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IX. Psychische St~rungcn nach Warzenfortsatzoperationen. Yon Dr. reed. F. Pluder in Hamburg. Psyehisehe StSrnngen im Gefolge yon Operationen sind in der Zeit der Alleinherrsehaft und des abertriebenen Gebrauehes des Jodoforms geh~ufter beobaehtet worden. Vergiftungser- scheinungen~ die unter dem Symptomenbilde yon hoher Puls- frequenz: Unruhe~ Sehlaflosigkeit, Aufregungs- and Depressions- erseheinungen verliefen, 5fter zu auffallenden GeistesstSrungen, insbesondere Melaneholie, ausarteten and zuweilen auch zum Tode ftthrten, kennzeiehnen jene Periode antiseptisehen Strebens. Dass die ~{enge des angewandten Mittels far diese bedauerliahe Neben- wirkung mit entsaheidend war, geht sehon aus dem Umstand hervor, class derartiga texische Folgea des Jodoforms in unsarer Zeit, we man mit allen Antisepticis sparsamer umzugehen ge- lernt hat, Seltenheiten geworden sind. Jedoeh war die Menge des Jedoforms nieht allein entsehddend~ uad entbehrte der Ein- trier soleher psyehischen Zust~nde tier Regelm~tssigkeit. Der Zu- sammnng zwisehen beiden ist vielmehr sin ~thnlieher, wie tier zwisahen Fieber und Psyehosen. Denn wenn Fieber allein oft dis Ursaehe psyehiseher StSrnngen w~re, so mtisste es unver- st~ndlieh sein, dass solehe nieht noah vial h~ufiger Begleiter aller fieberhaften Erkrankungen sind, als es thats~ehliah der Fall ist. Damit steht die Beobaahtung vollstandig im Einklang, dass tratz des Waitergebrauches des Jodoforms die Psyehose aufhSren oder bei Wegfall desselben fortdauern kann, und ein anderes ]~ioment~ eine gewisse persSnlicha, sei es e ~ es erworbene Pr~tdisposition, mit zur Erkl~rung her~J~n,/l~. als gegeben angesehen werden, wozu noeh s~l~Ce ursa~o~ untergeordneten Ranges kommen kSnnen. Eine grSssere Rolle naeh psyehlseher R~@~ung~tl haben frt~her aueh dm be1 den operatlven Emg~iffdn ver~.encteten

Psychische Störungen nach Warzenfortsatzoperationen

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IX.

Psychische St~rungcn nach Warzenfortsatzoperationen. Yon

Dr. reed. F. Pluder in Hamburg.

Psyehisehe StSrnngen im Gefolge yon Operationen sind in der Zeit der Alleinherrsehaft und des abertriebenen Gebrauehes des Jodoforms geh~ufter beobaehtet worden. Vergiftungser- scheinungen~ die unter dem Symptomenbilde yon hoher Puls- frequenz: Unruhe~ Sehlaflosigkeit, Aufregungs- and Depressions- erseheinungen verliefen, 5fter zu auffallenden GeistesstSrungen, insbesondere Melaneholie, ausarteten and zuweilen auch zum Tode ftthrten, kennzeiehnen jene Periode antiseptisehen Strebens. Dass die ~{enge des angewandten Mittels far diese bedauerliahe Neben- wirkung mit entsaheidend war, geht sehon aus dem Umstand hervor, class derartiga texische Folgea des Jodoforms in unsarer Zeit, we man mit allen Antisepticis sparsamer umzugehen ge- lernt hat, Seltenheiten geworden sind. Jedoeh war die Menge des Jedoforms nieht allein entsehddend~ uad entbehrte der Ein- trier soleher psyehischen Zust~nde tier Regelm~tssigkeit. Der Zu- sammnng zwisehen beiden ist vielmehr sin ~thnlieher, wie tier zwisahen Fieber und Psyehosen. Denn wenn Fieber a l l e i n oft dis Ursaehe psyehiseher StSrnngen w~re, so mtisste es unver- st~ndlieh sein, dass solehe nieht noah vial h~ufiger Begleiter aller fieberhaften Erkrankungen sind, als es thats~ehliah der Fall ist. Damit steht die Beobaahtung vollstandig im Einklang, dass tratz des Waitergebrauches des Jodoforms die Psyehose aufhSren oder bei Wegfall desselben fortdauern kann, und ein anderes ]~ioment~ eine gewisse persSnlicha, sei es e ~ es erworbene Pr~tdisposition, mit zur Erkl~rung h e r ~ J ~ n , / l ~ . als gegeben angesehen werden, wozu noeh s~l~Ce ursa~o~ untergeordneten Ranges kommen kSnnen.

Eine grSssere Rolle naeh psyehlseher R~@~ung~tl haben frt~her aueh dm be1 den operatlven Emg~iffdn ver~.encteten

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Anaesthetica gespielt. Dean auoh das Maass dieser Mittet hat man sich heutigen Tages genag'end einzusehranken gewShnt; mit Chloroform, Aether, Morphium und Cocain geht man sparsamer um~ und der Genuss yon Alkohol konzentrierten Grades als Unterstatzungsmittel der Narkose erfreut sich nicht mehr der fl'tiheren Beliebtheit. Diese Anaesthetica wirken abrigens bet einmaliger Gabe meist nur in schwachem Grade und ganz voriibergehend psyehisch alterirend ein: und nur bet Alkoholikern, Greisen and geistig Geschw~chten wird ihre Mitwirkung bet der Entstehung yon Geisteskrankheiten naeh Operationen ge- legentlich etwas auffaIIender werden. In unserer Th~tigkeit hat das Cocain eine gewisse able Rolle gespielt, das wir in stiirkerer Conzentration bet vielen Eingriffen gar nicht entbehren kSnnen. Vorsieht bet seinem Gebrauch muss immer geboten bleiben. Seine Intoxicationsgefahr darfgegenw~rtig; wo man auf die submnkSse Anwendnng mehr verzichtet hat, als redueirt gelten, was ich nicht bloss ans der Litteratur, sondern auch aus meinen persSnliehen Erfahrungen sehliesse. In den letzten 8 Jahren erinnere ieh mieh nicht: in meiner Praxis eine Coeainvergiftung beobachtet zu haben, w~thrend sie vordem kein seltenes Ereig- nis war. Aneh dass die einmalige Gabe dieses Mittels eine angef~hr eine Woehe anhaltende psychische StSrung zur Folge haben kann, davon konnte ich mieh bet einem jungen Madchen, dem ich eine untere Nasenmusehel galvanokanstiseh verkleinert hatte, damals tiberzeugen.

Wenn man nun yon der Einwirkung soleher Medieamente absieht and besonders auch jede septische Intoxication und deren Aeussernngen ausschliesst, so bleibt immer noeh ein ge- legentliches Auftreten yon GeistesstSrungen nach 0perationen bestehen and ist seit langem bekannt, ~hnlieh, wie man Psychosen im Puerperium und im Ablauf neuter Infectionskrankheiten (Gelenkrheumatismus, Typhus u. s. w.) sich entwiekeln sieht. Im allgemeinen gelten solehe F~lle als reeht selten, and ihr Entstehen wird aus dem Zusammenwirken der verschiedensten Umst~nde erkl~trt, unter denen die Operation an sich, ihre Ausfah- rungsart and der Ort: an dam sie sich abspielt, 5fter geradezu in den Hintergrund treten. Dem chronisehen Alkoholismus, der die Widerstandskraft des Organismus herabsetzt und tin reizbares Gehirn schon zur Operation mitbringt, hat man yon jeher eine besondere Bedeutung zugewiesen, vollstandig" entsprechend seiner diesbeztiglichen Rolle bet Verletzungen, nnd andere chronisehe

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Intoxiea*ionen, speeiell der Morphinismus, werdea die gleiche Anklage rechtferiigen. Ererbte und erworbene Predisposition, der Shok der Operation, ihr moraliseher Eindruck und Sehmerz, der Blutverlust, die Anemic und Cachexie, Antointoxieationen bilden neben der Art des Eingriffes, seinem Sitz und den be- troffenen Organen, sowie der innigen Verbindung der letzterea mi~ dem Gehirn den weiteren Kreis ~tiologischer Momente. Welches dieser Momenta im einzelnen Falle mehr in den Yor- dergrund tritt, wird yon den besonderen Umst~tnden dessetben abh~ngen. Immerhin l~sst sieh sagen, class einze]ne derselben, wie Blutveriust, An~imie und Cachexie an Bedeutung zu unterst rangiren, da, wenn sie wiehtiger sein w~lrden, Psyehosen naeh Operationen ungleich haufiger seiu mtissten, lqach R a y n e a u steht allen genannten Ursaehen die persSnliche heredit~re oder erworbene Predisposition an Einfluss voran, und das kann kaum anders sein, wenn man der grossen Operationsth~tigkeit unserer Zeit die geringe Zahl nachfolge'nder Psyehosen entgegenh~lt. Ferner wird allseitig die grosse Vielgestaltigkeit des Wahnsinns naeh und infolge Operationen und sein Proteuscharakter hervor- gehoben, der die Form yon Manien und Melancholien in allen Graden und Arten~ yon Hysterien, tlypochondrien und Neuraste- nien, Hallucinationen und acuten Delirien, yon allgemeiner Para- Iyse und B15dsinn annehmen kann. Nur eine einzige Operation ist bekannt, die ein ganz bestimmtes, typisches Symptomenbild naeh sieh zieht, die Schilddr~senexstirpation, und finder dieser Typus, den wir bei allen anderen 0perationen vermissen, hier in einer Autointoxication seine hinreichende Erkl~run~, die mit der DrUsenfunktion selbst zusammenh~ngt, und die uns heutig'en Tages nicht mehr so unklar ist, wie frtiher.

Den Oft des Eingriffes und die yon ihm oecupirten Organe anlangend, dr~ngen sich 2 Gruppen yon Operationen mehr hervor, 1. die in dem Bereiehe tier Gesehlechtssph~re und 2. die am Kopfe. Die erstere Gruppe interessirt hier nicht weiter; sie betrifft mehr das weibliche, als das m~nnliche Ge- schleeht. Am Kopfe kommt die N~the der geistigen Central- werkst~tte und der Umstand in Betracht, dass sich in seinem Be- reiche vier Sinnesorgane zusammendr~ngen, die in mehrfaeher Hinsicht mit dem Gehirn in innigster Verbindung stehen. Bei Operationen am Kopfe wird man demnaeh neben einem st~rkeren Hervortreten gewisser Gefiihlsmomente, der peinliehen Erwartung (Anticipation) und der das ganze Denken erflilIenden Yoreinge-

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nommenheit (Praoceupation) mit der grSsseren MSglichkeit einer nervSsen Reflexwirkung zu rechnen haben, wobei noeh bei den beiden Hanptsinnesorganen, speeiell beim Auge, Operations- and Naehbehandlungsart erheblieh mitspielen mSgen. GeistesstSrungen sind beschrieben worden nach Zungenoperationen, nach Nasen- plastik, nach Operation im Naseninneren selbst u. s. w. Das grSsste Contingent liefert aber die Litteratnr der Augen~trzte~ and besonders Staaroperationen sind in dieser ttinsieht berfiehtigt. F r a n k l - H o e h w a r t berichtet fiber 31 Fi~lle und untersebei- det 4 Gruppen derselben: 1. Hallucinatorisehe Verrfiektheit bei Nieht-Alkoholikern (15 mal), 2. einfache Verworrenheit bei se- nilen Individuen mit event. Uebergang in Demenz (6 real), 3. Deli- rien bei Alkoholikern (7 real) and 4. Inanitionsverworrenheit bei sehr marastisehen Individuen. Gruppe 3 bedeutet die gtinstigste Affection, die gewShnlieh rasch naeh der Operation eintrat und schnell heilte, Gruppe 4 die nngfinstigte, da die betreffenden 3 F~tlle tSdtlieh endeten. Besehuldigt and verantwortlieh wird die grosse psyehische Erregung der zu Operirenden gemaeht, some die nachfolgende absolute Ruhe mit Dankelheit and Ab- gesehlossenheit bei verbundenen Augea, welehe das Auftreten yon Itallncinationen begtinstigen und eine sehlummernde Geistes- krankheit bei bestehender Disposition erwecken kSnnen (K n ie s). Hinzu kommt nach die Anwendnng des Atropins, eines Mittels, das bekanntlieh a lma schon zu ttallueinationen, namentlieh des Gesiehtsinnes, ftihren kann. Doeh kommen GeistesstSrungen oft genug aueh ohne letzteres Moment vor 1).

In unmittelbarer Naebbarschaft des Gehirnes nnd im Bereiehe eines Sinnesorganes, das an Bedeutung sowohl far den Sehutz unseres Lebens als aueh fiir den Genuss seiner SehSnheiten dem Auge getrost an die Seite gestellt werden kann, operiren wir Ohreniirzte. Die grosse Rolle, die das GehSrorgan im Gesammt- gebiete der Psyehiatrie spielt, ist bekannt, und ebenso bekannt ist auoh, wie sehr seine krankhaften Affectionen an und far sich zur Beeinflussung der intellectuellen and psyehischen Sphere nei- gen. J Sehon der gewShnliehe Obrensehmalzpfropf kann ansge- priigte seelisehe Depression mit Gedankenverwin'ung und Ver- gessliehkeit bedingen, die sieh bei hereditiir belasteten und persSnlicb disponirten Individuen ansnahmsweise aneh zu aus-

1) Knies, Die Beziehungen des 8ehorganes zu den ftbrigen Krankheiten des K6rpers. Wiesbaden i893.

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gesprochenem h'resein steigern kann. Aenderungen der Gemiiths- sfimmung und des Charakters bei Mittelohraffeetionen beschreiben sehon die 0hren~rzte der Zeit vor v. T r S l t s e h und sind Er- fahrungsthatsaehe aller Otolo~en. Besonders pr~gnante Belege yon Psyehosen infolge Mittelohrleiden finden sieh zahlreieh in der Litteratur unseres Speeialgebietes. Aueh F~tte yon Geistes- st5rungen sind mehrfaeh besehrieben, die sich nach einem ope- rativen Eingriffe im Ohre besserten. F~lle yon Wahnsian iadess, die sieh im Ansehluss an Operafionen im 0hre, speeiell an Warzen- fortsatzoperationen, ausbildeten, wobei der Ein~riff mehr oder weniger als Mitursaehe des krankhaften Geisteszustandes ante- sehuldigt werden kann, seheinen naeh meiner allerdings reeht oberflKehliehen Litteraturdurehsieht bisher wenig aufgefallen zu sein, und mtissen trotz einem gewissen ~hnliehen Boden, den wir mit den Augenitrzten theilen, und tro*z der an sieh bestehenden Nei~ung der Ohrenteiden naeh der psyehisehen Riehtung bin selten sein. Wena nerv5se Reflexwirkungen beim Zustaadekom- men yon Geisteskrankheiten naeh operafiven Eingriffen wirklieh eine gr5ssere Rolle spielen, so wiLre gerade am GehSrorgan, in dessen Gebiet eine ganze Reihe einzelner Nerven sich theilen, solehes wohl zu erwartea, und um uns eine das ganze Denken der Patienten gefangen nehmende Preoccupation zu erkl/~ren, brauchen wit uns nur daran zu erinnern, wie unsere Maaipula- tionen in der Tiefe des Ohres far die Patientea leieht etwas Unheimliehes haben, und sieh bei 5fterer Wiederholung derselben die Empfindlichkeit aufs HSehste steigern kann. Die allgemeine Ani~sthesie mittels Chloroformaarkose, die bei unseren grSsseren Operationen, besonders denen am Warzenfortsatz, woM fast dureh- gAngig gehandhabt wird, tritt nun, weil sic dem Kranken das Bewusstsein des Eingriffes w~Lhread seiner Ausftihrung vollst~ndig nimmt, soleher gesteigertea Empfiadliehkeit enfgegen~ uad die vereinzelt aufgetreteae Empfehlung, sieh mit Loealan~sthesie zu begntigen, kann deshalb in der geschilderten Riehtung bin frag- wtirdig erseheinen. Aueh das meist nach Freilegung eines ein- gesehlossenen Eiterherdes auftretende Erleiehterun~sgefiihl and dis sofortige Milderung der subjeefiven Aoustieussymptome, ferner die meist nur einseitige Operation, die das andere Ohr ausser ihrem Bereieh l~tsst, begrandet die gtinstigere Situation unserer Kranken gegentiber den Augenleidenden, die mit grossem Ver- band in Dunkelheit und Abgesehlossenheit verharren mtissen. Treten wirklich psychische StSrungen nach 0hroperationea auf,

Archiv f. Ohrenheilkunde. XL¥I . Bd. 8

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so wird sehliesslich ftir uns die Prtifung, ob und welchen Theil yon Sehuld der Eingriff sclbst tr~gL bei der grossen Neigung der Ohraffectionen zu inteltectueUer und psyehischer Benaehtheiligung sine reeht sehwierige seim

Ieh verNge itber 2 Beobaehtungea yon psyehisehen StSrun- gen nach Warzenfortsatzaufmeisselungen~ bei denea ich eine Theil- nahme des Eingriffes an dem Zustandekommeu der GeistesstSrung anzunehmen geneigt bin, ohne aber seia aussehliessliehes Ueber- wiegen im Ursaehenkreise behaupten zu wollem

Im 1. Falle handelte es sieh um einen 73j~hrigen alten Herrn, tier im Jahre 1893 in meiner Behandlung stand. Er war sin Handwerker yon Beruf~ der in guten VermSgensgerh~iltnissen und in gltteklieher, kinderloser Ehe lebte nnd sieh seit mehr als I0 Jahrea yon seiner Geseh~iftsth~tigkeit zuriiekgezogen hatte. Nervenkrankheiten waren in der Famitie night vorgekommen. Seit seiner Jugend t i t t e r an 5fteren Nasenbluten. Er war immer sin tebenslustiger Mann gewesen, der jeder Art Sport gehnldigt hatte und einen grossen Bekanntenkreis besass, dessen Vergntigun- gen er theilte. DiGs ftthrte ihn zu regelm~tssigem Genuss yon Alkohol, den er schleeht vertrug, nnd 5ftere Betrunkenheit kam vor. Im Hause trank er nur m~issig und in den letzten Jahren nur noch wenig. Im Jahre 1877 hat er sieh bei einem Preis- sehwimmen Uberanstrengt und erk~tltet, und seitdem bestand permanenter Sehnupfen, der niemals wieder fortging, und S~irn- kopfsehmerz, der zeitweilig so stark Wal'~ dass er den Eindrnek tier Trunkenhei~ maehte. Der Sehnnpfen war besonders frith morgens stark. ,Es tief ibm wie Wasser arts der Nase ~, und 3 his 4 Tasehenttteher konnte er sofort gebrauehem Die Kopf- sehmerzen verleideten ihm die Lust an dem Gesehaft, und gab er es 4 Jahre sp~iter ganz auf. In den letzten beiden Jahren hatte er sieh vergesslieher gezeigt, einsilbiger, theilnahm- und interesseloser, und als ihn im Jahre 1892 noeh eine ihn sehw~t- ehende Influenza befiel, neigte er aueh mehr zu Sehlaf und konnte 5fret auf dem Stuhle einnieken.

Anfang April t893 begann sein reeh~sseitiges Ohrenteiden mit Sehmerzen nnd Ansfluss ans dem GehSrgang, wogegen yon seinem ttausarzte Sptilungen mit Kamillenthee verordnet wurden. Der Ausfluss hielt sigh in gleieher St~rke his Ends Mai; seitdem Verringerung und Naehlass, so dass das Ohrenleiden als geheilt angesehen und eine Erholungsreise empfohlen wurde. D a a b e r Mitte Juni der Eiter wieder ersehien, wurde ich zu Rathe ge-

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zogen und eonstatirte eine Mittelohreiterung mit Versehwellung des GehSrganges and 0edem tiber dem Warzenfortsatze. Die ErSffrmng des letzteren fand bald start and legte eine grosse kraterfSrmige, mit Eiter und Granulationen erfiillte HShle frei. Schwierigkeiten der Narkose hatten nieht bestanden, and im Weiterverlaufe zeigte sieh weder Fieber~ noeh Sehwindel, noeh Erbreehen. Nut tier Kr~ftezustand war angegriffen. Im Eeilungs- verIaufe des Ohrenleidens und tier Ooerationswunde fieI niehts Bemerkenswerthes auf.

Zwei Tage naeh der Operation wurde er Naehts unruhiff nnd wollte aus seinem Bert heraus. Sehon am n~ehsten Tage war ein starker :Naehlass seiaer geistigen Funktionen zu bemer- ken, tier sieh raseh steig'erte. Bald verlor er volIst~ndig die Orientirtheit tiber seine Umg'ebung~ erkannte den Wiirter night als solehen~ sondcrn Melt ihn far einen guten Bekannten oder far den ,Doctor : : ,und ebenso aueh nicht seinen Neffen und Ge- sehi~ftsnaehfolger. Den ganzen Tag tiber konnte er auf der Veranda seiner Wohnung in vollkommener Apathie sitzen, ohne irgend welches BedUrfniss zu ~ussern oder Antwort zu geben. DiG l~iiehte blieb er aufgeregt, riss an seinem Verband und musste im Bert gehalten werden, i~ur tin einziger Gedanke erftillte ihn~ auf den er~ wenn man auf ihn einredete, immer zuriiekkam~ d i g Ide% dass er nieht mehr auf Reisen sein wollte~ dass er naeh Hans mtisse, und dass er zum Bahnhof begleitet sein wollte~ um den Zug nicht zu vers/iumen. Es maehte den Eindruek, als ob dig empfohlene Erholungsreise sieh als letzte Erinnerung bei ihm festgesetzt hatte. Wiihrend er alle Bekannten theils als Fremde ansah, theils mit falsehen Namen belegte, wi~hrend er vor und beim Verbandwechsel vollst~tndig theilnahmlos war, ohne weiner- lithe, melancholische Stimmung, wiihrend einige Ausfahrten spur- und eindruckslos an seinem Geiste vortibergingen~ erkannte er doeh immer seine Frau noeh. Die vegetativen Funktionen waren dabei vollstitndig in Ordnung; sein Appetit war rege~ and kSrper- lieh nahm er sogar auffallend zu. Nur hat er mir niemals sagen kSnnen, was er eben gegessen hatte.

Mitre August, als die Heilung der Warzenfortsatzwunde ihrem Ende zusehrit L bekam er gesehwo]lene Ftlsse, deren Ursache zu- niichst unklar blieb, da far Herz- und Nierenaffeefion ein An- haltspunkt nieht vorlag. Unter zunehmender Unruhe der Niiehte, dig mit Chloralhydrat bekitmpft wurde, lind bei vollsti~ndigem Verlust seiner geistigen Fi~higkeiten und raseh verfallenden Kriiften

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stellte sieh Icterus und dann starker Aseites ein, der einmal punk- tirt wurde. Am 3. September starb er. Ein mir befreundeter Arzt, tier w~hrend meiner Sommerreise auch die 0perationswunde zur Heilung gebraeht hatte, hat seine Diagnose auf Lebereir- rhose gestellt. Eine Obduetion wnrde nieht vorgenommen.

Der gesehiIderte Krankheitsfall reiht sich in die 2. Gruppe P r a n k l - t t o ehw art 's ein und stellt sieh als einfaehe Verworren- heir 1) ohne Sinnest~usehungen-und Itallucinationen mit Ueber- gang" in Demenz dar. Wenn es der Zweek der VerSffenfliehang sein sollte, die Operation allein als Ursaehe tier GeistesstSrung anzusehuldigen, so wird dem Falle eine besondere Beweiskraft nieht zugesproehen werden kSnnen. Aber als Beispiel dafitr wird er gelten mUssen7 dass sieh die Operation gleieh dem zufAlligen Stosse verb~lt, der einen auf sehiefer Ebene lose ruhenden Stein ins Rollen bringt. Das prompte Einsetzen des geistigen Verfalles naeh der Operation ist fttr mieh ~iberzeugend und wird eine an- dere Deutung h u m zulassen. Wenn erbliehe Belastung aueh nieht vorhanden war, so springen die Zeiehen der erworbenen persSnliehen Pr~tdisposition in die Augen. Jahre hindureh ge- pflegter Alkoholgenuss, geringere Widerstandskraft gegent~ber beseheidenen Mengen desselben, langdauernde nasale Hyper- ~isthesie und Kopfsehmerz betrgehtliehen Grades~ hohes Alter mit pragnanten Ersebeinungen seniler kSrperlieher und geistiger Schw~iehe in physiologiseber Breite (Verringerung des Ged~Leht- hisses, Interesselosigkeit, Seblafsueht) sind die einzelnen Momente, die ieh nochmals hervorhebe. Nieht ohne Einfluss wird aueh alas Mittelohrleiden geblieben sein~ dessen Behandlung seitens eines otologiseh ganz ungesebulten, der Hom5opa~hie zuneigenden Arztes eine Yersehleppung herbeifahrte. Besonders der Umstand, dass Heilung eonstatirt wurde, w~hrend sieber das gerade Gegentheil tier Fall war, und dem Patienten bald zum Bewusstsein kam~ kann einen stKrkeren prKoecupatorisehen Eindruek gemaeht haben. Ob indess der gleiehe psyehisebe Zustand sieh aueh an jede andere grosse Operation, die nicht das Ohr oder den Kopf betraf, an- gesehl0ssen h~itte, ist eine Frage , die ieh nieht beantworten kann. Ferner ist far die genaue Beurtheilung" tier Krankbeitsfall aneh deswegen nieht rein~ weil alas Leberleiden~ dem tier Kranke er- lag, fraglos sehon zur Operationszeit bestanden hat. Symptome

l) Mit der Dementia senilis hat das vorliegende Krankheitsbild nur einige Zfige gemein.

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maehte es aber nieht; nieht einmal Vorboten bestanden, und glaube ieh nicht fehl zu gehen, wena ieh dasselbe nicht als die GeistesstSrung veranlassend, sondern hSehstens nur die Pradis- position erhShend gelten lasse.

Der 2. Patient ist ein 66j~hriger Beamter, der die Oekonomie und den Arbeitsbetrieb einer grossen Anstalt leitet, in der noto- rische Herumtreiber, Arbeitsseheue, S5ufer und UnzilehIig'e be- herbergt werden. Sein Grossvater soll am Trunk gestorben sein; sein Vater, der st5dtischer Oberw~ehter war, wurde in seinem Amte yon Exeedenten erschlagen. Da auch seine /~Iutter frtth- zeitig starb, wurde Patient yon einer Tante erzog'en. Weder bei seinen Gesehwistern, noeh bei seinen Kindern sind auffallende Nervenkrankheiten vorhanden. Als Kind hat er sieh aus Spie- lerei einmal fast erh5ngt und einmal aus Unverstand fast ver- giftet, in welch letzterem Falls er 4 Woehen Iang krank lag, anfangs mit maniakatisehen Anf~llen. Wahrend seines ganzer~ Lebens war er, die gewShnliehen Infectionskrankheiten ausge- nommen, immer reeht gesund, und den Feldzug gegea die D~tnen im Jahre 1849/1850 hat er ohne Sehaden mitgemacht. Nur in mSssiger Menge trinkt er Alkoholiea, im Winter Grog~ im Som- mer mehr Bier. Eine g'ewisse geistige Langsamkeit ist ibm eigen, und maneherlei gigenthtimlichkeiten haften ibm an, die bestea Falls als kleinst~dtisehes Weseu und Art gedeutet werden kSn- hen. Mit seinen vorhin genanuten Untergebenen rtihmt er sieh gut auszukommen, ohne Barsehheit und Aehnliehes nSthig zu haben.

Im Jahre t893 befiel ihn die Influenza, und im Verlaufe der- selben stellte sieh heftiger linksseitiger Ohrensehmerz ein, gegen den Eintr~ufelungen verordnet wurden. Seitdem sollen zeitwei- lige Kopfschmerzen, 5fteres Ohrensausen und gelegenfliches Flim- mern vor dan Augen bestanden hubert. Im April 1896 traten st~i.rkerer Stirnkopfsehme~z und linksseitige Ohrensehmerzen, be- gleitet yon Sansen, ein, gegen die ~rztliche Maassnahmen, nament- lieh Luftdouehe, ohne Einfluss blieben. Er wurde desbalb zur Erholung an die Ostsee gesandt, die er schliesslieh mit der Nord- see vertausehte, als es nieht besser werden wollte. Von dort kam er bedeutend in subjeetiver ttinsieht verschlimmert zurtiek und ersehieu deshalb Mitte Juni in meiner Sprechstunde. Es be- stand damals vollst~ndige Senkung der hinteren oberen Wand des knSehernen GehSrganges, und letzterer bis auf einen Schlitz verengt. Dabei kein Secret in d emselben, und gleiehzeiti~ auf- fallendes Oedem iiber dem Warzenfortsatz. Im Urin kein El-

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weiss. Kein Fieber. Eine Trommelfellperforation konnte ieh mir naeh Zurttekdr~ngen der GehSrgangssehwellung durch feste Tam- ponade nieht zn Gesicht bringen. Seehs Tage sparer Aufmeisse- lung des Warzenfortsatzes, die erst in seiner Tiefe Eiter in ge- ringer Menge ergab. Ein Anhaltspunkt fftr ein tieferes Leiden trat dabei nieht zu Tage. Sehlaf zun~ehst gut, Appetif rege, Stuhlgang regelm~ssig~ Kopfschmerz beseitigt. Im Weiterver- laufe bestand niemals Fieber; Absehwellung des knSehernen GehSr- ganges, in dem Secret nicht vorhanden war, erfolgte langsam.

Bei der Visite am Tage nach der Operation wurde ioh mit der Meldung iiberraseht, der Patient mt~sse in der Nacht einen Sehlaganfall ertitten haben, und thats~tehlich war der erste Ein- druek der einer gewShnliehen, allerdings leichten Hemiplegie. Von den beiden auf und l•ngs der Mitre des Oberbettes ruhen- den Armen war der reehte auf dig Bettkante herabgesunken, der H~ndedruek schien reehts etwas geringer als links zu sein; yon den beiden in die HShe gestreekt gehaltenen Armen hatte der rechte die Neigung, etwas eher herabzusinken, und S~hnliehes, nur noeh geringer, schien am reehten Bein zu bestehen. Die Annahme einer Herabsetzung der motorisehen Kraft erwies sieh aber als T~usehung, da, wenn man die Aufmerksamkeit des Patienten mehr naeh dem reehten Arm und Bein hinlenkte, solehe Differenzen wegfielen. Die Erseheinungen lagen vielmehr sS~mmtlieh in tier sensiblen Sphare und waren tiberdies night neu, sondern, wie das Examen jetzt feststellte, vor 5 Jahren sehon einmal dagewesen, als das GehSrorgan des Patienten noeh ganz gesnnd war. Damals hatte er, als er einen Gegenstand yon oben herunter heben wollte, plStzlich bemerkt, dass der Arm sehw~eher wurde, uud aueh im reehten Bein verspttrte er das Gleiehe~ was ihn jedoeh night hinderte, selbst in die Sprech- stunde seines Arztes zu gehen. Letzterer bezeiehnete die Er- scheinungen als schlagartig und verordnete Bettrube und Eis- blase auf den Kopf. Naeh einer Woehe stand er wieder anf und war ganz woh]. Nur im Arm und besonders in der Hand fi~hlte er noeh StSrungen~ dig ibm besonders beim Schreiben auNelen. Langsam lernte er wieder die Sehreibfeder zu halten und zu ftihren~ so dass naeh mehr als einem Jahre die Norm wieder zurttekgekehrt war. Er konnte mit der reehten Hand wieder kegeln u. s.w. Kein Herzfehler; m~ssige Arterioselerose. Ungefghr eine Woehe nach der Operation~ bei gutem Wundver- lauf und vollst~ndig afebrilem Zustande wurde eine StSrnng

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nach der psyehisehen Richtung bei dem Patienten bemerkt. Der genane Anfang war um deswegen nieht so leieht festzustellen~ well er sieh zun~ehst nur als eine nnbedeutende Ver~nderung des Charakters repr/~sentirte~ zumal aueh die Ehefrau: dis mit ihrer erwachsenen Tocheer in tier Pflege abwechselte, die ersten Wahrnehmungen mit der Bemerkung absehwaehte, ~etwas eigen- thtimlieh w/~re ihr Mann immer gewesen% Ueberhaupt war w/£hrend des ganzen Krankheitsverlaufes zu beobaehten, dass die AngehSrigen, "die sieh beztigIieh der Operationsgefahr und des Wundverlaufes sehr angstlieh gezeigt hatien~ yon den naeh- folgenden markanten StSrungen der Geistesth/~tigkeit weniger beriihrt wurden.

Zunaehst fiel auf~ dass der vordem so ruhige uIid znfriedene Kranke~ trotzdem er sieh naeh seiner Aussage ganz wohl ftihlte und speeiell das Vorhandensein yon Kopfsehmerzen immer wieder vernein¢e~ ungeduldig wurde~ yon einer sehr langen Dauer der Krankheit spraeh und Hoffnungslosigkeit bezttglieh der Aus- heilung ~usserte~ wobei er dann leicht in eine weinerliche Stimmung gerieth. Sodann wurde sein Sclflaf sehleeht, und n/£eht- liehe Unruhe stellte sieh ein, die ihn 5fret aus dem Bert trieb. Aueh war zu bemerken, dass er~ wenn man yon seinem Zustande spraeh, sieh unruhig naeh dem Yerbande fasste und daran her- umtastete. Sehliesslieh trat eine Art leiehter Benommenheit ein, verbunden mit Interesselosigkeit. In seinem Ged/~chtniss konnte er nichts mehr sieher festhaltea; meehaniseh ginger daran, sieh den Verband abzuwiekeln und mit maneherlei Zweek-und Sinn- Iosem maeh~e er sieh zu schaffen. Beim An- und Auskleiden wurde er unbehtilflieh und musste sieh helfen lassen; nur 5fter wiederholte Frag'en fanden seinerseits eine Aniwort. Seine Ge- miithsstimmung°:war zumeist sine sehr gedrtiekte, nnd konnte er 1/~ngere Zeit vor sieh bin weinen. Sieh tiber die Ursaehe seiner Gedrttektheit n/£her auszuspreehen, war er nieht zu bewegen. ~,Es kSnne doeh nieht sein; was er bier solle, wo sie alle anf ihn warten", war alles, was aus ihm herauszubringen war. Zwischendureh erseheint er aueh, besonders, wenn man mit ihm sprieht, sorglos vergniigt und lacht unmotivirt.

Kein Sehwindel~ kein Erbrechen, keine SpraehstSrung, keine Naekensteifigkeit, keine Druekempfindliehkeit am Seh~del. Puls racist einige 60 Sehlage. Trotzdem ira Mittelrohr niehts con- statirt werden konnte, und die Warzenfortsatzwunde sieh gut sehloss, legte es der gesammte Zustand nahe, noeh ein tieferes

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Leiden anzunehmen, and zur genauen Feststellung des Gesammt- befundes nahm ieh die Htilfe des hiesigen Nervenarztes Herrn Dr. B S t t i g e r in Ansprueh. Nachstehendes ist das Unter- suehungsresuliat:

An den Hirnnerven niehts Abnormes. An den oberen Extre- mit~tten ist die gTobe Kraft der Musculatur auf beiden Seiten ohne Untersehied. Die passiven Bewegungen sind naeh allen Riehtungen hin fret nnd ausgiebig mSglich, die aetiven ohne StSmng, mit Ausnahme der Fing'er der reehten Band, w o e s ibm mehr Mtihe maehL so rasch die Fingerknppen zusammen- zubringen, als links. Ueberhaupt werden die feineren Finger- bewegungen rechts etwas trager ausgefiihrt, als links. Wenn Patient rasch naeh einem vorgehaltenen Gegens~and stossen soll (z. B. naeh dem Griff des Pereussioashammers), so trifft e r mit der linke~ Hand ganz gut, w~hrend er mit der reehten immer 2 - - 3 Finger breit reehts yore Gegenstand vorbeistSsst. Soll er beide Zeigefinger bet geschlossenen Augen yon der Seite vor sieh zusammen ftihren, so ist wieder der reehte Zeigefinger stets am 2 - - 3 Fingerbreite yon der Brust wetter entfernt, als links. LagegefiihlsstSrung'en mit Sicherheit zu eonstatiren, seheitert an der Unzuverl~ssigkeit des Patienten bet seiner psy- chischen Beeinflussung.

An den H~nden kein Tremor and keine Ataxie. Die Em- pfindlichkeit der Eaut far einfache Bertihrun~en erschein¢ im ganzen normal; nut werden Pinselbertihrungen an der reehten Band und der ulnaren Seite des rechten Unterarmes stets dumpfer and undeuflieher empfunden~ als links. In die Band gegebene Gegenstitnde (Messer, ScMiissel u. s. w.) ist er jedoeh ganz ausser stande, dureh Betasten zu erkennen. Ja er verliert sogar diese Gegenst~nde aus der Hand, ohne es zu merken, und taster dann weiter mit den Fingern herum, offenbar die einzelnea Finger mit einem fremden Gegenstand verweehselnd. Er er- kennt auch nicht die ibm gereichten Finger des Arztes and giebt sie aufGeheiss nnerkannt in seine linke Hand hiniiber. Triceps- und Handgelenkssehnenreflexe links etwas sehwiicher als rechts.

An den unteren Extremitaten ist die igrobe Kraft gleich~ active and passive Bewegung ohne StSrung~ Bertihrungssensi- bilitiit intact. Patellarreflex reehts starker als links, ebenso Aehillessehnenreflex. Bauchdeeken und Cremasterrefiex normal; die Fusssohlenstieh- and -strichreflexe sind reehts deutlieh sehw~t- eher~ als links.

Psychische StSrungen nach Warzenfortsatzoperationen. 113

Augenhintergrund normal. Im Gesiehtsfeld nichts Auffallen- des. Gang ohne Besonderheiten. Bet Augen- und FussscMuss schwankt Patient etwas naeh links bin.

Nach dem ganzen Befunde glaubte der Nervenarzt einen Erweichungsherd im Gehirn~ und zwar in der inneren Kapsel~ ffir das Wahrseheinlichste halten zu miissen~ und deswegen wurde ein erneuter Eingriff zuni~ehst unterlassen. Die ~othwendigkeit dazu stellte sieh aber bald heraus, da sieh Zeiehen einstellten~ die das Vorhandensein eines Extraduralabseesses sicherstellten. Eine pseudofluctuirende Schwellung hinter der Warzenfortsatz- wunde, tiber dem Emissarium mastoideum, und eine Schwellung an der seitliehen Halsgegend, hinter dem obersten Theil des hi. sternoeleidomastoideus, welch' letzere als Ausdruek beginnen- der Senkuag des Eiters nach nnten bin aufgefasst wnrde, stellten sieb fast gleiehzeitiff ein. Die ErSffnung des Extradural- abscesses eriblgte wegen der angenommenen grossen Ausdeh- nung yon 2 Stellen aus, yon der neugesehaffenen Warzenfortsatz- wunde aus, wobei sieh ein Fistelgang nach innen auch diesmal nicht zeigte, und fiber dem Emissarium. Zwisehen beiden Ope- rationsdefecten blieb eine Knoehenbriicke der Sebiidelkapsel stehen. Auch die seitliche Halsscbwellung wurde genfigend ge- spalten and in der Tiefe Eiter eonstatirt. Aueh naeh diesem g~'ossen Eingriff waren Fieber~ Kopfsehmerzen, Erbreehen u. s. w. nieht zu constatiren.

~icbts destoweniger nahmen die psyehischen Erseheinungen zu. Das Sensorium trfibte sich immer mebr, und die naehtliche Unruhe stieg troiz Trional derartig, dass Patient nur sehwer im Bette zu halten war. Anscheinend infolge lebhafter Tri~ume erhebt er sich, aufreeht stehend, in demselben and b~lt wirre Reden~ dass er fort mfisse, and dass er bier sterben mtiss% und auf Gegenvorstellungen wird er gereizt and beginnt nm sich zu sehlagen. Ein Geftihl yon Angst beherrscht ihn dabei, ohne dass aber di~eete Sinnest~uscbungen and Verfolgungsideen beobachtet werden. Am Tage erscheint gleiehfMls die Ruhelosigkeit, die ihn iiberall bin sieh setzen und wieder aufstehen lasst. Dabei vollkommene Unorientirtheit fiber seine Person and seine Um- gebung. Er erkennt seine Kinder nieht~ verwechselt seine Toehter mit seiner Frau, halt reich auf Befragen ffir seinen heimathliehea Pastor~ trink¢ aus dem Waschbecken and zieht sich sein Bein- kleid fiber die Arme, wean er seinem Drange~ fortzugehen ~ folgen will. Obne jeden AMass f a n g t e r zu weinen an und

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kann dies stundenlang than. Sehliesslieh mass er sieh wie ein Kind leiten lassen und an- und ausgekleidet werden, ohne im geringsten zu he]fen.

Dieser Zustand Melt noah mehr als 4 Woehen an. An- gesiehts der Sehwere desselben wurde erwogen, ob ein Hirnab- seess der Saehe zu Grunde liegen kSnne. Der berathende Nerven- arzt glaubte, ihn nieht aussehliessen zu kSnnem Ieh selbst konnte zu dieser Diagnose nieht gelangen, weil yon den allge- meinen Hirnerseheinungen gerade die gewShnliehsten Symptome desselben vermisst warden, die toealen Hirnsymptome eine andere Deutung wahrseheinlicher maehten, und Zeiehen yon Hirndruek fehtten. Mitre September erst he,ann eine allmahliehe Auf- heIlung des Sensoriums. Gleiehzeitig dami~ bessert sieh der kSrperliehe Status insofern, als die Sensibili~at keinea Unter- sehied mehr zwisehen reehts nnd links aufweist~ and die Sehnen- reflexe gleieh werden. Vorgehaltene Gegenstande trifft er besser als vordem. Allerdings geht das Erkennen tier Gegenstande in der reehten Hand noeh nieht besonders. Nur die Finger werden dabei geschiekter verwandt, and merkt der Patient sofort, wenn der Gegenstand seiner Hand entfallt oder ihm fortgenommen wird. Subjeetiv giebt der Patient ein eigenartiges Gefahl in der Hand an, das er nieht naher besehreiben kann. Bet Augen- und Fusssehluss nur noeh geringes Schwanken nach links. Heilung der 0perationswunden langsam tbrtsehreitend. Patient wird in seine Heimath entlassen, um dort wetter behandelt zu wer- dan. Ungefahr 4 Monate sparer beg'ann er seine Thatigkeit wieder.

¥or kurzem habe ieh den Patientea wieder gesehen, und land sieh der Zustand des Armes nicht vollstandig wieder her- gestellt. Er kann sehleeht mit der Hand sehreiben, sehleeht ein Sehloss aufsehliessen, sehleeht Bt~eher in die innere Roek~asehe seiner Uniform steeken. Gegenstande in der Hand erkennt er erst naeh einigem Herumtasten; die Tasehenr&r halt er reehts Nr eine Dose, wahrend er sie links sofort als solehe erkennt. Beim Tasten benutzt er vorzngsweise Danmen and Zeigefinger. Den vorgehaltenen Gegenstand ¢rifft er jetzt beim Stoss. Finger- bewegungen ungestSrt; keine Ataxie. Pinselbert~hrungenempfindet er auf der ulnaren Seite des Unterarmes jetzt reehts starker ats links; beim Vorstreeken beider Arme jetzt reehts st~rkerer Tremor and subjeetiv in der reehten Hand eta GeNhl, als ob sie gesehwollen ware. Beim Beta- trod Augensehluss ganz leiehtes Sehwanken.

Psychische StSrungen nach Warzenfortsatzoperationen. 115

Seiner Tl~Ltigkeit gentigt er wie friiher; er schl~ft gut und wacht erfrischt auf. Kopfschmerz und Flimmern vor den Augen sind nicht vorhanden. Im Trommelfell konnte ich eine deut- liehe Narbe nicht entdeeken. HSrfunktion des reehten Ohres gleich der des linken.

In seinen psychischen Symptomen zeigt dieser Fall mit dem vorhergehenden grosse Aehnlichkeit, nur dass der Verworrenheit eine stark hypochondrisehe F~rbung (nieht Melancholic, well Selbstvorwtirfe fehlen!) beigemischt war. Wenn wir an dem Vergleich mit dan Augenkranken festhalten, mtissen wir ihn also gleichfalls in die 2. Gruppe einreihen, lqur bedeutend com- plicirter erscheint er, und die Rolle der beiden Operationen beim Zustandekomman der GeistesstSrunff viel zweifelhafter. Wenn es auch schwer sein wird, den Einfluss der Eingriffe genau zu taxirsn, ihre voile Unschuld kann ieh nicht annehmen. Sieht man yon dam bei der xNarcose verwendetan Chloroform ab, dessen Unbetheiligtsein schon im Hinblick auf die lunge Dauer der Affection fes~steht, und lehnt man die MSglichkeit airier toxischen Wirknng des tibrigens sofort durch ein anderes antiseptisches Mittel ersetzten Jodoforms wegen des Fehlens yon Pulserschei- nungen ab, so bleiben immer noch zwai Complieationen des Warzenfortsatzleidens bestehen, die eiu n/theres Eingehen mir auferlegen. Bei der ersten Operation wurde ein grosser Extra- duralabseess wegen ungentigendsr Symptoms und des Fehlens einer Wegteitung nicht diagnostieirt und blieb unberiihrL Trotz- dem ergab aber die Operation subjective Besseru,g, Fortfall der Kopfschmerzen. Was reich h~tte stutzig machen sollen, gebe ich nachtr~glich gern zu: der negative Mittelohrbefund und die geringe Eitermenge im Antrum. Oh jemals Mittelohreiternng bestanden, ist hSchst fraglieh, und well eine Trommelfellnarbe nicht sichtbar ist; eher zu verneinen. Wie lunge der Extradural- abscess schon bestand, ist niche sieher zu sagen, wohl aber schon zur Zeit des recht ttbel angebrachten Seeaufenthaltes. Das Hauptgewicht bei der Entstehunff der Geistesst5rung kann ieh dsm Abscess jedoch nieht beilegen, sondern ihn nur Ms dis cerebrale ErschSpfung untersti~tzend auffassen. B i e h I hat ki~rz- lich ein ~hnliches Bild, melancholische Wahnideen, als Symp- tom eines solchen Abscesses beschrieben. Dasselbe verschwand jedoeh fast momentan naeh tier Operation, w~hrend in melnem Falle die Affection trotz siner gewiss gentigenden ErSffnung sichtbar schlimmer wurde und noch lunge anhielt. Eine ge-

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wahnliche Beobaehtung ist solehe psyehische Stamng bei Extra- duralabseess tiberhaupt nicht, sondern ein recht seltenes Ereigniss und deshalb schon als urs~tchliehes Moment in meinem Falle reebt zweifelhaft. Viel mehr Gewieht muss der tieferen Hirn- erkrankung zufallen, die den hinteren Absehnitt der inneren Kapsel betroffen hubert musste und als Erweichungsherd infolge Thrombose unsererseits aufgefasst wurde. Aus der Krankenge- schichte geht hervor, dass es sieh um einen Rttckfall handelte: und der vor 5 Jahren eonstatirte Sehlaganfall haehstwahr- seheinlich gleiehfatls ein Erweichungsherd in genau derselben Gegend war. Ausgedehnt konnte dieser Herd beim Freibleiben der motorisehen Region und des Gesiehtsfeldes keinesfalls sein, und dass yon diesem die psyehischen Starungen alIein abgehangen haben, erseheint mir deswegen nicht wahrseheinlich, als man ja annehmen muss, dass die Verstopfung cinch kleinen centralen Arterienzweig aus der Arteria chorioidea voraussichtlich getroffen hatte. Um multiple Herde anzunehmen, yon denen die anderen locale Hirnerscheinungen nicht gemacht haben kannteu, war die Arteriensclerose doch zu wenig auffallend, nnd ein Anhaltspunkt sonst nicht gegeben. Wenn wir also der Operation einen Theil der Sehuld beimessen, so wird aueh der Umstand: dass die psy- ehischen Erseheinungen sich erst naeh eiuer Woehe bemerkbar maehten, niehts Auffallendes ha ben. Wenn auch dieselben h~tufig an den Eingriff sich bald ansehliessen~ so ist ein mehrwaehent- ]icher Zwischenraum ebenfalls nicht selten, und in dieser Be- ziehnng besteht eine Aehnlichkeit mit den naeh Seb~tdeltraumen eintretenden Geistesstarungen, die bekanntlieh nach noch viel grasserem Intervall sieh zeigen k5nnen.

Praktisehe Schltisse sind gas dem Angeftihrten kaum zu ziehen. Niemals wird die Maglichkeit einer psyehischen Starung eine Contraindication der nothwendige~ Operation bilden kannen. Nur die Operationsart kann und soll bei friiher Geisteskranken und bei heredit~rer oder erworbener Pradisposition unter diesem Gesichtspunkte gepriift werden. Localan~tstbesie hebt den grossen psychischen Eindruck der Operation nieht auf. Wir sehen bei kleinen Eingriffen am Auge, in der Nase u. s. w. trotz r o l l - s tgn d i ge r Cocainangsthesie Patienten ohnm~chtig zusammen- brechen. Bei einer Discussion, die sich an S c h e i b e ' s Empfeh- lung, mehr Localan~tsthesie bei Warzenfortsatzaufmeisselungen anzuwenden, gelegentlich tier Yersammlung" der deutschen otolo- gisehen Gesellschaf~ zu Ntirnberg ansehloss, trat ein solcher Hin- weis nach dem mir vorliegenden Bericht nicht hervor. Nur ein Redner betonte, dass er die Methode (An~sthesie nach S e h I e i c h) wieder aufgegeben habe, well in seinen Fallen das Arbeiten mit dem Meissel und der Knoehenzange sehr unangenehm empfun- den wurde.