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Jan Ku hlbrodt Kaiſer album VERLAGSHAUS J. FRANK | BERLIN Edition Belletristik | Quartheft 60

Rz q60 kaiseralbum leseprobe

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JanKuhlbrodtKaiſeralbum

Verlagshaus J. Frank | BerlinEdition Belletristik | Quartheft 60

Quartheft 60 / Edition Belletristik

1. Auflage / isbn 978-3-945832-03-5

© 2015 Verlagshaus J. Frank | Berlin

Chodowieckistraße 2 / 10405 berlinAlle Rechte vorbehalten.

www.belletristik-berlin.de

Illustration Alexandra sternin / www.alexandrasternin.comGestaltung & Satz Dominik ZillerSchrift schmale Anzeigenschrift / RT Magellan / Avenir next Condensed / neutra DisplayBuchdruck & Bindung Druckhaus Köthen / Printed in Germany, 2015Papier 90g/m2 1,5-fach Munken Print White / 280g/m2 Alster-Feinleinen

Bisher von Jan Kuhlbrodt im Verlagshaus J. Frank | Berlin erschienen:

stötzers Lied // Mit illustrationen von ivonne Dippmann Edition belletristik / 2013 / isbn: 978-3-940249-67-8

Geschichte. Kein Weg, nur Gehen Edition Poeticon / 2013 / isbn: 978-3-940249-80-7

Alle Titel, die im Verlagshaus J. Frank | berlin erscheinen, werden im Literaturarchiv Marbach, im Lyrik Kabinett München und in der Deutschen nationalbibliothek archiviert.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk, einschließlich aller seiner Teile sowie der illustrationen, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts-gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages, des Autors und des Künstlers unzulässig und straf- bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Lesungen, Vertonungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen systemen.

KaISEralBumGedichte: Jan Kuhlbrodt

KaiſeralbumChoräle und Kantaten

*Jan Kuhlbrodt

Mit Illustrationen vonAlexandra Sternin

KaiſeralbumChoräle und Kantaten

*Jan Kuhlbrodt

Mit Illustrationen vonAlexandra Sternin

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Stupor mundioder Über das Reiſen mit Tieren1

»Aus dieser Höhe war es, als sähen die Freunde, die früher oft beobachtet hatten, wie die riesigen Rinderherden in wechselnden, wolkenartigen Mustern über die westlichen Ebenen zogen, diese ungeformte Freiheit nun zu einer bewegung rationalisiert, die sich nur in geraden Linien, rechten Winkeln und einer fortschreitenden Reduktion von Alternativen vollzog, um schließlich in das letzte Tor einzumünden, das zur eigentlichen schlachtstätte führte.«(Thomas Pynchon: Gegen den Tag. ins Deutsche übertragen von nikolaus stingl und Dirk von Gunsteren)

1 Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen, der mehrfach beim Papst in Ungnade fiel, wurde, als er 1227 seinen Kreuzzug wegen eines seuchenausbruchs im abreisefertigen Kreuzfahrerheer noch einmal

verschob, von Honorius’ nachfolger Gregor iX. sogar gebannt. Dessen ungeachtet schiffte er sich 1228 mit einer relativ kleinen streitmacht nach Palästina ein;dieser Kreuzzug wurde der einzige, welcher friedlich und deshalb auch erfolgreich war. Von diesem staufer ist überliefert, dass er mit Tieren reiste. Das heißt: nicht nur mit Pferden und Ochsen, Lasttieren also, das sicher auch. Aber der Kaiser verfügte über keine Wohnburg, er zog vielmehr mit seinem Hofstaat durch das heutige italien und die anderen Gegenden des Heiligen Römischen Reiches. Er lud sich bei den verschiedensten Fürsten und Königen ein, die ihn dann zu bewirten hatten. Und weil die Tiere, die er mit sich führte — unter ihnen auch Wildtiere wie Elefanten und Giraffen — zu seinem Hofstaat gehörten, mussten auch sie von den Gast-gebern versorgt werden. Theoretisch, könnte man sagen, kratzte der Kaiser an der Grenze zwischen Mensch und Tier, wie auch Franz von Assisi, der laut Legende den Tieren predigte.

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Zero2

Giraffen, Elefanten, Emus, ein Affengesichtin den sand vor den ställen von Fellen verwischt.Freut sich und keinen Verdacht schöpft der Kaiser.Doch: Dieser name ist schon vergeben. Und leiser ist nicht zu beten? Auch nicht zum frevelnden Gott?immer füllen die Tiere Texte mit Tod.Davon ist er überzeugt, und er liebt sie, die Tiere.Ein weiser Herrscher. Friedrich zieht bis sizilien.Und legt auf sizilien ein Ei. (Der Hülle entsprungen:Leben, und wie vom Tod durchdrungen?) Der nameHeiliges Land wird dem heiligen Land gutgeschrieben am Gipfel kreisen Raben, die lieben, noch immer.Raben mit Lanze und rotem bart. Es sei aufgeräumt im Großen und Groben.3 nach belieben lebe der Kaiser.

2 Die Römer kannten das numeral null nicht, sie hatten also keine numerische Vorstellung von nichts — die null wurde überhaupt erst im Mittelalter in Europa eingeführt. sie kam wohl aus

China oder indien und revolutionierte das vereinigte europäisch-arabische Zahlensystem. Ohne null, die eben nicht gleich Nichts ist, keine Moderne, aber das nur am Rande, wir befinden uns schließlich im Mittelalter, an seinem Ende, und Don Quichottes barbierbecken ist schon ein barbierbecken, allerdings unbeschädigt und als barbierbecken in Gebrauch.

3 Manfred von sizilien, unehelicher sohn Friedrichs ii. im Prolog zum buche vom Apfel (Liber de Pomo): „Und da er sich, wegen der verblassten Erinnerung an die ihm eigene Würde den

Entscheid zur Wahl der ehrenhaften Dinge nicht leisten kann, sondern im Dunkel der Unwissenheit auf Abwege gerät und das Ziel seiner letzten Vollkommenheit, zu dem seine Absicht ihn eigentlich führte, nicht erreicht, wobei einer je nach seinem Wissen oder seiner Unwissenheit Gott fern oder ihm nahe ist, und in der Folge derjenige, der vom falschen Weg eines solchen irrtums befreit und aus der handgreiflichen Dichte der körperlichen Finsternis herausgeführt wird, den Weg des Lebens, von dem er bedauerlicherweise abgekommen war, finden und die an die Dunkelheit gewöhnten Augen zum Licht der klaren Wahrheit erheben kann — bei alldem wäre es dienlich, dass er auch durch den Glanz der menschlichen Lehren erleuchtet würde.“ Das Wissen der Wahrheit sei die Wahrheit des Wissens in Wirklichkeit! Ein Hang zur Semantik. Leuchtstoffröhren. Aus der handgreiflichen Dichte der körperlichen Finsternis … mmh. Ein sprachliches Zick-Zack. Herausführen. Das ist das Reisen mit Tieren.

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Eins

Giraffen, Elefanten, Emus, ein AffengesichtMeerkatzen, boas im Morgenlicht, Hirsche.4

Über den Umbau der ställe, boxen und Kobenmuss etwas notiert worden sein. Über dem Tobendie Angst der stallmeister, ihr Zittern: der Kaiser kommt, und darf man Wildtiere hinter Gittern noch füttern und kaiserliche Giraffen züchtigen?Die Flüchtigen? Darüber muss doch etwas notiert worden sein. Oben wittern von Gottes Gnaden nashörner, Hechte …Es muss ein schauer gegangen sein durch die Knechtewenn der Kaiser urplötzlich seinen besuch angesagt.Es muss etwas notiert worden sein mit fahriger Handin den Lehmputz hinein oben am Rand, und ganz kleinin den sand vor den ställen muss etwas notiert worden sein.

4 Die Aufzählung der Tiere folgt keinem Prinzip. bei diesem Gewimmel wäre das auch nicht möglich. Ein Tier natürlich fehlt, obwohl es die szene bestimmt: die Fliege. sie dirigiert die

bewegung der schwänze, der Rüssel, der Augenlider und ruft sogar teilweise Zucken in der gesamten Gesichtsmuskulatur hervor. Die Fliege regelt auch den Verfall, indem sie das Leben verlängert, die Kadaver als brutstätte nutzt, in die nahrungskette zurückführt. Warum wurde die Fliege nie zum symbol des ewigen Lebens? Auch die Geier nicht. Wir begegnen ihnen mit Abscheu! Aasfresser! Als hätte einer von uns je in eine lebende Ziege gebissen. Ein Jote aber erregte einst unser Mitleid. Aufgrund der Tierkadaverbeseitigungsordnung der Europäischen Union war verendetes Vieh sofort von spanischen Wiesen geräumt worden. Also begab sich das spanische Geier-Tier in weiten Kreisen auf nahrungssuche und landete schließlich entkräftet und dem Hungertod nahe im Ruhrgebiet. nur ein beherztes Eingreifen bewahrte es davor, zur brutstätte für Fliegen zu werden.

Ich habe im Biologieunterricht gelernt, die drei Merkmale des Lebens seien: Eins Fortpflanzung, Zwei bewegung und Drei Wachstum. All das organisiert die Fliege in den Körpern verstorbener Tiere. Die Fliege zu bekämpfen ist müßig. Man verschafft sich höchstens für sekunden eine Fliegenpause. schnürenvorhänge in verschiedenen Farben schützen nur immobilien. im Portugal der 1990er Jahre hängte man durchsichtige, mit Wasser gefüllte Plastikbeutel ins Fenster. Ob das half, ist nicht überliefert. Alle Kunst sei der Fliege gewidmet, und sofern sie sich materiell manifestiert, dient sie der Fliege als weltlicher Aufenthaltsort. Letzte Woche habe ich einen schnürenvorhang an der balkontür befestigt. sieht gut aus.

Außer der Zahl

Und weil die Raben kluge Vögel sind, hören sie bestimmt niemals aufum des Kyffhäuser Gipfel zu kreisen, dem Rotbart in die Mähne zu scheißen.41

Und weil wir kluge Vögel sind, stehen wir drauf und versammeln uns vor den Gattern im Zoo, weinen und träumen davon, mit Tieren zu reisen.

41 An dieser stelle sei auf Heiner Müllers Text Die Befreiung des Prometheus verwiesen, und darin vor allem auf das gleichsam symbiotische Verhältnis von Prometheus und dem Adler,

der seine Leber frisst und gleichzeitig den Helden Halbgott mit nahrung (Kot) versorgt.

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Chor:

Gu Gu GUTE KAisER. Fik FiK FiKTiVE VERWAnDsCHAFTAusdehnung, größte Ausdehnung der HerrschaftMitkaiser73 Verus auslassen.74

73 Mitkaiser nicht Mietkaiser. schade eigentlich.

74 Und das habe ich bei Judith butler gelernt (Gender trouble). Dass es zwei Dinge sind. biolo-gische und soziale Fortpflanzung/Vererbung, die sich nicht aufeinander zurückführen lassen.

Und dass der Körper letztlich ein sozialer sachverhalt ist, ein Moment in der Wahrnehmung und eine Fläche für Einschreibung. Obwohl Fläche auch eine schiefe Metapher ist für das Auszudrückende. Es geht dem sozial geformten Körper ja kein reiner natürlich geformter voraus. Es ist, was es ist, sagt die Liebe. Der Friedvers gewinnt unter dieser gedanklichen Ausgangslage eine vollkommen andere Dimension als die von Erich Fried wahrscheinlich gemeinte. sie verliert gewissermaßen ihre Friedfertigkeit. in diesem Punkt waren die Kaiser übrigens weiter als das puritanistische bürgertum, das uns die aktuellen Gesetzbücher beschert hat.

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Kaiſergemüſe oder

Was der eine ni<t isſt,

ist dem andern noch lange kein Gi¾

(Vielleicht eine Sehnsuchtskantate)75

Chor :

Leicht ist es, zu sterben durch Messer und Giftoder auch auf dem schafotte.schwer ist es zu geben, was Kaiserlein trifftzu sterben durch die Karotte.76

Gutes Essen. Guter sex. GuterGott. Das Ruder rumzureißen. Rum und Ruhm nächtelang in Rom. Mein sohn. so sprach der Häuptling der Apachen. Hough.

75 Gegenstand dieser Kantate könnte auch die nähe von Leidenschaft und Tod sein. Das Ver-hältnis von Leidenschaft und gutem Essen ist ja weithin ausgeleuchtet. Aber auch die sub-

limierung der Leidenschaft durch Essen. Ein fetter nero. Der nero im Film. Man kann es übertreiben wie Fische, die so gut essen, dass sie platzen. Man kann auch das Gift von den Lippen der Geliebten lecken. Das Ergebnis ist das gleiche, wenn man von den Aufräumarbeiten absieht und von der sicher unterschiedlich ausgeprägten Trauer der Hinterbliebenen.

76 Hier folgt die Funktion der Form. Es ist jedenfalls kein Karottenmord überliefert. (Karotte, Garotte, schafotte.)

Inhalt

Stupor mundi ...................................................................................07

Kaiſerpanorama ..............................................................................27

Kaiſerreiſe ........................................................................................30

Über Veronkelung ............................................................................38

Kaiſergemüſe ...................................................................................43

Abdankungskantate ........................................................................50

requiem in rom ............................................................ 59

at Chemnitz ................................................................... 67

Nachtrag .......................................................................86

Von fern .........................................................................93

isBn: 978-3-945832-03-5 | Preis: 13,90 € www.belletristik-berlin.de | 100% Independent ♥

In Jan Kuhlbrodts Kaiseralbum scheint alles gesagt: durch Tiere. Denn es sind Tiere, die immer den Text füllen. Mit einem Augenzwinkern macht Kuhlbrodt sich auf die Suche nach dem Paradies auf Erden, nach dem Ursprung, auch die Arche kommt vor. Und doch ist das Album anarchisch: Es folgt den Reisen Friedrichs II., des mittelalterlichen Kaisers, der keine Burg besaß und stattdessen mit einem Hofstaat an Tieren durch die Lande zog. Kuhlbrodt begleitet diesen Monarchen, der bewiesen hat, dass das Leben unter Tieren nicht durch den Verlust von Komplexität erkauft wird, sondern einen Gewinn an Hinwendung bedeutet — wenn man ihrer Bewegung nur folgt. Und die ist mal melancholisch, mal leicht, immer angetrieben von etwas, das in der Freude und im Durcheinander der Tiere zu liegen scheint. Und das sich schließlich von einer Reise mit Tieren zur Wiederbegegnung mit einem gewissen Herrn Stötzer wandelt: Geist und Witz sind sich nie in besserer Gesellschaft begegnet.