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Schriftenreihe der Forschungsgruppe "Metropolenforschung" des Forschungsschwerpunkts Technik - Arbeit - Umwelt am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung FS II 97-501 Die gerech(ne)te Stadt. Streitgespräch in Berlin - ein Essay Katharina Peters Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH (WZB) Reichpietschufer 50, D-10785 Berlin Tel. (030)-25 491-0 Fax (030)-25 491-254 od. -684 E-mail: [email protected]

Schriftenreihe der Forschungsgruppe … · Schriftenreihe der Forschungsgruppe "Metropolenforschung" des Forschungsschwerpunkts Technik - Arbeit - Umwelt am Wissenschaftszentrum Berlin

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Schriftenreihe der Forschungsgruppe "Metropolenforschung" des Forschungsschwerpunkts Technik - Arbeit - Umwelt

am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

FS II 97-501

Die gerech(ne)te Stadt. Streitgespräch in Berlin - ein Essay

Katharina Peters

Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH (WZB) Reichpietschufer 50, D-10785 Berlin

Tel. (030)-25 491-0 Fax (030)-25 491-254 od. -684 E-mail: [email protected]

Das vorliegende Dokument ist die pdf-Version zu einem Discussion Paper des WZB. Obschon es

inhaltlich identisch zur Druckversion ist, können unter Umständen Verschiebungen/Abweichungen im

Bereich des Layouts auftreten (z.B. bei Zeilenumbrüchen, Schriftformaten und – größen u.ä.)

Diese Effekte sind softwarebedingt und entstehen bei der Erzeugung der pdf-Datei. Sie sollten

daher, um allen Missverständnissen vorzubeugen, aus diesem Dokument in der folgenden Weise

zitieren:

Peters, Katharina: Die gerech(ne)te Stadt. Streitgespräch in Berlin – ein Essay.

Discussion Paper FS-II 97-501. Berlin : Wissenschaftszentrum, Berlin, 1997 .

URL: http://bibliothek.wz-berlin.de/pdf/1997/ii97-501.pdf

gesichtet am: ...

Die gerech(ne)te Stadt. Streitgespräch in Berlin - ein Essay

Zusammenfassung

Ein Politiker, ein Unternehmensberater, eine Reformbeauftragte und ein Finanzbeamter streiten sich: Sie alle haben eine Vorstellung davon, welcher Reform die öffentli-che Verwaltung Berlins bedarf. Mit diesen vier (Haupt)Stimmen wird eine kursorische Ein-führung sowohl in traditionelle wie in reformerische Elemente öffentlicher Verwaltung, und hier insbesondere der Finanzierung, gegeben. Es handelt sich um Streitpunkte, die zur Zeit deutschlandweit im öffentlichen Sektor zur Debatte stehen: Läßt sich die öffent-liche Verwaltung als interner Markt organisieren? Wie weit läßt sich die öffentlich-recht-liche Buchführung, die Kameralistik, durch eine betriebswirtschaftliche Kosten- und Lei-stungsrechnung ergänzen? Welche Konsequenzen hat das für die öffentliche Ordnung? An das Streitgespräch schließen drei Vorhänge an: Mit ihnen werden drei Lesefolien auf das Streitgespräch angeboten, die auf die Frage Bezug nehmen, wie es zu einem ver-änderten Prozeß der Zu-Rechnung von städtischen Sachverhalten kommt. 1. Der Prozeß entsteht mit der Etablierung einer gemeinsamen Problemdefinition: der

finanziellen Lage als Handlungsdruck. 2. Mit dem Hinzukommen der Unternehmensberatungen zu den in der Verwaltung bereits

bestehenden Positionen erweitert sich das bestehende Ritual institutioneller Verwei sung von Verantwortung um eine weitere Position.

3. Die Rechenbarmachung städtischer Sachverhalte verändert sich, indem über die beste hende Tradition kameraler Buchführung hinaus andere Formen des Vergleiches für städtische Sachverhalte Relevanz gewinnen: Neben der Stadt als Glied des Staates wird die Stadt als geschlossene Einheit, als Unternehmen und als internerner Markt mobili siert. Damit wächst das Ausmaß, das verzahlten und zurechenbaren Legitimationen städtischer Sachverhalte eingeräumt wird.

The Accountable City. Dispute in Berlin - an Essay

Summary

A politician, a business consultant, a reform agent and a revenue officer are having a dis-pute: They all have their own ideas about which reform Berlin's public administration needs. These four actors (voices) provide a cursory introduction to traditional and reforma-tive elements of public administration, in particular financing. Is it possible to organize public administration as an internal market? To what extent is it possible to Supplement cameralistic accounting with economic cost-performance accounting? What would be the consequences for the public order? The dispute is followed by three "curtain calls". These curtain calls are offered as reading foils for an Interpretation of the dispute and relate to the question of how the process of change within the accounting of municipal affairs come about. 1. The process begins with a mutual definition of the problem: the financial situation

generates pressure to act. 2. With the addition of business consultants to the public administration, the ritual of

institutional reference of responsibility are expanded by a further position. 3. The process of making municipal affairs calculable is changing. New forms of account

ing other than traditional cameralistic accounting are gaining relevance: The city is viewed not only as part of the State, but also as a self-contained unit, an enterprise, and an internal market. These perspectives broaden the scope for a monetarised Inter pretation of municipal affairs based upon calculable factors.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung (1)

Ein Methodenexperiment: das Streitgespräch (3)

Die Bühne (7)

Das Streitgespräch (8)

Erster Vorhang (22)

Zweiter Vorhang (25)

Dritter Vorhang (29)

Literaturverzeichnis (32)

Einleitung

Tagtäglich wird sie in den Zeitungen neu verhandelt: die Frage, was zu den Aufgaben staatlicher Verwaltung zählt, und wie diese aussehen soll. Unter Stichworten wie Outsourcing, Devolution, Verschlankung des Staates wird die Frage diskutiert, ob die Bandbreite von Aufgaben, die in Deutschland staatlich erfüllt werden, nicht außerhalb staatlicher Organisation angesiedelt sein könnten. Diese Debatte verläuft häufig als Gegenüberstellung liberaler Marktvorstellungen und sozialstaatlicher Denktraditionen. Die altehrwürdige Tradition von Hoheitlichkeit und Rechtsstaat scheint in ihrer Glaubwürdigkeit angegriffen, die Idee von Betriebswirtschaftlichkeit wird herangezogen, um die Löcher schwindender Legitimität zu stopfen. In eben diesem Spannungsfeld bewegt sich die verwaltungswissenschaftliche Diskussion, wie sie in der deutschen und international vergleichenden Verwaltungswissenschaft geführt wird. Unter dem Stichwort des 'New Public Management' wird eine programmatische Debatte um die verstärkte Einbeziehung von ökonomischen und managementorientierten Ansätzen geführt, die die Organisation von öffentlicher Verwaltung und ihrer Beziehung zu Politik und Bürgerinnen verändert.1 Vergleiche zu anderen Bundesländern, Bundesstaaten und Kommunen werden gezogen und im Zuge dieser Debatte Verständnisse von Staat, Beamten und Bürgertum aufgeworfen.2 Ein wesentlicher Schauplatz, auf dem die Debatte ausgetragen wird, ist das Feld der öffentlichen Finanzen. Hier trifft die Übersetzung sozialstaatlicher und marktorientierter Gesellschaftsmodelle in Zahlen zusammen mit dem, was gemeinhin als Krise der öffentlichen Finanzierung beschrieben wird. In Berlin zeichnet sich ein solches Aufeinandertreffen aufgrund der Größe, der geographischen und geschichtlichen Lage besonders deutlich ab: Die Geldverknappung in den öffentlichen Haushalten trifft hier auf eine Tradition von Subventionspolitik.

1Aus der großen Palette an laufenden Diskussionen sollen hier nur einzelne genannt werden: für die internationale Forschung Naschold 1996, für den deutschlandweiten Diskurs Naschold/Pröhl 1994, Reichard 1994, Reichard/Wollmann 1995, für den Berliner Kontext Dehnhard 1995, 1996.

2 Zwei Zitate aus der verwaltungswissenschaftlichen Diskussion veranschaulichen die Zweifel an dem Abwägen alter und der Einführung neuer Sprach-, Kontroll-, und Rechnungsformen: "Die vielfältigen Rollendifferenzierungen zwischen Steuerpflichtigen, Schülern, polizeilichen Störern, Sozialhilfeempfängern, Jugendlichen, Gewerbetreibenden usw. werden zugunsten der Uniformität einer Verhaltenserwartung aufgegeben, die die Erbringung öffentlicher Güter gerade nicht meint"(König, S. 356, 1995). "Der Bürger ist kein Kunde oder Klient, sondern der eigentliche Träger politischer Selbstverwaltung. Der Gemeinderat ist kein Aufsichtsrat und keine Gesellschafterversammlung, sondern die Vertretung der Bürger... Wen wundert es, wenn der Bürger, durch solche Vokabeln verführt, sich auch so verhält und meint, er könne beliebig fordern, d. h. einkaufen (...) Diejenigen, die sich solcher Bilder bedienen, müssen sich darüber klarwerden, daß aus schiefen Bildern falsche Vorbilder entstehen"(Laux, S. 523f., 1993).

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In Zeiten vor der Wende galt die Stadt sowohl auf Ost- wie auf Westseite als Bollwerk des kalten Krieges. Beiden Stadthälften flössen durch ihre Regierungen besondere finanzielle Unterstützungen zu. Mit der Vereinigung brach nicht nur diese Subventionspolitik zusammen, sondern es entstand auch ein Stadtstaat mit zwei Stadthälften, die nur unter enormen Kraft-und Finanzanstrengungen im Lebensniveau einander angeglichen werden können. Die finanzielle Organisation Berlins muß auf neue Füße gestellt werden. Berlin dient im Streitgespräch als exemplarischer Schauplatz der Debatte um die Organisation öffentlich-städtischer Finanzen. Dabei werden Zahlen und Fakten nicht als bestehende Ordnungen der Stadt verhandelt, sondern als Produkte ihr zugrundeliegender Gesellschaftsvorstellungen. Ich schließe mich damit einer im anglo-amerikanischen Sprachraum als Accounting-Forschung bezeichneten Wissenschaft der Rechnungsschreibung und Rechnungslegung an (Hopwood 1979, Morgan 1988, Robson, 1992, Power 1994), in der die Ermittlung von quantifizierbaren und monetarisierbaren Informationen nicht als technische Anwendung eines Instrumentes, sondern als eine Inszenierung gesellschaftlicher Effizienzvorstellungen thematisiert werden.3 Es geht in dem Ausschnitt, den das Streitgespräch bietet, weniger um das Arbeiten mit Zahlen, also um die Rechnungsführung, sondern vielmehr um das Definieren von Zahlen, also die Rechnungslegung. Entsprechend ist das folgende Streitgespräch ein Streit um die sogenannte Rechnungslegung. Welche Kategorien müssen definiert sein, damit soziale Sachverhalte in Zahlen erfaßt und sinnvoll gesteuert werden können? Welche Vergleichbarkeiten sollen diese Kategorien zu anderen sozialen Einheiten der Gesellschaft herstellen? Die Verhandlung der Legitimität bestehender Regelwerke, die der Zahlenermittlung zugrundeliegen, ist ein permanent stattfindender Prozeß, mit dem die errechneten Zahlen und Fakten ihre Gültigkeit erhalten, wenn man so will, mit dem sie am 'Leben erhalten werden'. Daß darüber hinaus von den vier hier als Finanzstimmen eingeführten Positionen Beschlüsse über Kürzungen und Verlagerungen von Geldern gefällt, Finanzierungskriterien verändert, Änderungen von Bemessungsgrundlagen vorgenommen, Akten geführt und durch Instanzen prozessiert werden, muß zwar als Teil einer Ethnographie über den Prozeß der veränderten Rechenbarmachung von Stadt verstanden werden, ist aber nicht Gegenstand dieses Artikels.

3 Die Accountingforschung ist durch starke Interdisziplinarität gekennzeichnet: Konstruktivistische Arbeiten, die anhand geschichtlicher Vergleiche kontrastieren (Loft 1986, Hoskin/Macve 1994, Robson 1992), international vergleichende Studien (Alirens 1996), Arbeiten, die den Bedeutungszuwachs ökonomischer Modelle untersuchen (McCloskey 1986. Miller/O'Leary 1994) und organisationssoziologische Untersuchungen zu der Ausbreitung von Effizienzmodellen, die Nachahmung hervorrufen (DiMaggio/Powell l983, Rottenburg 1996, Joerges/Czarniawska 1995).

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Ein Methodenexperiment: das Streitgespräch

Die Verrechnung von Stadt spielt sich an verschiedenen Orten und in unterschiedlichen Kontexten zur gleichen Zeit ab. In Anlehnung an den Laborstudienansatz wird aus diesem weiterstreckten Feld eine Lokalität und damit verbunden eine spezifische Aktivität herausgegriffen4: der Stadtstaat Berlin und hier insbesondere die Senatsverwaltungen für F inanzen und für Inneres , das Abgeordnetenhaus und der Senat , d ie Untemehmensberatungsbüros sowie einzelne Fachverwaltungen, und hier wiederum die Fachbereiche, die mit der Einführung neuer Finanzierungsformen im Zuge der Verwaltungsreform beschäftigt sind. Eine Ethnographie weiterstreckter Felder stellt herkömmliche Methoden der Beobachtung auf die Probe: Wo sich die Arbeit an Akten, am Bildschirm und am Telefon der Begleitung durch eine externe, dem Feld nicht zugehörige Person entziehen, wo Vertraulichkeit, Dringlichkeit und Nicht-Öffentlichkeit die Finanzverhandlungen einer Stadt prägen, muß sich die Methode der Beobachtung unkonventionelle Wege der Beobachtung wie auch der Beschreibung suchen, um dem Feld und den ihm immanenten Regeln gerecht zu werden. Die in diesem Aufsatz angebotene Antwort darauf ist ein Streitgespräch als Mischung aus fiktionalen und non-fiktionalen Elementen. Es wurde generiert in der Begleitung und Beobachtung gemeinsamer Sitzungen, Konferenzen, Workshops und Besprechungen. Diese machen einen repräsentativen Teil der Arbeit an der finanziellen Konstitution der Stadt aus. Das Beobachtungsmaterial, das sich daraus ergibt, ist das des performativen Vorführens und Verhandeins von Positionen. Eine Sitzung wie die folgende könnte eine x-beliebige aus dem Beobachtungsbuch der Ethnographin sein. Sie wiederholt sich in ihrer Struktur tagtäglich, nicht nur innerhalb der öffentlichen Verwaltung, sondern auch in den Medien, wo Auseinandersetzungen um die öffentliche Bewirtschaftung von Allgemeingütern in Form von Talkshows, Interviews und Streitgesprächen ausgefochten werden. Es ist damit eine Darstellungsform gewählt, die auf Beobachtungen realer Rahmungen beruht. Die fiktionalen Elemente des folgenden Streitgespräches bestehen darin, daß in ihm Aussagen, die bei großen Sitzungen und kleinen Besprechungen, bei Workshops und Arbeitsgruppen fallen, komprimiert und verdichtet werden. Bestehende institutionelle Verfahrenswege, eingeschliffene Kommunikationsmuster, unterschiedliche Sprachen, verschiedene Weltsichten und die Existenz von Hierarchien tragen dazu bei, daß es einige gibt, die immer, und andere, die nie miteinander in Austausch stehen; einige, die nur schriftlich kommunizieren; andere, die nur über die Medien die Bühne betreten; einige, die

4 Stellvertretend für diesen Ansatz seien hier lediglich die Arbeiten von Knorr-Cetina (1984), Bruno Latour und Steve Woolgar (1979) genannt.

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eng zusammenarbeiten; und solche, die sich nur durch die Brille von Parteizugehörigkeit oder Hierarchie verstehen; einige, die immer aneinander vorbei reden und andere, die sich nur Ausgesuchtes sagen. In die Verdichtung fließen des weiteren nicht-sprechende Artefakte der Verhandlung ein, die in bürokratischen Zusammenhängen als 'Produkt' und Material der Arbeit eine große Rolle spielen: Zwischen- und Endberichte, Aktenvorgänge, Protokolle, Vertragstexte, Mitarbeiterzeitschriften, Gesetzestexte, öffentliche Präsentationsdokumente und Kontrollberichte. Sie sind, ebenso wie Aussagen, die in Interviews unter vier Augen getroffen werden, Anreicherungen des Schaumaterials, die hier in das Format eines Gespräches überführt werden. Aus der Verdichtung werden vier Idealtypen von Argumentationslinien geschaffen. Das Streitgespräch ist also eine Kombination zwischen fiktiver Verdichtung und nicht-fiktionalen Inhalten. Es vereint vier Stimmen, die jede für sich eine kohärente Geschichte erzählen. Der Unternehmensberater Whitemann ist in einer der Büroetagen am Kurfürstendamm beheimatet. An Türstehern vorbei läßt sich das Gebäude nur unter der Vorbedingung eines verbindlichen Termins betreten. Der Sitzungsraum, in den der Besuch geleitet wird, ist in sachlich teurem Ambiente ausgestattet. Aus dieser Perspektive erscheinen die altgedienten, schlichten und oft abgenutzten Räumlichkeiten der öffentlichen Verwaltung eine fern entrückte Welt. Hier ist alles in gedämpfte Farben, in computerblau getaucht; Teppiche verschlucken die Geräusche. Schon im Angesicht der Räumlichkeiten privater Unternehmensberatungen scheint das Gegenmodell zur Gestaltung öffentlichen Verwaltern auf der Hand zu liegen. Schlanke Dienstleistungsbetriebe, junges Personal, reibungsloser Service. Herr Whitemann erzählt mir von seinen Erfahrungen in der Arbeit mit der öffentlichen Verwaltung. Die Geschichten, die in unserem Gespräch den Raum füllen, handeln von Kuriositäten, Dönekens, scheiternden Aufräumaktionen, dem vorhandenen Staub. Herr Whitemann ist voll von Ideen, wie die öffentliche Verwaltung zum Blitzen und Glänzen gebracht werden könnte. Der Verwaltungspraktiker Schulter wohnt in einer kleinen Behausung mit Blick auf die Spree, mitten im ehemaligen Ostberliner Ministerienzentrum. Das Haus noch eine Baustelle, das Büro am Ende eines frisch renovierten langen Ganges gelegen. Die Schuhe quietschen auf dem Linoleum. Klopfen, eintreten, umständlich ablegen, Platz nehmen auf dem einzig verbleibenden Stuhl gegenüber dem Schreibtisch. Der Computerarbeitsplatz ist ein extra Tisch. Die Verbindungstür zum angrenzenden Sekretariat ist angelehnt. Manchmal kommt ein Kollege herein, legt eine Akte auf den Eingangsstapel im Regal und geht wieder. Das Telefon unterbricht den Interviewverlauf gelegentlich, kurze Detailinformationen, die dort ausgetauscht werden, bieten uns nur zusätzliche Unterfütterung des Gesprächsstoffes. Die Leitung des Hauses ist immer der Kommentare wert, der eigene Werdegang, das reiche

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Repertoire an angesammeltem Fachwissen gibt dem Gespräch sein Gesicht. Gediegenheit und Ruhe.

Die Reformbeauftragte Diplopie: Ihr Name bedeutet soviel wie das 'gleichzeitige Sehen zweier Bilder für einen Gegenstand. Entsprechend turbulent geht es bei ihr zu: Die Tür zum Flur steht weit offen, Unternehmensberaterinnen, Verwaltungsmitarbeiter, Reformbeauftragte, ständig kommt jemand herein, um lauthals und 'nur kurz' zu stören. Ein Flipchart steht in der Ecke, Karteikarten mit verschiedenen Handschriften beschriftet, hängen in Kolumnen an der Wand, zwei Arbeitsplätze, auf denen sich allerhand Papiere stapeln, ein Sitzungstisch mit Kaffeetassen und Bonbonniere: eine Mischung aus Konferenzzimmer und Büro. Das Telefon klingelt ununterbrochen. Ein Interview ist das Inanspruchnehmen kostbarer Minuteneinheiten zwischen den Terminen. Unproblematisch dagegen ist das Teilnehmen an den sich laufend ereignenden Besprechungen. Und selbstverständlich die Einladung mitzuarbeiten an dem großen Werk, den vielen Plänen, deren Umsetzung viele Kräfte braucht. Der Politiker Haupt ist nirgendwo zu Hause. Es ist die Sekretärin, die seine räumlichen Aufenthalte organisiert. Sie koordiniert nicht nur den Terminkalender, sondern auch den Besuch, den Chauffeur, den Dienstwagen und die Familienzeiten. Herrn Haupt zu treffen kommt einer Audienz gleich. Gestreßt sieht er aus, der Herr im Anzug, der einem die Hand schüttelt und in die Sofaecke bittet. Aber nur kurz. Wir machen es kurz. Ein bißchen Einbück in die reiche Berufserfahrung wird aufgeschüttet, die brieflich und telefonisch gestellten Anliegen werden in Form von Verkündungen beantwortet. Man wird verwiesen an Untergebene, die sich um alles weitere kümmern werden. Kaum versehen, schon steht man wieder auf dem Flur. Die Soziologin hat die Möglichkeit, mit jeder der vier institutionellen Vertreter einzeln Kontakt aufzunehmen. Sie spielt aber für die Aufrechterhaltung keiner der Institutionen eine Rolle. Von Herrn Whitemann wird sie als potentielle Berufskollegin betrachtet. Ihre Beobachtungen könnten - wer weiß - für ihn von Interesse sein. Ein kollegialer Austausch von Perspektiven bietet sich an. Für Herrn Schulter ist sie ein Gast, dem Gastrecht gewährt werden muß. Das bedeutet, sich ein bißchen kümmern, ihr erklären, was es mit der Umgebung, den Leuten, den Tätigkeiten auf sich hat, ein paar Leckerbissen servieren und aufpassen, daß sich die Person nicht so zu Hause zu fühlen beginnt, daß sie einem das Hausrecht aus der Hand nimmt, und selber zu bestimmen beginnt, wie lange und wo sie sich aufhält. Frau Diplopie nimmt die Forscherin kaum als Gast wahr. Jede, die will, kann kommen und bleiben, nur stören darf sie nicht. Und Hilfestellungen sind natürlich immer willkommen. Für Herrn Haupt betritt mit dieser Person die Öffentlichkeit die Bühne. Keine sehr bedrohliche Öffentlichkeit allerdings: ohne Titel, ohne würdiges Alter, weiblichen Geschlechts. Aber jede Öffentlichkeit ist mit Respekt zu behandeln, denn sie kann einem ebenso gefährlich werden, wie sie einem nützen kann.

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Wer ist sie also, diese Forscherin? Eine Kollegin, ein Gast, ein Nichts, eine instrumentalisierbare Öffentlichkeit. Ihre Positionierung wechselt je nach Partner. Gemeinsam ist allen vieren der Überzeugungswille, mit dem um die eigene Position geworben wird. Bei drei der vier Stimmen liegt das schon in ihrer Profession begründet: Politikerinnen, Unternehmensberater und Reformbeauftragte überzeugen vor allem durch ihre Worte und Konzepte. Für die vierte Berufsgruppe, die Verwaltungsangestellten stellt die Beforschung ihrer Tätigkeit eine unverhoffte und seltene Möglichkeit dar, Öffentlichkeitsarbeit zu machen, wo dies ansonsten nur der Stellvertreterschaft durch Politikerinnen obliegt. So haben nicht nur die Partnerinnenzuschreibung die Darstellungen, die hier zu lesen sind, erheblich mit produziert, sondern auch der Ton des Feldes, der sich im Streitgespräch niederschlägt. Indem die Ergebnisse des Verdichtungsmaterials aus ihrem Kontext herausgerissen und in einen neuen hineinfügt werden, besteht eine höhere Gefahr des Mißdeutens von Aussagen und Sachverhalten, es entstehen Verluste an Authentizität der Daten. Diese Verluste werden jedoch in Kauf genommen, weil die Zusammenführung der institutionell getrennten Perspektiven eine inhaltliche Begründung hat. Wie in den Schlußkapiteln ausführlich zu zeigen sein wird, besteht gerade in dem Wechselspiel der vier Positionen das Ritual, mit dem sich durch institutionelle Verweisungen die Institution ihrer selbst vergewissern kann. Der vorliegende Text läßt sich dem literarischen Genre der 'neuen literarischen Formen' zuordnen, wie sie vor allem innerhalb der Wissenssoziologie Eingang gefunden haben (vgl. dazu Pinch 1988, Mulkay 1985, Latour 1996). Die neuen literarischen Formen, zu denen neben Einaktern und Dialogen auch Polyphonien und Reden zählen, schaffen eine Mehrperspektivität auf das jeweilige Thema. Ihr Ziel ist es nicht, den komplexen Forschungsgegenstand auf die eine beste Form als wissenschaftlich geprüft und empfohlen zu reduzieren, sondern die Reduktionsprozesse am komplexen Gegenstand selber zum Thema zu erheben.5 Das Streitgespräch als Methodenexperiment eröffnet die Chance, einen

5 Ein exemplarisches Beispiel bietet der Aufsatz von Mulkay, Pinch und Ashmore (1989), die die literarische Form des Theaterstückes nutzen (Aufführende sind die drei Forscher, der Kassettenrekorder, ein Videorecorder, drei Interviewpartner bzw. Kollegen), um die Reduktionsprozesse und damit die Wissensproduktion sozialwissenschaftlicher Forschung mit der ihres Forschungsgegenstandes, dem Zustandekommen von ökonomischen Fakten im öffentlichen Gesundheitssektor Großbritanniens, zu parallelisieren. Diese Parallelisierung geschieht über die Gleichschaltung von Autoren und Beforschten als Darstellerinnen des Stückes und das Nebeneinanderstellen ihrer Arbeitsprozesse durch das Stilmittel des Theaterstückes in mehreren Akten. Ein weiteres Beispiel, das sich, wie bei dem hier gewählten Thema, auf die Veranschaulichung der Verknüpfung weit erstreckter Felder bezieht, bieten Czarniawska und Jacobsen (1995). Die performative Form der Commedia Dell'Arte dient hier als inhaltliche Aussage. Typische Strukturmerkmale von Entscheidungsprozessen in Ministerialverwaltungen werden veranschaulicht durch das Vorhalten von Masken, hinter denen die Gesichter der Schauspieler noch zu erkennen sind, durch Rollen, deren Bedeutung nicht im festen Sprechinhalt, sondern in der gekonnten Improvisation einer Handlung liegt und durch den Wechsel von Akten, die die Schauspieler des Stückes in unterschiedliche Konstellationen zueinander bringt.

Forschungsinhalt zu erfassen, der sich selber räumlich und zeitlich nicht fixiert und vor allem in Verflechtungen und Verknüpfungen unterschiedlicher Arenen erzeugt wird.

Die Bühne

Ort des Geschehens ist ein mittelgroßer Sitzungsraum in der Senatsverwaltung für Inneres. Die Sitzung wird in wenigen Minuten beginnen. Bedeutsame Vertreterinnen der Finanzdiskussion aus der internen Öffentlichkeit der Stadtverwaltung sind anwesend: die als Startbereiche ausgewählten Senatsverwaltungen, die Reformbeauftragten, die drei Unternehmensberatungen. Die Tischrunde ist als Hufeisen aufgestellt. Etwa 17 Sitzungsteilnehmer betreten nach und nach den Raum und lassen ihre Aktentaschen auf einen Stuhl weiter gleiten oder legen die zwei Leitzordner, die sie unter dem Arm tragen, auf dem Tisch vor sich nieder. Für eine kurze Begrüßung wenden sie sich zwei Stühle weiter dem nächsten bekannten Gesicht zu. Der Raum füllt sich langsam mit Männern, die Plätze wirken aufgrund der dort liegenden Papiere allmählich belegt, die spät Hinzukommenden müssen

eine Reihe von Stühlen abschreiten, um die wenigen Lücken zu besetzen. Immer wieder werden Hände geschüttelt. Gedämpfte Unterhaltung füllt den Raum. Es kommt auf der Bühne eine Ansammlung von Anzügen zusammen: kariert, braun und lila, jede Farbe darf vertreten sein, solange sie nicht zu schrill ist. Die Anwesenden wirken in ihrer Kleidung

alterslos. Anstelle des Alters tritt die Seriosität in den Vordergrund. Die Unterscheidungsmerkmale müssen sich auf wenige Kriterien wie Haarfarbe und Haarmenge und ab und zu ein besonderes Kennzeichen wie Hakennase, kleine Körpergröße oder weibliches Geschlecht reduzieren. Kein Teilnehmer erscheint verschwitzt oder mit rotem Kopf, mit zerzaustem Haar, mit Helm unter dem Arm oder Regenkleidung in der Hand. Im Laufe der Sitzung werden einzelne ihr Jackett ablegen und im langärmligen weißen Hemd mit Schlips dasitzen. Die weibliche Sitzungskleidung stört das Bild der Anzüge nicht. Die

Existenz weiblicher Sitzungsteilnehmer soll im Sitzungsgespräch explizite Aufmerksamkeit finden (etwa so: "Jedermann"- Pause und Blickschwenken in Richtung Dame -"und selbstverständlich auch" - Kopfnicken in ihre Richtung - "jede Frau" - Pause - "weiß, daß wir

es hier mit einem Angebot zu tun haben ........"). Die Kleidungs- und Körpersprache schafft eine glatte Oberfläche, die nicht durch individuelle Gerüche oder Aussehen Aufmerksamkeit beansprucht. Die Körper stellen den unbeweglichen Teil der Sitzung dar. Die Teilnehmer, als Selbstverwalter ihrer Körper übernehmen seine Fixierung: sie rülpsen nicht, spucken nicht aus, rotzen nicht, kauen nicht. Sie machen die Körper zur Konstante, die keine Irritation bewirkt. Die Körpersprache ist weitestgehend zurückgedrängt, sie beschränkt sich auf wenige typische Bewegungen, wie etwa das mit der flachen Hand auf den Tisch schlagen oder den

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Oberkörper als Zeichen von Desinteresse und Interesse vor- oder zurückzuverlagern. Außer der Flüssigkeitszufuhr nehmen die Anwesenden während der Sitzungen kaum körperliche Aktivitäten wahr. Wo der Körper fixiert ist, richtet sich die Aufmerksamkeit auf Worte und Tonlagen im Raum. Das Kommen Herrn Haupts (auch hier Händeschüttelepisoden) gilt als Zeichen, sich allmählich auf die Stühle zu begeben, damit die Sitzung beginnen kann.

Das Streitgespräch

Haupt: Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie und entschuldige mich für die Verspätung. Anlaß unseres Treffens: Die Verwaltungsreformbeauftragten haben darum gebeten, das Reformkonzept für die Senatsverwaltungen zu aktualisieren. Lassen Sie uns zügig zum Thema kommen. Zum Verfahren: Ja, wie wollen wir vorgehen?

Diplopie: Wir haben um diese Sitzung gebeten, weil wir, die Reformcrew, die Berliner Verwaltungsreform in Gefahr sehen. Ich darf daran erinnern: Berlin ist das einzige Bundesland, das flächendeckend in allen Bezirks- und Ministerialverwaltungen die Finanzen und Arbeitsabläufe umorganisiert. Andere Bundesländer und Kommunen arbeiten mit Inseln: Die einen reformieren einen Teil ihrer Verwaltung, die nächsten die Personalorganisation oder die Rechnungsführung. Wir meinen, alles hängt so eng miteinander zusammen, daß wir es auch zusammen reformieren müssen. Jetzt, angesichts des Sparkurses, bekommen wir zu spüren, daß alle Kapazitäten von drastischen Sparmaßnahmen absorbiert sind. Der enorme Kraft- und Zeit- und Geldaufwand, den die Reform braucht, ist für viele Mitarbeiter ein Zuviel. Es werden Stimmen laut, die sagen, wir hätten besseres zu tun. Und die Reform koste zuviel. Dafür sei kein Geld da. Ich warne davor, nur an kurzfristige Einsparungen zu denken. Dies ist eine langfristige Investition. Eine Investition in die Zukunft, wie die Versicherungen es so schön nennen. Quasi eine Lebensversicherung für die öffentliche Verwaltung. Wenn wir hier nicht von Ihnen, den versammelten Führungskräften der Verwaltung eine deutliche Zusage für Unterstützung erhalten, ist die Reform in Gefahr.

Haupt: Frau Diplopie, ich glaube, daß das in unserer Runde doch keine Frage ist. Wir wissen doch alle, daß es nicht mehr reicht, nach herkömmlichen Mustern weiterzumachen. Wir müssen jetzt Konsequenzen ziehen. Im Rahmen der laufenden Haushaltswirtschaft bedeutet das, wir werden in zwei Monaten einen Kassensturz machen, Mitte des Jahres eine

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Steuerschätzung, eine laufende Beobachtung von Risiken noch ernster nehmen als bisher. Sie wissen so gut wie ich, daß die Schätzungen und der Kassensturz nicht freundlich ausfallen werden. Unsere Mitarbeiterinnen gehen zur Zeit bis an die äußersten Grenzen ihrer Belastbarkeit. Das wird sich nicht so schnell ändern. Eher schlimmer werden. Denn die Zeiten, die uns bevorstehen, werden härter, als die, die wir schon jetzt erleben. Für uns Finanzer bedeutet das, daß wir im Rahmen der laufenden Haushaltswirtschaft keine nicht bereits veranschlagten Ausgaben genehmigen werden, die nicht entsprechende Deckung durch Einnahmen an anderen Stellen aufweisen. Die Verwaltungsreform geht das Problem mit strukturellen Überlegungen an. Natürlich muß sie weitergeführt werden! Und davon müssen wir alle überzeugen: die Medien, die Berliner und Berlinerinnen, die Kollegen, die Zuwendungsempfänger der Stadt, kurz: ALLE. Ohne längerfristige Einsparungen bleibt Berlin auf der Strecke. Verwaltungsreform ist sinnvolles Sparen. Wir wollen einsparen, ohne die Qualität der Verwaltungen dieser Stadt zu mindern. Das Allgemeinwohl der Berliner und Berlinerinnen ist und bleibt unsere höchste Priorität.

Diplopie: Herr Haupt, ich bin erfreut, diese unterstützenden Worte aus Ihrem Mund zu hören. Eines muß ich dazu nur anmerken. Eine Reform, wie sie Berlin anstrebt, ist viel mehr als Kosten einsparen. Es geht hier um eine grundlegende organisatorische Neugestaltung. Um nur die Stichwörter der zentralen Elemente zu nennen: Dezentrale Fach- und Ressourcenverantwortung, Berliner Produktkatalog, Kostenrechnung, Controlling und Berichtswesen, Budgetierung und Planung, Personalmanagement, rechtliche Rahmenbedingungen, Qualitätsmanagement, Realisierungsplanung. Es geht hier nicht nur um Verschlankung, es geht auch um ein Qualitätsmanagement. Bürger sollen sich als Kunden fühlen können, Verwaltungsangestellte sollen Manager ihrer eigenen Finanzen, Ressourcen und Personalmittel sein, Anreizsysteme sollen die Aufgabenerfüllung attraktiver machen. Und um eine Neubestimmung des Verhältnisses von Politik und Verwaltung, Führenden und Ausführenden: Es werden Quasiverträge zwischen Verwaltungseinheit und Politik vereinbart, die festlegen, wieviele Dinge zu welchem Preis erstellt werden sollen. Verwaltungsreform heißt also auch Optimierung politischer Einflußnahme!

Schulter: Sie erfinden hier das Rad neu. Sie wollen aus der Stadtverwaltung ein Unternehmen machen, indem sie lauter englische Begriffe und Industriekostenmodelle einführen. Ich hör immer nur Management, Service, Produkte... Sie wollen alle Arbeitsschritte nach einer vollkommen systemfremden Systematik erheben und abbilden. Aber mir hat noch niemand gesagt, was damit bezweckt werden soll! All diese Rhetorik, ist das etwa das Sparkonzept, daß wir uns verkaufen lassen? Im übrigen sagt der

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Landesrechnungshof: Bis heute ist von Ihnen noch keine Gesamtkostenrechnung vorgelegt worden, wieviel die Einführung des neuen Führungs- und Steuerungssystems kosten wird.

Diplopie: Wir werden auf Dauer nicht einsparen, wenn wir unsere organisatorischen Strukturen nicht flexibler und schlanker machen. Als Institution, die weitblickend planen will, müssen wir auch weitblickend reformieren. Reform heißt nicht nur Sparen und Sparen heißt nicht nur Kostenrechnung. Verwaltungsreform ist zum ganz wesentlichen Teil Überzeugungsarbeit bei den Mitarbeitern. Auch der Landesrechnungshof hat das in Bezug auf Erfahrungen in anderen Bundesländern angemahnt: Ohne Personalmanagement muß die Reform scheitern. Reform geht nur GANZ oder GAR NICHT!

Schulter: Ich bin langjähriger Angestellter in diesem Laden. Und ich muß Ihnen sagen: Wir haben viele Reformen erlebt und auch überlebt. Und jedesmal hat sich irgendetwas geändert. Reformen, das sind Anpassungen an neue Technologien. An den Zeitgeist. Ich versteh nicht, wozu wir so Massen an Geldern in Bewegung setzen, um so zu tun, als sei hier ALLES marode.Von wegen GANZ ODER GAR NICHT. Und da kommen so Berater wie Herr Whitemann und räumen erstmal tüchtig auf! Herr Schulter ist laut geworden. Die Atmosphäre im Raum ist angespannt. Er fingert in den Papieren vor sich herum. Der Landesrechnungshof sieht das sehr viel differenzierter als Sie. Wenn ich zitieren darf (laut liest Herr Schulter von dem Blatt vor, das er von sich weggestreckt hält): "Andere Städte und weitere Kommunalverwaltungen haben ihre Verwaltungsreformprozesse ohne oder ohne wesentliche Unterstützung von Externen aufgrund der Empfehlungen der Kommunalen Gemeinschaftsstelle begonnen bzw. durchgeführt. Der Rechnungshof fordert deshalb, daß die Senatsverwaltungen für Inneres und für Finanzen die Auftragserfüllung durch Externe u.a. durch eine detaillierte Abnahmeprüfung wirksam sicherstellen. Die Begleitung durch externe Unternehmensberatungen ist 1996 wesentlich zu reduzieren und sollte dann auslaufen."

Haupt: Wir, das Land Berlin, haben uns Experten herangeholt, damit sie als Herzschrittmacher der Reform aktiv werden. Das heißt, daß Sie neben unsere Schreibtische kommen müssen und sich nicht in Ihrem Kudammkarree im Elfenbeinturm verbarrikadieren. Ich muß Sie in die Pflicht nehmen, Herr Whitemann, das kostet das Land Berlin viel. Und gerade deshalb ziehe ich einen anderen Schluß als der Landesrechnungshof und Herr Schulter: Wir sind verdammt zum Erfolg. Wir brauchen die Beratung und wir brauchen die Reform, WEIL uns der Erfolg wichtig ist.

Diplopie: Ihre Expertise und Erfahrungen mit der Finanzierung Berlins, Herr Schulter, kann

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und wird nicht einfach wegfallen. Wir wollen, daß die Mitarbeiter durch mehr Verantwortung auch mehr Möglichkeiten bekommen, ihre Expertise einzubringen. Unser zentrales Schlagwort ist die Zusammenführung von Fach- und Ergebnisverantwortung! Sobald sie nicht nur für die fachliche Arbeit, sondern auch für deren Ergebnis und Finanzierung verantwortlich sind, wird das Sparen dabei von selber herauskommen. Wenn Sparen bedeutet, daß ich im nächsten Jahr um soviel weniger Geld bekommen werde, wie ich dieses Jahr einspare, dann ist Sparen sinnlos. Hab ich aber die Möglichkeit, das gesparte Geld da einzusetzen, wo ich es für sinnvoll halte, dann schafft Sparen Kreativität und Verantwortung. Dann kann es sogar eine reizvolle Herausforderung werden!

Schulter: Entschuldigen Sie die Deutlichkeit, aber Sie erheben im Zuge dieser Reformbewegung doch nur das zur Philosophie, was wir bereits seit längerem praktizieren. Seit mindestens 10 Jahren sind wir dabei, neue Finanzprinzipien in der Berliner Verwaltung zu etablieren. Nehmen Sie bspw. die Finanzierung der Bezirke: Denen weisen wir seit zwei Jahren Globalsummen zu. Sie sind aufgeteilt in drei große Kostenblöcke. Anstelle einzelner Titel, die von uns - wie das früher der Fall war - kontrolliert und genehmigt wurden, interessiert uns heute nur noch das Ergebnis: Droht ein Bezirk sein zugewiesenes Budget zu überschreiten?! Während bei Ihnen die Kontrolle nicht über Globalsummen, sondern über die Geldzuweisung bezogen auf einzelne Produktkosten laufen soll, fällt in unserem Modell diese Form von Kontrolle weg. Ich behaupte, das ist mehr Eigenverantwortung und weniger Kontrolle, als Sie jetzt einführen wollen.

Diplopie: Wir wollen nicht die Senatsverwaltung als gestrengen Vater mit seinen Kindern behalten, wir wollen selbständige Verwaltungseinheiten und gerechten Vergleich von erbrachten Leistungen. Das ist unsere Vorstellung von Transparenz und Demokratie und Bürgerfreundlichkeit. Das Ergebnis der Produktkostenrechnung soll sein, daß wir nicht nur wissen, daß ein Bezirk sein Budget überschreitet, sondern auch wie dies verursacht wurde. Erst wenn ein einheitlicher Vergleich der Produktkosten vorliegt, können wir sagen, welche entstandenen Kosten überdurchschnittlich hoch sind und woran das liegt. Und damit kommen wir auf den Zweck dieser Sitzung zurück. Es geht darum, nicht nur die Bezirke zu diesem neuen Kostenmodell zu bewegen, sondern auch die Senatsverwaltungen. Wir wollen kein hierarchisches, sondern ein flächendeckendes Prinzip der Kostenrechnung. Senatsverwaltungen wie Bezirke sollen wirtschaftlich denken lernen. Dazu brauchen wir mehr als Globalsummen für die Bezirke! Wirtschaftlich denken tut niemand, dessen Geldzuweisung sich ausschließlich daran orientiert, wieviel er letztes Jahr bekommen hat. Und der, wenn er im letzten Jahr weniger ausgegeben hat, in diesem auch weniger bekommt. Unsere Budgets sollen nicht mehr pauschale Geldsummen sein, sie sollen sich aus

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nachgewiesenen Leistungsmengen zusammensetzen. Und das für jede Verwaltungseinheit.

Haupt: Die Zeiten, in denen wir aus dem Vollen schöpfen konnten, sind vorbei. Eine solche Finanzkrise wie jetzt hat Berlin seit Jahrzehnten nicht gesehen, und ich sage Ihnen, das wird in den Folgejahren nur noch schlimmer werden! Zu Zeiten der Teilung hatten wir in Westberlin Haushaltsjahre, in denen unsere Probleme am Ende des Jahres mehr darin bestanden, Restsummen sinnvoll auszugeben. Das erscheint angesichts der jetzigen Lage unvorstellbar. Das Blatt hat sich gewendet. Wir Berliner müssen lernen, uns einzuschränken. Jeder und an jedem Ort. Wir müssen uns auf das Notwendigste beschränken. Das ist bitter, aber nicht verhinderbar.

Schulter: Ich vermisse in dieser Debatte den nötigen Respekt davor, daß unsere kamerale Buchführung Ausdruck eines parlamentarischen Systems ist. Der Haushalt hat die gerechte Verteilung öffentlicher Gelder als höchstes Ziel. Es geht in erster Linie nicht um Produkte, zu denen möglichst preiswert Zuarbeiten gemacht werden sollen, sondern es geht um die übergreifende Gewährleistung von Gleichheit, Gerechtigkeit und rechtsstaatlicher Kontrolle. Er rückt seinen Stuhl laut vom Tisch ab, so als wolle er sich erheben, um eine Rede zu halten. Wir haben es mit einer politischen Organisation zu tun! Unser öffentliches Kostenrechnungssystem, die Kameralistik ist ein Abbild davon: Sie teilt ein in politisch fachliche Zuständigkeiten, wie Bauwesen, Verkehr, Kultur etc. und übergreifende Verwaltungsbereiche, die die Gleichheit unter den verschiedenen Fachressorts garantieren: Finanzen, Personal und Recht. Jeder Verwaltungsbereich unterliegt einer einheitlich vorgegebenen Finanzsystematik.

Eine Frau hat in der Zwischenzeit den Raum betreten. Sie hat sich zu Herrn Haupt heruntergebeugt und redet leise mit ihm. Daraufhin macht Herr Haupt Anstalten aufzustehen.

Haupt: Ich muß mich an dieser Stelle leider schon verabschieden. Bitte fahren Sie fort. Ich werde mir dann berichten lassen... Herr Haupt verläßt eilend den Raum.

Mit seinem Verlassen entsteht Unruhe im Raum. Ein Sitzungsteilnehmer fragt, wo er hier kurz telefonieren könne, ein anderer, ob es möglich sei, Kaffee zu organisieren, ein dritter möchte gern kurz lüften. Nach einer kurzen Unterbrechung geht die Sitzung weiter.

Schulter setzt seinen angefangenen Vortrag fort: Wir sind verpflichtet, unsere Finanzen nach politischen Zuständigkeiten in Jahren zu belegen, und zwar nach bundeseinheitlicher Systematik. Die Politiker haben meines Erachtens noch nicht erkannt, daß sie mit der

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Angleichung einer städtischen Finanzierung an die industriellen Finanzformen sich ihre Kontrollmöglichkeiten selber entziehen. Nochmal: Wir sind kein Unternehmen. Wir sind ein Glied des Staates. Wir sind eingebunden in den Länderfinanzausgleich, die einheitliche Steuerschätzung, die fünfjährige Finanzplanung, die Bundeszuweisungspolitik etc.. Das Rechnungswesen, das sich über Jahrzehnte in der deutschen öffentlichen Verwaltung entwickelt hat, ist kompliziert, das geb ich zu. Wenn heute behauptet wird, der Haushalt sei nicht mehr verständlich, dann kann ich nur sagen, 'ja komplex geworden ist er schon - aber er ist gerecht!'

Diplopie: Sie haben recht, wenn Sie darauf hinweisen, daß der Haushaltsplan zukünftig große Teile als Informations- und Steuerungsinstrument abgibt. Was er bleibt, ist eine Ausgabeermächtigung für die Verwaltung. Die Politik entscheidet nicht mehr Titel- sondern Eckwerte-bezogen. Wir sind der Meinung, daß sie über Zielvereinbarungen und Eckwerte sowohl zeitnäher als auch allgemeingültiger entscheiden kann.

Schulter: Wir haben es bei der Berliner Verwaltung nicht mit einer Firma zu tun, die Konkurs machen könnte. Es geht um die öffentliche Ordnung, die wir gewährleisten müssen, um gesetzlich einklagbare Ansprüche von Bürgern. Und dazu müssen wir entsprechende Verantwortlichkeiten aufrechterhalten. Das Bundesgesetz schreibt uns eine titelscharfe Berechnung vor. Das ist nicht so einfach auszuhebeln wie eine Landeshaushaltsordnung Berlins.

Whitemann: Was genau wird im Gesetz erzwungen und wofür ist das gut? Diese Frage müssen wir uns stellen. Die deutsche Bürokratie wird oft genug, auch aus den eigenen Reihen, dafür gehänselt - und zwar zu recht -,daß sie Gesetze so auffaßt, als sei alles, was darin nicht geregelt ist, nicht erlaubt. Anstatt den Sinn umzudrehen und zu sagen, alles, was nicht geregelt ist, bedarf keiner Regelung!

Schulter: Ach, sie ist ja verlockend, ihre Vorstellung von dem Unternehmen, in dem jeder nur das tut, was er für richtig hält, und alle für ihre Kunden da sind. Aber ich muß doch auf Einschränkungen hinweisen, die gerne übersehen werden. Ihr Kundenverständnis kann ich nicht auf einen jugendlichen Delinquenten anwenden, der sich ebensowenig als Kunde fühlt, und die Verwaltungsbeamtin als Verkäuferin. Die Kundenleistung ist eine Geldbuße. Und über Produkte wie Knöllchen würde ich mich als Bürger auch nicht freuen! Man kann nicht Rechtsämter zu Serviceeinheiten machen, die nur auf Bedarf arbeiten, oder Verwaltungen für Angelegenheiten wie Inneres und Finanzen ihre Eingriffsrechte rauben. Denn sie sind für Gleichheit und unabhängige Kontrolle innerhalb unserer Verwaltung

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zuständig.

Whitemann: Die Bedenken, die Sie hier formulieren, bekommen wir immer wieder zu hören: Herr Whitemann hebt seine Stimme 'Was soll ein Produkt in der Verwaltung? Wir haben weder Produkte noch Kunden. Wir sind keine Firma.' In seiner natürlichen Tonlage weitersprechend: Firmen haben Produkte, Kunden und Kostenrechnung; und es gibt erfolgreiche und weniger erfolgreiche Unternehmen. Es geht nicht darum, aus dem öffentlichen Dienst eine Firma zu machen, sondern es geht darum, eine kundenorientierte Dienstleistungsorganisation entstehen zu lassen. Der Steuerzahler - also wir alle - will für sein Geld Leistung! Auch vom Staat. Und vergleichen wir nicht selbst oft unwillkürlich die Leistungen der Behörde mit der eines Unternehmens? Und wie oft kommt der Behördenalltag dabei schlechter weg? Das wollen wir ändern! Die betriebswirtschaftliche Kostenrechnung bietet uns die Möglichkeit, Kosten so transparent in den einzelnen Leistungs- und Verantwortungszentren wie in den Senatsprojekten darzulegen, daß sich vergleichen läßt, wer am günstigsten für entsprechende Qualität wirtschaftet. Damit sind Verwaltungen auf lange Sicht nicht nur untereinander Anbieter, sondern können sich auch auf dem freien Markt um Dienstleistungserstellungen bewerben.

Schulter: Sie sprechen von preisgünstiger Erstellung, ich von politischer Zurechenbarkeit, Sie reden von Nachfrage, ich von Vorsorge und Gewährleistung.

Whitemann: Was ist Vorsorge, was ist Verantwortung, wenn ich keine Anhaltspunkte habe, welcher Bedarf tatsächlich besteht? Die Kameralistik liefert nur Aussagen über die finanzielle Situation bezogen auf ein ganzes Jahr. Und dabei orientiert sie sich an dem Prinzip der Fortschreibung. Was hab ich letztes Jahr ausgegeben für diesen Titel? Aha - dann dieses Jahr pauschal ein paar Prozent weniger bzw. mehr, je nach Kontostand. Ist das, was sie Gewährleistung nennen? Wenn Zahlungen nur bei Fälligkeit und nicht zum Zeitpunkt des tatsächlichen Verbrauchs gebucht werden. Allein schon deshalb kann die Wirtschaftlichkeit einer Periode nicht beurteilt werden. Die Kostenrechnung ordnet den Perioden nur die Kosten zu, die auch tatsächlich zur Leistungserstellung in dieser Periode angefallen sind. Durch die Gegenüberstellung mit den Erträgen der Periode kann damit erstmalig die Wirtschaftlichkeit des Verwaltungshandelns betrachtet werden.

Schulter: Eins muß hier mal gesagt sein. Man kann nicht der kameralen Haushaltssystematik allein die Finanzmisere in die Schuhe schieben. Nach dem Mauerfall wurde die West-Berlin-

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Hilfe gestrichen. In Zeiten der Teilung sind die West-Berliner viel zu anspruchsvoll geworden. Wo gibt es das noch, daß Einrichtungen wie Volkssport, sozialer Wohnungsbau, Jugendarbeit und was es sonst noch so an sozialen und kulturellen Projekten gibt, so hoch subventioniert werden wie in Berlin? Diese Anspruchshaltung... Straßenbahnen nachts durchfahren lassen, wo gibt es das schon? Nicht mal in Frankfurt am Main! DA müssen wir ansetzen. Es gibt eine Menge an Sparpotentialen, die auch ohne Systemänderung angegangen werden können.

Diplopie: Genau das geschieht doch im Moment. Und Sie sehen doch an den Reaktionen, daß diese Rasenmähermethode willkürlich und pauschal alle Einheiten schröpft. Mit Hilfe der Kostenrechnung gibt es Anhaltspunkte für sinnvolles Sparen. Einsparungen können gezielt auf Wirtschaftseinheiten bezogen werden, deren Leistungen nicht proportional zu ihren Ausgaben stehen.

Whitemann: Die Kosten- und Leistungsrechnung errechnet den Werteverzehr bei der Leistungserstellung, während die Kameralistik Ausgaben, also Zahlungsströme, betrachtet. Nehmen wir die Anschaffung eines PC's. Bei der Kameralistik werden die Ausgaben für die Anschaffung ausschließlich im Jahr der Anschaffung berücksichtigt. Die Kostenrechnung legt die Anschaffungskosten der PC's dagegen in Form von Abschreibungen auf die Jahre der Nutzung um, so daß jedem Jahr der Werteverzehr zugeordnet wird, der auch tatsächlich durch die Leistungserstellung verursacht wird. Ähnlich bei den Einnahmen: Erträge werden nur berücksichtigt, wenn sie in Zusammenhang mit der Leistungserstellung stehen. Ein Verkauf von Vermögensgegenständen bspw., der trägt zwar zur Verbesserung der Haushaltslage, aber nicht zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit bei. Ergo wird er nicht in der Kosten- und Leistungsrechnung berücksichtigt. In der Kameralistik hingegen zählt er als Gewinn.

Schulter: Sie wollen alle Bezirke und Senatsverwaltungen nach ein und demselben Schema vereinheitlichen und vergleichbar machen. Schön. Wir haben aber Jahre daran gearbeitet, einen Katalog von Sozialindikatoren zu erstellen, mit dem wir die Ungleichheiten zwischen den Lebenslagen in unterschiedlichen Bezirken dieser Stadt ausgleichen können. Berühmtes Beispiel: Ein Sozialamt mit hohem Anteil an türkisch sprechender Bevölkerung. Die Durchlaufzahl an 'Kunden' dauert dort viel länger als in einem Bezirk mit fast ausschließlich gutgebildeten, reichen 'Kunden'. Armer Bezirk, nach ihrem Modell wird er nur noch ärmer, weil er dummerweise durch den hohen Zeitaufwand viel mehr Geld einrechnen muß für seine Leistungen. Indem Sie Personal, Investitionen und Sachausgaben gleichsetzen und alles miteinander zu einem Produktpreis rechnen, ist kein Platz mehr für notwendige

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Differenzierungen, die eine öffentliche Verwaltung aber machen muß! Ich sage nochmal: Wir sind kein Dienstleistungsunternehmen, sondern ein Garant öffentlicher Ordnung und Gerechtigkeit.

Diplopie: Wir müssen uns immer klar machen, auf welcher Ebene wir uns gerade befinden. Auf der politischen oder der ökonomischen. Die Kostenrechnung steht in dem Spannungsfeld zwischen betriebswirtschaftlicher Steuerung und politischer Prioritätensetzung. Die Politik darf objektive, aus der Kostenrechnung resultierende Daten nicht ignorieren und die Verwaltung wiederum darf aus den objektiven Daten keinen Anspruch auf die Zuweisung von Mitteln ableiten.

Whitemann: Unsere Aufgabe kann es hier nicht sein, ein wasserdichtes Konzept vorzulegen. Wir können Ihnen nur Techniken zeigen, mit denen Sie zu einer anderen Organisation ihrer Kosten kommen. Und da meine ich, auch unplanbare Ereignisse, auch das Chaos ist in gewisser Weise planbar. Wenn wir erstmal wissen, wer hier welche Aufgaben erfüllt, ob dies tagespolitische oder Pflichtaufgaben sind, welche gesetzlich und welche freiwillig geschehen, ob diese als interne Leistungen oder externe erbracht werden, ob sie an anderer Stelle der Berliner Verwaltung in ähnlicher Art getan werden, und so weiter und so fort, dann läßt sich Kosteneinsparung und Transparenz planen!

Diplopie: Ich möchte nur daran erinnern, wenn es uns darum geht, wie Herr Haupt sagt, 'die schlimmen Zeiten abzuwenden', dann müssen wir die alte Planwirtschaft innerhalb des öffentlichen Dienstes abschaffen und einen internen Markt herstellen. Der Kraft dieses Argumentes hat noch kein Hindernis standgehalten.

Whitemann: Für diesen internen Kostenmarkt möchte ich gern ein veranschaulichendes Beispiel geben. Wäre es Ihnen recht, Herr Schulter, wenn ich die Leistungen ihres Arbeitsplatzes als Beispiel verwende?

Schulter: nickt. Selbstverständlich. Ich kann Ihnen mein Leistungs-Erhebungsblatt zur Verfügung stellen. Er sucht in dem Stapel von Papieren vor sich, und zieht schließlich ein Blatt heraus, geht zum Projektor, legt das Blatt auf und schaltet den Apparat an.

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Whitemann: Wir haben inzwischen flächendeckend die Leistungen in den Berliner Bezirksämtern erfasst, mit den Senatsverwaltungen haben wir begonnen. Wir unterscheiden dabei in intern/ extern/ vorwiegend intern/ vorwiegend extern. Sie sehen die Abkürzungen unten am Blattrand. Mit dieser Einteilung lassen sich Leistungen zu Produkten zusammenfassen. Nehmen wir Herrn Schulters Beispiel: Parlamentsanfragen. Zu einer Parlamentsanfrage gehören außer seiner Zuarbeit auch die Zuarbeiten durch Dritte, Materialaufwand durch Druckkosten, Botendienste, Verschickungskosten, Telefonkosten etc.

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Für jedes Produkt gibt es eine Endkostenstelle, hier ist das das Abgeordnetenhaus. Auf diese Endkostenstelle werden alle Leistungen zugerechnet, die mit dem Produkt Parlamentsanfrage zu tun haben. Ergebnis ist, daß wir sagen können, soundsoviel hat die Anfrage gekostet. Nun hat das Abgeordnetenhaus ein Budget zur Verfügung und kann sich überlegen, wieviele Anfragen von welcher Größenordnung es sich leisten will. Sparen heißt in diesem Fall, die Letztverantwortung für ein Produkt an eine Verwaltungseinheit zu geben, die für die Bereitstellung des Produktes zuständig ist. Sie kann auf der Grundlage der nicht mehr pauschalen, sondern kalkulierten Kosten selber entscheiden, wer ihr die Leistung in einem günstigen Kosten/Leistungsverhältnis erbringt, und ob es ihr das wert ist. Wie Herr Schulter, so deckt jede der Mitarbeiterinnen in der Verwaltung auf, wozu sie Arbeiten leisten, und in einem zweiten Schritt, wieviel Zeit sie dafür benötigen und in welcher Menge sie ihre Leistung erbringen. Das sieht so aus: Jetzt wühlt Herr Whitemann in seiner Folienmappe, zieht eine heraus und legt sie auf den Projektor.

Erhebungsbogen

Anhand der Auflistung der Leistungen, die in ein Produkt einfließen, läßt sich feststellen, wo und in welchem Ausmaß Doppelarbeit stattfindet. Anhand der Zeit-Mengestatistik können wir vergleichen, wo Zeitaufwand im Vergleich zur gleichen Arbeit in einer anderen Verwaltung zu hoch ist. Dementsprechend entscheiden Sie dann, wo Sie Doppelarbeiten vermeiden und Kosten einschränken können. Oder Sie bekennen sich dazu zu sagen: Hier wollen wir Doppel- und Dreifachbeteilung, das ist es uns wert, wir zahlen den Preis dafür.

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das Produkt ist eben teuer. Die Zeit-, Leistungs-, und Mengenerhebung bietet eine bessere Entscheidungsgrundlage. Was Sie damit machen, ob Sie sparen oder nicht, hängt von der Politik ab.

Schulter: Sie sind sich bewußt, daß Ihr Kostenmodell nur für einen Bruchteil unseres Haushaltes anwendbar ist?! Die Transferkosten vom Bund, die Investitionen, die pauschalierten Produkte, die Gehaltszahlungen für den politischen Apparat, all das paßt nicht in ihr Modell.

Whitemann: Ich stimme Ihnen voll und ganz zu. Wir müssen mit Kosten-Leistungsgesichtspunkten arbeiten, wo es möglich ist, und mit Pauschalzuweisungen, wo es nötig ist. Aber, sobald ich - bspw. bei Ihrer Zeit-Mengenstatistik - sehe, wieviel Zeit Sie für tagespolitische Aufgaben benötigen, kann ich doch beziffern, wie groß dieser Anteil im Vergleich zu anderen ist. Damit habe ich Daten, die mir wiederum bei der Steuerung der Zuweisungen helfen können.

Schulter: Ich hätte es gerne vermieden, aber nun muß ich doch noch die Kritik aufgreifen, die inzwischen nicht nur von Verwaltungswissenschaftlerlnnen und Kollegen aus anderen Bundesländern, sondern auch von Berliner Parteien laut wird. Es ist nicht adäquat, all diese Leistungen zu budgetieren. Das heißt, sie mit einem Durchschnittspreis zu belegen. Wir haben ohnehin nicht soviel Geld, daß wir die nachgewiesenen Produktmengen und Preise erstatten könnten. Da haben wir also nach ihrer Systematik mit viel bürokratischem Aufwand die Nachweise, daß Produkte, welche Produkte und wie teuer Produkte erbracht werden und in der Logik dieser ganzen Kostenrechnung liegt nun, daß erwiesene Produkte erstattungsberechtigt wären. Angesichts der Haushaltslage können wir, die Finanzverwaltung, der Pflicht aber gar nicht nachkommen, die einmal bewiesenen Leistungen zu finanzieren. Es wird also eine Nachweispflicht für Produzenten eingeführt, aber keine Erstattungspflicht dieser Nachweise. Wozu dann aber all der Aufwand? Die Bürokratie, die Sie produzieren, kostet uns bei weitem mehr, als was wir bisher haben. Herr Haupt hat es bereits erwähnt, die Zeiten sind hart und sie werden noch härter werden. Was hilft uns eine detaillierte Aufschlüsselung hypothetischer Ansprüche, aus der doch keine Anspruchsberechtigung erwächst? Und die Rückführung auf politisch Verantwortliche ist dabei nur noch sehr eingeschränkt möglich.

Diplopie: Ich denke, zwischen Herrn Whitemann und Ihnen, Herr Schulter, ist weniger Widerspruch in den Aussagen, als Sie meinen. Ihr Beitrag beweist nur einmal mehr, daß unsere größte Ressource in der öffentlichen Verwaltung das viele und kompetente Personal

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ist! Und das dürfen wir nicht ungenutzt lassen: Mit ihrer Hilfe, Herr Schulter, werden wir die Teile des städtischen Haushaltes reformieren, die in der derzeitigen Lage reformierbar sind. Und nach und nach werden wir die anderen Teilbereiche nachziehen. Wenn wir dezentrale Zuständigkeiten schaffen, in denen Personal, Finanzen und Fachverwaltung als eine Einheit begriffen werden, haben wir einen ersten Schritt gemacht. Es ist ein mühsamer und langer Weg. Wir wollen diese Reform als Zusammenarbeit zwischen Beratungsunternehmen und Verwaltungsfachkräften wachsen lassen, und das fängt nicht damit an, daß wir Denkmäler setzen, sondern im Verfahren des Probierens und Überprüfens arbeiten.

Schulter: Ich habe Ihnen als Gesetzesvertreter ja auch nur all die Bedenken genannt, nach denen Sie gefragt haben. Persönlich bin ich da ganz leidenschaftslos. Also, verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin der letzte, der meint, eine Reform nicht nötig sei! Das liegt auf der Hand. Ich werde weiter mein Bestes dazu tun.

Whitemann: Wir haben einen Auftrag bekommen, die Stadt Berlin bei der Erstellung eines Finanzkonzeptes, eines Personalmanagements, einer Umstrukturierung der Organisationsstrukturen zu beraten. Das ist unser Beruf und wir tun das, wie Sie merken, mit viel Engagement. Nur - wer ist die Stadtverwaltung? Die Politiker? Sie sind zwar die Auftraggeber, aber nicht die Ansprechpartner. Von politischen Ansprechpartnern sitzt heute einer da, und man weiß nicht, ob er auch morgen noch da ist. Zu Zeiten von Wahlen kann man sich nicht mal mehr darauf verlassen, daß überhaupt einer da ist! Wir versuchen, innerhalb der vertraglich vereinbarten Zeiten zu bleiben, entwerfen Arbeits- und Zeitpläne. Aber die sind für die Katz, wenn politische Tagesstimmungen die inhaltlichen Entscheidungen von heute auf morgen verändern. Dürfen wir Leute wie Herrn Schulter beraten? Von uns wird ständig gefordert, wir sollten die Ergebnisse der Reform vor ihrem Vollzug schon auf den Tisch legen und benennen können. Aber wofür wir angestellt sind, ist doch nur, Grundlagen zu schaffen, keine Denkmäler. Es geht darum, im trial und error-Verfahren bessere Entscheidungsindikatoren und wirtschaftlichere Kosteneinheiten zu entwickeln. Das geschieht als Prozeß. Man muß laut denken, kreativ und selbständig sein. Die Verwaltungspraktiker aber haben den Anspruch, Konzepte müßten vom ersten Moment an wasserdicht und fehlerlos sein, und Sie tun keinen Schritt ohne Absegnung von Vorgesetzten. Wir finden uns immer wieder in dem Dilemma wieder, daß Sie einerseits die Ergebnisse einer gemeinsamen Arbeit im vorherein genannt haben wollen und andererseits zu Recht sagen, daß Sie die Experten seien, ohne deren Expertise wir als Berater hier nutzlos seien. Gehen wir auf den Anspruch ein, mögliche Ergebnisse zu skizzieren, werfen Sie uns verständlicher Weise vor, daß Ihre Expertise darin nicht enthalten ist, richten wir uns nach dem zweiten Anspruch, steht uns der Vorwurf im

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Wege, wir würden nicht die Ziele benennen, die aus dem Prozeß herauskommen sollen. Letztlich bleibt uns, die engagierten Betriebswirte und Leute wie Frau Diplopie zu beraten, die erfreulicherweise jetzt verteilt über die einzelnen Verwaltungseinheiten innerhalb der städtischen Verwaltung angestellt sind. Sie sind von ihren Kapazitäten und ihrem Fachwissen her vollkommen überfordert, die Last der Reform zu tragen. Ich sage nochmal, wir sind Berater, keine Supermänner. Wir können Ihnen neue Kostenrechnungsformen vorstellen, aber es liegt an Ihnen, sie mit Zielen, Qualitätsdefinitionen, Produktformen, Laufzeiten, Kosten, Verfahren und Indikatoren zu belegen. Sie, Sie alle (Herr Whitemann zeigt dabei mit dem Finger in die Sitzungsrunde), Sie machen die Reform!

Es wird unruhig im Raum. Die nächste Sitzung, diesmal im roten Rathaus, eine gute halbe Stunde von der Senatsverwaltung für Inneres entfernt, beginnt in Kürze. Hier werden sich fast dieselben Leute, in einem erweiterten Kreis wieder treffen. Die Verwaltungsreform wird aus einem anderen Blickwinkel debattiert werden. Eingeladen haben Kritiker aus einem Bereich der Verwaltung, der sich besonders betroffen sieht von den Veränderungen. Es drängt zur Eile.

Diplopie: Ich sehe, wir müssen hier abbrechen. Ich schlage vor, daß wir gemeinsam mit Vertretern der Unternehmensberatungen ein Konzept entwerfen, wie wir uns den aktuellen Fahrplan für das weitere Vorgehen vorstellen, und das dann auf dem Dienstwege Ihnen zukommen lassen.

Beifälliges Gemurmel, es erheben sich schon Leute, die in besonderer Eile zu sein scheinen.

Diplopie: Ich bedanke mich für Ihr Kommen. Wir machen dann jetzt Schluß.

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2 Erster Vorhang

Im nochmaligen Vorbeipassieren all dessen, was im Streitgespräch geschah werden im folgenden drei Lesefolien angeboten. Mit der ersten ziehen die Finanzstimmen des Gespräches an uns vorüber und werden daraufhin beleuchtet, wie in der Situation eine gemeinsame Problemdefinition erarbeitet wird. Frau Diplopie, Repräsentantin der leichten Version von Verwaltungsreform: mitarbeiterfreundlich, ganzheitlich und attraktiv. Frau Diplopie versteht die Kostenrechnung als Möglichkeit, bisherige Arbeitspraktiken und Ziele zu verändern und so brachliegende Kompetenzen und Gelder zu aktivieren. Dabei bedient sich Frau Diplopie jener Instrumente, die sie in ihrem Berufsleben innerhalb des Verwaltungsapparates schätzen gelernt hat. Mit ihrem Engagement stellt sie sich selber an die Spitze eines neu entstehenden Expertentums, das ihr zukünftig eine Vielzahl an Definitionsmacht und Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen wird. Im Gegensatz dazu kehren sich bei Herrn Whitemann die Vorzeichen um; er vertritt die harte Version von Verwaltungsreform: Wettbewerb ehrlich und gerecht durch die Ermittlung wahrer Fakten. Während für Frau Diplopie die neuen Kostenkontrollformen gegenüber ihrem Umfeld im einzelnen prüfungs- und begründungsbedürftig bleiben, sind es für Herrn Whitemann die bisher bestehenden Praktiken in der Stadtverwaltung, die für ihn rechtfertigungsbedürftig sind. Ausgehend vom eigenen Arbeitsalltag ist in seiner Erfahrungswelt jeder für die eigene Arbeitsmenge und Qualität selbstverantwortlich. In Unternehmensberatungen wird auftragsbezogen gearbeitet. Es besteht ein interner Markt an Projektleitern, die innerhalb der Kolleginnenschaft die Leute ansprechen, die sie gerne in ihrem Team hätten. Erfolg drückt sich darin aus, wie oft ein Kollege/eine Kollegin nachgefragt wird. Entsprechend wird der Vertrag zwischen dem Land Berlin und den Beratungsfirmen nach Arbeit in Zeit und Leistungsaufwand gemessen und in der Berechnung von 'Mann-Tagen' abgeschlossen. Herr Whitemann verkauft eine Rezeptur, deren Anpassung an die Stadt, die Kunde ist, Teil des Auftrags ist. Was nach Abschluß des Vertrages aus der Rezeptur wird, liegt nicht mehr in der Verantwortung der Verkäufer. Der dritte Hauptdarsteller, Herr Haupt: Sein Handwerk ist die Stimmungsmache, die Demonstration öffentlicher Lesarten von Zahlen und die Repräsentation einer nicht anwesenden Klientel. Er bereitet das Eintreten der uns inzwischen allen bekannten Finanzlöcher vor, nicht nur indem er die Kontrollanlässe wie Steuerschätzung, Kassensturz, Jahresabschluß und Nachtragshaushalt festsetzt, sondern auch, indem er öffentliche Prognosen über die Ergebnisse dieser Kontrollverfahren prognostiziert. Er ist beständig damit beschäftigt, eine Interpretation der finanziellen Situation öffentlich zu formen und zu verkünden. Wenn auch sein Erscheinen von großer Bedeutung ist, so ist der inhaltliche Beitrag, den Herr Haupt leistet, sehr klein. Sein Auftreten muß in Verbindung mit der vierten

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Repräsentation, der der Verwaltung gebracht werden. Indem Herr Haupt sich auf verallgemeinernde Äußerungen beschränkt, legt er die Entwicklung und Anbindung organisationalen Handelns in die Hände anderer. Die professionelle Teilung zwischen ihm und Herrn Schulter läßt sich als lose Kopplung beschreiben. Brunsson (1989) belegt sie mit dem Begriff der organisatorischen Scheinheiligkeit (englisch: hypocrisy). Durch die nur lose Kopplung werden bestehende Differenzen zwischen Zielen und praktischem Handeln nicht zu Widersprüchlichkeiten (vgl. dazu auch Weik 1985). Der vierte Darsteller in der Analyse: Herr Schulter. Als Verwaltungsangestellter begegnet er den politischen Stimmungsbildern aus der Perspektive praktischer Erfordernisse und langjähriger Netzwerke seines Expertentums. Für seine Position ist das Zusammenspiel zwischen einer auf Ziele hin gerichteten Kontextverallgemeinerung durch Herrn Haupt und eines inhaltlich-praktischen Standpunktes durch Herrn Schulter konstitutiv. Herr Schulter setzt sich dafür ein, daß die Arbeitspraktiken, die sich vor allem daran orientieren, Kosten als Ausdruck einer bundeseinheitlichen Praxis und einer Aufrechterhaltung politischer Kontrolle zu ermitteln, erhalten bleiben. Durch ihn wird die Unterscheidung zwischen der Stadt als Glied eines Staates und Bundeslandes, das rechtstaatliche Aufgaben erfüllt, und der Stadt als effizientem Unternehmen thematisiert.

In der Würdigung der einzelnen Darstellerinnen läßt sich ein Statist des Streitgespräches einreihen, der - stumm wie er im Streitgespräch ist - sich erst zu erkennen gibt, wenn man die Gesamtheit des Stückes betrachtet: Es ist der Landesrechnungshof. Der Statist erhält seine Rolle als Referenz und Kumpel von drei der vier Hauptdarstellerinnen. Frau Diplopie zitiert ihn als Genossen, der auch zu verhindern sucht, daß die Reform kurzschlußartig als Sparpaket verkauft wird. Herr Haupt versteht den Rechnungshof als Instanz, die ihm hilft zu beurteilen, wann an welchen Stellen zu viel Geld ausgegeben oder Formfehler begangen werden. Herr Schulter nutzt den Rechnungshof als Freund und Unterstützer, wenn es um die Wahrung seiner rechtlich gesicherten und erprobten Praxis geht. Lediglich Herr Whitemann ignoriert den Verbündeten der anderen. Nicht als Statist, wohl aber als Kulisse, ist eine weitere Referenz anwesend: die finanzielle Lage. Sie bedarf keiner Rechtfertigung. Alle akzeptieren ihre Anwesenheit, und alle begründen ihr eigenes Dasein mit der Existenz der 'finanziellen Lage'. So ist für die Reformbemühungen - das sagen die vertretenen Stimmen in Einzelinterviews ebenso, wie es auch in diesem Streitgespräch anklingt - der Hauptgrund und Auslöser die finanzielle Lage. In Berlin gab es in den 80er Jahren schon eine Enquetekommission, die, damals noch für West-Berlin, ein umfassendes Reformkonzept ausarbeitete. Das Konzept verlief im Sande... heute aber, angesichts der finanziellen Lage, komme zur Umsetzung, was vorher unbeweglich schien. Hat der Politiker den Satz über die finanzielle Lage und die Zeiten, die härter werden, einmal formuliert, wird er damit immer wieder aufgegriffen. Die Kulisse

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erlangt eine Gestalt (vgl. S. 16 'wenn Herr Haupt sagt, wir müssen schlimme Zeiten abwenden...', S. 19: 'Herr Haupt hat es bereits erwähnt..'). Die finanzielle Lage findet wechselnde Verkörperungen im Raum. Sie ist die schillerndste Gestalt des Stückes. Die finanzielle Lage bedarf keinerlei Erklärung mehr. Es wird nicht gefragt: Wie ist die finanzielle Lage? Wenn von ihr die Rede ist, so impliziert das: Sie ist katastrophal. An verschiedenen Orten und in unterschiedlichsten Kontexten zugleich wirkend entfaltet sich der Einfluß dieses Argumentes. Die finanzielle Lage wird zum obligatorischen Passagepunkt, einem 'OPP'.6 Sie ist translokal an verschiedenen Orten gleichzeitig wirksam, an ihr kommt keine Begründung, Deutung, Prognose, Planung mehr vorbei. Sie ist zu einer nicht hinterfragbaren Tatsache geworden. Die finanzielle Lage nicht nur der Städte, sondern auch der Bundesländer und des Bundes, wird zum Argument dafür, daß der Handlungsdruck unermeßlich groß ist, daß Strukturveränderungen der einzig gangbare Weg sind. Entsprechend muß ein Großteil der sozialen Sachverhalte angesichts dieser Realitätsdeutung durch das Nadelöhr einer finanziellen Darstellung hindurchgeführt werden, um verhandelbar zu sein. Die vier im Streitgespräch vorgestellten Positionen, die ehrwürdige Verwaltungstradition (Herr Schulter), die reformerische Verwaltung (Frau Diplopie), die marktwirtschaftliche Effizienz (Herr Whitemann) und die politische Verantwortungsträgerschaft (Herr Haupt), sie alle schließen in ihren Positionen an den obligatorischen Passagepunkt an, wenngleich sie diesen Anschluß sehr unterschiedlich nutzen: - Aus der Position der ehrwürdigen Verwaltungstradition ist die finanzielle Darstellung, und dies noch einmal verstärkt angesichts der finanziellen Lage, notwendig, um detailgetreu abbilden zu können, wo öffentliche Gelder verbleiben und so eine bundeseinheitliche und politisch bestimmte Verteilung von Allgemeinwohl zu legitimieren (S. 12). - Aus der Position marktwirtschaftlicher Effizienzvorstellung wird die finanzielle Lage das Kriterium, nach dem sich sowohl die Strukturierung, die Standardisierung, wie die Vergleichbarmachung der Verwaltungseinheiten ausrichten soll (S. 18f.). - Aus der Position der reformerischen Verwaltung ist die finanzielle Lage eine Chance, Finanzdarstellungen einzuführen, die eigenverantwortliches Arbeiten, Entscheiden und Kontrollieren ermöglichen (S. 10). - Aus der Position politischer Verantwortungsträgerschaft ist die finanzielle Darstellung in diesen Zeiten der Krise ein Barometer, das es verstärkt zu beobachten gilt, denn an ihm richtet sich der Gesundheitszustand der Stadt aus (S. 8). Vier Positionen also, die alle an das anschließen, was als meßbare und zählbare Definition

6 Obligatorische Passagepunkte sind, in Anlehnung an Gallon und Latour (1981) schmale Durchgänge, Brücken, gesellschaftliche Nadelöhre wie Grenzdurchgänge, Marktmonopole, bürokratisch regulierte Prozesse etc., die eine Vielzahl von Menschen benutzen müssen, um an ihre diversen Ziele zu gelangen.

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die Verhandlung städtischer Sachverhalte bestimmt: die finanzielle Lage. Teil des Prozesses der Rechenbarmachung von Stadt ist eben dies: Die finanzielle Lage wird als Problemdefinition etabliert und aufrechterhalten, sie wird als Handlungsdruck eingeführt und gestärkt. Die umfassenden Inhalte, die durch die vier Positionen im Streitgespräch verhandelt werden, müssen durch dieses Nadelöhr hindurchgeführt werden.

Zweiter Vorhang

Wie wird nun der Prozeß der Rechnung sozialer Sachverhalte durch die gemeinsame Problemdefinition von der finanziellen Lage vorangetrieben? Trotz des Konsenses, daß die finanzielle Lage zu einer Überarbeitung der Finanzpraxis der Stadt zwingt, erweckt das Streitgespräch nicht den Eindruck, die vier Positionen seien sich einen Schritt näher gekommen und hätten die veränderte Rechenbarmachung der Stadt vorangetrieben. So kommt es am Ende dazu, daß zwar eine breite Palette von Perspektiven, Argumenten, blinden Flecken, Mängeln und Vorteilen öffentlicher Rechnungs- und Bewirtschaftungsformen zusammengetragen wird, aus dieser Vielfalt an Wissensressourcen allerdings kein gemeinsames Bild davon erwächst, wie die Rechenbarkeit der Stadt in Zukunft aussehen soll. Am Ende des Gespräches gehen alle auseinander, ohne daß es zu inhaltlichen Einigungen gekommen wäre. Nicht einmal das weitere Vorgehen wird gemeinsam verhandelt. Es gibt keine zentrale Instanz, die zusammenfaßt, kein Papier, das alle unterschreiben, keine verbindlichen Erklärungen, es gibt lediglich diese Verteilung in vier voneinander getrennte Positionen. Etwas Prozeßhaftes mutet diesem Geschehen nicht an. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, da habe sich etwas festgefahren, ritualisiert, bis zur Absurdität verkantet. Hat sich also nichts bewegt? War das Gespräch umsonst? In diesem zweiten Vorhang soll es um die Konstellation gehen, in der die vier Hauptstimmen Verantwortung wechselseitig aufeinander verweisen. Dieses Verweisungsspiel soll auf seine

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Bedeutung für die Rechenbarkeit von Stadt hin beleuchtet werden. Was im Zusammenhang mit der gemeinsamen Etablierung eines OPP thematisiert wurde, kann hier nicht nur als unterschiedlicher Anschluß, sondern auch als gegenseitige Abgrenzung entlang des Streitgespräches verfolgt werden. Diese Differenzen sollen im folgenden als produktive Ressource untersucht werden. - Aus der Position der Verwaltungstradition läuft die Reformierung der städtischen Finanzierung permanent Gefahr, ein für den städtischen Haushalt konstitutives Moment zu vernachlässigen, nämlich das des politischen und rechtlichen Gehalts der öffentlichen Bewirtschaftung (S. 13, 15). - Aus der Position der marktwirtschaftlichen Effizienz bedarf die Reformierung der städtischen Finanzierung neuer Ideen, wie sie beispielsweise die betriebswirtschaftliche Kostenrechnung bietet. Daß deren Implementierung auf Umsetzungsschwierigkeiten stößt, ist nur ein weiteres Indiz dafür, wie schlecht es um die Wirtschaftlichkeit der Verwaltung bestellt ist und daß die überkommene Struktur einer strafferen Effizienzorientierung und sorgfältigeren Betreuung bedarf als geplant (S. 20f.).7 - Aus der Position der reformerischen Verwaltung krankt die Reformierung der städtischen Finanzierung daran, daß die hier versammelten Ressourcen nicht ineinander übersetzbar sind. Um die Reform umzusetzen bedarf es also professioneller ÜbersetzerInnnen, der reformerischen Verwaltung (S. 15, 20). - Aus der Position der politischen Verantwortungsträgerschaft ist die Reformierung der städtischen Finanzierung ein so großes und teures Projekt, daß es einer ebenbürtig starken Kontrolle, Gestaltung und Anbindung an das politische Leben der Stadt bedarf, deren ausführender Arm sie doch sein soll (S. 10). Indem jede der Positionen in der Praxis der anderen Mängel diagnostiziert, wird die Reformierung der städtischen Finanzierung zu einer Ressource, mit der öffentlich legitimiert werden kann, daß verantwortungsvoll, aufmerksam und kritisch an der Finanzpraxis der Stadt gearbeitet wird. Jede der Positionen stößt in ihrem Finanzverständnis auf Unachtsamkeiten

7 In diesen Zusammenhang gehören zwei Berliner Entwicklungen, die das Paradox der Stärkung durch Nicht-Anwendung von Kostenrechnung stützen. In dem Streitgespräch wird auf sie nicht eingegangen, sie sollen in diesem Kontext aber zumindest erwähnt sein. 1. Die Debatte um die Übersetzung qualitativer Standards in meßbare Kontrolle: Diese steht bis heute noch aus, was von Gegnern der Reform damit begründet wird, daß es eben Bereiche gäbe, bei denen durch Messung Qualität nicht erfaßbar sei. Die Befürworter der Kostenrechnung hingegen erklären die Nicht-Etablierung damit, daß die Erfassung solcher Standards gute Vorbereitungen voraussetzt und als besonders anspruchsvolle Aufgabe noch eines besonderen Aufwands bedürfe. 2. Die Debatte um die Einführung der neuen Rechenbarkeit von Stadt als hierarchischer Zugriff. Es sind vor allem die Bezirks Verwaltungen und die Senatsverwaltungen, die kleine Budgets oder 'schwache' Verwaltungsbereiche darstellen, die die Verwaltungsreform umsetzen. Die Kritik, hier würde ein flächendeckender Ansatz zu einem Zugriffsinstrument auf schwache Verwaltungsbereiche, steht der Argumentation gegenüber, daß mensch bei den großen Verwaltungen noch nicht so weit sei und diese besonderen Arbeitsaufwands bedürfen.

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und Fehler der anderen. Diese Fehlschläge werden zu regulatorischen Fehlschlägen (Power, S. 306ff.)- Sie müssen immer wieder eintreten, um die Existenzberechtigung der Positionen zu erneuern und zu festigen. Mit dem Konzept der 'Erwartungslücke' bezeichnet Power in seinem Aufsatz über die Audit Society (Prüfgesellschaft) eine solche Konstellation als produktive Differenz von Selbst- und Fremderwartung (vgl. S. 305): Die Abweichung zwischen der eigenen Vorstellung und der bestehenden Praxis begründet die Wichtigkeit der eigenen Existenz. So gesehen ist die Reformierung städtischer Finanzen ein stabilisierendes Moment: Hier vergewissert sich jede Position ihrer Bedeutung. Ein Blick in die Geschichte der deutschen öffentlichen Verwaltung stärkt diese These: Mit der Existenz der öffentlichen Verwaltung geht ein unaufhörlicher Fluß an Reformen einher. Dabei ist es immer wieder die gleiche Zielsetzung, die verfolgt wird: mehr Bürgernähe, mehr Kosteneffizienz, mehr transparente Demokratie.8 Während die Repräsentation, mit der Reformprozesse initiiert und angeleitet werden, die der Einmaligkeit des historischen Wendepunktes als Begründung deklariert und für das Ende dieses Wendeprozesses einen stabiler Zustand verspricht (vgl. S. 20, 22, 23), so zeigt sich, daß die damit verbundenen Praktiken nur sehr lose mit der Einmaligkeits-Repräsentation verknüpft sind. Verwaltungsreform wird zu der permanenten Anstrengung, in ein instabiles Geflecht von Beziehungen temporäre Stabilisierung zu bringen. In der dauerhaften Suche nach gemeinsamen Nennern vergewissert sich die Institution ihrer selbst, in dem sie Positionen legitimen Wirtschaftens auf verschiedene Vertreterinnen verteilt. Das Streitgespräch beschreibt damit kulturelle Muster von Verwaltungsprozessen, für die Luhmann den Begriff 'Legitimation durch Verfahren' geprägt hat: Das Prozessieren von Inhalten geschieht anhand formaler Aspekte der Zuständigkeit. Diesen Prozeß, den ich hier Verweisung von Verantwortung nenne, aufrechtzuerhalten, ist eine permanente Arbeit. Das Hinzukommen der Unternehmensberatungen ist in diesem Zusammenhang Ausdruck der Notwendigkeit, daß es einer weiteren Instanz bedarf, um das Verfahren aufrecht erhalten zu können. Unternehmensberatungen werden in diesem kulturellen Muster keineswegs eine so kurzzeitige Beratungsfunktion haben, wie dies in offiziellen Repräsentationen erscheinen mag. Vielmehr stabilisieren sie das Ritual der Legitimierung, indem sie einen weiteren Platz in dem Verweisungszusammenhang einnehmen.9

8 Eine Beschreibung der Strukturmerkmale solcher Initiationsriten ist anhand der Transformation in ostdeutschen Verwaltungen nach dem Mauerfall skizziert (vgl. Peters 1997).

9 Als Veranschaulichung dieser Beobachtung bietet sich die Gegenüberstellung der öffentlichen Repräsentation und Sprache in Vertragsangeboten, -abschlüssen und Berichterstattung mit der praktischen Umsetzung an: Die derzeit stattfindende Verwaltungsreform wurde offiziell mit dem Ziel eingeführt, innerhalb von zwei Jahren flächendeckend in ganz Berlin die öffentliche Verwaltung durch die Tatkraft und das Know-How von Unternehmensberatungen neu zu gestalten. In diesem Zusammenhang wurde ein 'Reformfahrplan' in der Mitarbeiterzeitschrift veröffentlicht, der von Januar 1994 bis Dezember 1995 reichte und damit 'Abfahrt' und 'Ankunft' signalisierte (vgl. Senln 1994). Inzwischen, vier Jahre später, sind die Beratungsprozesse auf höchster

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In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf die Wahl des Methodenexperiments verwiesen: Der performative Gehalt des Beobachtungsmaterials, das in gemeinsamen Sitzungen der Finanzstimmen erhoben wurde, findet seine literarische Form in einem Streit mit Bühnenanweisung. Wenn sich Reform hier mal als nicht umsetzbare Fiktion, mal als nicht aufhaltbare Veränderung zeigt, wird deutlich, daß es nicht nur Elemente von Authentizität, sondern auch von Scharlatanerie geht. Wenn Herr Schulter am Ende des Streitgesprächs an seine Kette von Abwehrargumenten anhängt, er sei der letzte, der die Reform verhindern werde, wenn Frau Diplopie die 'alte Planwirtschaft' abschaffen will, um an ihrer Stelle einen neuen Markt einzuführen, von dem es von anderer Seite heißt, das sei ein Mehr an Bürokratie als bisher, dann geht ein Wind von Scharlatanerie durch das Gespräch: Übertreiben, Kräftemessen, spielen, dick auftragen. Das Wechselspiel der vier Positionen wird zu einem Ritual, mit dem öffentlich aktive Verantwortung demonstriert wird, während bezogen auf die Binnenperspektive Kritik als institutionelle Verteilung von Verantwortung hin und her gespielt wird.

Ebene zum Teil wohl abgeschlossen, an ihre Stelle sind hingegen Unternehmensberatungen auf allen Fachebenen der Verwaltung getreten: Von Theatern bis zur Polizei werden die Fachbereiche der öffentlichen Verwaltung durch unternehmerische Beratung begleitet.

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Dritter Vorhang

Das Streitgespräch läßt sich nicht nur auf sein Interieur - ein Wechselspiel der Konstellationen, die Etablierung einer gemeinsamen Problemdefinition - sondern auch auf sein Exterieur hin lesen. Im dritten Vorhang soll gegen den Strich gebürstet werden: Es sind nicht die vier Hauptstimmen, nicht das kulturelle Muster öffentlichen Verwaltens, das hier interessiert, sondern es ist das, was zur Veränderung der Rechnung von städtischen Sachverhalten beiträgt, worum es in diesem letzten Vorhang gehen soll. Die Generierung von Zahlen läßt sich als eine Mobilisierung sozialer Sachverhalte verstehen10: Indem komplexe Zusammenhänge auf wenige Zahlen reduziert werden, lassen sie sich aus dem örtlichen und personellen Kontext herauslösen und in den Vergleich mit anderen Kontexten stellen. Dies geschieht im Streitgespräch auf dreierlei Weise: 1. Die Vergleichbarkeit, die in der traditionellen bürokratischen Systematik der kameralen Buchführung angeboten wird, mobilisiert die Stadt als Glied des Staates: Mit sogenannten Querschnittsverwaltungen für Inneres und Finanzen, mit Rechtsämtern, Bundes- und Landesgesetzgebung, mit der Trennung in politische Mandatsträgerschaft und administrativ hoheitliche Ausführung wird die definitorische und kontrollierende Kompetenz in die Hände der nationalen Institutionen gelegt. Die daraus entstehende Buchführung folgt einem präskriptiven Rahmen von bundeseinheitlichen Titeln, die die Berliner Verwaltung als Teil des Staates zurechenbar macht (S. 12f.). 2. Im Streitgespräch nun tritt diese bürokratische Tradition in Konkurrenz zu alternativen Formen, städtische Sachverhalte in Gestalt von Zahlen zu mobilisieren. Mit dem offiziellen Logo der Berliner Verwaltungsreform 'BERLIN - Unternehmen Verwaltung' ist der Vergleich, in den die Stadt gestellt wird, der anderer Unternehmen. Die Stadt wird nicht mehr als Teil des Staates zurechenbar, sondern als eigenständige, abgeschlossene Einheit. Unternehmen sind sowohl Städte, unabhängig von der nationalen Zugehörigkeit, wie auch Privatunternehmen.11 Im Zuge der Mobilisierung als Unternehmen werden städtische

10 Robson (1992: 701) beschreibt die Mobilität von Zahlen als eine Qualität, die sie als Darstellungsformat hat populär werden lassen. Als weitere Qualitäten nennt er ihre Stabilität (egal in welchem Kontext, die Zahl bleibt die gleiche) und ihre Kompatibilität (die Zahl läßt sich mit anderen Zahlen zu einer neuen Gestalt formen).

" In Arbeiten des New Public Management werden beispielsweise seit einigen Jahren Städte im internationalen Vergleich bewertet. Auf Platz eins stand lange Zeit die niederländische Stadt Tilburg, heute ist es Christchurch in Neuseeland oder Phoenix in den USA, die im Wettbewerb um das Erfolgsmodell ihre Nase vorn haben (siehe auch FN1). Vergleiche mit Privatunternehmen sind als rhetorisches Argument zu populären öffentlichen Darstellungen geworden. So etwa: 'Wenn Berlin ein Privatunternehmen wäre hätte es schon längst ein Verfahren wegen verschlepptem Konkurs anhängig'. 'Wenn Berlin ein Privatunternehmen wäre, dann hätte es längst schon Bankrott angemeldet'. 'Ein privates Unternehmen könnte sich eine solche Wirtschaft nicht erlauben.'

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Sachverhalte als in Kategorien wie 'Produktpalette', 'Qualitätsstandards' und 'Kundenerfolge' zurechenbar. Die definitorische und kontrollierende Kompetenz wird mit betriebswirtschaftlichen Sets von Effizienz und Effektivität in die Hände von Unternehmensberatungen gelegt. 3. Eine weitere Form der Mobilisierung von städtischen Sachverhalten, die im Streitgespräch neben die bürokratischen Tradition tritt, ist das, was in der Betriebswirtschaft als 'interne Rechnungslegung' betitelt wird: Zahlen werden nicht mehr nur als Aufgabenerfüllung eines präskriptiven Rahmens von bundeseinheitlich vorgegebenen Informationen gewichtet, sondern als Ausdruck quantitativer und qualitativer Informationen, mit denen intern gesteuert wird. So werden Ressourcen, Zeitaufwand und Output in den einzelnen Verwaltungsbereichen einander gegenübergestellt und in Form von Leistungs- und Verantwortungszentren zur Alternative der bisherigen Ämterorganisation. Es entsteht ein interner Markt, in dem die Einheiten der Verwaltung anhand eines einheitlichen Zurechnungsmusters in Konkurrenz zueinander treten. Die definitorische und kontrollierende Effizienz geht von jeder/jedem Beschäftigten selber aus und wird von verwaltungsintern angestellten Controllern unterstützt. Stadt wird hier zu einer Holding vieler kleiner selbständig arbeitender lose gekoppelter Serviceeinheiten. Unternehmen als Glied des Staates, als eigenständiges Unternehmen und als Holding lose gekoppelter Serviceeinheiten: Die Kategorien der Zurrechnung, in denen städtische Sachverhalte mobilisiert und vergleichbar gemacht werden, implizieren eine gesellschaftliche Vorstellung von dem Bild des Menschen, den es zu verwalten gilt. So ruht in dem Bild von der Stadt als Glied des Staates die Vorstellung vom homo politicus, dessen Rechte und Pflichten sich allein aus der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft ergeben.12 Diesem Bild steht in der Stadt als Unternehmen ein homo oeconomicus gegenüber, der seine staatlichen Dienste selber wählt, einkauft und der rational und individuell über die eigenen Belange entscheidet.13 Mit der Erarbeitung einer internen Rechnungsführung wird das Bild des

12 Wer Produkte erbringt, muß dessen Abnahme gewährleisten. Hierfür ist nach der Finanzsystematik, die an das Bild des homo politicus angelehnt ist, gar kein Plan. Wir haben ohnehin nicht soviel Geld, daß wir die nachgewiesenen Produktmengen und Preise erstatten könnten. Da haben wir also nach ihrer Systematik mit viel bürokratischem Aufwand die Nachweise, daß Produkte, welche Produkte und wie teuer Produkte erbracht werden, und in der Logik dieser ganzen Kostenrechnung liegt nun, daß erwiesene Produkte erstattungsberechtigt wären. Angesichts der Haushaltslage können wir, die Finanzvervaltung, der Pflicht aber gar nicht nachkommen, die einmal bewiesenen Leistungen zu finanzieren, S. 19).

13 Im Streitgespräch wird der homo oeconomicus als Ziel beschrieben, das dann erreicht ist, wenn eine entsprechende Finanzsystematik solche Entscheidungsmuster anbietet: Anhand der Auflistung der Leistungen, die in ein Produkt einfließen, läßt sich feststellen, wo und in welchem Ausmaß Doppelarbeit stattfindet. Anhand der Zeit-Mengestatistik können wir vergleichen, wo Zeitaufwand im Vergleich zur gleichen Arbeit in einer anderen Verwaltung zu hoch ist. Dementsprechend entscheiden Sie dann, wo Sie Doppelarbeiten vermeiden und Kosten einschränken können. Oder Sie bekennen sich dazu zu sagen: Hier wollen wir Doppel- und Dreifachbeteiligung, das ist es uns wen, wir zahlen den Preis dafür, das Produkt ist eben teuer. Die Zeit-,

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Wirtschaftsbürgers bemüht, der seine Entfaltung und Erfüllung in der Beschränkung auf kleine Produktionsbereiche findet, in denen die Ideale von Selbständigkeit, Teamarbeit, Verantwortung, flachen Hierarchien und Produktverantwortung umsetzbar werden. Der Wirtschaftsbürger wird zu einem Teil der neuen Technologie: Gerade und nur die Formen von Expertise und Verantwortung werden bei den Arbeitenden unterstützt, die zum gewünschten wirtschaftlichen Vorteil beitragen.14 Die Dichotomie von Beamter/Beamtin und Bürgerin ist aufgehoben. Jede Serviceeinheit ist Kunde derjenigen, deren Leistung sie in Anspruch nimmt. Das Produzenten/Kunden-Modell weitet sich aus auf alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens.15

Die hier vorgestellten drei Formen der Zurechnung weisen über die im Streitgespräch vorgestellten Positionen hinaus: Sie finden ihre Begründung außerhalb der spezifisch Berliner Situation und werden von den Finanzstimmen herangezogen, um in der konkreten Situation als Interpretation zu dienen. Die hier zirkulierenden Formen, öffentliche Verwaltung in Zahlen zu mobilisieren lassen sich auf allen Ebenen der öffentlichen Verwaltung wiederfinden. In der Öffentlichkeit wird die Frage nach der veränderten Rechenbarmachung von städtischen Sachverhalten als ein entweder-oder-Modell diskutiert: Entweder Wohlfahrtsstaat oder neol iberale Wettbewerbswir tschaf t . In der lokalen Betrachtung eines Transformationsprozesses, wie er hier vonstatten geht, weicht dieses entweder-oder-Modell einer konfliktbeladenen Auseinandersetzung darum, wie sich bestehende Formen der

Leistungs-, und Mengenerhebung bietet eine bessere Entscheidungsgrundlage. Was Sie damit machen, ob Sie sparen oder nicht, hängt von der Politik ab (S. 18).

14 Unter dem Stichwort 'new economic citizenship* wurden in 80 Jahren mit dem Foucaultschen Konzept der Macht, das vom Subjekt als Körper der Gesellschaft ausgeht, Untersuchungen zur Wirtschaftskrise in den USA durchgeführt (Miller, P./O'Leary, T. 1993, 1994, Miller, P./Rose, N. 1990). Dabei spielen bürokratische, insbesondere Aspekte der Rechnungsführung in der Verfügbarmachung der Individuen eine große Rolle. Die Exemplifizierung dieses Prozesses beinhaltet eine ausladende Beobachtung: nicht nur der Veränderung in der Buchführung, der Computernutzung, der zeitlichen und räumlichen Arbeitsorganisation, sondern auch der veränderten Produktauffassung (Ausrichtung des gesamten Arbeitsprozesses auf das Produkt hin), den begleitenden ökonomischen Erklärungsmodellen (die Japaner werden zum Vergleichsmaßstab, die Schuld der Krise liegt in der Nation, die Ausbildung ist schlecht, die Industriestandards als veraltet) und Arbeitsidealen (die Ideale der Arbeit sind Selbstbestimmtheit, Teamarbeit, flache Hierarchien, Eigenverantwortung).

15 Hab ich aber die Möglichkeit, das gesparte Geld da einzusetzen, wo ich es für sinnvoll halte, dann schafft Sparen Kreativität und Verantwortung. Dann kann es sogar eine reizvolle Herausforderung werden! (S.U) Die betriebswirtschaftliche Kostenrechnung bietet uns die Möglichkeit, Kosten so transparent in den einzelnen Leistungs- und Verantwortungszentren wie in den Senatsprojekten darzulegen, daß sich vergleichen läßt, wer am günstigsten für entsprechende Qualität wirtschaftet. Damit sind Verwaltungen auf lange Sicht nicht nur untereinander Anbieter, sondern können sich auch auf dem freien Markt um Dienstleistungserstellungen bewerben (S. 14).

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Verrechnung durch andere Rechnungsformen ergänzen lassen. Entsprechend wird nicht die Ablösung der einen Verrechnungsart durch die andere zum Gegenstand der Untersuchung, sondern die Arrangements, mit denen sich die verschiedenen Rechnungsarten hybridisieren lassen. Alle drei hier genannten Zurechnungsformen werden von den Finanzstimmen des Streitgespräches aufgegriffen, alle drei werden als Mobilisierungen von städtischen Sachverhalten 'bedient', um die öffentliche Verwaltung Berlins zu legitimieren. Indem die finanzielle Lage zum Nadelöhr für die Verwaltung der Stadt wird, finden jegliche Formen der Mobilisering von Sachverhalten in Zahlen Eingang in die Rechnungslegung. Damit verändert sich die Rechenbarkeit der Stadt insofern, als sie städtische Sachverhalte viel mehr als bisher von immobilen Zuständen des 'So-ist-das-eben' in mobile Zahlenvergleiche der Rechtfertigung überführt. Entsprechend wachsen der Stellenwert, der Aufwand, die Aufmerksamkeit und der Raum, die verzahlten Realitäten zugesprochen werden. Mit dem Anwachsen der komplexen Zurechnungsanforderungen und der Debatten darüber geht einher, daß nicht quantifizierbare Erscheinungsformen städtischer Sachverhalte verdrängt werden. Im Streitgespräch geschieht dies nach folgendem Muster: Es wird auf solche Problemfelder aufmerksam gemacht, sie werden als kompliziert und spannungsgeladen verortet und damit zur Kenntnis genommen. Die Kenntnisnahme wird zum Platzverweis für das Problem. Ein einmal ausgesprochener und blinder Fleck der Verrechnung wird nicht weiter beleuchtet (S. 15f, vgl. auch FN 9). Es bleibt zu fragen, auf welche Bühnen der städtischen Verwaltung die blinden Flecken der gerechneten Stadt verwiesen werden, oder ob sie allein den Status einer Volksweisheit zugewiesen bekommen: Der beste Weg, etwas zu kontrollieren, kann manchmal auch der sein, es nicht zu messen.

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Abbildungsverzeichnis: Die beiden Karrikaturen entstammen der Fachzeitschrift für Alternative Kommunal Politik, Jahrgang 16, 5/95.