Sackgas-se fixiert, was einerseits die außerparlamentarische Linke spürbar schwächt, uns ande-rerseits aber nicht nur mehr Verantwortung aufbürdet, sondern auch mehr Spielräu-me öffnet.

ZuR ZuNAHME DER ARBEITSKäMPFE

Diejenigen, die in den letzten Jahren vom Ende der klas-sischen Arbeiterbewegung redeten, schienen Recht zu behalten: Seit Beginn der 90er Jahre gingen die Ar-beitskämpfe in der BRD kontinuierlich zurück und im Jahr 2001 vermeldete die Statistik bei den Streiktagen pro 1000 Beschäftigte eine runde Null.

Doch seither hat sich das Blatt gewendet. Die schon totgesagte Arbeiterklasse brachte sich in diesem und dem letzten Jahr nachdrück-lich in Erinnerung und es ge-rieten Sektoren in Bewegung, von denen mensch es am we-nigsten erwartet hätte. Der

Streik bei der Privatklinik Heines in Bremen Anfang 2005, der nach 90 Tagen mit einem Achtungserfolg ende-te, war der Auftakt zu einem Jahr, in dem sowohl auf be-trieblicher wie auf Branchen-ebene harte Auseinanderset-zungen begannen, die sich in diesem Jahr fortsetzten.

28 Tage Streik bei der Brauerei Eichbaum in Mann-heim und der Druckerstreik, bei dem die 35-Stunden-Wo-che verteidigt werden konn-te, zeigten, dass angesichts der exorbitanten Gewinnstei-gerungen der Unternehmen in den letzten Jahren die Be-legschaften nicht mehr bereit sind, jedes Diktat der ande-ren Seite hinzunehmen.

Richtig ist andererseits, dass es sich bei den meis-ten Auseinandersetzungen um reine Abwehrkämpfe handelte: Der Kraftwerks-hersteller Alstom in Mann-heim, die Rolltreppenfabrik Kone in Hattingen, Electro-lux/AEG in Nürnberg, Infi-neon in München, von Giese-cke & Devrient – bei all die-sen Kämpfen (und noch eini-gen mehr) ging es nicht um höhere Löhne, um Arbeits-zeitverkürzung oder Ver-besserung der Arbeitsbe-dingungen, sondern gegen Werksschließungen, Stellen-abbau Verlängerung der Wo-chenarbeitszeit ohne jegli-chen Lohnausgleich und um Sozialpläne. Doch nur im Ausnahmefall Alstom Mann-heim stellte die kämpfende Belegschaft mit ihrem Mann-heimer Appell die betriebsü-bergreifende Forderung nach einem Verbot von Entlas-sungen auf.

Aber festzuhalten ist, dass in allen diesen Fällen der so-ziale Kahlschlag nicht mehr, wie noch vor wenigen Jahren, als die Belegschaften jede Kröte schluckten, geräusch-los über die Bühne ging und dass es in den meisten Fäl-len für den Gegner erheblich teurer wurde als geplant. Die

Entwicklung setzte sich 2006 fort. Im März letzten Jahres endete der rekordverdächtige Streik bei der Cateringfir-ma Gate Gourmet nach fast einem halben Jahr mit einem Teilsieg. Die zunehmende Streikdauer zeigt, dass die Klassenkämpfe in der BRD härter geworden sind.

Beim Streik um einen So-zialtarifvertrag gegen die an-gekündigte Schließung des Bosch Siemens Hausgeräte-werkes in Berlin im Sep-tember/Oktober wurde mit einem „Marsch der Solida-rität“ der Schulterschluss mit anderen Belegschaften gesucht und gefunden. Die IGM-Verhandlungsführung hat diese Dynamik blockiert, indem sie über Nacht einen Abschluss unterschrieb und alle Aktionen abbrach. Von den Streikenden wurde das Ergebnis bei der Urabstim-mung mit 2/3-Mehrheit ab-gelehnt, da sie für den Er-halt der Arbeitsplätze ge-kämpft hatten. Doch es fehl-te eine organisierte betrieb-liche Gewerkschaftlinke, die trotz der Manöver des Ge-werkschaftsapparats und sei-ner betrieblichen Stützen ei-ne Fortführung des Streiks hätte durchsetzen können, und damit eine gewählte, ent-schlossene Streikleitung. Der Streik wurde abgewürgt. Er hat dennoch eine Alternative zur isolierten betrieblichen Gegenwehr und zur nach wie vor bestimmenden Verzichts-logik der Gewerkschaftsfüh-rung aufgezeigt.

Was sich im öffentlichen Dienst abspielt, ist völlig neu. Erstmals in der Nachkriegs-geschichte sind die Beschäf-tigten im Gesundheitswesen in einem Ausmaß in Bewe-gung geraten, das niemand für möglich gehalten hätte. Gerade dieser Bereich war traditionell gewerkschaftlich schwach organisiert und hat-te die dramatischen Verän-derungen der letzten 15 Jah-

re wehrlos über sich erge-hen lassen. Der Streik an den Krankenhäusern zeigte al-lerdings auch, dass die Ge-werkschaftsführung nicht bereit ist, diese neu erwach-te Kampfkraft, die ein erheb-lich besseres Ergebnis mög-lich gemacht hätte, zu nut-zen. Das machte es Vereini-gungen wie dem Marburger Bund leicht, sich als die bes-sere Interessenvertretung zu präsentieren.

Festzuhalten bleibt: Der Widerstandswille der Beleg-schaften gegen die Zumu-tungen des Kapitals ist ge-wachsen. In Sektoren wie dem Gesundheitswesen taucht eine neue Generati-on von AktivistInnen auf, die, wie das klägliche Urab-stimmungsergebnis in Ham-burg zeigte, wo gerade ein-mal 48% der Gewerkschafts-mitglieder den von der Füh-rung ausgehandelten „Kom-promiss“ billigten, mehr will und sich auch mehr zu-traut, als nur die schlimms-ten Grausamkeiten abzuwen-den. Bewusstsein wird in der Auseinandersetzung geschaf-fen und nicht durch Verhand-lungen hinter geschlossenen Türen. Und in dieser Hinsicht sind auch die Streiks für den Sozialplan bei Electrolux/AEG oder Infineon ein Fort-schritt. Die Drucker wieder-um haben vorgemacht, dass Arbeitszeitverlängerungen nicht unabwendbar sind, son-dern eine Frage der Kräfte-verhältnisse.

Natürlich haben sich durch die Auswirkungen der zunehmenden europa- und weltweiten Mobilität des Kapitals die Rahmenbedin-gungen erheblich geändert. Die Gewerkschaftsführung hinkt dieser Entwicklung seit langem hinterher: Der Euro-päisierung der Kapitalstrate-gie, jetzt wieder im Falle von Volkswagen zu beobachten, hatte sie bisher nichts entge-genzusetzen. Allerdings gibt

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es auch hier Ausnahmen. Der auf ganzer Linie erfolgreiche gesamteuropäische Kampf der HafenarbeiterInnen ge-gen die Transportrichtlinie der Europäischen Kommis-sion zeigte, was Not tut: Ein konsequentes europäisch ko-ordiniertes Vorgehen der Ar-beiterorganisationen mit ge-meinsamen Forderungen und gemeinsamen Handlungs-strategien gegen die Taktik der UnternehmerInnen, die Belegschaften der verschie-denen Länder gegeneinander auszuspielen.

Der, wenn auch im Ver-gleich zu Frankreich oder Spanien sehr moderate, Auf-schwung der Arbeitskämp-fe in den letzten anderthalb Jahren in der Bundesrepublik ist unübersehbar. Das macht Hoffnung – und verbessert die Voraussetzungen, eine schlagkräftige Widerstands-front gegen den derzeitigen Generalangriff der großen Koalition auf die sozialen Sicherungssysteme, gegen Rentenklau und Durchkapi-talisierung des Gesundheits-wesens, aufzubauen.

Dazu bedarf es allerdings einer gänzlich anderen Poli-tik und eine andere Gewerk-schaftsführung. Besonders bei dem Vorgehen der Verdi-Führung im Arbeitskampf im Krankenhausbereich wurde deutlich, dass sie sich weit-gehend auf eine „staatstra-gende“ Linie festlegte und weitergehende Forderungen mit dem Hinweis auf die „Sachzwänge“ und die Fi-nanzkrise der Krankenversi-cherung ablehnte. Dahinter steckt natürlich ebenso die Rücksicht auf die SPD-Ge-nossInnen in der Großen Ko-alition. Wir halten dagegen: Gewerkschaftspolitik hat sich ausschließlich an dem Willen und den Bedürfnissen der Mitglieder zu orientie-ren, nicht an einem system-bejahenden „übergeordneten Interesse“. Gleiches trifft auf

die Führung der IG-Metall zu, die es unterließ, eine Ver-bindung des Tarifkampfes zu den betrieblichen Auseinan-dersetzungen herzustellen.

Die betrieblichen Kämp-fe und ihr Ablauf eröffne-ten allerdings der Gewerk-schaftslinken neue Spielräu-me. Erstmals wurden Streiks über den Tarifkampf hinaus über das „Hintertürchen“ der Forderung nach Sozialplä-nen geführt und das Mittel der „verlängerten Betriebs-versammlung“ erwies sich als Mittel gegen die undemo-kratische Einschränkung des Streikrechts. Hier hat die Ge-werkschaftslinke trotz ihrer schwachen Kräfte eine nicht unerhebliche Rolle gespielt, die es auszubauen gilt.

AuSSICHTEN DER SO-ZIALEN BEWEGuNGEN GEGEN DEN SOZIAL-KAHLSCHLAG

Trotz wesentlich geringerer Teilnahme als am 1. Novem-ber 2003 erlebten die Teil-nehmerInnen der Demo am 3. Juni 2006 letztere nicht als Niederlage. Es war mehr ein „Farbe bekennen“ eines Kerns von AktivistInnen der sozialen Bewegungen gegen den Sozialkahlschlag als ein „Signal zum Aufbruch“. Ob-wohl ATTAC, Sozialforum in Deutschland, die traditi-onellen Gewerkschaftsfüh-rungen, der linke Flügel der Gewerkschaftsbürokratie, PDS und WASG mal mehr, mal weniger stark Wider-stand gegen die Demo am 3. Juni zeigten, kann von einem Erfolg gesprochen werden. Er zeigt sich darin, dass überhaupt eine Demo durch-geführt wurde und Druck auf den DGB (21. Oktober) aus-geübt wurde. Die Demons-tration vom 3. Juni belegt, dass die Widerstände gegen außerparlamentarische Ak-tionen erheblich gewachsen sind. Dies steht einerseits mit der sich fortsetzenden An-

passungsbereitschaft der Ge-werkschaftsbürokratie und andererseits mit der Orien-tierung der Linken auf die WASG bzw. Linkspartei im Zusammenhang. Nur bei der MLPD lagen andere Gründen vor. Es konnte, obwohl gerin-ger als am 1. November 2003 und bei der Montagsdemobe-wegung von 2004/2005, ein Teil der Klasse mit richtigen und vorwärts weisenden For-derungen erreicht werden.

Die Rolle der Gewerk-schaftslinken war in mehre-rer Hinsicht entscheidend. Ohne ihre Initiative und ihr massives Eingreifen, so-wohl auf der Aktionskonfe-renz 2005 als auch im Rah-men der konkreten Vorberei-tungen wäre es nicht zu die-ser Demo gekommen. Mit der inhaltlichen Ausrichtung auf eine Forderungsstruktur, die an den Forderungen des Frankfurter Appells und des Aufrufs für den 1.11.2003 anknüpfte und deshalb von einigen Kräften als zu radi-kal empfunden wurde, setzte sich die Demo bewusst vom Anpassungskurs der Gewerk-schaftsbürokratie ab.

Eine neue und zunächst nach dem 3. Juni nicht absehbare Entwicklung war das Vorha-ben des DGB, einen bundes-weiten Aktionstag gegen die Reformen der Regierung am 21. Oktober durchzuführen. Sicherlich konnte diese Ent-wicklung nicht nur der Wir-kung der Demo vom 3. Juni zugeschrieben werden, aber auch nicht ohne sie! Weitere Gründe für den DGB die-se Mobilisierung anzusetzen waren:• Die erheblichen und z. T.

lang andauernden Mobi-lisierungen der verschie-denen Streikbewegungen im Metallbereich und im Öffentlichen Dienst hat-ten den Erwartungsdruck der KollegInnen gegenü-ber den Gewerkschaften gesteigert, endlich auch

gegen den sozialen Kahl-schlag von Regierung und Kapital aktiv zu werden. Der Zusammenhang von fortgesetzter sozialer De-montage einerseits und zunehmend bei Tarifver-handlungen und bei Be-triebsverlagerungen und Arbeitsplatzabbau ag-gressiv handelnder Unter-nehmerverbände anderer-seits, wurde immer mehr KollegInnen klar.

• Die Gewerkschaftsfüh-rungen versuchten mit dem 21. Oktober die-sen Druck aufzufangen und gleichzeitig für sich zu nutzen bzw. umzubie-gen, um ihre in der letzten Zeit verloren gegangenen Verhandlungsposition ge-genüber der Regierung zu stärken.

Der 21. Oktober kann als „mäßiger Erfolg“ für die Ge-werkschaftsbürokratie ange-sehen werden. Auch wenn die TeilnehmerInnenzahl von ca. 220.000 längst nicht an die ursprünglich von der Bürokratie anvisierte Zahl von 500.000 Menschen heranreichte (am 3. April 2004 waren es 500.000), waren es doch mehr als nach der lauen Mobilisierungs-phase sicher erwartet wer-den konnte.

Verwunderlich ist die er-reichte Größenordnung nicht: Einerseits ist die Wut über den fortgesetzten sozialen Kahlschlag groß, anderer-seits sind viele Kolleginnen und Kollegen skeptisch, und fragen sich, wie ernst es die Gewerkschaftsführungen mit der Ablehnung der Regie-rungspolitik meinen. Viele in den letzten Jahren aktiv gewordene Menschen sind nach der Erfahrung, dass die stattgefundenen Massenpro-teste die Herrschenden nicht von ihrem Kurs abbrachten, wieder passiv geworden.

Die Gewerkschaftsbüro-kratie hat sowohl mit ihrer in-

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haltsleeren Parole „Das geht auch anders – aber nicht von allein“ als auch mit ihrer feh-lenden Strategie (wie soll es nach dem 21. Oktober wei-tergehen?) ihre Hilflosigkeit und ihre innere Zerrissen-heit dokumentiert. Die Spal-tung geht durch alle Gewerk-schaftsapparate, wenn auch mit unterschiedlicher Kräf-teverteilung; am schlechtes-ten sieht es nach wie vor bei der IG BCE aus. Der relative Erfolg hat aber innerhalb der Bürokratie die Auseinander-setzung darüber angeheizt, dass und wie es überhaupt weitergehen soll.

Ein Teil der Gewerk-schaftsbürokratie weiß, dass diese Kundgebungen nicht ausreichen, die erhoffte „Ge-sprächsbereitschaft“ der Re-gierung zu bewirken. Die Diskussion hat sich inzwi-schen so weit entwickelt, dass ein Teil der Gewerk-schaftsbükoratInnen zurzeit dazu neigt, die Auseinander-setzung um die Reformen verstärkt in die Betriebe und Büros zu tragen, weil ihnen langsam klarer wird, dass bei weiterer Untätigkeit ihr Ein-fluss gänzlich zu schwinden droht. Und fortgesetzte Pas-sivität seitens der Gewerk-schaften droht sich auch in verstärkten Mitgliederver-lusten niederzuschlagen. Das noch vor kurzem geltende absolute Tabu einer Diskus-sion über das Mittel des po-litischen Streiks beginnt des-halb in einem Teil der Büro-kratie zu bröckeln, zumindest für eine gewisse Phase.

Ein anderer Teil der Ge-werkschaftsbürokratie setzt nach wie vor auf Verhand-lungen und will die Mobili-sierungen ausschließlich zu diesem Zweck nutzen. Aus-druck dieser Tendenz ist die Tatsache, dass Sommer noch eine Woche vor dem 21. Ok-tober versucht hat, alles ab-zublasen(!). Schließlich hat die DGB-Spitze auch die zentrale Verantwortung da-

für, was nach dem 21 Ok-tober geschehen soll, an die „Regionen“ bzw. Einzelge-werkschaften zurückgege-ben.

Diese Gesamtsituati-on wird gut durch eine Äu-ßerung des Sekretärs des Münchner DGB-Vorsitzen-den zusammengefasst (sinn-gemäß): „Die Gewerk-schaften befinden sich an ei-ner Wegscheide. Entweder so weiter machen wie bisher, oder den Kampf verstärkt in den Betrieben/Büros und auf der Straße führen.”

In Ba-Wü setzt vor allem die IG-Metall auf Aktionen während der Arbeitszeit, an die sich Verdi anhängen will. Ähnliche Töne sind aus Mün-chen zu hören. Bis dahin soll auf Betriebsversammlungen und in den gewerkschaft-lichen Gremien das Thema Sozialabbau „warm gehal-ten“ werden. Sicher ist zu-nächst keine breite Mobili-sierung zu erwarten. Bei der Auswahl der Betriebe wer-den es zunächst die üblichen Verdächtigen sein, um zu te-sten, ob überhaupt was lau-fen kann.

Es gilt festzuhalten: Der Handlungsdruck ist

für die Gewerkschaftsbüro-kratie inzwischen sehr groß geworden. Kommt es zu ge-werkschaftlichen Aktionen, können wir deutlich besser aktiv werden, als wenn die Proteste auf die soziale Be-wegung beschränkt blieben. Bei einem günstigen Ge-samtverlauf könnte sogar ein (im Idealfall auch mehr) Re-formvorhaben gestoppt, zu-mindest verzögert werden. Dies hätte beträchtliche Aus-wirkungen auf das allgemei-ne Kräfteverhältnis, wie auch auf die allgemeinen poli-tischen Wirkungsmöglich-keiten der Linken.

Daraus folgt, dass wir in der nächsten Zeit hierauf den Schwerpunkt unserer Arbeit legen müssen. Es ergeben

sich für uns folgende Aufga-ben:

1. Unterstützung und Wei-tertreiben der Kräf-te innerhalb der Gewerk-schaften und der betrieb-lichen Strukturen, die für Aktionen während der Ar-beitszeit (also de facto po-litische Streiks) plädieren und schon angefangen ha-ben, diese zu organisieren bzw. vorzubereiten;

Natürlich verzichten wir nicht auf die allgemei-ne Propagierung des po-litischen Streiks als ange-messenes Mittel der Gegen-wehr. In der konkreten Ak-tion sind wir aber auch dann dabei, wenn diese Begriff-lichkeiten nicht verwendet werden. Sonst könnten wir uns von KollegInnen/Funk-tionärInnen, die sich in die richtige Richtung bewegen, unnötig isolieren.

2. Wir sollten nach wie vor besonderen Wert darauf legen, dass gewerkschaft-liche Aktionen gegen die Reformen, von allen Ge-werkschaften gemeinsam und möglichst gleichzei-tig organisiert werden.

Unsere Orientierung, die Ge-werkschaften zunehmend zu zwingen, eine Einheits-front mit dem schon ausge-grenzten Teil der ArbeiterIn-nenklasse (sprich Erwerbslo-sen und Hartz IV Empfänge-rInnen bzw. der Bewegung gegen den sozialen Kahl-schlag) einzugehen, muss im Zuge der anstehenden Ak-tionen verstärkt fortgeführt werden.

Daraus ergeben sich für uns folgende allgemeine Aufga-ben:• Stärkung bzw. Initiierung

örtlicher Strukturen gegen die sozialen Demontage

• Eintreten für die Einheit der künftigen Auseinan-dersetzungen um Tarifver-träge und den Kampf ge-

gen den Sozialkahlschlag• Stärkung bzw. Initiierung

von weiteren Strukturen der Gewerkschaftslinken vor Ort, weil mit dem (re-lativen) Gewicht der Ge-werkschaftslinken inzwi-schen gut in der Bewe-gung gegen Sozialabbau interveniert werden kann

·• Verstärkte Mitarbeit in der sozialen Bewegung (z.B. Studiproteste, Montags-initiative, usw.) an allen Orten, wo der RSB Grup-pen bzw. Stützpunkte hat

Innerhalb der sozialen Be-wegung nehmen wir posi-tiv Bezug auf den Frank-furter Appell, der die bisher fortgeschrittenste inhaltliche Grundlage darstellt.

WIE KANN DER WIDER-STAND VORANGETRIE-BEN WERDEN?

In der Linken wird inten-siv diskutiert, wie der Wi-derstand gegen den Sozial-kahlschlag aufgebaut werden kann und vor allem, welche Kräfte es tun sollen. Dabei wird häufig von einer „Tria-de“ (dt. Dreiheit) soziale Be-wegung – Gewerkschaften – Linkspartei geredet.

Das Konzept der „Triade“ halten wir für wenig schlüs-sig:

Erstens erleben wir seit einigen Jahren immer wieder, dass Menschen, die gestern unsere BündnispartnerInnen waren, es heute nicht mehr sind, weil sie bestimmte Mo-bilisierungen nicht unterstüt-zen. Das kann morgen wiede-rum anders sein. Die Zusam-mensetzung von Aktionsein-heiten wechselt ständig.

Zweitens: Wie wider-sprüchlich die einzelnen Be-standteile der sog. Triade in der Praxis in sich selbst sind, zeigten Bündnis und Demo am 3.6. sehr deutlich. Ein Teil der sozialen Bewegung trieb beides voran – ein ande-rer versuchte, sie zu verhin-

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dern; die Gewerkschaftsfüh-rung war gegen die Demo am 3.6. – von der Gewerkschafts-linken kam der ursprüngliche Vorschlag; ein Teil der Basis der WASG mobilisierte nach Berlin – andere Teile kon-zentrierten sich auf den Ber-liner Wahlkampf.

Sicherlich muss eine au-ßerparlamentarische Op-position soviel Druck auf-bauen, dass die ganze sozi-ale Bewegung, alle Gewerk-schaften und die gesamte Linke an einem Strang zie-hen und gemeinsam Protes-te gegen die Reformen ge-gen uns organisieren. Dies wird vorerst aber nur punk-tuell möglich sein.

Wir sind der Überzeu-gung, dass eine soziale Wi-derstandsbewegung nur auf folgenden Grundlagen auf-gebaut werden und die Of-fensive des Kapitals gestoppt werden kann:• Sie muss außerparlamen-

tarisch sein. Nur in den Betrieben und auf der Straße können die gesell-schaftlichen Kräftever-hältnisse grundlegend ver-ändert werden.

• Sie muss klassenkämp-ferisch sein. Der grund-legende Widerspruch des kapitalistischen Systems muss offen gelegt und daraus müssen entspre-chende Forderungen ab-geleitet werden.

• Sie muss inhaltlich radikal sein und darf sich nicht nur auf Sofortforderungen beschränken.

• Sie muss antibürokratisch sein, d.h. sie darf sich we-der von den Parteiappara-ten noch von der Gewerk-schaftsbürokratie verein-nahmen lassen.

• Sie muss offen sein gegen-über neuen Kämpfen, aus denen neue Erfahrungen und Forderungen entste-hen.

• Sie muss gegenüber allen Teilen der sozialen Bewe-gung, den Gewerkschaften

und der gesamten Linken eine Politik der Aktions-einheit bzw. Einheitsfront betreiben.

• Sie muss sich demokra-tisch aufbauen, d.h. ihre Mitglieder und Repräsen-tantInnen müssen Aktivis-tInnen aus sozialen Basis-gruppen und von ihnen de-legiert sein.

Das sind für uns Kernpunkte zum Aufbau und zur Ent-wicklung einer außerpar-lamentarischen Oppositi-on. Aus welchen konkreten Komponenten diese zukünf-tig bestehen wird, ist heu-te im Einzelnen nicht abseh-bar. Dies kann nur die Praxis zeigen.

uNSERE TAKTIK GE-GENüBER DER LINKS-PARTEI

WASG und L-PDS sind anti-neoliberale, keine „anti-ka-pitalistischen“ Parteien. Ein grundlegender Widerspruch besteht zwischen anti-neo-liberalem Anspruch und der Beteiligung der L-PDS an neoliberalen Landesregie-rungen. Das Ziel, in bürger-liche Regierungen zu ge-langen, und das Mittel, den Schwerpunkt auf parlamenta-rische Tätigkeit und Wahlen zu legen, prägen den Cha-rakter reformistischer Par-teien (ähnlich PT in Brasi-lien und PRC in Italien), die sich von revolutionären Or-ganisationen ja gerade in ih-rem Staatsverständnis unter-scheiden.

Darüber hinaus ist es je-doch nicht unwichtig, auf welchen inhaltlichen Grund-lagen sich die Linkspartei vereinigen wird. Stellt sie sich auf den Boden des „de-mokratischen Sozialismus“, wird es eine reformistisch-sozialistische Partei sein, die ihre Vision eines ande-ren Gesellschaftssystems tausendfach verbreitet und

damit auch politisches Be-wusstsein schafft. Ähnliches würde für einen „Anti-Ka-pitalismus“ oder die Pro-paganda für einen General-streik gelten. Eine Linkspar-tei mit sozialistischer Visi-on hätte Doppelcharakter, wo wir an bestimmte pro-gressive Elemente anknüp-fen könnten.

Wir teilen auch einige Einzelkritiken von WASG und L-PDS an der Gesund-heitsreform, der Ausdehnung des Niedriglohnsektors, der Rentenreform, des Optimie-rungsgesetzes, der Födera-lismusreform etc. Wir stellen jedoch fest, dass ihre Forde-rungen meist nicht über die der Gewerkschaftsbürokratie hinausgehen. Eine Einord-nung der Reformen der Bun-desregierung in die Realität des Klassengegensatzes von Lohnarbeit und Kapital wird heute nur von der DKP, der MLPD und manchen trotzki-stischen Organisationen vor-genommen. WASG und L-PDS antworten auf die An-griffe des Kapitals mit Klas-senzusammenarbeit (z.B. Mitbestimmung, Bedauern der Verschärfung der sozi-alen Gegensätze) nicht mit dem Aufruf, dem Klassen-kampf von oben den Klas-senkampf von unten entge-genzusetzen.

Wie ist die Offensive des Kapitals zurückzuschlagen? Dies ist nicht über die Par-lamente, sondern nur durch den Kampf in den Betrie-ben und auf der Straße mög-lich. Das verstehen wir unter dem Aufbau einer außerpar-lamentarischen Opposition. Dazu bedarf es einer brei-ten Einheitsfront von „Lohn-abhängigen“, Erwerbslosen und Ausgegrenzten.

Um die soziale Bewe-gung aufzubauen, müs-sen parlamentaristische, ge-werkschaftsbürokratische, abstentionistische (Konzen-tration auf den Entrismus

in der WASG) und sektiere-rische (Aufbau einer partei-mäßigen sozialen Bewegung/MLPD-Montagsdemos) Wi-derstände überwunden wer-den. Dabei steht, wie die De-mo vom 3.6. zeigte, z.B. die WASG weniger unter dem Druck ihres linken Flügels als unter dem ihrer sozialen Basis. Die Hindernisse, die der Gewerkschaftsapparat einer dauerhaften Kampf-ansage an die Offensive des Kapitals und der Regierung entgegensetzt, können nur durch den Aufbau einer Ge-werkschaftslinken überwun-den werden.

Bei unserer Taktik gegen-über WASG und L-PDS geht es also nicht einfach darum, den Widerspruch zwischen Anspruch und „Realität“, zwischen Basis und Führung aufzuzeigen und zu verschär-fen. An der Basis von WASG und PDS gibt es sehr wohl Aktive, die außerparlamenta-risch arbeiten. Bei der Größe dieser Organisationen sind das sicherlich mehr Men-schen, als in allen revolutio-nären Organisationen zusam-mengenommen. Aber diese Aktiven sind in der Minder-heit. Die Mehrheit der Ba-sis ist völlig parlamentarisch ausgerichtet und je höher die Parteihierarchie, umso erdrü-ckender wiegt das Gewicht der parlamentarischen Ori-entierung. Außerdem gibt es noch diejenigen Basis-aktiven, die getreu ihrer ge-werkschaftsloyalen Ausrich-tung offen für Aktionen sind, wenn der Gewerkschafts-apparat ruft – aber auch nur dann.

Wie die L-PDS vom Parteiapparat, so wird die WASG von einem Teil des linken Flügels der Gewerk-schaftsbürokratie beherrscht. Diese Hauptamtlichen stül-pen die „Demokratie“, die in den Gewerkschaften für die rechtesten und neoliberalsten Elemente, aber oft nicht für die klassenkämpferische Lin-

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ke gilt, auf die WASG über. Diese Riege kann nicht den Konflikt mit dem zentralen Gewerkschaftsapparat füh-ren, weil sie selbst Teil des Apparates ist.

Einige der bisherigen „SprecherInnen“ der sozi-alen Bewegung arbeiten eng-stens mit dem linken Flügel der Gewerkschaftsbürokratie zusammen. Dort, wo die Ge-werkschaftsbürokratie ein-schließlich der „Linken“ wie Schmitthenner bremst (öf-fentlich gegen den 3.6.!), tra-gen diese „SprecherInnen“ die Politik der Bürokratie in die soziale Bewegung hi-nein. Umgekehrt gibt es aber auch neue Kreise der sozialen Bewegung, von denen eini-ge ihre Mitgliedschaft in der WASG betonen, aber die die außerparlamentarischen Auf-gaben an die erste Stelle set-zen. Hinzu kommt, dass die Bündnisse – bisher jedenfalls – nicht über eine Demons-tration hinaus reichten. Dies

scheint mit dem Bündnis 3.6. anders zu werden.

Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass wir unse-re Methode der Aktionsein-heit und der Kritik gegenü-ber WASG und L-PDS nur an den wenigen Orten in der BRD, wo wir interventionsfä-hig sind, anwenden können.

Der RSB sollte gegenüber dem linken Flügel der Links-partei, der sich gerade stark differenziert, die Notwendig-keit des Aufbaus einer APO, der sozialen Bewegung und der Gewerkschaftslinken be-tonen. Nur wenn wir bei den Linken der Linkspartei über-haupt als unabhängige Orga-nisation bekannt sind, kön-nen auch Einzelne, die sich von der WASG / Linkspartei entfernen, zu uns finden.

uNSERE FORDERuNGEN

Die Debatte über die Not-wendigkeit des Aufbaus ei-

ner außerparlamentarischen Opposition zieht ihre Kreise. Einige gewerkschaftliche Äußerungen nehmen darauf positiv Bezug, andere lehnen Aktionen ab, weil sie „keine außerparlamentarische Op-position sein wollen“. Auch innerhalb der sozialistischen Linken wird die Parole einer neuen APO aufgenommen.

Der RSB hatte einige Forderungen aufgestellt, die auf die dringendsten Pro-bleme der ArbeiterInnen-klasse antworten sollen. Sie lauten: Verbot von Ent-lassungen! Enteignung von profitablen Betrieben, die Arbeitsplätze abbauen! Of-fenlegung von Firmenkon-ten und Geschäftsbüchern! Arbeitszeitverkürzung bis alle Arbeit haben! Minde-steinkommen 1500 Euro brutto! Alle Zumutbarkeits-regelungen streichen! Glei-che Rechte für alle!

In der Regel entstehen Sofort- und Übergangsfor-

derungen nicht am Bürotisch oder an der Werkbank, son-dern müssen „von außen“, d.h. von den revolutionären MarxistInnen, aber auch von nicht-revolutionären Kräf-ten in die Betriebe, die Ge-werkschaften und die sozi-ale Bewegung hineingetra-gen werden. Mittlerweile hat die Gewerkschaft Verdi – angestoßen durch Debat-ten aus Frankreich – posi-tiv Bezug auf ein Verbot von Entlassungen genommen und bringt die Forderung in Tarifverhandlungen ein.

Unsere Forderungen sind die inhaltliche Stoßrichtung, auf deren Grundlage wir ei-ne außerparlamentarische Opposition aufbauen wol-len, die die Offensive des Kapitals bricht.

L. T.: Es gab keine Stimmen von der Mitte, zugegeben. Aber die Schiffe lau-fen trotzdem aus und Enduring Freedom geht weiter.

G. M.: Dies ist in der Tat das We-sentliche. Chiti hat uns versichert, dass ein Umdenken in der Regierungspoli-tik stattfindet, was die Militärmandate anlangt. In sechs Monaten werden wir Kriegsgegner die Gelegenheit haben, den Wahrheitsgehalt dieses Verspre-chens zu überprüfen.

L. T.: Erlauben Sie. Aber in sechs Monaten werden Sie um so eher zustim-men, da Sie schon diesmal zugestimmt haben.

G. M.: Und warum? Wir haben kei-nen Blankoscheck ausgestellt. Auch gegenüber den Wählern, die uns unter dem Eindruck einer Hetzkampagne ge-gen uns gefragt haben, ob wir nicht zu maximalistisch seien und ob es nicht vonnöten sei, der Regierung etwas Zeit zu geben und ob es nicht übertrieben sei, eine Krise wegen einer außenpolitischen Frage zu provozieren … gegenüber die-sen Wählern werden wir im Dezember bessere Argumente haben, da wir sagen können: Wir hatten ein Umschwenken gefordert und die dafür erforderliche Zeit zugestanden.

L. T.: Also im Dezember werden Sie, wenn die Dinge so bleiben, bereit sein, in der Vertrauensfrage mit Nein zu stim-men? Das glaube ich Ihnen nicht.

G.M. Das ist schlecht. Im Gegenteil, ich sage Ihnen, dass wir nicht einmal bis Dezember warten müssen: Was mich angeht bin ich nicht bereit, die neolibe-ralen Manöver von Padoa-Schioppa10

hinzunehmen. Die Basis kämpft gegen den Krieg und gegen den Neoliberalis-mus.

L. T.: Was ist das aber dann für ein Vertrauen?

G. M.: Ein Vertrauen auf Zeit, mit Verfallsdatum quasi, abhängig davon, ob sich die Dinge ändern. Wenn nicht, werden wir das nächste Mal mit Nein stimmen.

10 Tommaso Padoa-Schioppa ist seit dem 20. April 2006 Wirtschaftsminister der Regie-rung Prodi. Zuvor war er Mitglied des Ver-waltungsrats der EZB. Er schickt sich an, den Staatshaushalt nach ultraliberaler Weise umzustrukturieren. Dazu erklärte er: „Regie-rung und Parlament sind für den öffentlichen Haushalt verantwortlich; Abstimmungen sind zwar wichtig, können aber die Regie-rungsaktivitäten nur ergänzen, weil letztlich die Exekutive entscheiden muss“. (La Re-pubblica vom 3. September 2006)

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I.Existenzangst, Perspek-

tivlosigkeit für die jüngere Generation, Erfahrungen mit Ausgrenzung legen sich seit der Einführung der Agenda 2010 und seit der Generalof-fensive auf die Arbeitsplät-ze bei den Großkonzernen der Automobilindustrie, Che-mie, Telekommunikation und Bahn wie Mehltau auf die Ge-sellschaft. Die meisten Men-schen erkennen keinen Aus-weg, und das generiert Ge-walt – gegen die eigene Per-son ebenso wie gegen die Fa-milie – und warum sollte Ge-walt im politischen Bereich davon ausgespart bleiben?

Die Illusionen über die se-genstiftenden Wirkungen des Egoismus als gesellschaft-licher Motor sind längst ver-flogen: Die schamlose Selbst-bereicherung der Oberschicht wird längst als unmoralisch empfunden, der Widerspruch zwischen dem Höhenflug der Profite und der anhaltenden Auspressung und Plünderung der Arbeitskraft und kleinen Vermögen der lohnarbeiten-den Mittelschicht führt das Argument des ökonomischen Sachzwangs längst ad absur-dum. Das neoliberale Regime ist in breiten Bevölkerungs-schichten diskreditiert und reif für den Abschuss.

Dass dieser nicht schon längst gekommen ist, liegt nicht an der Stärke des neo-liberalen Kapitalismus-Mo-dells, sondern an der Zerris-senheit und Orientierungslo-sigkeit seiner Gegner. Heute ist die Stimmung in manchen Teilen der Bevölkerung radi-kaler als die Linke – die sich antikapitalistisch nennende Linke eingeschlossen.

Tatsächlich fehlt auf der Linken eine breite, gesell-schaftlich verankerte und an-erkannte politische Kraft, die – ohne abstrakte Parolen zu schwingen – eine kompro-misslose Opposition gegen den Kapitalismus betreibt, Strukturen der Solidarität und der Gegenmacht aufbaut und eine gesellschaftliche Alter-native in einer Konkretheit propagiert, die für die große Mehrheit der Bevölkerung verständlich und nachvoll-ziehbar ist.

Das Potential für eine lin-ke Alternative ist weiter hoch – weit höher als die derzei-tigen politischen Ergebnisse für die Parteien links von SPD und Grünen. Doch es bleibt weitgehend ungenutzt – was man daran erkennt, dass der Anteil der Nicht-wählerInnen nicht hat verrin-gert werden können. Im Ge-genteil: In Berlin haben die Wählerinnen und Wähler der Linkspartei.PDS bei den letz-ten Abgeordnetenhauswahlen scharenweise den Rücken ge-kehrt. Der politische Parteibi-ldungsprozess von Linkspar-tei.PDS (L.PDS) und Wahl-alternative Arbeit und sozi-ale Gerechtigkeit (WASG) – nach den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen mit so zahlreichen Hoffnungen ver-bunden – stagniert; der an-fängliche Schwung ist dahin, die Begeisterung für eine neue starke anti-neoliberale und antikapitalistische Linke ist in einem bürokratischen Fusionsverfahren steckenge-blieben, an dem die Mehr-zahl der Mitglieder nicht be-teiligt ist. Schon fragen sich viele, ob sich das Projekt noch lohnt.

II.Den Versuch, die mit der

die Agenda 2010 eingeleite-te Abkehr vom bundesdeut-schen Sozialstaat und die fehl-geschlagene soziale Mobili-sierung gegen die Hartz-Ge-setze mit der Formierung einer auch im Westen anerkannten Wahlalternative links von der SPD zu beantworten, wird man abschließend erst bilan-zieren können, wenn die Fu-sion vollzogen ist. Bis dahin gibt es noch viele Unwägbar-keiten, vor allem auf Seiten der WASG. Es kann hier al-so nur eine erste Zwischenbi-lanz versucht werden. Ihr Ziel ist, Kriterien für eine antikapi-talistische Parteibildung zu ge-winnen, um Ziel und Weg bes-ser definieren zu können.

Die radikale Linke ist von der Bildung der Wahl-alternative vor drei Jahren ziemlich überrascht worden. Ihr Hauptaugenmerk richte-te sich damals auf die sozi-ale Gegenwehr und die Aus-einandersetzung mit den Ge-werkschaften. Die Abkehr vom ewigen Schulterschluss mit der SPD – damals lief das Wort vom politischen Partner um, der abhanden gekommen sei – war Ausdruck einer Ra-dikalisierung eines Teils der unteren und mittleren gewerk-schaftlichen Funktionsträge-rInnen in ver.di und IG Me-tall und Ergebnis der Mobili-sierungen gegen die Agenda 2010. Diese Radikalisierung schlug sich jedoch im Bestre-ben nieder, eine parteipoli-tische Alternative zu suchen – nicht in einer drängenden Kritik gegenüber der DGB-Spitze, die nach der Demons-tration vom 3. April 2004 die Proteste einstellte. Die Chan-

ce, dass man mit einer brei-ten gewerkschaftlichen Mo-bilisierung die Hartz-Gesetze hätte verhindern können – das Echo auf die Montagsdemon-strationen hat es bewiesen –, wurde nicht zum Gegenstand innergewerkschaftlicher De-batten und Auseinanderset-zungen über den Kurs der Ge-werkschaften gemacht.

Vor diesem Hintergrund war die Vorbereitung einer neuen Partei einerseits ein Fortschritt in der Parteienland-schaft, weil erstmals seit lan-ger Zeit wieder ein Bruch von Teilen der Gewerkschaften mit der Sozialdemokratie vollzo-gen wurde. Sie war aber auch ein Kneifen vor der Front, an der der Kampf zu gewinnen gewesen wäre: der gewerk-schaftlichen. Die neue Partei war ausdrücklich als „Wahl-alternative“ geplant, als par-lamentarisches Projekt und als Projekt der Wiederherstel-lung der alten Sozialdemokra-tie mit ihrer auf Reform des Kapitalismus gerichteten Poli-tik und ihrem sozialstaatlichen Gesellschaftsmodell.

Die Wahlalternative war deshalb von vornherein mit schwerwiegenden Geburts-fehlern behaftet: Verengung auf die parlamentarische Prä-senz, Ignorierung des Zusam-menhangs zwischen parla-mentarischen und außerparla-mentarischen/gewerkschaft-lichen Entwicklungen, rück-wärtsgewandte Vision einer Neuauflage der Sozialdemo-kratie aus einer Zeit, wo es für Reformen (gleich reale Ver-besserungen zugunsten der abhängig Beschäftigten und anderer „kleiner Leute“) eine materielle Basis gab. Dies hat dem Projekt eine politische

Zum Stand der ParteifusionEine Kurskorrektur ist dringend nötig

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Ausrichtung gegeben, die in Widerspruch geriet zu einem Teil ihrer sozialen Basis. Ge-werkschafterInnen und ALG-II-Beziehende eint zwar ein gemeinsames Grundanliegen, in Bezug auf das was sie mit der Partei wollen und wie sie sie haben wollen, sie verfol-gen jedoch unterschiedliche und teilweise konträre Orien-tierungen.

Viele Monate hindurch entwickelte sich die WASG, getragen vom Schub der Anti-Hartz-Proteste und unterstützt von den Kräften der radikalen Linken, die sich an dem Pro-jekt beteiligen, nach links, in eine Richtung, die einigen der InitiatorInnen nicht passte. Die Orientierung auf die Fu-sion mit der Partei des Demo-kratischen Sozialismus (PDS) gab der WASG auf der einen Seite die organisationspoli-tische Perspektive, eine klei-ne Massenpartei zu werden, was einen enormen Zuwachs an wahlpolitischer und mit-gliedermäßiger Zustimmung zur WASG im Westen brach-te und ihre Linksentwicklung zunächst verstärkte.

Auf der anderen Seite kam damit eine neue, konser-vative Dynamik auf: nämlich die Anpassung an eine um ein Vielfaches größere Partei, die ihren Prozess der Bürokrati-sierung und Anpassung an die bestehenden Verhältnisse be-reits hinter sich gebracht hat. Die Führung der WASG ging in die Fusionsgespräche, oh-ne ein eigenes radikales und antibürokratisches Profil ent-wickelt zu haben. Die WASG riskiert deshalb, in dem Fusi-onsprozess ihre ursprüngliche politische Identität, den poli-tischen Grund für ihre Grün-dung, zu verlieren – das wür-de bedeuten, dass dieser An-lauf für eine neue anti-neoli-berale und antikapitalistische Oppositionspartei im Sande verläuft. Dem kann nur da-durch ein Riegel vorgescho-ben werden, dass die poli-tische Auseinandersetzung

mit dem Flügel der PDS, der Privatisierung und Sozial-abbau befürwortet und mit vorantreibt, offensiv gesucht wird mit dem Ziel, die ver-krusteten Verhältnisse in der PDS aufzubrechen und in die-ser Partei einen anderen Kurs durchzusetzen. Ob dies ge-lingt, ist durchaus fraglich.

Für die Reformlinke in der PDS war die Aufforde-rung von Oskar Lafontaine, die beiden Parteien sollten sich zusammenschließen, die lang ersehnte Chance, end-lich „PDS+“ zu realisieren – die Westausdehnung der be-stehenden PDS mit Hilfe ab-gespaltener linker Sozial-demokratInnen. Die radika-le Linke war in diesem Sze-nario nie vorgesehen und nur ein Störfaktor. Ein solcher ist aber auch das Hereinschwap-pen von Aktiven aus sozialen Bewegungen in den Parteibil-dungsprozess. Damit hat je-der neue Parteibildungspro-zess zu rechnen, der sich aus einer gesellschaftspolitischen Radikalisierung speist. Die Anforderungen von Bewe-gungen an Parteien geraten in Konflikt mit der behäbigen Routine eingesessener Par-teiapparate, die weitaus kon-servativer sind. Wenn Bewe-gungen deshalb daran schei-tern, sich einen adäquaten po-litischen Ausdruck zu ver-schaffen, können auch Partei-apparate daran scheitern, sich mit Hilfe einer „Frischluftzu-fuhr“ ihr Überleben als Wahl-partei zu sichern. In diesem Sinne steht es durchaus nicht fest, ob das Projekt PDS+ Er-folg haben wird – selbst dann nicht, wenn die Vereinigung beider Parteien nach den Re-geln vollzogen wird, die die gemeinsame Steuerungsgrup-pe vorgegeben hat.

Das Fusionsprojekt bleibt deshalb instabil, obwohl sich die Tendenz durchgesetzt hat, das Projekt von oben gesteu-ert und ohne aktive Beteili-gung der Mitglieder zu be-treiben. Die PDS ist mit ihrer

Fortsetzung der Regierungs-koalition in Berlin eine Belas-tung für die gemeinsame Per-spektive einer neuen anti-neo-liberalen Oppositionspartei.

Die Auseinandersetzung der Berliner WASG mit dem politischen Kurs der Berliner L.PDS ist keine regionale Ma-rotte. Es ist der zugespitzteste Ausdruck einer allgemeinen Auseinandersetzung, die in-nerhalb und zwischen den bei-den Parteien zu führen ist. Es ist deshalb kontraproduktiv, die Berliner WASG mit ihrem Streit allein zu lassen oder sich gar von ihr zu distanzieren mit dem Hinweis, der Rest der Re-publik sei noch nicht so weit. Im Gegenteil, es müssen Wege gefunden werden, trotz einer starken Ungleichzeitigkeit der politischen Radikalisierung an einem Strang zu ziehen.

Für die Frage, ob die Linkspartei.PDS eher im La-ger der Opposition gegen den Neoliberalismus oder eher im Lager des neoliberalen Kon-senses steht, wird die Frage der Privatisierung der Berliner Sparkasse von zentraler Be-deutung sein. Hier scheint der Senat eine ähnliche Vorrei-terrolle einnehmen zu wollen wie beim Austritt aus dem Ar-beitgeberverband und bei der Aufhebung der Ladenschluss-zeiten. Die Privatisierung der Sparkasse in Berlin aber wäre ein weiterer Präzedenzfall für den Rest der Republik. Der bundesweiten Mobilisierung gegen dieses Projekt kommt deshalb eine zentrale Bedeu-tung zu. Der Druck auf die L.PDS muss an dieser Stelle deutlich erhöht werden – es reicht nicht, dass die WASG von ihrer höchsten Stelle, nämlich dem Bundespartei-tag aus, ihre Ablehnung deut-lich gemacht hat. Die Ignorie-rung ihrer Position durch die L.PDS muss Konsequenzen haben – sonst ist die neue Par-tei als emanzipatorisches Pro-jekt gescheitert.

Dass den Mitgliedern die neue Partei bereits wieder aus

der Hand genommen ist, hat viele frustriert. Viele, die be-reit wären, an dem Projekt mitzuarbeiten, sehen sich in der neuen Partei am falschen Platz. Die fusionierte Partei wird die notwendige Anzie-hungskraft in verschiedene Milieus hinein nicht mehr ha-ben. Die Hartz-IV-erInnen sind die ersten, die die Segel streichen; aber die Gewerk-schaftsaktivistInnen werden folgen, sobald sie erkennen, dass die neue Partei nicht die Einbrüche in das Spektrum der NichtwählerInnen erzielt, die notwendig sind, um dem Vormarsch der Rechten ei-nen Riegel vorzuschieben. Es muss deshalb eine poli-tische Kurskorrektur in Be-zug auf die Formierung der neuen Partei geben. Die anti-kapitalistischen Kräfte inner-halb der WASG müssen ge-stärkt und ihre Zusammenar-beit mit linken Kräften und Bewegungen außerhalb der Partei intensiviert werden.

III.Weder die programma-

tischen Eckpunkte noch der vorgelegte Satzungsentwurf bilden eine geeignete Grund-lage für eine Partei, die die herrschenden Verhältnisse he-rausfordern will. Diese Doku-mente beschreiben eine Par-tei, die sich im bestehenden politischen System der BRD einrichtet und – eher erfolg-los – versucht, die zuneh-mende Heerschar der Nicht-wählerInnen durch etwas lin-kere Rhetorik an sich zu bin-den. Diese Partei begreift sich nicht als Teil eines sozialen Widerstands gegen die Große Koalition, sie denkt mehrheit-lich in den Kategorien der ge-gebenen Institutionen und der Sachzwänge, die von ih-nen ausgehen. Deshalb hat sie auch mit der Beteiligung an Regierungen, die liberale Po-litik betreiben, kein grundle-gendes Problem.

Der tiefe Graben zwi-schen den „VerliererInnen“

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der kapitalistischen Globali-sierungsoffensive und einem glaubwürdigen linken poli-tischen Projekt lässt sich mit solch einem Ansatz nicht überwinden.

Es ist deshalb notwendig, die Fusion auf eine Grundla-ge zu stellen, die eine kom-promisslose Ablehnung neo-liberaler Positionen beinhal-tet. Wir brauchen eine Partei, die für antikapitalistische und antibürokratische Positionen streitet.

Als revolutionäre Marxi-stInnen treten wir dafür ein, dass die neue Partei sich für die Schaffung einer sozialis-tischen Gesellschaft einsetzt. Etiketten wie „antikapitali-stisch“, „sozialistisch“, „radi-kal“ und andere beantworten nicht von sich aus die Frage,

welches inhaltliche und orga-nisatorische Profil die Partei, die wir brauchen, haben sollte. Dafür wollen wir streiten:

* Pluralismus: In der Par-tei muss das Recht auf Strö-mungsbildung selbstver-ständlich sein und darf nicht als „Fraktionsmacherei“ dif-famiert werden. Jede Strö-mung muss eine reale Chan-ce haben, Mehrheiten für sich zu gewinnen. Bei alledem hat die aktive Außenwendung Priorität vor dem innerpartei-lichen Streit.

* Aktivismus: Es muss eine Partei von Aktiven sein. Nur Mitglieder, die sich sel-ber ein Bild machen von den Kontroversen, die es zu be-urteilen, und den Entschei-dungen, die es zu fällen gilt, können ihre Parteifüh-rung kontrollieren. Die Par-

tei muss so geführt werden, dass sie allen Mitgliedern die aktive Teilnahme ermög-licht.

* Sozialer Widerstand: Die Partei muss den sozialen Widerstand gegen die herr-schenden Verhältnisse in jeder Beziehung und ohne diesen zu instrumentalisieren unter-stützen. Sie muss Strukturen der gesellschaftlichen Soli-darität und der Gegenmacht befördern. Sie muss darüber hinaus den sozialen Bewe-gungen ein Angebot machen, wie sie ihren Abwehrkampf und Alltagswiderstand mit der Programmatik für eine andere Gesellschaft verbin-den können.

* Identität: Sie muss die Diskussion über Alterna-tiven zum Kapitalismus un-ter Einschluss der Lehren,

die aus dem gescheiterten Modell des angeblich „re-alen“ Sozialismus zu ziehen sind, offen mit breiten Tei-len der Gesellschaft führen und damit ihre eigene Iden-tität als Systemalternative stärken, aber auch das Ver-trauen der Bevölkerung in deren Machbarkeit.

* Institutionen: Die Par-tei nutzt die bestehenden In-stitutionen, um die oben ge-nannten Ziele zu befördern. Die Arbeit in ihnen ist kein Selbstzweck.

* Demokratie: Die Partei beginnt, den Grundsatz der breitestmöglichen Partizipa-tion an politischen Prozessen bei sich selbst zu verwirkli-chen, insbesondere durch:– die Trennung von Amt und

Mandat;– die Trennung von Dele-

Dario Azzellini Venezuela bolivariana Revolution des 21. Jahrhunderts? 320 Seiten, ca. 19,80

Kaum ein anderes internationales Thema wird so kontrovers diskutiert wie Vene-

zuela: Ist Hugo Chavez ein Populist oder ein Revolutionär? Abkehr vom Neolibera-

lismus oder Modernisierung? Tiefgreifende Veränderung oder bloß erdölfinanzierte

Sozialprogramme? Dario Azzellini beschreibt und analysiert in Venezuela Boliva-

riana die ersten sieben Jahre des mit der Wahl von Chavez zum Präsidenten einge-

leiteten Transformationsprozesses. Der Autor legt die gesellschaftlichen Reformen

dar und widmet sich den Basisbewegungen. Er geht auf die Entwicklung Venezuelas

seit 1958 ein, die schließlich in der Wahl von Chävez mündete. Die wichtigsten Etap-

pen der vergangenen Jahre, der verfassungsgeben de Prozess, der Putsch, der Unter-

nehmerstreik, das Abwahlreferendum und die Wahlen werden ebenso behandelt wie

die Gewerkschaften und Kämpfe um Selbstverwaltung in Betrieben, die Bauernbe-

wegungen und die Landfrage, Rassismus, Medien, Frauenpolitik, Umweltpolitik und

die indigenen Rechte. Die Untersuchung der ökonomischen Entwicklung und der

Versuche, die Wirtschaftsstruktur zu verändern, sowie der internationalen Politik Ve-

nezuelas und der Destabilisierungspolitik der USA runden das Bild ab. Durch die Mi-

schung aus Reportagen, Interviews und vertiefenden Texten entsteht ein fundierter,

wie auch lebendiger Eindruck der Veränderungen in Venezuela. Ein wichtiger Beitrag

gegen die vorherrschende Desinformation.

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Leo Kofler Perspektiven des revolutionären Humanismus Hrsg. von der Leo-Kofler-Gesellschaft 176 S., Br., € 17,80 978-3-89900-125-9

Leo Kofler ist eine der markantesten Gestalten des deutschen Nachkriegsmarxis-

mus und verstand sich Mittler zwischen alter Arbeiterbewegung und Neuer Linker.

Im mythisch besetzten Jahr 1968 plädiert Kofler in diesem Klassiker linker Gesell-

schaftstheorie für einen revolutionären Humanismus, der an den Idealen von Frei-

heit, Gleichheit und Solidarität anknüpft und diese sowohl gegen die bürgerliche Re-

alität seiner Zeit wie gegen den Sozialismus stalinistischer Provenienz wendet. Er

kritisiert das spätbürgerliche Verständnis von Freiheit und untersucht die Widersprü-

che und Fallstricke des sozialstaatlichen Konsumkapitalismus. Der Zustand schein-

barer Entideologisierung erweist sich ihm dabei als Faktor totaler Ideologisierung,

der individuelle Rationalismus als Begleiterscheinung kollektiver Irrationalität, die

Demokratie des Marktes als Verschleierung der Despotie von Fabrik und Büro.

Leo Kofler (1907-1995) Soziologe und Philosoph. Geboren in Ostgalizien, auf-

gewachsen im,, Roten Wien“ der Zwischenkriegszeit und während Faschismus und

Krieg in der Schweiz interniert, wird Kofler 1947 an die Universität Halle berufen.

Ende 1950 flieht der Bürokratiekritiker in die BRD. Als ,,heimatloser Linker“ wird

der an Max Adler und Georg Lukacs geschulte marxistische Einzelgänger Kofler zu

einem wichtigen Vermittler von alter Arbeiterbewegung und Neuer Linker.

giertenamt und Parteifunk-tionen auf den jeweiligen Ebenen;

– die Begrenzung der Dauer von Amts- und Mandatspe-rioden;

– die Öffnung der Partei-strukturen für anerkannte AktivistInnen aus Bewe-gungen.* Andere Art, Politik zu

machen: Eine andere Politik als die etablierte muss mit ei-ner Art, Politik zu entwickeln und zu praktizieren, als der etablierten Hand in Hand ge-hen; dies muss in der Praxis laufend unter Beweis gestellt werden. Weder Geld noch „Promis“ noch Apparatschiks dürfen den politischen Kurs bestimmen. Die Repräsentan-tInnen einer alternativen Po-litik und wirklich neuen Lin-ken mit Mandaten in parla-

mentarischen Gremien und in Parteiämtern sollten Aufmüp-figkeit an den Tag legen und sich Garantien geben, dass sie nicht dem Druck der Instituti-onen, der Massenmedien und materieller oder moralischer Korruption unterliegen. Wäh-rend die Partei ein enges, kei-nesfalls instrumentelles Ver-hältnis zu den sozialen Bewe-gungen und ihren Strukturen anstrebt, respektiert sie deren Unabhängigkeit.

* Internationalismus: Die Partei beteiligt sich am Heraus-bildungsprozess einer europä-ischen anti-neoliberalen und antikapitalistischen Alternati-ve und anderen internationa-len Zusammenschlüssen mit dieser Orientierung.

* Programmatik: Grund-lage der Partei ist ein Kern-bestand von Forderungen, der

unumstößlich zu ihrer Identi-tät gehört:– Ablehnung aller imperia-

listischen Rüstungsvorha-ben und Militäreinsätze, Ablehnung einer EU-Ar-mee und der NATO;

– Ablehnung von Kolonia-lismus und Imperialismus;

– kompromisslose Verteidi-gung der sozialen Rechte und gleiche Bürgerrechte für alle Menschen, die in Deutschland leben; inter-nationale Organisierung zur Durchsetzung globaler sozialer Rechte;

– kompromisslose Vertei-digung der öffentlichen Dienste und des öffent-lichen Eigentums an Land, Bodenschätzen, Infrastruk-tur jeder Art, Kulturgü-tern...;

– radikale Arbeitszeitverkür-

zung als strategischer He-bel zur Realisierung einer anderen Gesellschaft, die demokratisch, ökologisch und sozial ist: Umvertei-lung der Arbeit, Beseiti-gung der Arbeitslosigkeit; Zeit für alle, an politischen Entscheidungen teilzuneh-men; partizipative Demo-kratie und Abschaffung des Berufspolitikertums; materielle Absicherung für jede und jeden (Grundsi-cherung); hohe Qualifika-tion für alle und demokra-tische Verfahren im Um-gang mit der Wissenschaft und bei der Produktivkraf-tentwicklung.

Am 26.11.2006 beschlossen auf der Bundesmitgliederversamm-lung der internationalen sozialis-tischen linken (isl)

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dieinternationale

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Das Abonnement (außer Geschenk-abo) verlängert sich automatisch um ein Jahr, wenn es nicht vier Wochen vor Ablauf schriftlich gekündigt wird.

L. T.: Es gab keine Stimmen von der Mitte, zugegeben. Aber die Schiffe lau-fen trotzdem aus und Enduring Freedom geht weiter.

G. M.: Dies ist in der Tat das We-sentliche. Chiti hat uns versichert, dass ein Umdenken in der Regierungspoli-tik stattfindet, was die Militärmandate anlangt. In sechs Monaten werden wir Kriegsgegner die Gelegenheit haben, den Wahrheitsgehalt dieses Verspre-chens zu überprüfen.

L. T.: Erlauben Sie. Aber in sechs Monaten werden Sie um so eher zustim-men, da Sie schon diesmal zugestimmt haben.

G. M.: Und warum? Wir haben kei-nen Blankoscheck ausgestellt. Auch gegenüber den Wählern, die uns unter dem Eindruck einer Hetzkampagne ge-gen uns gefragt haben, ob wir nicht zu maximalistisch seien und ob es nicht vonnöten sei, der Regierung etwas Zeit zu geben und ob es nicht übertrieben sei, eine Krise wegen einer außenpolitischen Frage zu provozieren … gegenüber die-sen Wählern werden wir im Dezember bessere Argumente haben, da wir sagen können: Wir hatten ein Umschwenken gefordert und die dafür erforderliche Zeit zugestanden.

L. T.: Also im Dezember werden Sie, wenn die Dinge so bleiben, bereit sein, in der Vertrauensfrage mit Nein zu stim-men? Das glaube ich Ihnen nicht.

G.M. Das ist schlecht. Im Gegenteil, ich sage Ihnen, dass wir nicht einmal bis Dezember warten müssen: Was mich angeht bin ich nicht bereit, die neolibe-ralen Manöver von Padoa-Schioppa10

hinzunehmen. Die Basis kämpft gegen den Krieg und gegen den Neoliberalis-mus.

L. T.: Was ist das aber dann für ein Vertrauen?

G. M.: Ein Vertrauen auf Zeit, mit Verfallsdatum quasi, abhängig davon, ob sich die Dinge ändern. Wenn nicht, werden wir das nächste Mal mit Nein stimmen.

10 Tommaso Padoa-Schioppa ist seit dem 20. April 2006 Wirtschaftsminister der Regie-rung Prodi. Zuvor war er Mitglied des Ver-waltungsrats der EZB. Er schickt sich an, den Staatshaushalt nach ultraliberaler Weise umzustrukturieren. Dazu erklärte er: „Regie-rung und Parlament sind für den öffentlichen Haushalt verantwortlich; Abstimmungen sind zwar wichtig, können aber die Regie-rungsaktivitäten nur ergänzen, weil letztlich die Exekutive entscheiden muss“. (La Re-pubblica vom 3. September 2006)

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Zeitschrift der Sozialistischen Alternative (SOAL)

…nach 35 Jahren im Internet angekommen:

www.dielinke..at

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onalen Organisationen wie der Wirt-schaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) in Frage ge-stellt. Neue strategische Partner spielen eine wesentliche Rolle bei diesem Fort-schritt, der in erster Linie aus der von Venezuela geleisteten Hilfe resultiert und in zweiter Linie aus chinesischen Investitionen und Finanzierungen. Zu einer Zeit, wo das Barrel Öl 80 Dol-lar erreicht, liefert Carácas ungefähr 100 000 Barrel pro Tag an Kuba zu pri-vilegierten Bedingungen als Gegen-leistung zur Entsendung Tausender ku-banischer Ärzte und einer vielfältigen Kooperation, die u.a. die Modernisie-rung der Krankenhäuser und der wich-tigsten Gesundheitszentren von Vene-zuela vorsieht.

Unter welchen Bedingungen kann dieses kleine Land gegenüber den USA eine dauerhafte und autonome Ent-wicklung aufbauen? Auf diese Frage will die regionale Integration, die Bo-livarianische Amerikanische Allianz (ALBA), die lateinamerikanische Stra-tegie, die bereits Venezuela und Boli-vien umfasst, den Beginn einer Antwort geben. Anlässlich seiner letzten öffent-lichen und symbolischen Reise nach Buenos Aires zum dreißigsten Merco-sur-Gipfel befand sich Fidel Castro an der Seite der Präsidenten von fünf Mit-gliedsländern des gemeinsamen süda-merikanischen Marktes (Argentinien, Brasilien, Uruguay, Paraguay und seit kurzem Venezuela) und der beiden as-soziierten Mitglieder (Chile und Boli-vien). Dies war die Gelegenheit für den kubanischen Führer, ein Abkommen zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit dem Mercosur zu unterzeichnen, das als eines der für Havanna seit vier-zig Jahren bedeutendsten bezeichnet wurde. Im Dezember 2005 hatte Fidel Castro bereits an einem Gipfel des CA-RICOM, des gemeinsamen Marktes der Karibik, teilgenommen, deren Staaten in ihrer Mehrzahl gute Beziehungen zu Havanna unterhalten.

Die lateinamerikanische Einheit steht im Zentrum der Strategie Fidel Castros und seines Verbündeten Hu-go Chávez. Ihr Ziel? Der Aufbau des „großen Vaterlands“, Lateinamerika, und die Entwicklung Kubas in die-sem Rahmen. Die Integration der Re-gion bezüglich der Energieversorgung ist ein Werkzeug von allererster Bedeu-

tung. Tatsächlich verfügen Venezue-la und Bolivien über mehr als 65% der bekannten Kohlenwasserstoffvorräte in Lateinamerika. Der im Juni 2005 un-terzeichnete Plan Petrocaribe erlaubt den Ländern der Karibik, vom venezo-lanischen Kraftstoff zu Vorzugsbedin-gungen zu profitieren.

Was Brasilien betrifft, der ersten Macht Südamerikas, so ist es bestrebt, Kuba in die lateinamerikanische Ge-meinschaft zu reintegrieren. Im Jahr 2004 hatte Brasiliens Außenminister Celso Amorim vorgeschlagen, die In-sel in die Rio-Gruppe aufzunehmen, die aus den Außenministern von 19 Ländern Lateinamerikas besteht.

Die Idee, nach der Lateinamerika das natürliche geopolitische Feld für Kuba darstellt, ist ebenso alt wie die Revolution und war auch mit der Annä-herung an die UdSSR nicht verschwun-den, trotz des entschiedenen Bruchs mit Havanna während dieser Zeit sei-tens aller lateinamerikanischen Regie-rungen mit Ausnahme der von Mexi-ko. Heute macht der von Chávez ver-

körperte bolivarianische Traum die-se Perspektive ein bisschen glaubwür-diger. Aber kann man alles auf Vene-zuela setzen? Abgesehen von den po-litischen Ungewissheiten, die mittelfri-stig auf der Zukunft von Hugo Chávez lasten, stellen sich manche kubanische Ökonomen leise Fragen bezüglich der verfolgten Strategie.

Von Fidel Castro sind Entschei-dungen gefällt worden, die bedeu-tende wirtschaftliche und soziale Kon-sequenzen haben, von denen die auf-einanderfolgenden Kurswechsel jeden Versuch einer langfristigen Planung in Frage stellen. Mit dem Export seiner medizinischen Dienstleistungen (da-runter Zehntausende von Ärzten) nach Venezuela, Bolivien und anderswo ver-wendet Kuba die Qualifikation seiner Arbeitskräfte und scheint sich auf ei-ne Dienstleistungsökonomie zu orien-tieren, um deren Fortdauer es jedoch in dem Maße schlecht bestellt ist, wie jedes Land bestrebt ist, seine eigenen Ärzte und Lehrer auszubilden. Spezi-alisten, die vorgeschlagen hatten, Zu-

Fortsetzung von Seite 20

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ckerderivate zu verwenden, um die Zuckerproduktion vielseitiger zu ge-stalten, kritisieren die Schließung der Hälfte der Zuckerfabriken und den Ver-lust eines historischen Knowhow, wäh-rend der Zuckerpreis wieder steigt. Der Tourismus schreitet voran, aber er er-zeugt unerwünschte Effekte. Die Zu-sammenarbeit mit China auf dem stra-tegischen Gebiet der Biotechnologien und die Annäherung zwischen kuba-nischen und chinesischen Forschungs-zentren scheinen vielversprechend, aber die kubanisch-chinesischen Be-ziehungen kannten stets Höhen und Tiefen. Manche kubanische Führer könnten vom „chinesischen Modell“ in Versuchung geführt werden, aber dieses Modell beinhaltet die Entwicklung so-zialer Widersprüche (Erwerbslosig-keit, Ungleichheit …), die Kuba nicht hinnehmen würde, und vor allem ste-hen die Beziehungen zu den USA da-zu im krassen Gegensatz: einerseits ein wachsender Austausch mit China, an-dererseits die Verstärkung des US-Em-bargos gegen Kuba. Wie auch immer, die Verbesserung des Lebensstandards lässt auf sich warten. Die Verteilung von Schnellkochtöpfen – auf Initiative

von Fidel Castro – erscheint lächerlich angesichts der Bedürfnisse der Bevöl-kerung. Das Eindringen von Sozialar-beitern in die Haushalte, um Elektroge-räte zu kontrollieren, die zuviel Ener-gie verbrauchen, und die alten Glühbir-nen durch bombillos (Sparglühbirnen) zu ersetzen, hat Proteste hervorgeru-fen. Sogar das Gesundheitssystem und die Qualität der immer noch leistungs-fähigen Pflege leiden unter dem Weg-gang zahlreicher Hausärzte ins Aus-land. In den Wohnvierteln hört man oft kritische Bemerkungen zu der den Ve-nezolanern zulasten der einheimischen Bevölkerung geleisteten Hilfe.

EINE NEuE INSTITuTIONELLE LEGALITäT

Wie kann die von Fidel Castro verkör-perte revolutionäre Legitimität zu einer neuen institutionellen Legalität über-gehen, ohne dass die Errungenschaften der Revolution abgebaut werden? Das ist die Herausforderung. Keine Klei-nigkeit für eine kleine Insel, die 200 Kilometer vor der ersten Weltmacht liegt. George Bush hat bereits im Au-

ßenministerium einen „Koordinator“ des kubanischen Übergangs benannt und eine „Kommission für den Über-gang zu einem freien Kuba“ gegrün-det, das die Konturen einer Übergangs-regierung gezeichnet hat und jeden Di-alog mit Raúl Castro ablehnt.

Kein revolutionärer Führer ist so lan-ge an der Macht geblieben, und dies in einem kleinen Land, das von Anfang an militärischen Aggressionen ausgesetzt war und anschließend permanenten öko-nomischen und politischen Schikanen. In Russland wie in China oder in Viet-nam (wir sprechen hier nur von Län-dern, die einen eigenständigen revolu-tionären Prozess erfahren haben) haben die stalinistischen KPs, wenngleich sie bürokratisiert und verknöchert waren, als strukturierte Institutionen funktio-niert. Die Kommunistische Partei Kubas (PCC) hat dagegen seit fast zehn Jahren keinen Parteitag mehr abgehalten. Die Zeitung Granma, Organ des Zentral-komitees, berichtet selten über Zusam-menkünfte oder Beschlüsse des Politbü-ros. Nach einem langen Schweigen fand die letzte Sitzung des Zentralkomitees am 1. Juli 2006 statt. Mitglieder kön-nen durch die Leitung der PCC (deren Abstimmungsverfahren nicht bekannt sind) ausgeschlossen werden, andere nach unterschiedlichen Kriterien („die Eigenschaften, die Erfahrung, der Wer-degang der Genossen“) kooptiert wer-den. Das Sekretariat des Politbüros wur-de 1991 abgeschafft und in diesem Jahr wieder eingeführt. Jüngst wurden meh-rere hohe Funktionäre kaltgestellt und ein Mitglied des Politbüros wurde we-gen „passiver Bestechung“ zu 12 Jahren Haft verurteilt.

Die PCC dient als Verwaltungs-räderwerk und Transmissionsriemen, aber sie ist kein Ort der Debatte. Sie ist seit dem Zusammenbruch der UdS-SR eine Partei ohne wirkliche ideolo-gische Kohärenz. Mit Ausnahme man-cher Sektoren – marginalisierte Intel-lektuelle und Wissenschaftler – sind ih-re Analysen und ihre theoretische Pro-duktion kümmerlich. Die Leitung der PCC führte bislang die vom líder máxi-mo getroffenen Entscheidungen durch. Die Entscheidungszentren sind in den Händen Fidel Castros konzentriert, der das Politbüro übergeht. Wir haben es somit mit einem institutionellen Dua-lismus zu tun, der durch die Existenz verschiedener Instanzen hergestellt wird, wobei die Unterstützergruppe des

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Raúl Castro

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Comandante oft Regierungsbeschlüsse inspiriert. Wenngleich Fidel Castro der erste Sekretär der Partei ist, ist er doch ein freies Elektron, das am Rande der Institutionen, einschließlich der PCC, regiert.

Ist es denkbar, dass die durch das Verschwinden Fidel Castros geschaf-fene Lücke dauerhaft durch eine kol-lektive Führung der PCC aufgefüllt werden kann? Es ist tatsächlich die PCC gewesen, die Raúl Castro ange-führt hat als „die einzig würdige Erbin Fidel Castros, die Institution, die die revolutionäre Avantgarde umfasst, die jederzeit solide und sichere Garantie der Einheit der Kubaner“. „90% mei-ner Zeit ist der Kommunistischen Par-tei Kubas gewidmet und der größte Teil meiner Tätigkeit ist nicht öffentlich, deshalb tauche ich nicht oft in der Pres-se auf“, erklärte er im Jahre 2003.6 Aber 1996, als Wissenschaftler des prestige-trächtigen mit der PCC verbundenen Zentrums für Amerikastudien (CEA) kritische Analysen über den Zustand der kubanischen Gesellschaft produ-zierten, wurden sie von Raúl Castro im Fernsehen als „fünfte Kolonne“ behan-delt. Die Leiter des CEA wurden zum Schweigen gebracht, ihre Zeitschrift und ihre Veröffentlichungen zensiert. Neben Raúl Castro waren zwei Mit-glieder des jetzt wieder gegründeten Sekretariats (José Ramón Balaguer, 74 Jahre, und José Ramón Machado Ven-tura, 75 Jahre) in dieser Kampagne der Exkommunizierung besonders aktiv.7 Ist es denkbar, dass sie die innerhalb der Partei und der Gesellschaft uner-lässlichen Orientierungsdebatten tole-rieren werden?

Die Armee ist, neben der PCC, der andere institutionelle Pfeiler des Landes. Der „provisorische“ erste Se-kretär der Partei, Raúl Castro, ist Mi-nister der FAR, der Revolutionären Streitkräfte, eine Institution, über die viel spekuliert wird. Ihr Zusammen-halt und ihre Disziplin machen sie zu einer der solidesten Institutionen des Regimes. Die 50 000 Mann starke Ar-mee repräsentiert eine größere Wirt-schaftskraft, die im Tourismus, in der Landwirtschaft, der Industrie und der Telekommunikation investiert und zwei Drittel der Ökonomie kontrol-liert. Manche Beobachter bezeichnen

6 Zitiert in El País, 2.8.2006.

7 Zu dieser Affäre siehe J.Habel in Le Monde di-plomatique, Februar 1997.

die FAR gar als „Pioniere des kuba-nischen Kapitalismus“8. In der Armee wurde Ende der 80er und in den 90er Jahren (auf Anstoß von Raúl Castro, dann unterstützt von Carlos Lage) mit einem Prozess der sog. „Perfek-tionierung der Staatsbetriebe“ expe-rimentiert, um die Arbeitsprodukti-vität zu steigern. Diese Produktions-modernisierung, die die Reduzierung der übergroßen Belegschaften bein-haltete, wurde in den von den FAR kontrollierten Staatsunternehmen an-gewandt. Dank der dieser Institution immanenten Disziplin wurden Resul-tate erzielt. Aber diese Anwendung zu verallgemeinern, war auf der sozialen Ebene gefährlich und manche Ge-werkschaftsfunktionäre der Gewerk-schaftszentrale CTC hatten vor den Folgen gewarnt. Die Reform scheint aufgegeben worden zu sein. An der Spitze der großen Unternehmen stehen frühere Kommandanten der Rebellen-armee ebenso wie junge Offiziere, die eine betriebswirtschaftliche Ausbil-dung in europäischen Instituten absol-viert haben. Aber wenn die Arbeit der Armee darin besteht, Geld zu erwirt-schaften, wie Frank Mora, Professor am National War College in Washing-ton, meint9, wird ein bedeutender Teil dieser Gewinne für die Verteidigung des Landes verwendet, die früher im Wesentlichen von Moskau finanziert worden war (ein Teil der sowjetischen Militärhilfe war kostenlos).

Die FAR werden sehr respektiert. Sie beanspruchen ein doppeltes Erbe: das der mambis, der Kämpfer der Un-abhängigkeitskriege, und das der Re-bellenarmee, die in der Sierra Maes-tra gegen die Diktatur von Batista ge-kämpft hat. Sie stellen keinen Repres-sionsapparat dar, dessen Funktion es wäre, abweichende Meinungen zu un-terdrücken. Diese Rolle ist an das In-nenministerium gefallen, an seine Ge-heimdienste und seine Polizei (dieser obliegt die Aufrechterhaltung der Ord-nung, und wenn auch das Innenminis-terium unter der Kontrolle von Militärs steht, so gehorcht die Rekrutierung von Polizeikräften anderen Kriterien).

Das von Fidel Castro geleitete 5. Plenum des Zentralkomitees am 1. Ju-li 2006 hatte seine Arbeit der Stärkung der Partei und der Landesverteidigung gewidmet. Dazu hatte Fidel Castro die

8 The Economist, 5.8.2006.

9 Miami Herald, 6.8.2006.

Notwendigkeit bekräftigt, „die militä-rische Unverwundbarkeit des Landes zu festigen“. Das ZK hatte den von Raúl Castro vorgelegten Bericht über den Stand der Vorbereitung der Armee gebilligt, der auf einer defensiven Kon-zeption vom Volkskrieg als Widerstand gegen eine US-amerikanische Militär-intervention basierte. Nach der Inva-sion der amerikanisch-britischen Koa-lition in den Irak im März 2003 ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrats gab Fidel Castro den Anstoß für strate-gische Militärmanöver unter dem Titel „Bastion 2004“, die ein seit 18 Jahren nicht mehr erlebtes Ausmaß hatten und mit der neuen internationalen Lage ge-rechtfertigt wurden. Zur Zeit des ZK-Plenums betonte Raúl Castro die von „einer großen Zahl von zivilen und mi-litärischen Betrieben“ gemachten An-strengungen (mehr als 1000 Betriebs-leitungen waren anwesend) für die Mo-dernisierung der Ausrüstung und der Bewaffnung, wobei er andeutete, dass „die Debatten nicht auf technische oder militärische Fragen begrenzt waren, sondern auch Aspekte einschlossen, die mit der ökonomischen und sozialen Entwicklung verbunden sind, die einen beträchtlichen unmittelbaren Einfluss auf die Verteidigung haben“10.

Das Gesetz zur nationalen Vertei-digung bekräftigt den defensiven Cha-rakter der angenommenen Strategie. „Die grundlegende Mission der FAR ist es, schon von den ersten Momenten an mit dem ganzen Volk den Aggressor zu bekämpfen, den Krieg die ganze er-forderliche Zeit unter allen Umständen bis zum Sieg zu führen.“ (Artikel 34.)

Die FAR sind keine politische Ins-titution in dem Sinne, dass sie der PCC untergeordnet sind, die auf allen Stu-fenleitern der Armee präsent ist. Die Offiziere sind im Politbüro und in der Regierung zahlreich vertreten, aber der Generalstab ist keine Instanz, wo Ori-entierungen für das Land beschlossen werden. Jede Intervention in diesem Sinne würde das Instrument gefähr-den, das als ein wesentlicher Trumpf für den Schutz vor der größten Gefahr betrachtet wird: der Intervention der USA. Jedoch kann die ökonomische Rolle der Armee in ihren Reihen Diffe-renzierungen hervorbringen, die zu po-litischen Divergenzen führen können, insbesondere in Bezug auf den Grad

10 http://www.granma.cubaweb.cu/2006/07/04/nacional.

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der ökonomischen Liberalisierung. Die Arbeitsteilung zwischen Raúl und Fi-del Castro (Fidel für die Strategie, Raúl für die Organisation) bewahrte die Ein-heit der Streitkräfte, aber diese famili-äre Synthese geht ihrem Ende entge-gen.

Beunruhigt und auf Kontinuität be-dacht hatte Fidel Castro im Juni 2002 die Verfassung ändern lassen, um in ihr in unauslöschlicher Tinte den „un-umkehrbaren Charakter des Sozialis-mus“ festzuschreiben. Drei Jahre spä-ter hat Fidel Castro trotz dieser kons-titutionellen Vorsichtsmaßnahme am 17. November 2005 vor den Risiken des Zusammenbruchs des Systems ge-warnt. Aber durch das Schema, das er vorgesehen hat, geht die institutio-nelle Nachfolge auf Raúl Castro über, der von der PCC abgelöst werden soll. Wie stets hat der militärische Chef die wachsenden demokratischen Bedürf-nisse einer zutiefst erneuerten Gesell-schaft verkannt.

Mit der Zeit müssen neue Instituti-onen entstehen. Eine schwierige Auf-gabe, wenn man gleichzeitig eine neue Wirtschaftspolitik entwickeln und ein alternatives demokratisches Projekt entwickeln muss, wobei die Errungen-schaften der Revolution bewahrt wer-den sollen. Die charismatische und paternalistische Beziehung des „lider“ zum Volk – Ersatz für die Demokratie – muss nach und nach einem neuen in-stitutionellen Paradigma Platz machen. Wird man diesen Prozess auf der an-deren Seite der Meerenge von Florida tolerieren? Nichts berechtigt dazu, di-es zu glauben. Gewiss ist das Exil ge-spalten zwischen denen, deren Obses-sion es ist, um jeden Preis ihr Eigen-tum wiederzuerlangen, und den „Ge-mäßigten“ wie Marifeli Pérez Stable, die die Idee ablehnt, „dass eine Regie-rung, die für die Intervention im Irak

verantwortlich ist, Ratgeber eines de-mokratischen Kuba sein kann“11. Aber wie ein früherer Botschafter der EU in Mexiko und Kuba bemerkte: „Wenn ich Kubaner wäre, hätte ich Angst, denn ihre Zukunft wird von den USA bestimmt werden.“12

Können, während die Krise strate-gischer Natur ist, die neuen Führer sich mit taktischen Anpassungen zufrieden geben? Für Heinz Dietrich „wird das alte sozialistische Paradigma die kuba-nische Revolution nicht stützen, die mit einer doppelten Leere konfrontiert ist: der Erschöpfung des historischen Grün-dungsprojekts und dem Verschwin-den der heroischen Generation“. Man muss „einen Sozialismus des 21. Jahr-hunderts aufbauen. Wenn die Revoluti-on nicht Sofortmaßnahmen ergreift, so dass die Bevölkerung begreift, dass ihr Lebensstandard steigt und dass die Ge-sellschaft demokratischer wird, wird es wenige Kräfte in der Welt geben, sie zu retten.“13

Nach fast einem halben Jahrhun-dert hat die Verteidigung der Revolu-tion Einschränkungen, Entbehrungen und getrennte Familien aufgezwun-gen. Dies alles nur dem Regime oder Fidel Castro zuzuschreiben hieße die Aggressionen, den Staatsterrorismus, das unablässige Störfeuer – das in den letzten Jahren noch zugenommen hat – der US-Administration vergessen. Man kann den Widerstand des kubanischen Volkes nicht mit der Repression erklä-ren. Nicht dass diese Repression nicht existierte, aber sie ist begrenzter als je-ne, die in der UdSSR, in der Tschecho-slowakei oder in Polen herrschte, wo

11 Marifeli Pérez Stable ist Vizepräsidentin des Interamerikanischen Dialogs, eines think tank in Washington, und Professorin an der Univer-sität Florida in Miami.

12 J. Lecomte, Le Soir, 12./13.8.2006.

13 H. Dieterich, El futuro de la revolución cubana, 2006.

sie das Aufkommen der Vaclav Havel, Lech Walesa oder Andrej Sacharow nicht verhindern konnte. Das Regime würde einem Tienanmen nicht wider-stehen. Aber wenn die Kubaner in ihrer Mehrheit aus Überzeugung Widerstand geleistet haben, um ihre Unabhängig-keit und ihre wenn auch geschwächten sozialen Errungenschaften zu vertei-digen, wenn sie sich in den Reden des Comandante wiedererkannten, so for-dern sie heute mehr Komfort, mehr ma-terielle Erleichterungen. Ihr kulturelles Niveau tritt in Widerspruch zur Infan-tilisierung und der Abwesenheit demo-kratischer Debatten, wodurch die Or-gane der Volksmacht (OPP) ihrer Subs-tanz beraubt werden.

Manuel David Orrio, ein früherer „dissidenter“ Journalist, der als Ge-heimagent des kubanischen Staates oppositionelle Gruppen infiltriert hat-te14, fragt mit lauter Stimme: „Das ku-banische Volk hat viele Dinge von Fi-del ertragen. Wird es auch so viel von seinen Nachfolgern ertragen?“ Die Antwort erlaubt keinen Zweifel. Die Krankheit Fidel Castros kündigt eine andere Epoche an.

Janette Habel ist Mitarbeiterin des Institut des hautes études d’Amérique latine (IHEAL) und Verfasserin des im Neuen ISP Verlag 1993 er-schienenen Buches „Kuba. Die Revolution in Gefahr“.

Diesen Artikel haben wir in der Über-setzung von H.G. Mull den Sozialis-tischen Heften Nr. 12 entnommen.

14 Er wurde 2004 anlässlich der Verhaftung von 64 Journalisten enttarnt. Heute betreibt er eine Webseite, die weiterhin einen „dissidenten“ Charakter hat. Trotz der Fragen, die man sich bezüglich der Echtheit seiner opponierenden Haltung stellen kann, praktiziert Orrio nicht die offizielle „hölzerne Sprache“. Seine Be-obachtungen über die kubanische Gesellschaft von heute sind nicht ohne Interesse.

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2. Teil (Fortsetzung von Inprekorr 422/423)

DIE REFORMEN AuF DER KIPPE

Der Rücktritt des Ministers für Erdöl- und Erdgasförderung, Andrés Soliz Ra-da, im September diesen Jahres, mach-te deutlich, dass es in einem Bereich, auf den die bolivianische Regierung all ihre Karten setzte, an Homogenität fehlt. Der Ex-Journalist – und Ex-Weg-gefährte des „Roten“ Jorge Abelardo Ramos während seines Exils in Buenos Aires – verließ das Ministerium und er-klärte, dass es „(in der Regierung) Wi-derstand gibt, das Dekret zur Nationa-lisierung umzusetzen“, das am 1.05.06 im Rahmen der Besetzung der Ölfelder und Raffinerien durch die Streitkräf-te unterschrieben wurde.1 Sowohl die Erdölunternehmen, als auch die sozi-alen Bewegungen verstanden – wenn sie die Vorgänge auch unterschiedlich bewerteten – die erzwungene Entlas-sung von Soliz Rada und dass er durch den Wirtschaftswissenschaftler Carlos Villegas (bisher Planungsminister) er-setzt wurde, als eine „Aufweichung“ der Erdölpolitik: Die einen sehen es als einen Schritt hin zu mehr Flexibilität, die anderen dagegen verstehen die Si-tuation als eine Abschwächung der Na-tionalisierungsbestrebungen der Exe-kutive. Und dies in einem Kontext, in dem es Schwierigkeiten gibt, den Na-tionalisierungsdiskurs in Aktion umzu-setzen.

Über seine praktische Tätigkeit hinaus, war Soliz Rada ein Symbol für

1 Ohne sich mit Evo Morales abzusprechen, gab Soliz Rada eine Resolution heraus (eingerahmt vom Dekret zur Nationalisierung), die besagte, dass der bolivianische Staat 50% + 1 der Ak-tien der Raffinerien, die sich hauptsächlich in der Hand von Petrobras befinden, zurückholen würde. Das löste eine Krise eines Abkommens zwischen Evo Morales und Lula Da Silva aus. Dieses Abkommen besagte, dass keine Maß-nahmen getroffen würden, die den Wahlkampf des Brasilianers beeinflussen würden. Mit dem Rücktritt von Soliz Rada wurde die Resolution anulliert. Página/12, Buenos Aires, 19.10.06.

das „Zurückholen“ von Erdgas und Erdöl. Sein Abdanken vermehrte die Kritiken daran, dass es „keine wirk-liche Nationalisierung gab“. Diese Kri-tiken stellen zwar im Augenblick noch eine Minderheit dar, sind aber bedeu-tender als noch in den Tagen nach dem 1. Mai. Aufgrund fehlender Ergebnisse für die verarmten bolivianischen Volks-ökonomien könnte dies der Aufhänger für eine Opposition links von der MAS sein. Eine solche ist im Augenblick fast inexistent, auch wenn das Massa-ker von Huanuni2 dieser Opposition ei-ne Medienaufmerksamkeit ermöglich-te, die sie seit der Machtergreifung von Evo Morales und der darauffolgenden „Monopolisierung“ des Diskurses um Veränderung, Indigenität und Nationa-lismus verloren hatte. Zwei der „prak-tischen“ Probleme, mit denen die Na-tionalisierung konfrontiert ist, sind er-stens, dass die notwendigen Ressour-cen fehlen, um das staatliche Unter-nehmen Yacimientos Petrolíferos Fis-cales Bolivianos (YPFB) (Kontrollierte Erdölvorkommen Boliviens) wieder zu gründen. Zweitens weigert sich das Unternehmen Petrobras, einen höheren Preis für das Erdgas, das Bolivien nach Brasilien exportiert, zu bezahlen.3 Petro-bras ist das wichtigste im Land ansäs-sige transnationale Unternehmen.

Nichtsdestoweniger erlaubte so-wohl der millionenschwere Deal von Evo Morales und Nestor Kircher über die Lieferung von Erdgas an Argen-

2 Am 5. und 6. Oktober antworteten die staat-lichen MinenarbeiterInnen mit Dynamit und Feuerwaffen auf den Versuch der kooperativis-tischen MinenarbeiterInnen, mit einem Über-fall den Berg Cerro Posokoni im Ort Huana-ni, Oruro, einzunehmen. Dort befinden sich die wichtigsten Zinnvorkommen Boliviens. Das Ergebnis der Auseinandersetzung waren 16 Tote und mehr als 50 Verletzte.

3 Nach dem Hauptdekret vom 1. Mai sollte die Gründung der YPFB zum 1. Juli abgeschlos-sen sein. In seiner Ansprache vom 12.10.06 kündigte Evo Morales die Verschiebung dieses Zieles auf März 2007 an. Die folgenden Ver-schiebungen hängen mit dem Fehlen der not-wendigen Ressourcen zusammen.

tinien als auch die Unterschrift unter neue Verträge mit allen Erdölunterneh-men, die im Land operieren – in de-nen der Staat die Kontrolle über die ge-samte Produktivkette von Erdöl- und Erdgasverarbeitung übernimmt –, neu-en Optimismus in den offiziellen Rei-hen und in der ganzen Gesellschaft.4

Aber auch wenn es dem „ökono-mischen Standbein“ des Projektes von Evo Morales dieser Tage gelang, teil-weise die Initiative zurück zu erlan-gen, so läuft sein „politisches Stand-bein“ – die verfassungsgebende Ver-sammlung – Gefahr, verfrüht an Le-gitimität zu verlieren. Dies, obwohl die Linke eine absolute Mehrheit hat. Die Gründe sind eine Auseinanderset-zung, die zwischen Regierungsmei-nung und Opposition geführt wur-de und die den Charakter der ver-fassungsgebenden Versammlung zum Gegenstand hatte: Sollte sie „origi-när“ oder „abgeleitet“, das heißt un-ter oder über den gegenwärtig einge-setzten Mächten stehen? Sollte über die neue Magna Carta mit absoluter Mehrheit oder mit Zweidrittelmehr-heit abgestimmt werden? Seit dem 6. August gab es kaum Fortschritte bez. des weiteren Vorgehens. In ihrer Ar-gumentation stützt sich die Rechte auf das Einberufungsgesetz (Ley de Con-vocatoria), das festlegt, dass der Text mit zwei Dritteln angenommen wer-den muss. Die Linke dagegen erwi-dert, dass diese Zweidrittel-Mehrheit für den letztendlichen Text notwendig ist, aber nicht für die einzelnen Arti-kel. Über die absoluten Mächte des Abkommens wurde schon abgestimmt – und zwar mit absoluter Mehrheit – während die konservative Opposition unter der Führung von Poder Demo-cratico Social („Podemos“ oder „Wir können“ des ehemaligen Präsidenten Jorge Quiroga) sich an den Verfas-sungsgerichtshof gewandt hatte, um feststellen zu lassen, dass dies nicht

4 Clarín, Buenos Aires, 29.10.2006

BOLIVIEN

Das Labyrinth der bolivianischen RevolutionPablo Stefanoni

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verfassungsgemäß gewesen sei. Dies wurde aber zurückgewiesen.

Das heißt, es geht hier um eine Schlacht, die sich nicht auf juristischer Ebene entscheiden wird, sondern durch die Kräfteverhältnisse – bisher zugun-

sten der Linken. Die Zitate der grund-legenden Texte des Verfassungsrechts liefern nämlich zu ungefähr gleichen Teilen sowohl den einen als auch den anderen Argumente.

Das Vorherrschen von formalen Aspekten vor den Inhalten des neuen Grundlagengesetzes führt jedoch zu ei-ner großen Apathie bei der Bevölke-rung. Diese „Inszenierung eines neu-en Gesellschaftsvertrags und der Neu-gründung des Landes“ – wie sie der Vi-zepräsident Alvaro Garcia Linera nann-te – wird bisher von keiner öffentlichen Debatte begleitet. Sie läuft Gefahr, vom diskursiven Maximalismus absorbiert zu werden – als Ersatz für gesellschaft-liche Kreativität und als Ersatz für ein Empowerment der Bevölkerung. Die Verfassungsgebende Versammlung droht daran zu scheitern, dass es ihr nicht gelingt, einen minimalen Konsens zu finden, der es ihr erlaubt, überhaupt weiter zu arbeiten. Raul Prada von der MAS und Mitglied der Verfassungsge-benden Versammlung, hat vor den poli-tischen Konsequenzen gewarnt, die ein solches Scheitern mit sich bringen wür-de. Prada warnt auch vor den Schwie-rigkeiten der MAS-Regierung, ihre po-litische und soziale Mehrheit in eine

tatsächliche Überlegenheit hinsichtlich „indigener und die Bevölkerung betref-fender“ Themen umzuwandeln.

Eines der wichtigsten Defizite der gegenwärtigen bolivianischen Regie-rung ist, dass es kaum öffentliche Räu-

me der politischen Diskussion gibt. Diese wären jedoch notwendig, um Diskrepanzen zu überwinden und ei-ne gemeinsame Strategie zu entwerfen. Die Exekutive scheint sehr kurzfristig und auf ständigem Zickzack-Kurs zu handeln, bedenkt man v. a. die Radi-kalität ihrer Reformen und ihr Verhält-nis zur politischen, unternehmerischen und regionalen Opposition. Zum Bei-spiel vereinbarte der Vizepräsident mit der Opposition die Annahme der neuen Verfassung durch Zweidrittelmehrheit. Kurz darauf forcierte die Regierung die absolute Mehrheit, und Evo Morales erklärte: „Wir werden mit der Oligar-chie nicht paktieren“. Aber die Rechte rechnete schon mit einem Gesetz, das ihrer Position recht geben sollte. Und das alles innerhalb eines nicht beige-legten Streits: Der Vizepräsident Gar-cía Linera vertrat die Meinung, dass eine einvernehmliche Lösung ausge-handelt werden müsse, um mit der gegenwärtigen Pattsituation, die das Land seit 2003 belastet, fertig werden zu können; Evo Morales dagegen ist mehr dafür, den Konflikt auszufech-ten, um der Oligarchie Macht zu ent-ziehen. Das Referendum verdeutlichte diese beiden Positionen: Während Mo-

rales dazu aufrief, für ein „Nein zur Unabhängigkeit der Bourgeoisie“ zu stimmen, nahm García Linera eine un-vorbereitete, neutrale Haltung gegenü-ber der Befragung ein. Und diese un-terschiedlichen Strategien finden sich auch in anderen Bereichen der staatli-chen Betätigungen.

RüCKKEHR INSTABILER Zu-STäNDE?

Die Regierung hat heute fast gleichzei-tig mit zwei Fronten zu tun: zum einen mit der konservativen Opposition regi-onaler und politischer Art, die die Me-dien in eine Art „vereinheitlichte Pres-se“ verwandelt hat; zum anderen mit einer verbandlichen bzw. genossen-schaftlichen Opposition (die nicht mit der MAS zusammenhängt), die begon-nen hat, ihre Forderungen aufzustellen, und sich dabei traditioneller bolivia-nischer Formen der Durchsetzung be-dient, nämlich Streiks und Blockaden. Währenddessen ziehen sich die offizi-ellen sozialen Organisationen auf sich zurück. In diesem Rahmen erschienen böswillige und kaum gerechtfertigte Gerüchte über einen möglichen Putsch und einen möglichen Bürgerkrieg. Die-se Gerüchte wurden verstärkt durch die ständigen Vermutungen von Verschwö-rungen, die aus den offiziellen Reihen kommen und die Gesellschaft jeden Tag weniger beeindrucken können.5

Der bolivianische Präsident hat die großen Medien beschuldigt, die „wichtigste Oppositionspartei“ zu sein. Es macht den Eindruck, dass er der Wahrheit mit dieser Aussage sehr na-he kommt. „Die Medienkampagne hat zwei Achsen: Evo Morales herab zu setzen indem er als unnütz dargestellt wird und die Inszenierung eines Kli-mas der politischen und sozialen Insta-bilität im Land“, sagt César Fuentes in El Juguete Rabioso.6

Der Analyst Róger Cortez bemerk-te auf der gleichen Linie, dass „es der Pressechef einer Kette von Fernsehsen-dern ist, der die Opposition tatsächlich

5 Evo Morales zeigte gegenüber der Tageszei-tung Le Monde an, dass ein Komplott exis-tierte, um ihn während der Veranstaltung am 12. Oktober zu ermorden. Später wurde der Polizeibericht bekannt, der nur von einem an-onymen Anruf sprach. «Bolivie: Evo Morales et la ‘terrible conspiration’», Le Monde, Paris, 17.10.06.

6 El Juguete Rabioso, Nº 162, La Paz, 15 al 28.10.06.

BOLIVIEN

Vizepräsident García Linera setzt auf Verständigung mit der Oligarchie, Präsident Evo Morales will ihr die Macht entziehen

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anführt“. Er bezieht sich dabei auf Uni-tel, den der Regierung am feindlichsten gesinnten Kanal mit Sitz in Santa Cruz de la Sierra. Dessen Diskurs vereint sich mit dem der regionalen Eliten, die in Morales eine „chavistische Gefahr“ sehen. Zum ersten Mal dieses Jahr wurde ein Präsident Boliviens nicht zur Expocruz eingeladen. Expocruz ist die lokale Wirtschaftsmesse und der Stolz der „Camba“ – Bourgeoisie. Gleich-zeitig flüchtet sich die konservative Rechte, der es an Ideen und Gedan-ken im gegenwärtigen Kontext des ne-oliberalen Rücklaufs fehlt und die mit den schlimmsten Fällen von Korrupti-on der letzten 20 Jahre in Zusammen-hang steht, in Forderungen nach Auto-nomie, die wahrgenommen werden wie ein Schutz vor dem „populistischen“ und „autoritären“ Dasein der Regie-rung.

„Das Problem ist, dass Evo Morales kein politisches Konzept für Santa Cruz und den bolivianischen Osten hat. Er hat kein Konzept, das den lokalen Machthabern ihre Vorherrschaft strei-tig machen könnte“, sagt, off the re-cord, ein wichtiger Regierungsfunktio-när. Hier liegen auch einige der Gren-zen bei der Konsolidierung der indi-genen Linken als nationaler Überle-genheit. Heute scheint die Teilung des Landes nicht möglich, aber es scheint möglich, dass sich die Rechte im boli-vianischen Osten verschanzt wie in ei-ner „befreiten Zone“ gegenüber den politischen, wirtschaftlichen und insti-tutionellen Veränderungen, welche die Exekutive vorantreibt. Die vor Wochen vorgebrachte Drohung, die neue Ver-fassung nicht anzuerkennen weil sie „von einer illegitimen verfassungsge-benden Versammlung entwickelt wur-de“ gibt einen Fingerzeig, aus welcher Richtung die konservative Gegenoffen-sive kommen könnte.

Weniger realistisch erscheint die Möglichkeit eines Putsches. Auch

BOLIVIEN

wenn jede/r die bolivianischen Streit-kräfte historisch-soziologisch als „Putschisten“ charakterisieren würde, gibt es im Augenblick keine Berech-tigung für Putschabenteuer. Venezue-la hat hier eine Lektion erteilt. Das ga-rantiert aber trotzdem nicht, dass Evo Morales‘ Strategie einer bäuerlich-mi-litärischen Allianz als sozialer Basis für seine Reformen Erfolg haben wird. In der Geschichte arrangierte sich der nationalistische Flügel der bolivia-nischen Streitkräfte – wenn auch mit Konflikten – immer mit einem USA-freundlichen Flügel, bezahlt mit Sti-pendien, Geld und ideologischer In-doktrinierung.

Diese Konflikte entschieden sich zu verschiedenen Zeitpunkten zu

In der Geschichte Boliviens arrangierte sich der nationalistische Flügel des Militärs immer mit dem uSA-freundlichen Flügel

Gunsten mal der einen, mal der ande-ren Seite. Welche der Gruppen im In-nern des bolivianischen Militärappa-rates im Augenblick mehr Gewicht hat, darüber wagen nur Wenige zu spe-kulieren. Es herrscht jedoch Überein-stimmung darüber, dass der Kurs kor-rigiert werden muss, um dem Prozess der Veränderungen wieder Aufwind zu geben. Ob der Veränderungspro-zess gelingen kann, hängt von einer guten Staatsführung ab. Diese muss von einer Institutionalisierung der ak-tuellen, für das Volk günstigen Kräfte-verhältnisse – die im Augenblick, aber sicher nicht für immer bestehen –, ge-stützt werden.

Übersetzung: Larissa

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Im Anschluss an die Verleihung des Friedensnobelpreises an Yunus er-schien eine Fülle an lobenden Artikeln. Mikrokredite sind tatsächlich in Mode. Hillary Clinton spricht unaufhörlich von ihrer Reise nach Bangladesh, dem Herkunftsland von Yunus, und der Be-deutung der Mikrokredite. Paul Wolfo-witz, ehemaliger Mitarbeiter von Do-nald Rumsfeld, Spezialist für Massen-vernichtungswaffen und heutiger Prä-sident der Weltbank, ist ebenfalls ein eifriger Anhänger von Mikrokrediten. Es erstaunt daher nicht, dass die groß-zügige Idee von Yunus heute auf breite Anerkennung stößt.

Wenig betont wird dabei, dass es die „mittleren Armen“ sind, die Zu-gang zu Mikrokrediten haben, wäh-rend wirklich Bedürftige meist ausge-schlossen sind. Detailliertere Untersu-chungen wie jene von Gina Neff1 zei-gen zudem, dass über diesen Weg nur wenige der Unsicherheit und Armut entrinnen und 55 Prozent der Familien, die einen Kredit der Yunus gehörenden Grameen Bank erhalten haben, acht Jahre danach ihre elementaren Ernäh-rungsbedürfnisse noch immer nicht de-cken konnten. Sie benutzten diese Dar-lehen für Einkäufe und nicht für Inves-titionen.

Thomas Dichter hat eine der fun-diertesten Studien zu Mikrokrediten2 veröffentlicht. Ein radikaler Öko-nom ist er nicht. Dichter kommt zum Schluss, dass die Armen diese Art von Kredit nicht „produktiv“ nutzen können. Was sie seiner Ansicht nach bräuchten, wären höhere Beträge und andere Kreditbedingungen sowie we-sentlich tiefere Zinsen und länger lau-

1 Microcredits, Microresults, in: Left Business Oberserver 1996.

2 Despite good intentions, 2003. Im Juni 2007 soll „What’s wrong with microfinance?“ erscheinen, das der Autor zusammen mit M. Harper verfasst.

fende Kredite. Selbst diese Schlussfol-gerung ist diskutabel. Dennoch wurden Dichters Ansichten nicht einmal von der Presse aufgegriffen, obwohl er al-les andere als radikal ist.

Die Vorstellung, Mikrokredite könnten breiten Bevölkerungsgruppen „helfen“ – um diesen an der Nobel-preisverleihung verwendeten Begriff aufzugreifen – „aus der Armut heraus-zukommen“, ist gehaltlos. Im Lauf der 80er- und 90er-Jahre avancierte der „Mikrokredit“ zu einem dieser wun-derbaren Patentrezepte, das neben dem Begriff „nachhaltig“ Eingang in Tau-sende von Jahresberichten von Stif-tungen und NGOs fanden. Was könnte im Sinn einer vorsichtigen Philanth-ropie löblicher sein, als sehr armen Frauen sehr kleine Darlehen zu geben? Die Mikrokredite haben einen gesun-den, moralischen Anhauch, der gänz-lich frei ist von der Welt der schmut-zigen Megadarlehen (auch wenn diese, was die Zinsen betrifft, nicht „mega“ sind), vergleichbar den Kleinstbraue-reien für Budweiser Bier.

BANKBüROKRATIE

Das Problem ist, dass Mikrokredite kei-nen Makrounterschied machen. Zwei-fellos haben sie einigen armen Frau-en geholfen. Doch in gewisser Weise machen sie eine Niederlage offenkun-dig. Anfang der 1970er Jahre gab es al-lerlei Mammutprojekte zur Verände-rung des Verhältnisses zwischen den Industriestaaten und der Dritten Welt, die Drittweltwirtschaften ermöglichen sollten, der Mehrheit der Bevölkerung und nicht nur einigen wenigen einen angemessenen Lebensstandard zu si-chern. Im Rahmen der Vereinten Na-tionen bemühten sich radikale Öko-nomen verbissen darum, Pläne für eine neue Weltwirtschaftsordnung auszuar-

beiten. All das hat sich in Rauch aufge-löst. Dreißig Jahre später applaudieren die wohlmeinenden Klassen den Mi-krokrediten. Mikrokredite sind nichts als Mikropflaster in einem Kontext, wo sich, um das Beispiel Indien zu zitie-ren, über 100 000 Bauern und oft auch Bäuerinnen das Leben genommen ha-ben, weil sich die Zentralregierung und die Regierung ihres Bundesstaats so-wie große internationale Institutionen zu Wortführern der rücksichtslosen Prioritätensetzung des Neoliberalismus gemacht hatten. Der Ökonom Robert Pollin, den ich um eine Stellungnahme zur Nobelpreisverleihung an Yunus ge-beten hatte, meinte mit leicht sarkasti-schem Unterton: „Bangladesh und Bo-livien gelten als die beiden Länder mit den erfolgreichsten Mikrokreditpro-grammen weltweit. Gleichzeitig sind es nach wie vor zwei der ärmsten Län-der der Welt.”

In den Statistiken über die mensch-liche Entwicklung, die vom Entwick-lungsprogramm der Vereinten Nati-onen (UNDP) erstellt werden, liegt Bangladesh auf Platz 139 hinter In-dien, mit 49,8 Prozent der insgesamt 150 Millionen EinwohnerInnen, die unter der offiziellen Bedürftigkeits-grenze leben. In Bangladesh, wo sich der Sitz der Grameen-Bank von Yunus befindet, leben rund 80 Prozent der Be-völkerung mit weniger als zwei Dollar pro Tag, dem Betrag, an dem die Ar-mutsgrenze angesetzt ist. Eine Unter-suchung der UNDP Anfang der 1990er Jahre hat gezeigt, dass alle Mikrokre-dite zusammengenommen 0,6 Prozent der gesamten Kreditsumme in diesem Land ausmachten. Von einem nennens-werten Wandel kann man daher nicht sprechen. Was haben in diesem Zusam-menhang die Mikrokredite gebracht? Diese Frage habe ich dem Journalisten Palagummi Sainath3, Autor von „Eve-rybody Loves a Good Drought“ und ausgezeichneter Kenner der Mittello-sigkeit des ländlichen Indiens und der Folgen der gegenwärtigen Wirtschafts-politik. Seine Antwort: Ja, der Mikro-kredit kann unter bestimmten Umstän-

3 Seine Texte finden sich auf der Website von India Together (www.indiatogether.org).

ÖKONOMIE

Der Mythos der MikrokrediteDer diesjährige Friedensnobelpreis wurde an Muhammad Yunus, Er-finder des Modells der Mikrokredite, verliehen. Mikrokredite können in manchen Situationen sehr wohl eine nützliche Hilfe sein, sie un-terliegen aber den traditionellen Bankkreisläufen und sind keine Ant-wort auf die globalen Probleme, die der Kapitalismus aufwirft.

Alexander Cockburn

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den tatsächlich ein legitimes Mittel sein, sofern man ihn nicht als „riesige Armee“ einsetzt. Die Aufnahme von Schulden hat noch niemanden befreit. Für viele arme Frauen bedeutete die In-anspruchnahme von Mikrokrediten ei-ne Erleichterung und erlaubte ihnen, die Bürokratie der Banken und Geld-leiher zu umgehen.

HOHE ZINSRATEN

Doch heute sind Weltbank und IWF, aber auch die Staats- und Geschäfts-banken im Begriff, in die Gefilde der Mikrofinanz vorzudringen. Das Ge-schäft mit Mikrokrediten entwickelt sich rasant zu einem riesigen Imperi-um, das wieder von denselben Banken und Bürokratien kontrolliert wird, die die Frauen umgehen wollten. Der Mi-krokredit droht zur Makroerpressung zu werden. Wie Saineth betont, liegen

in Indien die Zinsen, die die Frauen für ihre Mikrokredite zahlen müssen, deut-lich über den Zinsen, die Geschäfts-banken für ihre Darlehen bieten. „Sie zahlen zwischen 24 und 36 Prozent für Darlehen, die für produktive Ausga-ben gedacht sind, während jemand aus der obersten Klasse dank dem Banken-system den Kauf eines Mercedes zu einem Zinssatz von 6 bis 8 Prozent fi-nanzieren kann.”

Das durchschnittliche Darlehen der Grameen-Bank in Bangladesh liegt bei 130 Dollar und damit niedriger als in Indien. Das Grundproblem der Armen in diesen beiden Ländern ist aber der Mangel an Boden und Kapital. In der indischen Provinz Andhra Pradesh, wo es Tausende von zusammengeschlos-senen Mikrokreditgruppen gibt, kos-tet ein Morgen Land (ca. ein halber Hektar) 100 000 Rupien, ein weniger fruchtbarer Boden rund 60 000 Rupien, also über 2000 Dollar. Mit 130 Dollar lässt sich keine Ranch kaufen, ja nicht einmal eine gute Kuh oder ein Büf-fel. „Wie viele Frauen konnten in die-ser Provinz also der Armutsfalle entrin-nen?“, fragt Sainath. „Versuchen Sie doch, das herauszufinden.“ „Mit 130 Dollar haben sie keinen Zugang zu Gü-tern des Grundbedarfs“, erklärt Saina-th. „Die Summe ist winzig. Die Zinsen sind hoch, die Strafen bei Zahlungs-versäumnis drastisch. Bei den jüngs-ten Überschwemmungen in Andhra Pradesh haben sich ein paar unabhän-gige Journalisten in ein Dorf begeben, in dem alles völlig weggeschwemmt war. Die ersten, die sie nach der Über-schwemmung sahen, waren Mikrokre-ditgeber, die die Frauen bedrohten und von ihnen monatliche Überweisungen forderten, obwohl diese alles verloren hatten.”

ÖFFENTLICHE DARLEHEN

Die Regierungen lieben Mikrokredite, die ihnen erlauben, sich aus der ele-mentarsten Verantwortung für ihre ar-men MitbürgerInnen zu stehlen. Der Mikrokredit macht den Markt zu sei-nem Gott. Stellen wir uns vor, die Uni-ted States Agencies for International Development oder eine andere ver-gleichbare Institution beschließt, 10 Millionen Dollar für Mikrokredite zu verwenden. Was einmal auf die Initia-tive einer Gruppe von Dorffrauen zu-rückging, ist zu einer prestigeträch-

tigen Finanzierungsform geworden. Lange bevor die Dorffrauen die erste Rupie in Händen halten, haben sich be-reits NGOs, BeraterInnen, Bankdirek-torInnen und ihre Angehörigen daraus bedient. Wenn das Darlehen dann end-lich im Dorf ankommt, sind die Kos-ten prohibitiv4. Sehr arme Frauen und Frauen aus den untersten Kasten erhal-ten oft keinen Zugang. Zudem verlan-gen manche Programme, dass die Frau-en jeden Tag eine Rupie bezahlen. Oft haben die Frauen aber keine Rupie pro Tag und gehen daher zu lokalen Wu-cherern, um die Zinsen für ihren Mi-krokredit abbezahlen zu können.

Wie Sainath erklärt, kann ein Mikro-kredit nützlich sein, doch er darf nicht als Aktivität idealisiert werden, die zu einem gesellschaftlichen Wandel führt, denn auf dieser Ebene greift er nicht. Im Gegenteil, wie Robert Pollin betont: „Die ostasiatischen Tiger wie Südkorea und Taiwan haben während einer Ge-neration massive, vom Staat subventi-onierte Kreditprogramme verfolgt, um die gewerbliche Produktion und Ex-porte zu fördern. Gegenwärtig liegt der Lebensstandard in diesen beiden Län-dern nahe dem westeuropäischen Ni-veau. Heute müssen sich die armen Länder dem Makrokredit-Modell Osta-siens anpassen, um nicht nur Exporte, sondern auch eine Landreform, Han-delskooperativen und eine funktionie-rende Infrastruktur und vor allem ange-messene Stellen zu fördern.“

Das Problem mit den staatlich sub-ventionierten Programmen ist, dass sie von der öffentlichen Hand verge-ben werden und hohe Beträge betref-fen, was dem neoliberalen Credo wi-derspricht. Deshalb hat Yunus den No-belpreis erhalten, während radikale AnhängerInnen von Landreformen Ku-geln in den Nacken erhalten.

Alexander Cockburn ist Mitherausgeber der Zeitschrift Counterpunch und Autor zahl-reicher Bücher.

Aus dem Französischen: Tigrib

4 Prohibitivkosten: Kosten, die durch ihre Höhe eine Nachfrage praktisch unmöglich, mindestens aber unwahrscheinlich machen. [A. d. Red.]

ÖKONOMIE

Mikrokredite waren ursprüng-lich kleine Darlehen für Unterneh-merInnen oder HandwerkerInnen, die aufgrund der geringfügigen Summe oder ihrer mangelnden Zah-lungsfähigkeit keinen Zugang zu klassischen Bankkrediten hatten. Der Kreditantrag wurde oft kollek-tiv gestellt und durch gegenseitige Bürgschaft gedeckt. Heute sind Mi-krokredite mit der Herausbildung von spezialisierten Entwicklungs-institutionen oft klassische indivi-duelle Bankprodukte mit Zinsraten zwischen 10% und 30%.

Die Weltbank hat die Mikrokre-ditinstitutionen positiv bilanziert, sich aber im Wesentlichen nur für den Gesichtspunkt der Kreditge-ber konzentriert (finanzielle Taug-lichkeit, Rückerstattungsgrad) und kaum für die Kreditnehmer. Es lässt sich insbesondere beobachten, dass viele Arme diese Kredite heute nicht für Investitionen in kleine Betriebe einsetzen, sondern für ihre unmit-telbaren Bedürfnisse. Damit bleiben sie abhängig und nehmen wieder-holt Geld auf.

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Nach historischem Maßstab ist der in-ternationale Kampf für die Annullie-rung der Schulden der Länder der Drit-ten Welt relativ jüngeren Datums: Er ist kaum mehr als zwanzig Jahre alt. Er gehört zu den großen internationa-len Kämpfen und Kampagnen wie die Kämpfe für die Abschaffung der Skla-verei (18.–19. Jahrhundert), für den Achtstundentag (ab Ende des 19. Jahr-hunderts, ausgehend vom 1. Mai), für das allgemeine Wahlrecht, für die Gleichheit zwischen Männern und Frauen sowie weitere ebenso wichtige Kämpfe, die noch immer das Streben der Unterdrückten nach ihrer Emanzi-pation kennzeichnen.

Die Kämpfe für die Annullierung der Schulden der Dritten Welt, ge-gen den Freihandel und die verallge-meinerte Kommodifizierung, für die Verteidigung der Umwelt, für die Wie-dererlangung der öffentlichen Kon-trolle über die natürlichen Ressour-cen und die elementaren Dienstleistun-gen sowie für die Förderung des Ge-meinwohls sind direkt mit der aktu-

ellen Phase der kapitalistischen Globa-lisierung verbunden. Diese bildet den Rahmen einer neuen weltweiten Of-fensive des Kapitals gegen die Arbeit, der imperialistischen Länder gegen die Gesamtheit der Völker der Peripherie. Die weltweite kapitalistische Globali-sierung hat die Globalisierung des Wi-derstands und der Kämpfe um Alterna-tiven zu den obengenannten Themen hervorgerufen. Doch um nicht miss-verstanden zu werden: Die kapitalisti-sche Globalisierung stammt nicht aus den letzten zwanzig Jahren. Sie geht auf das Ende des 15. und den Beginn des 16. Jahrhunderts zurück, als mit der Ausbeutung Amerikas – die von Spani-en eingeleitet wurde, gefolgt von Por-tugal, England, Frankreich, den Nie-derlanden – Europa begann, mit der brutalen Unterwerfung aller Konti-nente seine Weltherrschaft zu errich-ten, und nach und nach den Kapitalis-mus gewaltsam durchsetzte.

Die internationalen Befreiungs-kämpfe stammen ebenfalls nicht von gestern. Sie gehen zumindest auf das

Ende des 18. Jahrhunderts zurück und führten in der Folge besonders zur auf-einanderfolgenden Schaffung von vier Internationalen, von der zweiten Hälf-te des 19. bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die sozialen Bewegungen und diese Internationalen hatten zur Ba-sis große internationale Kampagnen zu emanzipatorischen Themen. Gleichzei-tig blieben manche Themen eine nati-onale Domäne: Dies gilt besonders für die Auslandsverschuldung der vom Im-perialismus beherrschten Länder. Be-reits seit dem 19. Jahrhundert wird die Auslandsverschuldung als Instrument der Herrschaft über die Völker Latein-amerikas und der Karibik, Asiens und Afrikas benutzt. Bereits im 19. Jahrhun-dert versuchten die Länder der Periphe-rie die Tilgung einer ungerechten Schuld zu verweigern. Wir nennen nur das Me-xiko des Jahres 1861 mit dem ersten in-digenen Präsidenten Lateinamerikas, dem Indio Benito Juárez. Im Laufe der 1930er Jahre beschlossen nicht weniger als 14 Regierungen Lateinamerikas eine nach der anderen ohne Absprache, die Zahlung der hauptsächlich an Europäer und Nordamerikaner zu leistenden Aus-landsschulden zu stoppen.1

Erst Mitte der 80er Jahre begann das Thema der Nichtzahlung der Schulden von Volksbewegungen über die natio-nalen Grenzen hinweg aufgegriffen zu werden. Dies fing in Lateinamerika an, wobei Kuba eine Pionierrolle spielte und versuchte, die Formierung einer in-ternationalen Front für die Nichtbezah-lung zu initiieren, leider ohne Erfolg bei den Regierungen. Seit 1984/85 kam es auf dem ganzen Planeten zu Volks-erhebungen gegen die Strukturanpas-sungspolitik, die von der Weltbank und dem IWF sowie deren Komplizen, den

1 Eric Toussaint, La finance contre les Peuples, Lüttich/Paris/Genf 2004, S.175–182.

ÖKONOMIE

Der Kampf für die Annullierung der Schulden in historischer PerspektiveEric toussaint

Eric Toussaint

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lokalen Regierungen und herrschenden Klassen, auferlegt wurde.

Es war noch ein weiteres Dutzend Jahre erforderlich, bis sich eine inter-nationale Kampagne zu diesem The-ma im Rahmen der Kampagne Jubi-lee 2000 entwickelte (kontrolliert zum Teil vom Vatikan und den Leitungen protestantischer Kirchen – Anglikaner, Lutheraner, Calvinisten –, die keines-wegs progressiv sind). Der Wille der christlichen Hierarchien, Position zu-gunsten der Annullierung der Schul-den der ärmsten Länder, die hauptsäch-lich in Afrika und Zentralamerika lie-gen, zu ergreifen, ist eine Antwort auf den Druck der nationalen Kirchen der Länder Afrikas südlich der Sahara so-wie der Länder Lateinamerikas und der Philippinen, wo die christliche Reli-gion stark verwurzelt ist. Der Vatikan und die protestantischen Kirchen fin-den neue Gläubige in diesen besonders dem Joch der Auslandsschuld unter-worfenen Ländern. Ihre Hierarchie sah sich gezwungen eine Lösung im Rah-men der christlichen Tradition zu för-dern: der Schuldenerlass aus Anlass des Jubeljahrs. Dies war die Gelegen-heit, als jemand zu erscheinen, der sich bei den Großen dieser Welt für die Ver-dammten der Erde verwendet.

1998/99 wurden dem Jubeljahr und der Verschuldung Messen gewid-met; ein Teil der Millionen von Unter-schriften unter Petitionen für die An-nullierung der Schulden der armen Länder wurde direkt an den Kirchen-toren gesammelt. Die großen NGOs und die christlichen Wohlfahrtsorgani-sationen wurden für die Kampagne mit sehr begrenzten Zielen mobilisiert: die Annullierung der nicht rückzahlbaren Schulden der armen Länder. Hunderte von Funktionären dieser Bewegungen wurden mobilisiert, um die Kampagne zum Erfolg zu führen. Im Juni 1999, beim G8-Gipfel in Köln, als die Staats-chefs der mächtigsten Länder einmal mehr Versprechungen machten, die sie nicht halten sollten, beglückwünschten sich die Kirchenhierarchien und die von ihnen beeinflussten Bewegungen für das erreichte Ergebnis. Deshalb wurden diese Bewegungen, angefan-gen mit der britischen Kampagne, ge-drängt, die Mobilisierung zu stoppen – zum großen Missfallen anderer Kam-pagnen, die, besonders im Süden, der Meinung waren, dass die Ziele keines-falls erreicht worden waren.

Nach zwei Jahren war im Verlauf der Kampagne das Bewusstsein von Hunderttausenden von Personen so weit vorangeschritten, dass eine Rei-he von Bewegungen im Norden wie im Süden2 Unterschriften für eine Pe-tition sammelte, die radikaler war als die offiziell von Jubilee 2000 präsen-tierte. Seinerseits beschloss der Vati-kan im Jahr 2000, Michel Camdessus, den ehemaligen Generaldirektor des IWF, auf dem Gipfel der Kommission „Gerechtigkeit und Frieden“ als Bera-ter für die Verschuldungsfrage zu inte-grieren. Alles sollte wieder in Ordnung kommen, und es kam nun nicht mehr in Frage, zu diesem Thema zu mobili-sieren. Manche große NGOs des Nor-dens, die über Funktionäre in den Län-dern des Südens verfügen, wiesen die-se an, das Schuldenthema aufzugeben und sich mit anderen Themen wie dem des gerechten Handels zu beschäftigen. Im Norden wurden Funktionäre von christlichen NGOs, die für die Schul-denkampagne eingesetzt worden wa-ren, entlassen oder einer anderen Ver-wendung zugeführt.

In diesem Kontext beschlossen ei-nige Kampagnen des Südens im Lau-fe des Jahres 1999 Jubilee South zu schaffen. Seinerseits beschloss das Netzwerk des CADTM (Comité pour l’Annulation de la Dette du Tiers Monde), das begann, sich international auszudehnen, eine strategische Allianz mit Jubilee South zu knüpfen und dazu beizutragen, dass die Antischuldenbe-wegung über das Jubeljahr 2000 hinaus einen zweiten Atem erhält.3 Aus die-

2 Dies gilt für Diálogo 2000 aus Argentinien, der eine radikalere Petition angenommen hat als das CADTM.

3 Bereits im März 1999, auf einer Versammlung in Brüssel, hatte das CADTM den Führern der Kampagnen des Südens, die Jubilee South bil-den sollten, vorgeschlagen, eine weltweite Be-wegung zu gründen, aber diese erklärten, lie-ber eine Süd-Süd-Bewegung schaffen zu wol-len, was sie einige Monate später taten. Sie wollten sicher das Eingreifen von Organisatio-nen des Nordens vermeiden. Von diesem Mo-ment an entwickelte sich das CADTM haupt-sächlich in den „frankophonen“ Ländern Eu-ropas, Afrikas südlich der Sahara, Nordafri-kas und des Mittleren Ostens sowie in Haiti. Es entwickelte sich auch, aber in geringerem Ausmaß, in Lateinamerika (Venezuela, Ko-lumbien und Ecuador) und in Südasien (Indi-en und Pakistan). Die Mehrheit der Organi-sationen des Südens, die Mitglieder im Netz-werk CADTM sind, sind auch an Jubilee South angeschlossen. Es gibt eine gewisse Komple-mentarität zwischen der Verankerung von Ju-bilee South, das hauptsächlich in den „anglo-phonen“ Ländern Asiens und Afrikas sowie in

sem Grund wurde im Dezember 2000 in Dakar die große internationale Ver-sammlung unter dem Titel „Afrika – vom Widerstand zu den Alternativen“ organisiert, worauf unmittelbar der er-ste „Süd-Nord-Dialog“ folgte.

Im März 2000 waren das in Spanien vom „Bürgernetzwerk für die Abschaf-fung der Auslandsschuld“ (RCADE) verwirklichte Referendum, die consul-ta, sowie das im September in Brasilien organisierte Referendum große Schritte nach vorn. Sowohl die Qualität der Mo-bilisierung als auch der Grad der Poli-tisierung sind bei dieser Aktionsform deutlich höher als bei einer bloßen Un-terschriftensammlung für eine Petition. Es ist bedauerlich, dass es nicht gelang, solche Initiativen in einer großen An-zahl von Ländern zu wiederholen.

Vom Standpunkt der politischen Analyse hat das RCADE vollständig Recht: „Die Verschuldung ist nicht ein Bruch des Systems, sondern sein Produkt, und deshalb ist zur Lösung des Schuldenproblems ein Wandel der Strukturen unerlässlich. Wenn die Ver-schuldung abgeschafft wird, ohne dass sich die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Strukturen än-dern, wird das Problem erneut entste-hen. Zur Abschaffung der Verschul-dung gehört also auch eine Änderung der Strukturen.“ (RCADE, 2000.)

Dies ist Gegenstand der Debatten unter den Schuldenkampagnen: Die einen, wie das RCADE, das CADTM und Jubilee South, denken, dass der Kampf für die Annullierung der Schul-den zu einer Infragestellung des kapi-talistischen Systems in seiner Gesamt-heit gelangen muss. Andere denken, dass das System nicht verändert wer-den kann oder verändert werden darf. Für sie handelt es sich darum, Pro-bleme wie die extreme und abscheuer-regende Verschuldung dadurch zu re-geln, dass die Länder von der Schul-denlast befreit werden, ohne das Sys-tem in Frage zu stellen.

Es ist natürlich erforderlich, die-se weitreichenden politischen Diver-genzen zu diskutieren, aber dies darf die Aktionseinheit für eindeutige Ziele nicht verhindern.

Weitere Themen führten zu ent-gegengesetzten Reaktionen bei Radi-

Lateinamerika verankert ist, und der Veranke-rung des Netzwerks CADTM, das hauptsäch-lich (aber nicht ausschließlich) in der franko-phonen und in der arabischen Welt verankert ist.

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kalen und Gemäßigten innerhalb der Bewegung, zum Beispiel das der Be-dingungen. Jubilee South und das CADTM sind dagegen, dass die Regie-rungen des Nordens und die internati-onalen Finanzorganisationen für die Länder, die einen Schuldenerlass er-halten, Bedingungen festlegen. Jubilee South und das CADTM meinen, dass nur die Bürgerinnen und Bürger des Südens Bedingungen festlegen kön-nen, denn ihr Schicksal steht auf dem Spiel. Ihrerseits sind manche Organi-sationen des Südens und die Mehrheit der Organisationen des Nordens der Auffassung, dass die Regierungen des Nordens und die internationalen Fi-nanzinstitutionen Bedingungen aufer-legen können und sogar müssen, zum Beispiel was den Kampf gegen die Ar-mut anbelangt. Jubilee South und das CADTM denken dagegen, dass die Re-gierungen des Nordens und die inter-nationalen Finanzinstitutionen sich des Arguments vom Kampf gegen die Ar-

mut (wozu sie seit dem Jahr 2000 die Verfolgung der „Milleniumsziele für Entwicklung“ hinzufügen) als ein Vor-wand bedienen, um andere Ziele zu erreichen, die Teil einer verborgenen Agenda sind: mehr Privatisierungen, eine größere ökonomische Öffnung der Länder des Südens usw.

Um die Heuchelei der Regierungen des Nordens und der internationalen Fi-nanzinstitutionen zu beschreiben, kann man sagen, dass sie den Weg zur Hölle mit guten Absichten pflastern. Verges-sen wir nicht, dass die Kreuzzüge zum Vorwand hatten, das Grabmal Chris-ti zu befreien, dass das Papsttum seit dem 15. Jahrhundert die Sklaverei ge-rechtfertigt hat4, dass es die Hexenjagd auf emanzipierte Frauen mit dem Vor-wand gerechtfertigt hat, dass diese kei-

4 Der Sklavenhandel wurde vom Papst 1455 in der Enzyklika „Romanus Pontifex“ legitimiert und als missionarische Tätigkeit analysiert. Siehe Angus Maddison, L’économie mondiale: une perspective millénaire, Paris 2001.

ne Seele besäßen, dass Leopold II., Kö-nig von Belgien, auf der Berliner Kon-ferenz von 1885 den Kongo unter dem Vorwand erhalten hat, den Kampf ge-gen die von den Arabern organisier-te Sklaverei zu führen, und dass, um ein jüngeres Beispiel zu nehmen, die USA und ihre Verbündeten 2003 unter dem Vorwand in den Irak einmarschiert sind, das Volk von der Tyrannei zu be-freien und die Menschheit vor Massen-vernichtungswaffen zu schützen.

In der oben beschriebenen Debat-te wurde im Juni 2005 ein enormer Schritt nach vorn vollzogen und im September desselben Jahres, auf dem zweiten Süd-Nord-Dialog in Havanna, waren Gemäßigte und Radikale einver-standen damit, künftig gemeinsam alle vom Norden auferlegten Bedingungen abzulehnen.

Ein weiteres Thema, das disku-tiert wird: Welche Haltung ist gegen-über den Reichen der Länder des Sü-dens und ihren Regierungen einzuneh-

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Eric toussaint: Profit oder Leben. Neoliberale Offensive und internationale Schuldenkrise

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men? Zunächst ist festzustellen, dass fast alle Regierungen des Südens ei-ne Politik verfolgen, die mit den Inter-essen der lokalen herrschenden Klas-sen übereinstimmt. Hinzuzufügen ist, dass man die Regierungen des Südens, die in den letzten zwanzig Jahren die Annullierung der Schulden gefordert haben, an den Fingern einer Hand ab-zählen kann. Was ist der Grund da-für? Die herrschenden Klassen des Südens profitieren von der Rückzah-lung der Auslandsschulden. Sie ha-ben einen großen Teil der von ihnen angehäuften Kapitalien in den Norden verschoben. Die Reichen des Südens sind selbst Gläubiger der Regierungen des Südens, indem sie Auslandsschul-dentitel erwerben. Deshalb könnte die Nichtzahlung der Schulden ihre Inter-essen bedrohen. Die Reichen des Sü-dens sehen sich in den globalen Kapi-talismus integriert und teilen mit den reichen Klassen des Nordens diesel-ben Interessen.

Jubilee South und das CADTM for-dern von den Regierungen des Südens, dass sie eine Prüfung der öffentlichen Schulden organisieren5, dass sie ihre Zahlung einstellen und sie zurückwei-sen. In diesem Kampf treffen sie nicht auf die Sympathien der Regierenden, die sich im Austausch für ihre gefügige Zahlung der Auslandsschulden einen dauerhaften Zugang zur Finanzierung durch die internationalen und priva-ten Finanzorganisationen sichern. Die Belohnung für ihren Gehorsam ist die Bewahrung ihres Zugangs zum Kre-dit. Die Darlehensgeber schauen nicht sehr darauf, was mit den Darlehen ge-schieht. Die Regierungen des Südens bereichern sich, wobei sie ihre Länder und ihre Bevölkerungen arm machen.

Jubilee South hat das Verdienst, zur kollektiven Erarbeitung der Bewe-gungen gegen die Verschuldung den Begriff der historischen, sozialen, kul-turellen und ökologischen Schuld bei-getragen zu haben. Seine Losung „Wir, die Völker des Südens, sind die Gläu-

5 Siehe das gemeinsam, besonders vom CADTM, dem CETIM und Jubilee South herausgegebe-ne Buch Menons l’enquête sur la dette! Manu-el pour des audits de la dette du Tiers Monde, Genf 2006.

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biger“ wurde von vielen Bewegungen aufgegriffen.

Von den kämpferischen Bewe-gungen werden Verbindungen zwi-schen den verschiedenen Themen her-gestellt: zwischen Verschuldung und Migration6; zwischen Nahrungssouve-ränität und der Ablehnung der Schul-den und der Strukturanpassungspoli-tik; der gemeinsame Kampf gegen das Trio WTO, Weltbank und IWF; die Zu-sammenarbeit der Bewegungen gegen die Verschuldung7: entgegen einer ge-wöhnlich vertretenen Vorstellung müs-sen die Länder des Südens nicht unaus-weichlich zur Verschuldung beim Nor-den Zuflucht nehmen, wenn sie sich entwickeln wollen. Alternative Politik-konzepte, die nicht zu neuen Schulden führen, sind vollständig anwendbar – auf nationaler ebenso wie auf interna-tionaler Ebene.

AKTuELLE KONJuNKTuR uND ZuKuNFTSPERSPEKTIVEN

Die Konjunktur von 2006/07 ist ge-kennzeichnet vom Niveau der Reser-ven in harten Devisen (US-Dollar, Eu-ro, Pfund Sterling, Yen …) in den Län-dern des Südens: Es war niemals so hoch, und dies ist die Folge des relativ hohen Preises von Rohstoffen und von einigen auf den Weltmarkt exportierten landwirtschaftlichen Produkten. Sie ist auch gekennzeichnet durch Zinsra-ten, die niedriger sind als in den Jah-ren 1980–1990. Weitere Charakteris-tiken: Das Niveau der Verschuldung privater Unternehmen erreicht phäno-menale Ausmaße; die Länder des Sü-

6 Siehe die Versammlung der sozialen Bewegun-gen Nordafrikas und Afrikas südlich der Saha-ra (darunter Aktive des CADTM aus Marok-ko, der Demokratischen Republik Kongo, der Elfenbeinküste und des Niger) im Juli 2006 in Rabat parallel zum euroafrikanischen Gipfel. Siehe auch das CADTM und die Bewegung der Sans Papiers in Belgien.

7 Siehe den gemeinsamen Appell für eine welt-weite Aktionswoche im September 2006 ge-gen Weltbank und IWF, lanciert von Jubilee South, CADTM, 50 Years is Enough, Eurodad …, an denen auch Greenpeace, Oil Watch und die Freunde der Erde neben kämpferischen Be-wegungen gegen Riesenstaudämme und ande-re energiepolitische Megaprojekte sowie Be-wegungen gegen die Abholzung von Wäldern agierten.

dens mit mittleren Einkommen (wie Brasilien, Argentinien, Mexiko, Uru-guay, Algerien …) zahlen vorzeitig ih-re Schulden beim IWF und schließen neue Schulden bei den Finanzmärkten und Banken ab; China verleiht viel an die ärmsten Länder, besonders in Afri-ka, um sich Rohstoffquellen und Ab-satzmärkte zu sichern; ein Teil der öf-fentlichen Auslandsverschuldung wird durch öffentliche Inlandsverschuldung ersetzt.

Die Gesamtheit dieser Elemente schafft eine trügerische Ruhe an der Verschuldungsfront. Die vorzeitig er-folgten Rückzahlungen an den IWF vermitteln zu Unrecht den Eindruck, die Schulden seien Teil der Vergangen-heit.

In Wirklichkeit reifen erneut Be-dingungen heran für neue finanziel-le Ungleichgewichte und eine neue Schuldenkrise. Wann, wo und in wel-cher Form wird sie ausbrechen? Das ist schwer zu sagen.

Die Frage der Schulden wird in den kommenden Jahren wieder in den Vordergrund rücken und es ist zu hof-fen, dass Regierungen des Südens un-ter dem Druck der Bevölkerungen da-hin gelangen, ihre Rückzahlung in Fra-ge zu stellen. Hoffen wir, dass die alter-nativen Vorschläge auf ein breites Echo treffen.

In den Jahren 2005 und 2006 wurde trotz zahlreicher Fallstricke ein Fort-schritt auf dem Weg zu einer Konver-genz zwischen den verschiedenen Be-wegungen, die für die Befreiung der Völker vom Schuldenjoch kämpfen, er-reicht. Darüber hinaus haben die sozi-alen Bewegungen und die großen Kam-pagnen, die im Weltmaßstab agieren, ihren Willen bekräftigt, ihre Koordina-tion zu verbessern.8 Um erfolgreich zu sein, ist es unerlässlich, diesen Kampf fortzusetzen.

Übersetzung: H.G.Mull

8 Dies war besonders der Fall beim „Seminar über die Strategie der sozialen Bewegungen“ in Brüssel Ende September 2006, wozu das CADTM, COMPA, Focus on the Global South, Grassroots Global Justice, Jubilee South, der Weltfrauenmarsch und Via Campesina aufge-rufen hatten.

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Interview mit Michel Husson und Jacques SapirLouise: Handelt es sich bei den Stand-ortverlagerungen um eine reale Be-drohung für die Lohnabhängigen in den Industriestaaten oder ist es nur ei-ne Augenwischerei der Unternehmer? Michel Husson: Beides ist der Fall. Al-le bisher verfügbaren Beurteilungsver-suche zeigen, dass Standortverlage-rungen ein begrenztes Phänomen sind. Zudem wird das Argument der Stand-ortverlagerung zur Erklärung der Ver-nichtung von Arbeitsplätzen und der niedrigen Löhne für alle Unterneh-men herangezogen, obwohl der An-teil der potentiell betroffenen Unter-nehmen relativ begrenzt ist. Für den Standort sind ja nicht nur die Arbeits-kosten relevant, sondern auch andere Faktoren. Beispielsweise werden man-che Call Center wieder aus Niedrig-lohnländern zurückverlagert, in denen die Dienstleistungen aufgrund sprach-licher und anderer Kompetenzen als ungenügend beurteilt wurden. Im Mo-ment überwiegt also die Augenwische-rei. Dennoch stellen Standortverlage-rungen eine reale Bedrohung dar, weil damit verschiedene Sozialmodelle im-mer mehr in Konkurrenz zueinander gesetzt werden. Aufgrund der neuen

Arbeitsteilung sind davon nicht mehr allein Sektoren wie die Textilindustrie betroffen, in denen die Arbeitskosten die wichtigste Variable ist, sondern auch qualitativ hochwertige Dienstlei-stungen, die Forschung, die Hochtech-nologie. Unterdessen gibt es Länder, die sowohl Billiglöhne als auch intel-lektuelles Knowhow bieten.

Jacques Sapir: Um die sozialen Fol-gen der Standortverlagerungen beurtei-len zu können, muss das Problem nach Branchen, Unternehmensgröße und Wirtschaftsdynamik betrachtet wer-den. Was die Branchen betrifft, kann man feststellen, dass die Folgen der Standortverlagerungen für verschie-dene Tätigkeiten völlig unterschiedlich sein können, auch wenn sich das Phä-nomen unterdessen tatsächlich nicht mehr auf Branchen mit niedriger Qua-lifikation beschränkt, sondern auch Branchen mit viel höheren Qualifikati-onen erfasst. Anfangs waren vor allem Branchen mit niedriger Qualifikation betroffen, und das stellt ein Problem dar. Da es enorme Unterschiede in der Zusammensetzung der Arbeitskosten gibt, werden im Freihandelssystem in Ländern mit einer fortschrittlichen So-zialversicherung in erster Linie die am wenigsten qualifizierten Stellen be-

nachteiligt. Denn für diese Beschäfti-gungsform spielt der Kostenfaktor in der Wahl des Standorts die größte Rol-le. Es trifft also einen Teil der Bevöl-kerung, der ausgesprochen verletzlich wird, und natürlich ist das vor allem die Bevölkerung der Vorstädte. Durch die-se Konzentration auf die wenig quali-fizierte Arbeit sind die sozialen Folgen der Standortverlagerungen wesentlich bedeutender als die wirtschaftlichen, wenn man den Anteil an Unternehmen betrachtet, die den Standort verlagern. Zweitens sind nicht alle Unternehmen von Standortverlagerungen betroffen: Kleinbetriebe sind wesentlich weniger betroffen als mittlere und größere Un-ternehmen, die sich erlauben können, Standortverlagerungen aus einer sozi-alen Logik vorzunehmen. Ich spreche bewusst von „sozialer Standortver-lagerungslogik“, denn wenn ein Un-ternehmen beschließt, in einem neuen Land eine neue Produktionskapazität einzuführen, um Zugang zu einem an-deren Markt zu erhalten, ist das noch keine Standortverlagerung. Das be-deutet, dass in Frankreich zur Zeit ei-ne Entwicklung stattfindet, die eine neue Arbeitsteilung zwischen Klein- und Großunternehmen fördert, da nur die Großunternehmen in der Lage sind, internationale Produktionsstrategien zu entwickeln. Das ist ausgesprochen wichtig, denn bekanntlich sind die so-zialen Bedingungen in Kleinunterneh-men schlechter als in Großbetrieben. Drittens muss das Phänomen in seiner Dynamik untersucht werden. Tatsäch-lich gibt es vielleicht nur wenige Un-ternehmen, die aus sozialen oder um-weltspezifischen Gründen den Standort verlagern – das Argument von zu strik-ten Umweltauflagen in unseren Volks-wirtschaften wird tatsächlich ins Spiel gebracht -, und dennoch können die-se durch die Repräsentanz enorme Be-deutung erlangen. Daher lässt sich be-obachten, dass auch in Unternehmen, die ihren Standort nicht verlagern, die Beschäftigten Verschlechterungen von Arbeitsbedingungen, des sozialen

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Der Protektionismus als Mittel alternativer Politik?Lassen sich protektionistische Maßnahmen im Handel, ein tabu für die Verfechter des Neoliberalismus und Mittel schlechthin für die Verfechter der Autarkie, als wirtschaftspolitisches Instrument in den Dienst eines Programms des sozialen Wandels nehmen? Eine Kon-troverse zwischen zwei Ökonomen über neue Erkenntnisse zur Fra-ge der Rahmenbedingungen des Handels.Standortverlagerungen werden als einer der bedrohlichsten Aspekte der Globalisierung, als unmittelbare Bedrohung für die Lohnabhängi-gen im Norden angesehen, die von den Multis in Konkurrenz zu den billigen Arbeitskräften des Südens gesetzt werden. Welche Dimen-sion hat diese Bedrohung wirklich und wie kann ihr begegnet wer-den? Wie lässt sich vermeiden, Lohnabhängige der verschiedenen Länder gegeneinander auszuspielen? Welche unmittelbaren Maß-nahmen einer öffentlichen Politik könnten für die Lohnabhängigen die Verschlechterung des Kräfteverhältnisses gegenüber den Arbeit-gebern aufhalten? Diese Fragen stehen im Zentrum des Gesprächs der Zeitschrift „Les cahiers de Louise“ mit Michel Husson und Jac-ques Sapir.

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Schutzes etc. hinnehmen. Daher kön-nen die Folgen der Standortverlage-rungen und die Anzahl der verlagerten Stellen nicht direkt in Bezug zueinan-der gesetzt werden.

L.: Wie weit sind Standortverlage-rungen für die Arbeitslosigkeit verant-wortlich?

M. H.: Insbesondere in Frankreich und Deutschland ist es eine verbreite-te Haltung, die anhaltenden Massen-arbeitslosigkeit mit den Standortverla-gerungen zu erklären. Ich glaube, hier muss man völlig kategorisch sein und sagen, dass kein Zusammenhang zwi-schen der hohen Arbeitslosenrate und Standortverlagerungen besteht. Die Vorstellung, die Länder des Südens würden unsere Arbeitsplätze abziehen, ist falsch. In manchen Studien wird der Anteil der Arbeitslosigkeit, die auf die Konkurrenz durch Niedriglohnländer zurückgeht, auf 10 Prozent geschätzt. Der Kern des Problems liegt aber in der lokalen makroökonomischen Ent-wicklung. Als Gegenbeispiel kann die Schaffung zahlreicher neuer Arbeits-plätze in Frankreich zwischen 1997 und 2001 genannt werden. Diese lassen sich nicht ernsthaft auf Standortverla-gerungen zurückführen. Die beiden Probleme Arbeitslosigkeit und Stand-ortverlagerung dürfen also nicht mit-einander verquickt werden.

J. S.: Ich wäre da vorsichtiger. Ei-nerseits gilt es, die direkten Folgen von Standortverlagerungen von den indi-rekten Auswirkungen zu unterscheiden. Denn die Standortverlagerungen erzeu-gen auch einen Druck zur Zurückhal-tung bei den Reallöhnen, was Auswir-kungen auf die Konjunktur hat. Ande-rerseits stimmt es zwar, dass die Mas-senarbeitslosigkeit nicht auf Standort-verlagerungen zurückzuführen ist. Sie hat sich in Frankreich in zwei großen Etappen entwickelt: vor 1980 im Zu-sammenhang mit der Deregulierung des Produktionssektors und im Zug der makroökonomischen Politik Mitte der 1980-er Jahre, als die Zahl der Arbeits-losen von 1,4 Millionen auf 3 Millio-nen stieg. Trotzdem hängt der fortlau-fende Abbau von niedrig qualifizierten Industriearbeitsplätzen wesentlich stär-ker mit Standortverlagerungen zusam-men.

Der explosionsartige Anstieg der Massenarbeitslosigkeit, die Ablö-sung der kapitalistischen Vollbeschäf-

tigungswirtschaft bis Mitte der 1970er Jahre durch eine kapitalistische Wirt-schaft mit hoher Arbeitslosigkeit ge-hen wesentlich auf einen Umbruch in den Produktionsstrukturen und der ma-kroökonomischen Politik zurück. Was heute stattfindet, ist aber die Durchset-zung einer neuen Form der Regulie-rung des internationalen Handels, die auf der Konjunktur lastet und traditio-nelle antizyklische Maßnahmen außer Kraft setzt. Die Standortverlagerungen stellen also nicht so sehr ein Problem hinsichtlich einer Steigerung der Ar-beitslosigkeit sondern eher hinsichtlich der Wirkungslosigkeit von Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit dar, außer man würde beschließen, ge-schützte Stellen im öffentlichen Dienst zu schaffen, was sich jedoch stark auf das Budget niederschlägt.

L.: Worum geht es in es in der Diskus-sion über Standortverlagerungen und staatliche Politik? Sind hier protektio-nistische Maßnahmen wünschenswert?

M. H.: Hier gibt es eine Diskus-sion, insbesondere in Attac, rund um die Idee, Sozialklauseln und tarifä-re Schutzmaßnahmen einzuführen. Wenn man davon ausgeht, dass es „die Standortverlagerungen sind, die uns die Stellen wegnehmen und uns in ei-nen unfairen Wettbewerb mit Niedrig-lohnländern zwingen, die sich über ele-mentare Sozialstandards hinwegset-zen“, dann lautet die konsequente Ant-wort: „Wir müssen uns schützen, sei es durch Steuern oder indem der Handel an die Einhaltung von Sozialstandards geknüpft wird.”

Diese Diskussion ist aus verschie-denen Gründen kompliziert. Erstens, weil man auf der Ebene des Handels über Länder diskutiert und einen we-sentlichen Akteur vergisst, der die Handelsströme organisiert, nämlich die Multis. Nur ein Beispiel: In den Verei-nigten Staaten findet eine wichtige Dis-kussion darüber statt, welche Bedro-hung die chinesischen Exporte darstel-len, obwohl fast die Hälfte dieser Ex-porte auf Auslandsinvestitionen in Chi-na zurückgehen, von denen viele noch dazu amerikanisch sind! Träger der Handelsströme und der Verlagerung von Produktionsstandorten sind al-so die Multis. Die Vorstellung, der tu-gendhafte Norden würde durch einen unfairen Süden bedroht, blendet diesen Aspekt aus.

Zweitens liegen die Dinge auch im Hinblick auf konkrete Maßnahmen nicht so einfach. Ein Vorschlag geht da-hin, Steuern auf Importe aus Niedrig-lohnländern zu erheben und die Einnah-men dann an einen Fonds zur Finanzie-rung der Entwicklung rückzuüberwei-sen. Soll die Steuer die Unterschiede zwischen den Lohnkosten maßgeblich abbauen, wird sie aber die Absatzmär-kte der Entwicklungsländer verringern, was zur Folge hätte, dass nur geringe Mittel in den Fonds gespeist würden.

Drittens stellt sich eine andere schwierige Frage: Die Wettbewerbs-fähigkeit der Niedriglohnländer darf nicht allzu voreilig als unfair betrach-tet werden, denn das niedrigere Lohn-niveau dieser Länder entspricht vor allem einem niedrigeren Entwick-lungsstand. Im Übrigen haben Stand-ortverlagerungen und die stärkere Ein-bindung in den Welthandel einigen die-ser Länder erlaubt, unter harten Aus-beutungsbedingungen zumindest ihre Produktionsstrukturen weiterzuentwi-ckeln, auch wenn sie keine allgemei-ne Entwicklung bewirkt haben. Diese Art der industriellen Entwicklung ist zweifellos etwas barbarisch, doch sie ist für diese Länder gewissermaßen ei-ne Starthilfe.

Ein weiteres Problem: Die Export-orientierung wurde diesen Ländern von den Ländern des Norden aufgezwun-gen, damit sie rasch vorankommen und die Schulden abzahlen können. Den Ländern wurden Strukturanpassungs-programme auferlegt, die das Schwer-gewicht auf Exporte legten. Und jetzt will man ihnen vorwerfen, dass sie zu erfolgreich sind, und sie sogar auffor-dern, ihre Entwicklung zu bremsen?

Mir graut davor, Standortverlage-rungen als einzige Ursache der Pro-bleme der sozialen Regression zu be-trachten, denn die einzige Antwort darauf wären protektionistische Maß-nahmen. Letztlich stellt sich beim Pro-tektionismus – der für mich nicht per se negativ besetzt ist – die Frage, wem ge-genüber man sich schützen will. Man darf sich nicht so sehr auf Länder ein-schießen, sondern muss die von den Multis vorgegebene Arbeitsteilung an-schauen. In gewisser Weise könnte Eu-ropa – und das ist einer der Aspekte der Attac-Diskussion – als Opfer des Glo-balisierungsdrucks betrachtet werden, obwohl Europa diese Entwicklung in vielen Bereichen beschleunigt. Insbe-

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sondere bei den WTO-Verhandlungen gehört Europa zu den Mächten, die Druck auf die Länder des Südens ma-chen, ihre öffentlichen Märkte für eu-ropäische Unternehmen zu öffnen. Ich bin also nicht gegen tarifäre Schutz-maßnahmen auf europäischer Ebene. Ich sehe aber die Gefahr, darin die ein-zige, umfassende Antwort auf das Be-schäftigungsproblem zu sehen, das auf das Problem der Standortverlage-rungen reduziert wird.

Blickt man mehr in die Zukunft, sollte das Ziel sein, das Konkurrenz-verhältnis zwischen den Ländern durch ein Verhältnis der Zusammenarbeit zu ersetzen. Diese Beziehungen müssten sich auf eine Form des Handels mit sta-bilen Preisen für Rohstoffe und Tech-nologietransfer stützen, um die Ent-wicklung zu fördern.

J. S.: Ich glaube, um diese Frage zu beantworten, muss man die Probleme systematisch anschauen. Erstens kann man von Sozial- oder Umweltdumping nur dann sprechen, wenn in den Län-dern mit niedrigem Lohnniveau oder schwacher sozialer Absicherung ein re-lativ hoher Produktivitätsstand erreicht

wird. Wenn die Länder ein niedriges Produktivitätsniveau haben, kann man sie natürlich nicht auffordern, bei die-ser geringen Produktivität sowohl eine gute soziale Absicherung zu gewähr-leisten als auch angemessene Löhne zu zahlen. Hier stellt sich also ein er-stes Problem: Es sind nicht die ärmsten Länder, die Sozial- oder Umweltdum-ping betreiben, sondern per Definition mittlere oder reiche Länder. Die Ver-einigten Staaten beispielsweise betrei-ben gegenüber Europa Umweltdum-ping. Wenn man von Protektionismus spricht, zielt man eher auf die Länder im mittleren Bereich und nicht auf die ärmsten Länder.

Zweitens muss man, wenn man die Rolle der Multis anspricht, auch den Begriff der territorialen Wettbewerbs-fähigkeit erwähnen. Denn die Strate-gie der Multis ist nicht losgelöst von ihrer Beurteilung der Wettbewerbsfä-higkeit der Gebiete, in denen sie sich niederlassen. Gewisse Regierungen ha-ben – zweifellos unter Druck – eine Po-litik der Exportorientierung (Extraver-sion) eingeschlagen, die darin besteht, bewusst den Binnenmarkt zu zerstören

und sich als Raubtier-Exporteure auf die restliche Welt zu orientieren. Die-se Strategie funktioniert aber nicht. Auf der Grundlage dieses Modells ist eine Entwicklung im Weltmaßstab nicht möglich. Eine exportgestützte Entwick-lung setzt nämlich voraus, dass man Marktanteile anderer Länder erobert, und sie lässt sich daher nicht verallge-meinern. Es wird also nötig sein, dieses Modell auf irgendeine Weise zu durch-brechen, und die Wirkung von Sozial- und Ökozöllen wäre auch, dass die Re-gierungen gezwungen wären, sich neu mit der Frage des Ausbaus ihres Bin-nenmarktes zu befassen. Sie würden al-so auf eine andere, mittel- und langfris-tig nachhaltige Entwicklungsstrategie zurückverwiesen.

Der dritte Punkt ist das Problem der Europäischen Gemeinschaft. Hier muss man klipp und klar feststellen, dass die EU mit ihren verschiedenen Kommis-saren wie Pascal Lamy ein Hebel zur Liberalisierung des internationalen Handels war. Wenn behauptet wird, die EU beschütze uns vor der Globalisie-rung, ist das völlig falsch. Man kann sich also nicht auf Ebene der EU be-geben. Zuerst muss man sich wieder auf die Frage der nationalen Politiken konzentrieren, denn auf diese läuft al-les letztlich immer wieder hinaus, und auch die Frage des Schutzes innerhalb Europas aufgreifen. Angesichts der so-zialen und politischen Heterogenität ist es unmöglich, einen gemeinsamen Markt der 24 oder 25 Länder zu haben. Für die 6 oder 8 Länder, die ursprüng-lich dabei waren, machte das Sinn, heu-te aber nicht mehr.

Viertens muss die Frage der Sou-veränität im Sozialbereich angeschaut werden. Wenn man im Rahmen eines Landes beschließt, der Sozialpolitik mehr Gewicht einzuräumen, indem man Steuern erhöht, kommt diese Poli-tik den ArbeiterInnen und BürgerInnen zugute, aber sie tragen auch ihre Ko-sten. Ermöglicht man nun Ländern mit schlechter sozialer Absicherung oder sehr niedrigen Löhnen, diese politische Orientierung mithilfe des Freihandels-systems durch Standortverlagerungen zu destabilisieren, räumt man anderen Menschen das Kontrollrecht über Ent-scheidungen ein, die in einem ande-ren Rahmen gefällt werden. Niemand würde in einer Organisation zulassen, dass sich Nichtmitglieder selbst zu Sit-zungen einladen und dort mit bestim-

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Eu-Kommissar Pascal Lamy, einer Hauptvertreter der Liberalisierung des internationalen Handels

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men. Man muss sich klar machen, dass dieses Potenzial der Destabili-sierung politischer und sozialer Ent-scheide von außen so massiv ist, dass die Bevölkerung ausgesprochen ag-gressiv darauf reagieren wird, weil sie sich zutiefst ihres grundlegenden poli-tischen Rechts beraubt sieht, über die Form und Verwendung der direkten oder indirekten Steuern zu bestimmen, die sie bezahlt. Man darf nicht verges-sen, dass die Zustimmung zum Steu-ersystem eine zentrale Grundlage des Funktionierens eines politischen Sy-stems ist. Wenn diese Zustimmung in Frage gestellt wird, zerfällt das poli-tische System.

Konkret stellt das Phänomen des Freihandels zwischen Ländern mit an-nähernd gleichem Produktivitätsniveau und vergleichbaren Produktionsstruk-turen die Zustimmung zum Steuersy-stem in Frage, weil die erwarteten Aus-wirkungen in Form wirtschaftlicher und sozialer Garantien ausbleiben. Es besteht ein erhebliches Risiko, dass das demokratische politische System daran zerbricht.

Der letzte Punkt betrifft die Fra-ge, ob der Freihandel die Entwicklung des so genannten Südens gefördert hat. Werfen wir einen Blick auf die Zahlen. Gemäß Untersuchungen der Weltbank ist der auf die Liberalisierung des Welt-handels zurückzuführende Gewinn für Entwicklungsländer zwischen 2003 und 2005 von mehreren hundert Mil-lionen Dollar auf nahezu Null zusam-mengeschrumpft. Und von dem weni-gen, das geblieben ist, entfällt fast alles auf China! Berücksichtigt man darüber hinaus den auf den Freihandel zurück-zuführenden Wegfall der Zölle, ist die Bilanz für die Entwicklungsländer deutlich negativ.

Man muss sich entscheiden. Ent-weder behauptet man, es könnten kei-ne Statistiken erstellt werden und man interessiert sich nur für die qualita-tive Entwicklung in einzelnen Ländern oder man versucht, globale Statistiken vorzulegen. Im zweiten Fall kann heu-te ehrlicherweise niemand behaupten, die Entwicklungsländer hätten von der Liberalisierung des Handels profitiert. Auch wenn diese Strategie der Export-orientierung für China relativ gut und für manche Länder des fernen Ostens gut funktioniert hat, lässt sie sich nicht verallgemeinern. Die Art von psycholo-gischer Abscheu vor dem Protektionis-

mus wurzelt in einer völlig verzerrten Darstellung der wirtschaftlichen Ent-wicklung der letzten 15 Jahre.

L.: Wie lassen sich innenpolitische mit internationalen Aspekten verbin-den, um eine alternative Wirtschaftspo-litik in die Wege zu leiten?

M. H.: In einem Land wie Frank-reich überschneiden sich zwei Ansprü-che: die Integration in den Weltmarkt und die Sozialpolitik. Mir scheint, dass die Hauptwiderstände gegenüber ei-ner Politik, die sich die Mittel gibt, ein funktionierendes Sozialsystem zu unterhalten, indem sie Steuern erhöht und damit die Sozialausgaben bezahlt und die Einkommen gerecht verteilt, nicht allein vom Freihandel kommen. Auch interne Beziehungen der Ein-kommensverteilung spielen hier mit. In den Diskussionen in der Fondati-on Copernic über ein alternatives Pro-gramm spielt das Argument, dass vor allem die Finanzeinkommen mehr so-zialer Gerechtigkeit im Weg stehen, ei-ne bedeutende Rolle. Es lässt sich auf-zeigen, dass man gleichzeitig eine Po-litik der sozialen Gerechtigkeit verfol-gen und – sofern man von solchen aus-geht – die Zwänge des Wettbewerbs be-rücksichtigen kann, wenn man die Fin-anzeinkommen reduziert. Diese Ver-teilung verweist auf die Frage der So-zialverhältnisse im Inland, die zwar stark durch den globalen Kontext be-einflusst sind, sich aber sicher nicht auf die Zwänge des Freihandels reduzieren lassen. Die Bedeutung dieser sozialen Beziehungen im Inland gilt auch für den Süden. Diese Länder weisen sehr unterschiedliche Erfolge auf, aber alle sind sich einig, dass die Ungleichheiten massiv zugenommen haben. China ist hier ein Paradebeispiel für diese Ent-wicklung. Man muss aufpassen, wenn man von den Ländern des Nordens und den Ländern des Südens spricht. Da-mit verschleiert man die Tatsache, dass es auch in den Ländern des Südens ei-ne relativ schmale Gesellschaftsschicht gibt, die sich die Gewinne der mehr oder weniger geglückten Integration in den Weltmarkt aneignet. Die Dimen-sion der Globalisierung muss daher stets in Bezug zu der Dimension der sozialen Verhältnisse innerhalb jedes Landes gesetzt werden.

J.-S.: Ich wäre der letzte, der die Be-deutung der negativen Folgen der Libe-ralisierung des Finanzsektors leugnen

wollte. Dennoch bin ich aus mehreren Gründen nicht ganz einverstanden mit dieser Darstellung. Erstens gibt es ei-nen Präzedenzfall. Das einzige Mal, als in Frankreich versucht wurde, die Wirtschaft anzukurbeln, nämlich 1982, wurden die äußeren Zwänge und das Anfangsstadium des Defizits der Han-dels- und der Zahlungsbilanz schlecht analysiert. Die Wirtschaft lässt sich of-fenbar nicht ankurbeln, wenn der Han-del aus Gründen des Freihandels asym-metrisch ist.

Der zweite Punkt betrifft die Fra-ge der Besteuerung in den wirtschaft-lich entwickelten Ländern. Eine der Folgen des Freihandels ist, dass der Steuerdruck der Unternehmen auf die Haushalte abgewälzt wird. Wenn man den direkten und indirekten Unterneh-menssteuersatz ansieht, also sowohl die Abgaben auf Profite als auch die Sozi-alabgaben, die so etwas wie Steuern darstellen, dann stellt man fest, dass sich der Beitrag zu den Steuereinnah-men klar von den Unternehmen auf die Haushalte verlagert hat. Unter Letzte-ren profitiert eine kleine Schicht von Haushalten mit sehr hohen Einkom-men von Steuernischen. Wer ein sehr hohes Reichtumsniveau erreicht und es versteht, die im Zug der Finanzlibera-lisierung eröffneten verschiedenen Fi-nanzinstrumente gut zu nutzen, kann einen Teil seines Einkommens tatsäch-lich schützen. Dem gegenüber stehen die Haushalte, die praktisch keine di-rekten Steuern zahlen. Die direkten Steuern belasten also immer mehr den Mittelstand, der schon jetzt mit dem Problem konfrontiert ist, wie er seine zukünftigen Renten finanziert und die soziale Krise durch einen Generatio-nentransfer abfedern kann. Dann wird man einen Teil des Steuerdrucks über die Mehrwertsteuer auf Haushalte mit niedrigen Einkommen abwälzen. Und damit die Situation nicht allzu sehr aus-artet, sieht man eine Öffnung für Bil-ligprodukte vor, um die Erhöhung der Mehrwertsteuer zu kompensieren. Da-mit zerstört man Stellen, die diesen einkommensschwachen Schichten ein Einkommen sichern.

Zusammengefasst würde ich sa-gen, dass eine solche Politik selbstzer-störerisch ist. Selbst wenn der Freihan-del nur eine relativ kleine Wirkung auf die Verteilung der Steuermasse hat, löst er eine Kettenreaktion aus. Das hat zur Folge, dass der Mittelstand nicht bereit

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ist, eine Erhöhung der Steuerbelastung hinzunehmen, was im politischen Dis-kurs durchschimmert. Keine Partei, die auf den Mittelstand setzt, um regieren zu können, kann sich leisten, eine Poli-tik vorzuschlagen, die diesem deutlich höhere Steuern auferlegen will. Die Er-höhung der indirekten Steuer wirft na-türlich auf der Ebene des Konsums Pro-bleme auf. Auf die Unternehmen kann man die Steuerbelastung nicht zurück-verlagern, denn sonst würden viele zu-grunde gehen und damit die Arbeitslo-sigkeit steigen oder die Unternehmen würden vertrieben oder bewogen, Leu-te zu entlassen. Auf diese miteinander kombinierten Kettenreaktionen ist zu-rückzuführen, dass heute Länder wie Frankreich und Deutschland ihre Steu-ersouveränität weitgehend verloren ha-ben.

Man könnte auch Finanztransakti-onen und Finanzmittel besteuern. Aber das ist nur möglich, wenn man das Fi-nanzsystem völlig flachlegt. Wenn man beginnt, in einer Situation der extre-men Flüchtigkeit der kurz- und mittel-fristigen Märkte Finanztransaktionen zu besteuern, wirkt sich das nur kontra-

produktiv aus. Wenn man Formen ei-ner Besteuerung von Finanzdienstleis-tungen einführen will, muss man zu-erst wieder die Devisenkontrolle ein-führen und die kurz- und mittelfristi-gen Kapitalbewegungen kontrollieren und bändigen. Das läuft auf die Wie-dereinführung einer Art von Protektio-nismus hinaus. In Wirklichkeit kommt man jedes Mal, wenn man in Ländern wie Frankreich, Deutschland, den Nie-derlanden etc. die Wiederherstellung wirklicher Steuersouveränität in Erwä-gung zu ziehen versucht, auf die Frage des Protektionismus zurück.

L.: Unter welchen Bedingungen könnte eine wirtschaftliche Alternative zur ne-oliberalen Globalisierung ins Auge ge-fasst werden?

M. H.: Um die Realisierbarkeit al-ternativer Pläne zu beurteilen, sind zwei Ebenen in Betracht zu ziehen: ei-nerseits die wirtschaftliche Ebene, in-dem man prüft, inwiefern die Forde-rungen materiell überhaupt umsetz-bar sind. Würde man beispielsweise für alle Beschäftigten dieselben Löh-ne fordern, wie sie die Chefs der füh-

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renden Unternehmen erhalten, wür-de das französische Sozialprodukt da-für nicht ausreichen. Andererseits muss auf politischer Ebene überlegt werden, mit welchen Vergeltungsmaßnahmen im Fall der Durchführung eines alter-nativen Konzepts zu rechnen ist. Für den Versuch 1982 beispielsweise gab es im Entwurf des gemeinsamen Pro-gramms eine solche Abschätzung. Al-lerdings wurden überhaupt keine Vor-kehrungen getroffen, wie auf die zu er-wartenden Vergeltungsmaßnahmen wie Investitionsstreik oder Kapitalflucht re-agiert werden sollte. Hier besteht ein Konflikt zwischen verschiedenen sozi-alen Interessen, die auf nationaler Ebe-ne zusammengeführt werden müssen. Zwischen dem Mittelstand und den verarmten Klassen, die man oft gegen-einander ausspielt, gibt es beispiels-weise Überschneidungen, da beide gleichzeitig von Maßnahmen betroffen sind, die ihre Lage destabilisieren, wie im Bereich der Renten, der Löhne oder der Sozialversicherung.

Wichtig ist hier, dass zwischen Zweck und Mitteln unterschieden wird. Die Zwecke, also die soziale Verände-rung, und die Vorkehrungen oder Mittel – etwa protektionistische Maßnahmen, die ich, um es noch einmal zu beto-nen, nicht grundsätzlich ablehne – dür-fen nicht auf ein und dieselbe Stufe ge-setzt werden. Will man einen sozialen Wandel in die Wege leiten, muss man dieses Experiment schützen und ver-pflichtende Begleitmaßnahmen insbe-

Mittelstand und verarmte Klassen sind von den neoliberalen Maßnahmen wie der Rentenreformen gleich betroffen

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sondere in Bezug auf die Kontrolle der Kapitalflüsse vorsehen. Und das muss im Voraus verlautbart werden. Die Ein-setzung solcher Maßnahmen ist nicht das Ziel. Sie sind ein reines Mittel. Das Ziel ist, das Wohlergehen der Men-schen zu verbessern, die Einkommen anders zu verteilen, eine Reihe von so-zialen Rechten zu gewährleisten. Die-se Unterscheidung halte ich für grund-legend in der Gewichtung der verschie-denen Punkte eines Programms oder Plans.

J. S.: Vollkommen einverstanden. Ich glaube tatsächlich, dass man pro-tektionistische Maßnahmen – auch wenn ich sie heute befürworte – nicht mystifizieren darf. Es geht um Instru-mente, um Mittel. Der Protektionismus war nie ein Zweck an sich. Es sei denn, man spricht von Autarkie, das ist et-was anderes, aber ich bin kein Befür-worter der Autarkie. Diese Unterschei-dung von Mittel und Zweck ist absolut grundlegend.

Womit ich ebenfalls einverstanden bin, ist, dass man fähig sein muss, die Dynamik vorherzusehen und die po-litische Realisierbarkeit, die mit der wirtschaftlichen Realisierbarkeit ein-hergeht, gut zu verstehen, um Maß-nahmen zu ergreifen, von denen man annimmt, dass sie eine Übereinstim-mung der Interessen gewisser Sek-toren der französischen Bevölkerung bewirken können, die wir einigen wol-len. Wenn ich so sehr auf protektionis-tische Maßnahmen beharre, dann des-halb, weil sie erlauben, die Lage der am meisten benachteiligten Schich-ten zu verbessern, ohne dass dem Mit-telstand eine Erhöhung der Steuer-last droht. Ich halte es für sehr wich-tig, über eine Palette an wirtschafts-politischen Instrumenten zu verfü-gen, die direkt und indirekt erlauben, das Bündnis unter den Lohnabhängi-gen wiederherzustellen und jene, die heute aus der Lohnarbeiterschaft aus-geschlossen sind, wieder in diese zu integrieren. Davon ausgehend kann man, insbesondere, wenn man er-reicht, dass Stellen mit niedriger Qua-lifikation durch Anhebung des Lohn-niveaus wieder die Lebensgrundlage

bieten, die Entstehung einer Parallel-wirtschaft in den Vorstädten durchbre-chen, die bekanntlich Phänomene des Bruchs mit der politischen und sozi-alen Ordnung hervorbringt.

Alle, die die Globalisierung be-weihräuchern, weil sie glauben, sie beseitige Stellen mit niedriger Quali-fikation, indem sie eine Konzentrati-on auf hochqualifizierte Stellen bewir-ke, setzen sich darüber hinweg, dass eine solche Entwicklung angesichts der Größe Frankreichs und seiner Be-völkerung unmöglich ist. Sie verges-sen, dass diese Politik mit der Entste-hung einer Parallelwirtschaft einher-geht, die die in manchen Landesteilen verschwundenen niedrig qualifizierten Stellen ersetzt – was Folgen auf die Sicherheit und den sozialen Zusam-menhalt hat, deren Kosten extrem hoch sind. Das zur Illustration des Ge-sagten. Man muss die wirtschaftliche und die politische Realisierbarkeit einbeziehen, und ich würde ergänzen: die soziale Realisierbarkeit. Aus die-ser Sicht sind gewisse Maßnahmen

„Der Freihandel trampelt auf unseren Rechten“

zu einem gegebenen Zeitpunkt nötig, aber man darf keinen Fetisch daraus machen. Ich halte es für wichtig, dass wir heute eine Diskussion über den Protektionismus führen, um ein ideo-logisches Tabu zu durchbrechen. Das heißt nicht, dass uns der Protektionis-mus als solcher retten wird. Er ist nur ein Instrument, das wir benützen. An-gesichts des intellektuellen Klimas wird die Auseinandersetzung über den Protektionismus heute allerdings zu stark übergewichtet.

Michel Husson ist Ökonom, Mitglied der Fon-dation Copernic und des wissenschaftlichen Beirats von ATTAC.Jacques Sapir ist ebenfalls Ökonom und hat kürzlich ein Buch mit dem Titel „La fin de l‘eurolibéralisme“ veröffentlicht.Die Fragen stellte Cédric Durand für die Zeit-schrift Les cahiers de Louise.http://www.lescahiersdelouise.org/agir-local-decryptages-01.php

Übersetzung: Tigrib

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Afrikanische Kämpfe, Globale KämpfeWir, soziale Bewegungen aus Afrika und der ganzen Welt, sind hier in Nairobi beim Weltsozialforum 2007 zusammen gekommen, um Afrika und seine sozialen Bewegungen hervorzuheben und zu feiern; Afrika und seine ungebrochene Geschichte des Kampfes gegen Fremdherrschaft, Kolonialismus und Neokolonialis-mus; Afrika und seine Beiträge zur Menschlichkeit; Afrika und seine Rolle bei der Suche nach einer an-deren Welt.

Wir sind hier, um den Geist des Weltsozialforums zu feiern und zu festigen als einen Raum des Kampfes und der Solidarität, der offen ist für alle Menschen und sozialen Bewegungen unabhängig von ihrer Zah-lungsfähigkeit.

Wir verurteilen die Tendenzen zu einer Kommer-zialisierung, Privatisierung und Militarisierung des Forums. Hunderte unserer Schwestern und Brüder, die uns in Nairobi begrüßten, sind wegen der hohen Kos-ten von der Teilnahme ausgeschlossen worden.

Wir sind auch tief betroffen von der Präsenz von Organisationen, die gegen die Rechte der Frauen, der marginalisierten Menschen und gegen sexuelle Rech-te und Verschiedenartigkeit arbeiten, im Widerspruch zur Charta der WSF-Prinzipien.

Die Versammlung der sozialen Bewegungen hat ei-ne Plattform für KenianerInnen und andere Afrikane-rInnen aus unterschiedlichen Hintergründen und Ge-meinschaften geschaffen, um ihre Kämpfe, Alterna-tiven, Kulturen, Talente und Fähigkeiten darzustellen. Es ist auch ein Raum für zivilgesellschaftliche Orga-nisationen und soziale Bewegungen zur Interaktion und zum Austausch über die sie berührenden Fragen und Probleme.

Seit der ersten Versammlung 2001 haben wir zum Aufbau und zur Verstärkung erfolgreicher internationaler Netze der Zivilgesellschaften und sozialen Bewegungen beigetragen und un-seren Geist der Solidarität und unsere Kämpfe gegen alle Formen der Unterdrückung und der Herrschaft verstärkt.

Wir erkennen, dass die Verschiedenartig-keit der Bewegungen und der Volksinitiativen

gegen Neoliberalismus, die Welthegemonie des Kapi-talismus und die imperialen Kriege ein Ausdruck des weltweiten Widerstandes ist.

Wir müssen jetzt zu einer Phase wirkungsvoller Alternativen kommen. Viele lokale Initiativen beste-hen bereits und sollten erweitert werden: Was in La-teinamerika und in anderen Teilen der Welt geschieht – Dank der gemeinsamen Aktion der sozialen Bewe-gungen – zeigt den Weg zur Etablierung konkreter Al-ternativen zur kapitalistischen Weltherrschaft.

Als soziale Bewegungen aus allen fünf Konti-nenten, die in Nairobi zusammengekommen sind, drücken wir unsere Solidarität mit den sozialen Bewe-gungen in Lateinamerika aus, deren hartnäckiger und fortdauernder Kampf zu den Wahlsiegen der Linken in verschiedenen Ländern geführt hat.

Aktionen Wir rufen auf zu einer breiten internationalen Mobi-lisierung gegen den G8-Gipfel in Rostock und Heili-gendamm (Deutschland) vom 2. bis 8. Juni 2007.

Wir werden in unseren Gemeinschaften und Be-wegungen für einen internationalen Aktionstag 2008 mobilisieren.

Nairobi, 24. Januar 2007

Übersetzung aus dem Englischen: Torsten Trotzki - Quelle: Indymedia Kenia

Aus www.weltsozialforum.org,

Abschlusserklärung des VII. Weltsozialforums

Vorbemerkung: Das WSF versteht sich als Raum der Debatte und des Austauschs und ver-abschiedet keine politischen Stellungnahmen. Doch kamen auch diesmal im Rahmen des WSF zahlreiche VertreterInnen und Aktive der sozialen Bewegungen in einem eigenen Forum zusammen, um einen gemeinsamen „Aufruf zur tat“ zu debattieren und zu verabschieden.WSF 2007 – Versammlung der Sozialen Bewegungen – Abschlusserklärung (25. Januar 2007)