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18 4 I 2013 der arbeitsmarkt FOKUS Umbrüche Foto: Simone Gloor

Spurwechsel - Der Arbeitsmarkt

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Page 1: Spurwechsel - Der Arbeitsmarkt

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4 I 2013derarbeitsmarkt

F O K U S Umbrüche

Foto

: Sim

one

Glo

or

Page 2: Spurwechsel - Der Arbeitsmarkt

B iegen Sie links ab», sagt die GPS-Frauenstimme be-stimmt. Wir sind unterwegs zu den Plitvice-Wasser-fällen in Kroatien. Während der Fahrer die Links-kurve einschlägt, sehe ich auf der Autobahn das

Wasserfallschild mit dem Wegweiser nach rechts. Zu spät. Wir sind eingespurt, verlassen die Autobahn, rollen auf einer Überlandstrasse durch grüne Felder, bis der asphaltierte Streifen abrupt endet.

Ein kiesiger Feldweg führt in den Wald. Die Frauenstimme ist immer noch sicher. Wir sollen die Spur halten. Die Anzei-ge leuchtet. Noch zehn Minuten bis zu den Wasserfällen. Wir folgen den Computeranweisungen und geraten immer tiefer in den Wald. Plötzlich sehe ich am Wegrand die Schilder mit einem Totenkopf drauf. Augenblicklich wird mir klar: Wir befinden uns in einem mit Minen verseuchten Wald. Und wir können nicht umkehren, der Feldweg ist zu eng. Die Angst kriecht hoch. Todesangst. Das Ferienland mutiert zum Kriegs-schauplatz. Die Welt sieht auf einmal komplett anders aus.

Immer wieder geschehen Dinge, die einen vom geplanten Weg abbringen, aus der Bahn werfen. Ein Unfall, ein Todes-fall, eine Krankheitsdiagnose, eine Kündigung. Dann ist alles nicht mehr so wie vorher. Brüche im Lebenslauf.

Eine Spur ist endgültig versperrt, aber eine andere weist uns den Ausweg, eröffnet uns neue Perspektiven, gibt Hoff-nung und Mut. Aufgeben ist ein Fremdwort, sagen die zwei in unserem Fokus porträtierten Menschen, die nach ihrem Schicksalsschlag einen Neuanfang wagten und ihren Um-bruch erfolgreich meisterten (siehe Seiten 23 und 29).

Auch unsere Arbeitswelt ist im Wandel. Umstrukturie-rungen und darauffolgende Entlassungen befördern Tausen-de von Mitarbeitenden in eine ungewisse Zukunft. Zwingen sie, sich neu zu orientieren, allein oder mit professioneller Hilfe (siehe Seite 32). Sie müssen ihre Employability erhöhen, das heisst ihre Arbeitsmarktfähigkeit optimieren und in ihre Weiterbildung investieren. So werden Arbeitnehmende zu «Arbeitskraftunternehmern», die sich an den dynamischen Arbeitsmarkt anpassen können (siehe Seite 26).

Nach einer halbstündigen Irrfahrt im kriegsversehrten Wald – die GPS-Frau ist verstummt, auf der Landkarte ist der Weg nicht eingezeichnet – verlassen wir endlich unversehrt das Minenareal. Wir fahren wieder auf einer Asphaltstrasse, sehen zerbombte Häuser, die im Wiederaufbau sind, und alte Männer, die uns erstaunt nachblicken. Die Fahrt auf dem Feldweg hat mein Ferienidyll gebrochen. Ich bin nicht mehr die unbekümmerte Urlauberin. Ich reise im Bewusstsein wei-ter, dass ein Krieg – auch wenn er längst vorbei ist – einen Weg definitiv von der Landkarte verschwinden lassen kann und dass die um ihre Liebsten und ihren verlorenen Lebensraum Trauernden trotzdem immer wieder von vorne anfangen.

Daniela Palumbo

Spurwechsel

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B I O G R A F I E U N D B E R U F

«Immer am Ball bleiben»Die Arbeitspsychologin Irene Campi bietet ihren Klienten in Umbruch- phasen Hilfe an. Im Interview erzählt sie über die Belastungen in der Arbeitswelt und wie die Arbeitnehmenden immer mehr riskieren und investieren, um ihren Job zu behalten.

Interview Andy Strässle Foto Simone Gloor

Irene Campi, Sie sind als Arbeitspsychologin täglich mit Umbrüchen konfrontiert. Gehören Veränderungen einfach zum Leben?

Ja, ich höre immer nur von Umbruchsituationen – im Lebens-, im Arbeitsbereich und im eigenen Wahrnehmen. Die Men-schen kommen zu mir, wenn sie merken, etwas muss sich verändern.

Wann kommen die Leute vor allem zu Ihnen, bei biogra-fischen oder Karriereproblemen?

Zu mir kommen Klienten, wenn sie bei der Arbeit ihre Posi-tion verbessern wollen oder aus einem Konflikt nicht mehr alleine herausfinden. Zum Beispiel, weil sich problematische Situationen mit den Kollegen oder dem Chef entwickelt haben. Manche Klienten wagen einen Sprung noch nicht. Sie zweifeln beispielsweise, ob sie eine neue Stelle oder ein grös-seres Projekt annehmen, kündigen, sich selbständig machen sollen, und brauchen ganz allgemein eine Orientierungs-hilfe. Dann sind da die klassischen biografischen Umbrüche, kritische Lebensereignisse.

Zum Beispiel?Während oder nach einer privaten Trennungssituation müs-sen die Beteiligten herausfinden, wie sie ihr Pensum den Bedürfnissen der Kinder oder den neuen finanziellen Gege-benheiten anpassen sollen. Das Gleiche gilt bei einer eigenen Krankheit oder einer Krankheit in der Familie. Arbeitneh-mende trauen sich dann nicht, Änderungen mit der vor-gesetzten Person anzusprechen, aus Angst, nicht mehr als hocheffiziente Mitarbeitende zu gelten. Seltener als früher kommen in meiner Praxis Wünsche nach gänzlichen Neu-orientierungen oder Weiterbildungsfragen vor. Für Arbeit-nehmende ist es heutzutage selbstverständlich, ihre Kompe-tenzen ständig zu erweitern. Eher steckt jemand in einer Weiterbildung fest, an deren Sinn er oder sie zweifelt.

Gibt es zwischen beruflichen und privaten Umbrüchen eine Wechselwirkung?

Das ist eine komplexe Frage. Viele Klienten kommen und sagen, sie hätten berufliche Probleme, und dann stellt sich

heraus, das Problem ist nicht beruflicher, sondern privater Natur. Das sind meist Männer, die eine private Belastung gerne verdrängen, aber manchmal auch Frauen. Einige Leute blocken darauf ab und wollen nicht mehr weitermachen. In der Burnout-Problematik spielt alles zusammen eine Rolle: das Berufliche, das Private und die eigene Persönlichkeit. Denn bis jemand so weit kommt, dass er oder sie diesen Zusammenbruch erlebt, spielen natürlich viele Faktoren eine Rolle. Manche können sich bei schwierigen Situationen am Arbeitsplatz behaupten, aber wenn die privaten Belas-tungen dann grösser werden, etwa ein Kind schwer krank ist oder zu Hause Partnerschaftsprobleme bestehen, dann sum-miert sich das alles.

Warum kommen die Menschen im Moment am meisten zu Ihnen?

Ganz allgemein gesagt, wollen sie wissen: Wie weiter bei der Arbeit, oder wie soll ich mich in einer schwierigen Situation verhalten? Wie kann ich mein Problem dem Chef erklären? Wie akzeptieren die Kollegen eine Veränderung? Wie wirken sich neue Führungsstrukturen aus? Oft will sich jemand selb-ständig machen, ist vielleicht nicht sicher und braucht eine Ermunterung. Womit wir wieder bei den Umbrüchen wären.

Wie haben sich die Fragestellungen in den letzten Jahren in Ihrer Praxis verändert?

Ich sehe kein Muster. Das liegt aber daran, dass ich für die vorher genannten Fragestellungen Kurztherapien anbiete und weniger klassische Langzeittherapien. Meine Praxis spricht jene Leute an, die vor einem Umbruch stehen und sagen: Jetzt möchte ich wissen wie weiter.

Wie vertragen sich die Ansprüche der Arbeitswelt mit den psychischen Bedürfnissen des Menschen?

In früheren Jahren kamen viel mehr Leute mit Stressproble-men zu mir. Jetzt ist die Tendenz so, dass, wer eine Arbeit hat, sehr gut darauf schaut, sie zu behalten. Mindestens so lange, bis er oder sie eine neue Stelle gefunden hat. In dem Sinne haben sich die Anfragen wegen Stressbeschwerden und deren Folgen reduziert. Diese werden in der Arztpraxis behandelt.

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Page 4: Spurwechsel - Der Arbeitsmarkt

Irene Campi führt

seit 2008 als Geschäftsleiterin

die psychologische Fachstelle

für Kinder und Erwachsene

«Beratungplus» in Baden. Die

Erwachsenenbildnerin und

Arbeits- und Organisations-

psychologin ist spezialisiert

auf Kurzzeittherapien. Irene

Campi hat Psychologie und

Philosophie studiert. Sie war

Leiterin Personalentwicklung

des Schweizer Paraplegiker-

Zentrums in Nottwil und ist als

Dozentin an verschiedenen

Institutionen tätig.

«Jetzt sind die Themen vorallem Aufstieg oder:

Wie halte ich durch?»

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F O K U S Umbrüche

Page 5: Spurwechsel - Der Arbeitsmarkt

Priorität hat heute, den Job zu behalten. Arbeitnehmende sagen nicht mehr: Ich mag nicht mehr. Jetzt sind die Themen vor allem Aufstieg oder: Wie halte ich durch? Die Frage – auch subjektiv –, ob sie genug Zeit für ihre Aufgaben haben oder zu viel Arbeit leisten, ist in den Hintergrund getreten. Sie getrauen sich viel weniger, diese Belastungen zu äussern.

hilft ebenfalls. So ein Charakter ist offener und kann mit Umbrüchen und Wandel viel besser umgehen. Charaktere, die darunter leiden, sind jene, die vielleicht sensibel sind oder die einen Schutzraum brauchen, den sie heute über-haupt nicht mehr finden. Ein grosses Unruhepotenzial ent-steht beispielsweise auch, wenn die Arbeitsabläufe nicht klar definiert sind.

Wie verhalten sich Mitarbeitende am besten inmitten der steten Veränderung, der Umbrüche?

Wichtig ist, dass sie ganz direkt die eigenen Ziele anschauen. Sich fragen: Was will ich im Moment, was will ich in der Firma? Dass sie nach vorne schauen: Will ich überhaupt in der Firma bleiben, oder will ich wechseln? Will ich mich weiterbilden, um dann einen Wechsel zu schaffen? Wer beispielsweise einen Ablauf in der Firma nicht versteht, soll bei den Kollegen schauen und versuchen herauszufinden, was deren positive Haltung dazu ist, wie sie damit umgehen.

Ist der Eindruck richtig, dass die Angst gegen den Stress gewonnen hat?

(Lacht.) Ja, allerdings steckt eine Entwicklung dahinter: Heut-zutage ist die Haltung, die in den Medien und überall vor-herrscht, dass, wer sich gestresst fühlt, selbst schuld ist, weil er nicht genug dagegen unternimmt. Zum Beispiel viel mehr Sport treiben, viel gesünder essen, sich Wellness und Ent-spannung gönnen. Die Selbstverantwortung ist viel grösser. Früher war das Unternehmen patriarchalisch organisiert: Der gute Patron schaut schon. Dann kam der grosse Hype von der Teamstärke: Wir sind eine enge Gemeinschaft. Nachher kam die selbstverantwortliche Teamarbeit, bei der die Struk-turen diffus sind, bei der das Team quasi für alles selbst ver-antwortlich war. In den sehr fortschrittlichen Firmen ist das noch immer der Fall.

Welche Arbeitswelt befürworten Sie?Die selbstverantwortliche Teamarbeit ist wohl die beste aller möglichen Welten: also Teams oder Abteilungen, die ein Ziel gesetzt bekommen und die Arbeit selbst untereinander abmachen können. Aber der Bereich, in dem jeder selbstver-antwortlich ist für das, was in der Arbeit passiert, oder wie er die Arbeit erträgt oder wie er mit den Herausforderungen der Arbeit umgeht, ist heikel. Das Individuum steht viel mehr im Mittelpunkt, aber das Individuum bekommt auch die Folgen zu spüren und gilt sehr schnell als nicht belastbar.

Stellt sich bei so viel Flexibilität nicht auch eine Sinn-frage?

Klar. Viele werden krank oder schlucken Medikamente, um zu funktionieren. Andererseits nehmen viele die Auswir-kungen auch nicht mehr allzu persönlich. Wegen der ange-spannten Konjunkturlage nehmen Arbeitnehmende Kündi-gungen nicht mehr als Eigenverschulden wahr. Das Gefühl, versagt zu haben, ist gewichen und hat den Chancen der Veränderung Platz gemacht. Q

Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus, wenn eine Verän-derung angebracht wäre?

Ich analysiere mit meinen Klienten zunächst die Situation auf allen Ebenen. Wir versuchen, neue Muster im eigenen Verhalten zu finden. Sie dürfen nicht länger das Gefühl haben, Opfer einer Situation zu sein. Sodass sie wieder mehr Wahlmöglichkeiten sehen. Der Mensch muss grundsätzlich das Gefühl haben, dass er neue Optionen, Alternativen anpa-cken kann. Hilflosigkeit, das Gefühl, ich kann mich nicht entscheiden, ich kann nicht handeln, ist für Menschen das Schlimmste.

Die Biografie, das Leben ist eigentlich ein einziger Um-bruch, in der Arbeitswelt hingegen möchten alle Sicher-heit. Warum?

Vor einigen Jahren litten die Leute wirklich unter den ra-schen Veränderungen, die Fusionen, Führungswechsel, Über-nahmen nach sich ziehen. Die Berater empfahlen damals den Unternehmen, Veränderungen klar ans Personal zu kom munizieren. Heute verändert sich alles so rasant, dass sich die Leute reingeschickt haben. Jene, die stabiler und stärker sind, erwähnen heutzutage Veränderungen am Arbeitsplatz nur noch mit einem Achselzucken: Alles ändert sich doch so schnell. Sie finden sich damit ab. Falls sie nicht krank werden.

Die Wirtschaft verkauft den steten Wandel als eine Art Anlage. Ist das aus psychologischer Sicht gut?

Für die jungen, die gut ausgebildeten Leute ist das sehr gut. Für alle anderen nicht. Ich erinnere mich noch, als ich Ar-beitspsychologie studierte und wir diese Themen diskutier-ten, war ich die Einzige in meiner Klasse, die dieser Flexibili-tät kritisch gegenüberstand. Die Frage war: Für wen ist das toll? Junge Leute haben den Plausch an der steten Verände-rung. Aber niemand bleibt ewig jung. Unterdessen ist der Trend, dass Mitarbeitende zum Selbstunternehmer werden, immer stärker. Sie müssen sich selbst orientieren, sich selber vermarkten und zeigen, wie gut sie sind. Dies ist für einige je länger, je härter.

Das klingt, als wäre jeder Mitarbeiter mittlerweile eine Insel, die vor sich hinschwimmt?

Schauen Sie sich nur einmal um. Das Gerede vom Team ist aus allen Seminaren und Weiterbildungen verschwunden. Als ich anfing, war jede zweite Weiterbildung zum Teamver-halten. Heute ist das Gewicht auf Teamarbeit viel geringer.

Wie kann ich mich für eine Karriere als Einzelkämpfer wappnen, haben Sie einen Tipp?

Immer am Ball bleiben, sich immer weiterbilden ist ein guter Schutzfaktor. Ein extrovertierter und neugieriger Charakter

«Das Individuum steht viel mehr im Mittelpunkt, aber das Individuum bekommt

auch die Folgen zu spüren.»

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Page 6: Spurwechsel - Der Arbeitsmarkt

U N F A L L

FallschrittEinst eine erfolgreiche Ballett -

tänzerin, jetzt anerkannte Leiterin ihrer eigenen Ballettschule. Sinn-

findung einer starken Frau, nachdem ein tragischer Unfall ihr

Leben komplett veränderte.

Text Linda Osterwalder Fotos Simone Gloor

K inderstimmen, aufgeregtes Hin und Her, die Mäd-chen in rosa Kleidern, weissen Strümpfen und wollenen Beinwärmern, begleitet von ihren Müt-tern und vereinzelt auch Vätern. Drei Buben mit

schwarzen Hosen und weissem T-Shirt. Sie warten vor der verschlossenen Kursraumtüre auf Galina Gladkova und dass die Tanzstunde bald beginnt. Endlich, die Lifttüre öffnet sich, und ihre Ballettlehrerin lenkt geschickt den Rollstuhl bis in die Mitte des Vorraumes. Sie strahlt, auch sie freut sich auf die kommenden Stunden.

Einzelne Schüler scharen sich um Galina Gladkova, um den Schlüssel zu ergattern. Fast schon eine Zeremonie, jeder darf mal den Übungsraum aufschliessen. Dieser ist lang und schmal, an der Längsseite mit vielen Fenstern, hell und ansprechend.

Galina Gladkova sitzt gefangen in ihrem Rollstuhl, die Fernbedienung der Musikanlage balanciert auf ihren Ober-schenkeln. Sie mahnt zur Ruhe, ohne jedoch ihre Stimme erheben zu müssen. Die sieben Kinder im Alter von vier bis

acht Jahren stellen sich in zwei Reihen auf, führen eine Schrittfolge aus, darauf folgt eine Rechtsdrehung, bevor sie das Ganze wiederholen. Die Kleinste ist nicht die Einzige, die sich links- statt rechtsherum dreht. Galina Gladkova rollt von einer Seite bis in die Mitte des Übungsraums, um die Kinder aus allen Perspektiven gut sehen zu können. Sie gibt kurze Anweisungen oder verlangt Wiederholungen. Immer wieder schauen die Kinder sie beifallheischend an, und Galina Glad-kova quittiert diese Blicke mit einem anerkennenden Nicken.

Die seit einem Unfall querschnittgelähmte Ballettlehrerin unterrichtet an sechs Tagen in der Woche. Die Lernenden sind zwischen vier und zwanzig Jahre alt. Einige ihrer Schüler ha-ben inzwischen beachtliche Erfolge erzielt. «Wir sind ein fa-miliärer Betrieb, und ich bin richtig stolz auf meine ‹Kinder›».

Glanzvolle KarriereGalina Gladkova begann zu tanzen, als sie vier Jahre alt war.

Das Mädchen liebte die klassische Musik und bewegte sich intuitiv dazu. Ihre Mutter war sehr erfreut und unterstützte

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Galina Gladkova unterrichtet in ihrer eigenen Ballettschule «Basel Dance Academy» die vier- bis achtjährigen Kinder.

Page 7: Spurwechsel - Der Arbeitsmarkt

und förderte ihre Tochter. Während der Sommerferien durfte sie jeweils in ein Tanz-Camp. Das Kind konnte vor Ungeduld kaum schlafen, so gross war die Freude, endlich in die Tanz-ferien fahren zu dürfen. Während Galina Gladkova aus der Vergangenheit erzählt, wirkt sie lebhaft und gelöst.

«Ich hatte eine tolle Kindheit.» Sie kam in Toronto zur Welt. Ihre Eltern waren von Russland nach Kanada ausgewan-dert. «Wir lebten im multikulturellen Stadtteil – in Little Europe. Eigentlich fühlte ich mich nie richtig als Kanadie-rin.» Nach ihren Maturitätsprüfungen absolvierte sie die sechswöchige Ballettausbildung an der Harkness School of Ballet und der School of American Ballet in New York. Die Besten bekamen ein Stipendium für das zweijährige Studium an der gleichen Schule. «Ich strengte mich an, oft bis zum Umfallen, ich musste und wollte das Stipendium erhalten.»

Sie lehnt sich etwas zurück, schaut triumphierend und schmunzelt. «Ich bekam das Stipendium. Ich musste nur für Kost und Logis aufkommen. Der Rest war bezahlt.» Mit ihrem geliebten Kontrabass auf dem Beifahrersitz machte sie sich in ihrem Honda auf, um definitiv nach New York zu ziehen und die Welt des Tanzes zu erobern. 1981 kam sie ans Theater Basel. Heinz Spoerli, Choreograf und Ballettdirektor mit einem weltweit hervorragenden Ruf, hatte sie aus knapp hun-dert Bewerberinnen erkoren. Viele internationale Auftritte mit dem Basler Ensemble folgten. Eine glanzvolle, aber für die Balletttänzerin auch anstrengende Zeit. Trotzdem besass sie genug Willen und Talent, ihr Kontrabass-Musikstudium am Lausanner Konservatorium erfolgreich abzuschliessen.

Schwerwiegender UnfallDann geschah das Unerwartete. 1991 erfüllte sie sich mit

ihrem Partner, den sie in Basel kennengelernt und geheiratet hatte, einen Traum. Sie kauften eine Immobilie in Frank-reich. Beide liebten das Haus mit dem grossen Garten und den Pferden, ihren Lieblingstieren. Wenn möglich unter-nahm sie jeden Tag lange Ausflüge, hoch zu Ross. Alleine, auf einem jungen Pferd ritt sie im Sommer 1995 aus. Plötzlich scheute es und warf Galina Gladkova ab. Ein schwerer Sturz, sie war nicht fähig aufzustehen. Das Einzige, was sie noch tun konnte, war, die Handgelenke zu drehen. Sie wusste sofort: Ihr Leben hing am seidenen Faden. Da lag sie nun im hohen Gras, neben einem Fluss mit seinen sprudelnden Geräu-schen. Schreien und Rufen würden nicht weiterhelfen, nie-mand würde sie hören. Nach etwa 20 Minuten fanden sie glücklicherweise Passanten, die das herrenlose Pferd bemerkt hatten. Die Ambulanz fuhr sie in die Klinik nach Besançon. «Im Spital diagnostizierten die Ärzte fünf Frakturen im Hals- und Brustwirbelbereich. Sie rieten dringend zur Operation. Mein Zustand war lebensgefährlich.» Während sie darüber spricht, wird ihre Stimme ernst und traurig. Ihr Mann wollte sie mit der Rega in die Schweiz fliegen lassen, aber dazu fehlte ihr die Kraft. Sie wurde in der gleichen Nacht operiert. Eine Woche später überführte die Rega sie nach Nottwil ins Schweizer Paraplegiker-Zentrum.

«Wir sind ein familiärer Betrieb.»

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und liess einen Holzboden von 11 auf 15 Meter anfertigen und verlegen. Der erste Kurs fand im Juli desselben Jahres statt und wird seither ohne Unterbruch durchgeführt. Viele Schüler benutzen die Gelegenheit, in kurzer Zeit viel zu lernen. Auch Lehrer von früher, die noch einigermassen jung sind, lädt sie zur Unterstützung ein.

Nicht genug für Galina Gladkova. 2001 sah sie die Aus-schreibung MAS Kulturmanagement an der Universität Basel. Die eigene berufliche Praxis mit theoretischen Ansätzen zu verbinden, das fehlte ihr noch. Zwei Jahre später schloss sie das Studium erfolgreich ab. «Vielleicht habe ich mir da etwas viel zugemutet. Aufgeben kann ich nicht. Ich weiss nicht, wie man das macht.»

Diagnose: Tetraplegie, Querschnittlähmung ab Brust-höhe. Auch nach dem sechswöchigen Spinalschock blieb ihr Zustand unverändert, und die Hoffnungen begannen lang-sam zu schwinden. «Ich hatte Mühe, all die kleinen Dinge wieder lernen zu müssen.» Handgriffe, die für sie vorher normal waren, konnte sie jetzt nicht mehr ausführen oder nur mit grösster Anstrengung.

Im August, einen Monat nach ihrem Unfall, sollte sie ihre Eltern in Kanada besuchen, diese feierten ihren 50. Hochzeits-tag. Mit der Ausrede, sie habe einen Beinbruch, verschob sie die Reise. Ihre Mutter, zu der sie eine sehr tiefe Verbindung hat, spürte, dass etwas nicht stimmte. Eines Abends fragte die Mutter am Telefon: «Galina, hast du so etwas wie Christopher Reeve?» Was sollte sie ihr da antworten? Der US-amerika-nische Schauspieler war sechs Wochen vor ihr verunglückt und seither querschnittgelähmt. Sie musste ihr die Wahrheit sagen, schwächte allerdings die Diagnose ab.

Zwei Jahre vergingen. In dieser Zeit war der Wunsch auf Heilung, auf den medizinischen Durchbruch das Einzige, was sie beschäftigte und interessierte. Ansonsten nahm sie keinen aktiven Anteil am Leben, bis ihre Freundin ihr eine Herausforderung anbot.

Die Violinistin Mariann Häberli, Gründerin des Euler-Quar-tetts, bat sie um Hilfe und ermunterte sie, ihnen zu neuen Engagements zu verhelfen, damit sie in der Musikszene noch bekannter würden. Galina Gladkova organisierte bald Kon-zerte und Anlässe für das Quartett, verhandelte international, benutzte ihre Kontakte. Somit fand sie den Weg zurück in das berufliche Leben. Ihr Dasein bekam für sie wieder einen Sinn.

Das Ferienhaus in Frankreich hingegen, einst ihre Oase und ihr Paradies, wurde immer mehr zum Trauma. Der katastrophale Unfall, der sie ihre Karriere kostete, sie mehr oder weniger unselbständig machte, wog schwer. Jedes Mal, wenn sie mit ihrem Mann nach Frankreich in ihr Haus fuhr, schwanden Genuss und Freude.

Ungebrochene TanzleidenschaftDa kam ihr eine erlösende Idee. Warum nicht ein Sommer-

Tanz-Camp aufbauen, wie das aus ihrer Jugend? 1999 grün-dete sie die Mudance-Sommerakademie in Frankreich. Der Name war viel schneller gefunden als das Lokal. «Meine Welt besteht aus Musik und Tanz, was liegt näher, als eine Ver-bindung dieser zwei Wörter zu machen», so Galina Gladkova.

Nach mehreren Besichtigungen kam ihr das Schloss Château de Villersexel in den Sinn, das nicht mal eine halbe Stunde von ihrem Haus entfernt lag. Sie vereinbarte einen Termin mit dem Schlossherrn, um sich das Gebäude genauer anzuschauen. Da lag er vor ihr – der richtige Raum.

«Ich habe mich sowohl in das Gebäude wie in den Raum, La Cuverie genannt, verliebt.» Um 1860 erbaut, 450 Quadrat-meter gross, drei Stockwerke hoch und mit grossen Seitenfen-stern. Der Raum war überfüllt mit alten Möbeln, Traktoren, altem Geschirr, und dazu war der Betonboden mit Öl ver-schmiert. Trotzdem war sie überzeugt. Sie zeichnete Pläne

A U S G E W Ä H L T

ANFORDERUNGEN Die Anforderungen und Erwartungen an Tänzer und Tänzerinnen sind sehr hoch. Der Körperbau muss schlank und grazil sein, die Beine und Sprunggelenke stark. Der Körper verändert sich nochmals massgeblich zwischen dem 14. und 16. Altersjahr. Zudem braucht es Willen, eine sehr schnelle Auffassungsgabe und Talent.

AUSBILDUNG Durchschnittlich dauert eine Ausbildung zwischen acht und zehn Jahren. Danse Suisse, Berufsverband der Schweizer Tanzschaffenden, bietet Informationen und Kontaktadressen schweizweit an: www.dansesuisse.ch. Da-neben emp!ehlt sich eine gute Schulbildung, wenn möglich mit Abschluss Matur. Die Konkurrenz schläft nicht, und gute Festanstellungen sind nicht leicht zu !nden und zu behalten.

ARBEITSBEDINGUNGEN Wer eine Festanstellung an einem Theater bekommt, muss viel Einsatz bringen. Während einer Saison mit Tournee sind bis zu 130 Vorstellungen pro Jahr üblich. Meistens ist die Karriere als Tänzer oder Tänzerin um die 36 beendet, da die Tanzenden später die Elastizität und Sprungkraft in den Gelenken nicht mehr besitzen. Ihr Körper wird so sehr strapaziert, dass sich Knie und Füsse abnützen und oft auch der Rücken Schaden nimmt.

Balletttänzerin

«Aufgeben kann ich nicht. Ich weiss nicht,

wie man das macht.»

Aufgrund des Sommer-Tanz-Camps wuchsen die Anfragen, wo die Schüler den Rest des Jahres trainieren könnten. So eröffnete sie 2006 ihre eigene Schule in Basel in einem Kurs-lokal, einen Steinwurf von ihrer Wohnung entfernt, rollstuhl-gängig, mit grossem Lift für das Piano, in einem Industrie-gebäude. Inzwischen sind aus den ersten vier Schülern 80 geworden. «So Kinder, jetzt, zum Schluss der Stunde, machen wir noch etwas freies Tanzen.» Sie legt eine andere CD ein, und die Schüler bewegen sich zu modernen Klängen fast genauso anmutig wie zur klassischen Musik. Galina Glad-kova macht den Kindern am Schluss vor, wie sie sich mit den Armen und Händen über dem Kopf bewegen können. Schö-nes Bild, wie die im Rollstuhl sitzende Balletttänzerin mit Energie und Temperament ihre gestreckten Arme grazil dem Rhythmus folgend in der Luft schwenkt. Q

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Page 9: Spurwechsel - Der Arbeitsmarkt

Text Melinda Melcher Fotos Simone Gloor

D er Six-Mitarbeiter Simon Berger (Name geändert) schläft seit längerem schlecht. Seit einigen Jahren entlässt der Finanz infrastrukturanbieter konti-nuierlich Leute. «Nicht nur ich fühle mich unsi-

cher und verängstigt.» Simon Berger vergleicht Six mit einem sinkenden Schiff – analog der «Titanic». Jeder versuche, sich noch einen Platz im Rettungsbot zu ergattern. Dieser Umstand übe grossen Druck auf die Ver bleibenden aus, und das Arbeitsklima leide darunter. Viele Mitarbeitende wählen aus Unsicherheit den Konkurrenzkampf mit allen Mitteln.

Für das Jahr 2013 sieht er kein Licht am Ende des Tunnels. Das Unternehmen ist mit hohem Preisdruck vonseiten der neuen Konkurrenz konfrontiert, da die Six ihre Monopolstel-lung auf dem Schweizer Finanzplatz verloren hat. Eine exter-ne Beratungsfirma hat innerhalb der Six Einzug gehalten und sich intensiv mit der Verbesserung von Abläufen und

der durchgeschüttelte Finanzsektor betroffen ist, sondern Betriebe aus verschiedenen Branchen Stellen streichen müssen. Das Zürcher Amt für Wirtschaft und Arbeit (AWA) veröffentlichte für 2012 Zahlen (siehe Grafik) und sprach von

einem schwarzen Okto-ber. Auch die im Januar kommunizierten Massen-entlassungen beim Solar-konzern Meyer Burger –

notabene ein Unternehmen aus dem aufstrebenden Clean-tech-Bereich – lassen ahnen, dass am Schweizer Arbeitsmarkt tatsächlich dunklere Wolken aufziehen.

«Die unaufhörlichen Restrukturierungen wiegen

schwer auf dem Personal.» Robert Métrailler, Leiter der Branche Kommunikation

bei der Gewerkschaft Transfair

Stellenabbau anhand von Massenentlassungen ist un-bestritten eine augenscheinliche Massnahme. Sie ist aber dennoch nur eine unter vielen. Bei einem Strukturwandel beziehungsweise einer Strukturbereinigung innerhalb einer Branche oder eines Unternehmens gibt es verschiedene Fluktuationen. Informationen über effektiv gestrichene Stellen gelangen in den seltensten Fällen anhand von ge-nauen Zahlen an die Öffentlichkeit. In diesem Zusammen-hang sprechen Experten von tröpfchenweisen Entlassungen oder unauffälligen Entlassungen. Diese geschehen hinter den Kulissen und verschlossenen Türen. Verhandlungen und Einigungen – im Sinne der Gewährung von Mitsprache-recht – mit Gewerkschaften und Arbeitnehmerverbänden werden damit umgangen. Diese Entlassungen basieren auf individuellen Abmachungen und Bedingungen und werden an Stillschweigen geknüpft. In diesen Fällen profitieren Mitar-beitende auch nicht im gleichen Ausmass von Beratungsangebo-ten, wie einem Outplacement (siehe Seite 31) oder Unterstüt-zungsmassnahmen wie einem Sozialplan, den Unternehmen in

möglichen Kosteneinsparungen beschäftigt. Simon Berger glaubt, dass dies zu weiteren Entlassungen oder gar zur Auflösung von Abteilungen führen kann. «Die tägliche Unge-wissheit, die wir bewusst oder unbewusst aushalten müssen, belastet ungemein.»

Der Druck steigtNicht nur der Finanzinfrastrukturanbieter Six, sondern

auch Firmen wie UBS, Lonza und Swisscom gaben im Jahr 2012 Massenentlassungen bekannt. Dies zeigt, dass nicht nur

Die Arbeitswelt ist im Umbruch. Davon zeugen die manchmal laut angekündigten Massenentlassungen und die oft kleineren, von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommenen Kündigungswellen. Während die Konzerne dadurch ihre Gewinne optimieren, tragen die Arbeitnehmenden die Belastung und der Staat die Kosten.

E N T L A S S U N G S W E L L E N

Überlebensstress

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Page 10: Spurwechsel - Der Arbeitsmarkt

«Die Entlassungen !nden bei Grossbanken sowie bei kleineren Banken tröpfchenweise statt.» Denise Chervet, Zentralsekretärin des Schweizerischen Bankpersonalverbands

der Schweiz bei Massenentlassungen meist anbieten. Diese sind jedoch gemäss Gesetz nicht gezwungen, einen Sozial-plan auszuarbeiten. Auch andere Unterstützungsmassnah-men wie Beteiligung an Weiterbildungskosten oder unter-stützende psychologische Beratungen basieren auf reinem Goodwill.

Die Stimmung ist getrübtIm angeschlagenen Bankensektor, der derzeit stark vom

Stellenabbau betroffen ist, umgehen Banken vermehrt Mas-senkündigungen. «Die Entlassungen finden bei Grossbanken sowie bei kleineren Banken tröpfchenweise statt», sagt Denise Chervet, Zentralsekretärin des Schweizerischen Bankperso-nalverbands. «Dies erschwert uns, die getroffenen Massnah-men zu prüfen beziehungsweise davon mehr zu erfahren.» Auch sie gibt keine guten Prognosen für das Jahr 2013 ab. «Die Stimmung beim Bankpersonal ist schlecht», sagt sie klar. «Es herrscht ein Klima, dass alle sich bewähren müssen.» Bank-angestellte stünden in starkem Konkurrenzkampf zueinan-der, denn wenn jemand seine Stelle verliere, bekomme er schwerlich wieder eine neue und adäquate Stelle.

Strukturwandel und Bereinigungen finden auch verstärkt in Technologiebranchen statt. So ist die Telekombranche ein Spitzenreiter bei Entlassungen.

Jan. Feb. März April Mai Juni Juli Aug. Sept. Okt. Nov. Dez.

Baugewerbe 0 0 14 0 55 0 0 0 0 0 0 0

Banken 0 81 0 0 149 0 24 0 0 393 13 0

Detailhandel 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 16

Verkehr, Information und Kommunikation 120 98 37 0 0 35 0 0 0 300 75 85

Wirtschaftliche Dienstleistungen 0 0 0 0 0 0 0 0 20 0 0 0

Persönliche Dienstleistungen 0 16 0 13 0 0 137 0 0 12 0 0

Gastgewerbe 19 0 14 13 22 0 0 0 0 0 0 65

Grosshandel 12 0 0 0 10 0 0 0 0 0 0 0

Industrie 68 0 108 80 55 92 139 0 47 105 142 0

Versicherungen 140 0 0 15 0 14 0 0 65 0 0 0

Übrige Branchen 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 60

Total 359 195 173 108 291 141 300 0 132 810 230 226

«Die unaufhörlichen Restrukturierungen wiegen schwer auf dem Personal», sagt Robert Métrailler, Leiter der Branche Kommunikation bei der Gewerkschaft Transfair. «Vor allem die Mitarbeitenden im Bereich Swisscom IT Services sind von

Quelle: Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Zürich

Massenentlassungen 2012

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Page 11: Spurwechsel - Der Arbeitsmarkt

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einem weiteren Stellenabbau betroffen.» Die Swisscom will Teile ihres IT-Angebots ins Ausland verlagern.

Klagen auf hohem NiveauRuth Derrer Balladore, Mitglied der Geschäftsleitung des

Schweizerischen Arbeitgeberverbands, warnt vor einer Angst-mache. Grundsätzlich sei die Stimmung auf dem Schweizer Arbeitsmarkt noch gut. «Es gab einzelne Reduktionen, ja. Über alles gesehen werden jedoch weiterhin Fachleute gesucht.» Doch sie gibt zu: «Schwierig ist es derzeit bei den Banken. Aufgrund der veränderten Geschäftsmodelle sucht und braucht dieser Sektor andere Profile.» Ruth Derrer

placement-Angeboten kämen. Sie bestätigt, dass Leistungen im Bereich Weiterbildung gegebenenfalls sinnvoll seien, da derzeit ein Strukturwandel stattfinde.

Der frühere Fokus auf Arbeitsplatzsicherheit habe sich auf Arbeitsmarktfähigkeit verschoben. «Nicht immer nehmen die Arbeitgeber diese Ver-antwortung wirklich wahr. Leider, bleibt die Unterstüt-zung der Unternehmen im Bereich Ausbildung bei we-nig qualifizierten Mitarbei-tenden zu oft ein Lippenbekenntnis.» Dies führt dazu, dass die Betroffenen erst nach einer Entlassung im Rahmen von arbeitsmarktlichen Massnahmen weitergebildet werden. Dennoch zeige das verstärkte Angebot im Bereich Outplace-ment, dass die Nachfrage gestiegen sei, die Unternehmen somit diese Angebote machen.

Einzelne Unternehmen nehmen ihre Verantwortung den-noch wahr. Robert Métrailler, Leiter der Branche Kommu-nikation bei der Gewerkschaft Transfair, sagt, dass die Swisscom im Zuge jeder Restrukturierung die Sozialpartner konsultiere – im Rahmen eines Mitspracherechts. Diese analysieren die Restrukturierungsprojekte im Detail, sodass Lösungen berücksichtigt werden können, um die Anzahl der betroffenen Personen zu verringern, die ihren Arbeitsplatz verlieren sollen. Die Swisscom biete einen guten Sozialplan an, der eine Palette an Massnahmen zugunsten des Personals beinhalte. Dieser erlaube der Gewerkschaft Transfair, den Schwerpunkt auf die berufliche Umschulung und Ausbil-dung zu legen. Schlüsselelemente, um auf dem Arbeitsmarkt konkurrenzfähig zu bleiben – in einem sehr entwicklungs-fähigen, aber auch zugespitzten Sektor.

Neuer HabitusFür Professor Franz Schultheis ist der Umbruch in der

Arbeitswelt eine globale Dynamik, die sich holzschnittartig durch die gesamte Arbeitswelt zieht. Unternehmen bewegen sich weg von einer «anspruchsgruppenorientierten Unterneh-mensethik», in der das Unternehmen eine paternali stische

Verantwortung für die Mitarbeitenden übernahm, hin zu einer «aktionärs orien- tierten Strategie»: «Die Gemeinwohlorien-tierung wird unverblümt und mehr und mehr durch reine Rentabilitätskriterien ersetzt.»

«Arbeitnehmer werden zu Arbeits-kraftunternehmern», sagt Professor Franz

Schultheis. Die Arbeitskraftunternehmer müssen ihre Em-ployability – was so viel heisst wie Beschäftigungsfähigkeit – optimieren und vermehrt in sich selbst investieren. Sie brau-chen verstärkt die Fähigkeit und Bereitschaft, verschiedene Phasen eines Anstellungsverhältnisses zu meistern, und dazu müssen sie ihre gesamten Kompetenzen und ihre Arbeits-kraft laufend den Anforderungen des Arbeitsmarkts anpas-sen. «Ich spreche in diesem Zusammenhang von ‹Gesellschaft mit beschränkter Haftung›, denn die Sozialverantwortung geht zurück, und mehr Selbstverantwortung wird verlangt.» Kurz: «Unternehmen fordern mehr und fördern weniger.» Q

«Die Unternehmen stehlen sich klar aus der Verantwortung.»

Franz Schultheis, Soziologieprofessor an der Universität St. Gallen

Balladore verweist auf die Aussagen der Konjunkturfor-schungsstelle KOF, die besagt, dass der Stellenabbau zurück-haltend betrieben werde, da die Unternehmen für einen allfälligen Aufschwung gewappnet sein wollen. Im Februar 2013 gaben laut Umfragen der KOF weniger Firmen an, einen Personalabbau zu planen.

Nichtsdestotrotz. «Tröpfchenweise Entlassungen führen meist zu mehr Gewinn, jedoch auch zu höheren Sozial-kosten», sagt Franz Schultheis, Soziologieprofessor an der Universität St. Gallen. Er untersucht Veränderungen in der Arbeitswelt. «Die Unternehmen stehlen sich klar aus der Verantwortung. Sie machen tröpfchenweise Kündigungen, aber auch Massenentlassungen oft mit dem Ziel, ihre Ren-tabilität zu erhöhen. Die Sozialkosten inklusive der Gesund-heitskosten steigen als Konsequenz. Auch Mitarbeitende, die noch in einem Unternehmen verbleiben, sind oft erhöh-tem Stress ausgesetzt.» Die Soziologen sprechen in diesem Zusammenhang vom «Survival Sickness Syndrom» – zu Deutsch Überlebensstress-Syndrom. Damit sind die nega-tiven Folgen in Verbindung mit Entlassungen wie zum Beispiel reduzierte Arbeitszufriedenheit und Identifikati-on mit dem Unternehmen sowie ver-mehrtes Auftreten von stressbedingten Krankheiten bei den verbleibenden Füh-rungskräften und Mitarbeitenden ge-meint.

«Die Sozialkosten werden kollektiviert und Gewinne privatisiert», sagt Franz Schultheis. Alleine in Deutschland entstan-den Gesundheitskosten um 30 Milliarden Euro im Zusam-menhang mit Stresserkrankungen. «Vor allem die kleinen Fische oder Fachmitarbeitenden sind nicht genügend ge-schützt und können ohne Starthilfe einfach entlassen und damit vielfältige Kosten gespart werden.»

Arbeitsmarkt im UmbruchRuth Derrer Balladore vom Schweizerischen Arbeitgeber-

verband anerkennt, dass hinsichtlich Beratungsangeboten und Unterstützungsmassnahmen vorwiegend Kaderleute und hochspezialisierte Fachleute in den Genuss von Out-

F O K U S Umbrüche

Page 12: Spurwechsel - Der Arbeitsmarkt

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Text Melinda Melcher Fotos Johny Nemer

F ür mich steht der Mensch im Mittelpunkt.» Hans Ulrich Friedli, ein hochgewachsener 61-jähriger Mann mit warmer Ausstrahlung und offenem Blick, wirkt glaubhaft, als er das sagt. Der Sales und

Account Manager überblickt von seinem Schreibtisch das Grossraumbüro des Geschäftskundenteams. Die hier beschäf-tigten Call-Center-Mitarbeitenden informieren in der modern ausgerüsteten Gesprächswerkstatt über Produkte und Dienst-leistungen, nehmen Beschwerden entgegen und leisten Sup-portdienste. Hans Ulrich Friedli, eine erfahrene Führungs-person, sass kürzlich selber als Call-Center-Agent an einem dieser Arbeitsplätze, nachdem ihn berufliche Umbrüche gezwungen hatten, wieder von vorne anzufangen. Unbeirrt arbeitete er sich erneut hoch. Innert einem Jahr stieg Hans Ulrich Friedli vom Call-Center-Agent zum Kadermitglied der Tectum Schweiz auf.

Hans Ulrich Friedli mag den Austausch mit unterschied-lichen Menschen. «Der Kontakt zu Kunden und Mitarbeiten-den entspricht mir sehr.» Aus diesem Grund entschied er sich in jungen Jahren für eine berufliche Karriere im Bereich Verkauf und Marketing. Ursprünglich absolvierte er eine Leh-re als Spielwaren- und Sportartikelverkäufer und ging bald danach für acht Jahre nach Deutschland. «Früher machten Verkäufer in dieser Sparte auch kleinere Reparaturen», sagt er begeistert. In Deutschland arbeitete sich Hans Ulrich Friedli stetig zum Einkäufer und Abteilungsleiter empor. Zurück in der Schweiz bildete er sich ganz nach schweizerischer Manier in Betriebswirtschaft und Marketing weiter und erlangte den Titel «eidgenössisch diplomierter Verkaufsleiter».

Führung ist AnsichtssacheSeine Karriere verlief fortan reibungslos, und Hans Ulrich

Friedli, inzwischen Vater von zwei Kindern, etablierte sich Mitte der achtziger Jahre bei Canon Schweiz. Während drei-zehn Jahren war er bei diesem Konzern beschäftigt, zuletzt als Verkaufs- und Geschäftsstellenleiter. Hans Ulrich Friedli schätzte seine Führungsaufgabe. «Ich bemühte mich aus-drücklich, auf meine Mitarbeitenden einzugehen, Hilfestel-lungen zu geben und firmeninterne Beschlüsse durchzuset-zen, indem ich überzeugte und Verständnis schuf.» Dies war sicherlich nicht immer umsetzbar, da das Führungsgremium manchmal gezwungen war, schwere und unpopuläre Ent-scheidungen zu treffen. «Auch ich musste bei Canon Schweiz Personal entlassen», sagt er ruhig.

Ende der neunziger Jahre kommt es zu einem Zerwürfnis mit seinem Vorgesetzten. Unterschiedliche Vorstellungen bezüglich Marktstrategie, beruflicher Weiterbildung und Führungsverständnis prägen den Konflikt. «Wir wurden uns unter anderem über die geeignete Führungsausbildung ein-fach nicht einig.» Hans Ulrich Friedli, die kooperative Füh-rungsnatur, hätte sich gerne am Institut für angewandte Psychologie weitergebildet. Sein Vorgesetzter wollte diese Ausbildung jedoch nicht unterstützen. Der Konflikt blieb ungelöst und endete für Hans Ulrich Friedli in einer Ent-lassung. Aufgrund seiner Stellung wurde er freigestellt und kam in den Genuss einer Abfindung. Darauffolgend begann für Hans Ulrich Friedli eine turbulente und schwierige Zeit.

B L A U E R B R I E F

EinstellungssacheHans Ulrich Friedli bewältigte berufliche Umbrüche mit Selbstvertrauen, Durchhaltewillen und erbringt den Beweis, dass die eigene Einstellung eine zentrale Ressource ist, um sich immer wieder hochzuarbeiten.

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Page 13: Spurwechsel - Der Arbeitsmarkt

Während dieser ersten Neuorientierung arbeitete er zwi-schenzeitlich für mehr als ein Jahr als Call-Center-Agent, bis er bei einer kleineren IT-Firma als Marketing- und Verkaufs-leiter eine neue, ihm entsprechende Anstellung fand. Hans Ulrich Friedli war engagiert, sich in der für ihn neuen Start-up-Atmosphäre zurechtzufinden. Um die Jahrtausendwende konsolidierten zahlreiche IT- Unternehmen ihre Geschäfts-bereiche. Auch die Führungsspitze der heutigen Uptime Ser-vices, die der sogenannten Star-Wars-Generation entstammte, restrukturierte, stiess Teile ab und entliess Mitarbeitende. Hans Ulrich Friedli erhielt nach rund drei Jahren abermals die Kündigung. Von neuem war er mit einem beruflichen Umbruch konfrontiert.

Hans Ulrich Friedli hat ein ruhiges Naturell; er denkt vorwiegend positiv und ist bemüht, Situationen realistisch einzuschätzen. Und daher gab er den Glauben an sich und

dern machte vieles mit sich alleine aus. So auch die zeitweilig schwierigen Momente, die eine Phase der Erwerbslosigkeit mit sich bringt. «Meine Stimmung war vorwiegend positiv», fügt er mit Nachdruck an. Seinem Umfeld erzählte er offen, dass er auf Stellensuche sei. «Ich stand zu meiner Situation und informierte meinen Bekanntenkreis entsprechend.» Nämlich, dass er eine neue Herausforderung im Bereich Ver-kauf und Marketing, Presales beziehungsweise Aftersales oder im Aussendienst suche. «Der ausgeprägte Netzwerktyp bin ich jedoch nicht», sagt er ehrlich.

Worst-Case-SzenarioNach geraumer Zeit der erfolglosen Stellensuche und

gegen Ende seiner Rahmenfrist empfahl ihm sein RAV- Berater den FAU – Fokus Arbeit Umfeld –, der seit 1995 quali-fizierte Erwerbslose betreut und weiterbildet. Neugierig nahm er diesen Vorschlag an. Mit der Unterstützung seiner FAU-Coachin analysierte er während sechs weiteren Mona-ten seinen Lebenslauf, formulierte seine persönlichen Lei-stungsmerkmale – Unique Selling Points – und tauschte sich mit anderen Teilnehmenden aus. «Das zwischen-menschlich gute Klima war mir definitiv eine wertvolle Unterstützung.» Eine Anstellung fand er jedoch in dieser Zeit nicht. Dennoch definierte er in diesen Monaten gedank-lich verschiedene Szenarien, inklusive eines «Worst Case». Mit anderen Worten: Hans Ulrich Friedli entwickelte für sich einen Plan für den schlimmsten Fall.

Seine Rahmenfrist neigte sich dem Ende zu, und eine neue Stelle war noch nicht in Sicht. Aufgeben kam für Hans Ulrich Friedli jedoch nicht in Frage. Mit stoischer Beharr-lichkeit verschickte er seine Unterlagen weiter. Seine Be-werbungen für die eher klassischen verkaufsorientierten Stellen überschritten bereits die 150er-Marke. Zugleich bewarb er sich vermehrt als Call-Center-Agent – sein Worst-Case-Szenario. Das vordringliche Ziel, einen neuen Job zu bekommen, lies er nicht aus den Augen. Für Hans Ulrich Friedli war klar: «Es kann nicht sein, dass ich Sozialhilfe-empfänger werde.» Diese Option existierte für ihn schlicht nicht.

In den letzten Wochen seiner verbleibenden Rahmenfrist kann sich Hans Ulrich Friedli bei der Tectum Schweiz in Wallisellen als Call-Center-Agent im Bereich Privatkunden vorstellen, obwohl er bei einer früheren Bewerbung bei Tectum eine Absage erhielt. Der Zufall zeigt sich oft in man-nigfaltiger Weise, denn seine erneute Bewerbung landete auf dem Tisch eines Tectum-Mitarbeiters, der Hans Ulrich Friedli von früher kennt. In der Vergangenheit hatte er diese Person einmal eingearbeitet und ein kollegiales Verhältnis gepflegt. Anschliessend verlief der Rekrutierungsprozess speditiv und positiv.

Die richtige Einstellung zähltAnfang November 2011 tritt Hans Ulrich Friedli seine

neue Stelle als Call-Center-Agent bei der Tectum Schweiz an. Erfreut und erleichtert wie auch demütig gegenüber dem Schicksal, hinterfragt er die Anstellungsbedingungen in keiner Hinsicht, obwohl diese nicht Hans Ulrich Friedlis gewohntem Standard entsprechen. «Ich haderte nicht», sagt er und betont: «Ich lernte bereits während meiner

seinen wertvollen Erfahrungsschatz nicht auf. Während dieser zweiten Neuorientierung bewarb er sich fleissig und sicherte sich nach kurzer Zeit eine Anstellung im Bereich Marketing und Verkauf bei einem patronal geführten Unter-nehmen im Geschäftsfeld «Gebäudedienste». Erst mal zufrie-den, wieder eine neue Arbeitsstelle gefunden zu haben, muss-te sich Hans Ulrich Friedli neu verorten und sich mit einem für ihn wiederum fremden Führungsstil auseinandersetzen. Der Geschäftsführer liess wenig Eigenverantwortung und Entscheidungsspielraum zu. Ausserdem verfolgte er zu die-sem Zeitpunkt eine Expansionsstrategie und kaufte verschie-dene neue Firmen dazu. Hans Ulrich Friedlis Funktion verlor zunehmend an Schärfe und war nach seiner Meinung be-triebswirtschaftlich längerfristig kaum haltbar. So war dieser wenig überrascht, als ihm der Geschäftsführer nach rund zwei Jahren den blauen Brief übergab.

SelbstbesinnungSeine Kündigungsfrist war gemäss Obligationenrecht

festgelegt und umfasste somit kurze zwei Monate. Hans Ulrich Friedli war sich zu diesem Zeitpunkt bewusst, dass er als berufserfahrener Stellensuchender mit Jahrgang 1951 erschwerte Voraussetzungen auf dem aktuellen schweize-rischen Stellenmarkt haben würde. Er dachte jedoch weiter-hin lösungsorientiert: «Kann ich eine Situation nicht ändern, so prüfe ich besser, ob ich meine Einstellung ändern kann.» Dennoch gibt er zu, dass auch er zeitweise das System hinter-fragte. Der Optimist machte sich vermehrt Gedanken über das Missverhältnis zwischen dem demografischen Wandel und den vorherrschenden Rekrutierungsverfahren in der Wirtschaft. Ohne Bitterkeit kam er zum Schluss: «Die Wirt-schaft privatisiert vorwiegend den Gewinn und sozialisiert die Sozialkosten.»

Hans Ulrich Friedli ist ein Mensch, der die naheliegende Selbstreflexion in Zeiten der Erwerbslosigkeit konstruktiv nutzte und sich Informationen beschaffte und sein ideales Arbeitsumfeld entwarf. Das Gespräch mit nahestehenden Personen, inklusive seiner Partnerin, suchte er weniger, son-

«Es kann nicht sein, dass ich Sozialhilfeempfänger werde.»

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Page 14: Spurwechsel - Der Arbeitsmarkt

Erwerbslosigkeit, mich einzuschränken.» Sein anpassungs-fähiges Wesen sowie sein Interesse, das Beste aus jeder Situation zu machen, bringen Hans Ulrich Friedli auch bei Tectum Schweiz voran. Innert kurzer Zeit wechselt er ins Firmenkundengeschäft, das ihm neben einem neuen Vor-gesetzten auch angenehmere Arbeitszeiten beschert. Auch wenn er im Unternehmen einer der ältesten Call-Center-Mitarbeitenden ist, stört ihn das wenig. Mühelos fügt er sich in das neue Team ein. Bald schon wird Hans Ulrich Friedli ein tragendes Team-Mitglied. Nach kurzer Zeit bittet ihn sein jüngerer Vorgesetzter, das Projektmanage-ment zu seiner Unterstützung zu übernehmen. Rund drei Monate lang bringt Hans Ulrich Friedli Struktur und Ord-nung in die Projektabwicklung, erhält nachträglich eine Lohnerhöhung – ohne danach gefragt zu haben – und wird nur kurze Zeit später nochmals befördert. Heute ist Hans Ulrich Friedli Mitglied des Kaders. Seinen Erfolg verdanke er letztens seiner Grundhaltung, sagt er entschieden: «Ich vergleiche mich nicht mit anderen, entscheide situations-gerecht und selbstbestimmt, fokussiere mich auf meine Tätigkeit und halte mich möglichst von Miesepetern fern.» Q

«Ich vergleiche mich nicht mit anderen.»

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F O K U S Umbrüche

Page 15: Spurwechsel - Der Arbeitsmarkt

Text Linda Osterwalder Foto Johny Nemer

A n dem Donnerstagmorgen ist am Flughafen Basel-Mulhouse wenig los. Auf dem Weg zum mehrstö-ckigen Swiss-Gebäude, wo die Personalleiterin der Lufthansa Technik Switzerland, Claudia Kuentz,

wartet, verhüllt dichter Nebel das Flughafenareal. Nicht nur das Wetter ist grau, auch der Gang im elften Stock ist bedrückend. Büros mit verglasten Fenstern zum Korridor reihen sich aneinander. Ein neugieriger Blick durch die Scheiben – da ist niemand zu sehen. Ab und zu ein Häuflein Schreib papier oder zwei, drei Ordner, die auf dem Boden stehen, sind das Einzige, was daran erinnert, dass hier einmal Leute gearbeitet haben. Wo sind die Angestellten, was ist mit ihnen passiert?

«Wir waren 400 Mitarbeitende», sagt die 38-jährige Personal - leiterin und kann den Abbau selber immer noch nicht richtig fassen. «Durch den hohen Franken waren wir nicht mehr kon- kurrenzfähig», so Claudia Kuentz. Die verschiedenen Airlines, darunter die Swiss, lassen ihre Maschinen heute in England überholen. «Auch der neunte Stock gehört zu uns, der ist

Immer öfter beauftragen Firmen externe Coachs, um gekündigte Mitarbeitende professionell

auf eine berufliche Neuorientierung vorzubereiten. Outplacement soll den Betroffenen helfen, neuen Lebensmut zu finden und sich selber optimal auf

dem Stellenmarkt zu verkaufen.

O U T P L A C E M E N T

Gestärkt an den Neustart

«Verliere nicht den Mut und bleib positiv.»Jennifer Wioland, ehemalige Mitarbeiterin der Personalabteilung

GRÜNDUNG 1. Oktober 2008

ANZAHL MITARBEITENDE 400 (2010), 0 (2013)

PRODUKTE Überholungen und Ausstattungen von Flugzeugen

KUNDEN Diverse Airlines und Flugzeugbesitzer

Lufthansa Technik Switzerland

genauso leer», sagt die Personalverantwort-liche mit grossem Bedauern. Claudia Kuentz spricht ruhig trotz der trostlosen Lage.

Turbulenzen beim BodenpersonalDie Reorganisation begann 2010. Ungefähr

65 Mitarbeitende verloren ihre Stelle. Die Fir-ma erstellte für sie einen Sozialplan. Ein Jahr

später waren etwa 35 Leute betroffen, und 2012 kam der grösste Abbau: 200 Mitarbeitende bekamen die Kündigung. Diesmal informierte die Lufthansa Technik Switzerland das Amt für Wirtschaft und Arbeit (AWA) Basel-Stadt über die bevorstehende Massenentlassung. Gemeinsam beschlossen

sie, eine Outplacement-Firma zu engagieren, die OTP in Basel (siehe Kasten). Ihr Auftrag lautete, innert nützlicher Frist eine neue berufliche Herausforderung für die entlassenen Mitarbeitenden zu finden.

Die professionelle Beratung und Schulung, die OTP anbot, war freiwillig, und jeder Betroffene konnte für sich selber entscheiden, ob er die Unterstützung annehmen wollte. Dies tat zum Beispiel Jennifer Wioland, 36, eine der Mitarbeite-rinnen der Personalabteilung. Sie war nicht überrascht, und trotzdem traf sie die Kündigung hart. «Ich habe mich fünf Jahre lang mit der Firma identifiziert, arbeitete sehr enga-giert, und jetzt sollte alles zu Ende sein?» Ende März 2013 lief ihr Arbeitsvertrag aus.

Die Hilfe und Unterstützung durch den OTP-Coach half ihr sehr. Zuerst überarbeiteten sie gemeinsam ihre Bewerbungs-

Claudia Kuentz, Personalverant-wortliche der Lufthansa Tech- nik Switzerland, sorgte bis zur Schliessung des Betriebs für ihre Mitarbeitenden.

F O K U S Umbrüche

Page 16: Spurwechsel - Der Arbeitsmarkt

unterlagen, erstellten ihr Kompetenzprofil, und der Coach riet ihr, eine Weiterbildung in Angriff zu nehmen. Sie brach-ten ihr Motivationsschreiben auf den Punkt, und schon befand sie sich mitten in der Stellensuche. «Das Einzel-coaching hat mich überzeugt und ermutigt.» Die Ausbildung als Personalassistentin hat sie bereits begonnen, und sie ist zuversichtlich, die Prüfung zu bestehen. Ihre Devise heute: «Verliere nicht den Mut und bleib positiv.»

Die Outplacement-Firmen beraten und begleiten Betrof-fene nach einer Kündigung. Sie motivieren und bauen auf. Der Coach hilft dabei, die Perspektiven zu sehen, steckt Ziele, zeigt auf, wie sich die Karriereentwicklung gestalten könnte und wie die Umsetzung erfolgen soll. Nicht zu vergessen: die

auch zu seinen persönlichen Stärken passt. «Dank dem Out-placement können sich viele Kandidaten in ihrer Position verbessern.»

Entlassungen ohne EndeNicht alle bei der Lufthansa Technik Switzerland hatten

ein Outplacement nötig. «Zum Glück konnten alle Lehrlinge zur Swiss nach Zürich wechseln, und 22 Mitarbeitende blei-ben hier in Basel, übernommen von der Swiss. Sie arbeiten in der Werkstatt, wo die Triebwerke gewartet werden», so Claudia Kuentz. Weitere 17 Mitarbeitende haben die Kündigung bereits erhalten, mit Wirkung auf einen späteren Zeitpunkt, sobald die Abschlussarbeiten erledigt sind. Die Abteilungen

A U S S E N V E R M I T T L U N G

B R A N C H E O U T P L AC E M E N T ACF Schweiz ist die schweizeri sche Sektion der internationalen Vereinigung der führenden Outplacement-Firmen und zählt acht Mitglieder, darunter die Firma OTP Basel.

PROGRAMME Im Angebot stehen Einzel-Outplacement, Gruppen-Outplacement, Laufbahnberatungen und Business-Coaching.

KUNDEN Einzelpersonen, KMU, Grossunternehmen und staatliche Institutionen. Davon kommen laut Schätzungen des Branchenverbands im Jahr 2012 45 Prozent aus der Industrie, 42 Prozent aus dem Dienstleistungssektor, 9,5 Prozent aus staatlichen Institutionen und 3,5 Prozent aus dem Non-Pro!t-Bereich.

BETROFFENE 47 Prozent der Personen, die an einem Out-placement teilnahmen, gehörten dem oberen Kader und der Geschäftsleitungsebene an. Dies die Schätzungen aus dem Jahr 2012. Tendenz zunehmend. 53 Prozent waren unteres Kader, Fachspezialisten und Mitarbeitende. Ende 2010 waren 3574 Kandidaten in einem Outplacement-Verfahren.

DAUER Durchschnittlich dauert die Suche 6 bis 9 Monate. 63 Prozent finden nach 1 bis 6 Monaten einen Job, 28 Prozent nach 7 bis 9 Monaten, 9 Prozent nach 10 Monaten und mehr. Die Firmen zahlen für die Prozessdauer von 3 bis 9 Monaten. Die Outplacement-Unternehmen können keine Garantie abgeben. www.acfswitzerland.ch

Dienstleistung im Aufstieg

Engineering, technischer Einkauf und Planung sind bereits geschlossen. Im Februar meldete Lufthansa Technik Switzer-land, dass sie den Standort am Basler Flughafen definitiv auf- gebe. Easy Jet, ihr letzter Grosskunde, hatte seinen Vertrag nicht verlängert. 29 Mitarbeitende wechseln zur Fluggesell-schaft Swiss, 31 Mitarbeitende verlieren auf Ende April ihre Stelle. In der Personalabteilung arbeiteten in guten Zeiten sechs Personen, vier im Teilzeitpensum. Nun bleibt keiner zu- rück. Frau Kuentz hat bereits eine neue Stelle angenommen. Q

«Dank dem Outplacement können sich viele Kandidaten in ihrer Position verbessern.» Mark Richter, Geschäftsführer der OTP Basel

anfallenden Kosten. Diese finanziert der Arbeitgeber, was wiederum die Arbeitslosenversicherung entlastet – letztlich den Steuerzahler – und den Arbeitssuchenden eine schnelle berufliche Wiedereingliederung ermöglicht. Wie eine Studie des Branchenverbands aus dem Jahr 2012 zeigt, werden Out-placement-Dienstleistungen immer mehr eingesetzt. Gerade in Umbruchzeiten ist für eine Firma besonders wichtig, dass sie Reputationsschäden sowohl nach innen wie nach aussen vermeidet.

Erfolg durch gezieltes CoachingAls Michaela Huber (Name geändert), 43, Einkäuferin, im

Mai 2012 die Kündigung erhielt, brach für sie eine Welt zusammen – nach 22 Jahren der Zugehörigkeit. «Ich habe alle Umbrüche miterlebt. Von der Crossair kam ich zur Swiss, dann zur Lufthansa Technik Switzerland, und plötzlich war ich ohne Stelle!» Ihr Vertrag lief letztes Jahr aus. Obwohl sie schon einige Kollegen durch Kündigung verloren hatte, glaubte sie bis zuletzt daran, dass ihr Arbeitgeber weiterbe-stehen würde. Sie war wie gelähmt, unfähig, die Stellenan-zeigen in der Zeitung zu lesen oder im Internet nach neuen Aufgaben zu suchen.

Dann entschied sie, an den Outplacement-Beratungen der OTP teilzunehmen. «Das war die beste Entscheidung, die ich treffen konnte.» Durch die Unterstützung ihres Coachs fand sie zu sich selber zurück, war motiviert und kam zu Vorstel-lungsgesprächen. «Heute fühle ich mich wohl und stark. Ich bin dankbar, dass Lufthansa Technik Switzerland uns dieses Coaching ermöglichte, so haben wir die schwerste Zeit besser überstanden.» Sie kann heute noch ihren Coach kontaktieren und ihr Vorgehen absprechen, um den bestmöglichen Ein-druck im Interview zu hinterlassen. Mittlerweile hat Michaela Huber eine Stelle im Industrieeinkauf gefunden. Und sie ist glücklich darüber.

Besonders bei langjährigen Mitarbeitenden erweist sich Outplacement als hilfreiche Massnahme. «Diese kennen den heutigen Arbeitsmarkt kaum und müssen sich mit den neu-en Strategien vertraut machen», sagt Mark Richter, Geschäfts-führer der OTP Basel. «Durch uns lernt der Betroffene, sich selber beim Stellenanbieter zu verkaufen. Er erfährt eine klare Kompetenzsteigerung. Wohingegen der Personal-vermittler den Kandidaten den Firmen vorschlägt und zu vermitteln versucht.» So unterscheiden sich die Ansätze von Outplacement-Firmen und Personalvermittlungen. Die Outplacement-Firma zeigt einem Kandidaten auf, welche Posi tion im Moment zu seinen fachlichen Qualitäten, aber

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