5
Archly Ohr- usw. tteilk: u: Z. Hals- usw. Heilk., Bd. 162, S. 62--66 (1952). Aus der Hals-Nasen-Ohrenklinik der Universitat KSln (Direktor: Prof. Dr. L. B. S~I~V,~Tn). Stiirungen der visuellen Wahrnehmung nach Vestibularisausfall. Von A. MEYER ZUM GOTTESBERG:E. (Eingegangen am 15. April 1952.) Die Beobachtung, dab sich eigenartige StSrnngen der visuellen Wahr- nehmung einste]]en kSnnen, wenn der Nervus vestibularis beiderseits funktionsunf~hig wird, ist eine unfreiwillige Entdeckung des Hirn- chirurgen DA~])Y. Als DANDY zum ersten Mate das Wagnis unternahm, bei M~NI~RESeher Krankheit den Stature des N. aeusticus beiderseits teilweise so zu dnrchtrennen, dab die Coch]earisfasern geschont wurden, traten selfsame subjektive Erscheinungen auf. Wenn die Kranken den Kopf bewegten, entstanc[ eine StSrung der visue]len Wahrnehmung der 0bjekte. D)~NDY nannte die Erscheinnng ,,jumbling", wSrtlich ,,Durch- einander". Hielt der Kranke den Kopf ruhig, verschwand die Erschei- hung sofort. Als tIirnchirnrg hatte DA~Du keine Veranlassung, sich n~her mit seiner Entdeckung zu befassen. Dem Physiologen und Oto- logen scheint DA~])u Beobachtung mit wenigen Ausnahmen (S~I~GEL, Gt#TTIC~) unbekannt geblieben zu sein. In einzelnen Arbeiten, die sich mit den Vestibularissch~digungen dnrch Streptomycin beschi~ftigen, sind in den Krankengeschichten Symptome beschrieben, die an die Be- obachtnng DA~Drs erinnern (H~w~E~G]~R, GloAt). Anf unsere unter- suchungen hat JAT~O in seiner Arbeit fiber Streptomycinwirkungen be- reits hingewiesen. Eine eingehende Besehreibung der Analyse der DA~DYschen Beobaehtung ist bisher jedoch nicht erfolgt. ]:m folgenden so]] eine vorl~ufige Mitteilung unserer bisherigen Unter- suchungen, die noch nicht abgeschlossen sind, gegeben werden. In allen yon uns beobachteten Fi~llen des DANDYsehen Symptoms bestand vSlliger Ausfall der Vestibularisfunktion. Beide Labyrinthe waren weder kalorisch noch auf Drehreiz erregbar. Unsere erste Beobachtung geht auf das Jahr 1946 zurfiek. Bei der Kranken land sich ein beiderseitiger Labyrinthausfall neben einer ge- ringen InnenohrschwerhSrigkeit. Die Ursaehe des Vestibularisausfalls war trotz eingehender und neurologischer Liquoruntersuchung nicht festzustellen. In zwei weiteren F~llen bestand eine M~NI~wsche Er- krankung, die therapieresistent war und dauernde Arbeitsunf~higkeit

Störungen der visuellen Wahrnehmung nach Vestibularisausfall

Embed Size (px)

Citation preview

Archly Ohr- usw. tteilk: u: Z. Hals- usw. Heilk., Bd. 162, S. 62--66 (1952).

Aus der Hals-Nasen-Ohrenklinik der Universitat KSln (Direktor: Prof. Dr. L. B. S~I~V,~Tn).

Stiirungen der visuellen Wahrnehmung nach Vestibularisausfall.

Von A. MEYER ZUM GOTTESBERG:E.

(Eingegangen am 15. April 1952.)

Die Beobachtung, dab sich eigenartige StSrnngen der visuellen Wahr- nehmung einste]]en kSnnen, wenn der Nervus vestibularis beiderseits funktionsunf~hig wird, ist eine unfreiwillige Entdeckung des Hirn- chirurgen DA~])Y. Als DANDY zum ersten Mate das Wagnis unternahm, bei M~NI~RESeher Krankheit den Stature des N. aeusticus beiderseits teilweise so zu dnrchtrennen, dab die Coch]earisfasern geschont wurden, traten selfsame subjektive Erscheinungen auf. Wenn die Kranken den Kopf bewegten, entstanc[ eine StSrung der visue]len Wahrnehmung der 0bjekte. D)~NDY nannte die Erscheinnng ,,jumbling", wSrtlich ,,Durch- einander". Hielt der Kranke den Kopf ruhig, verschwand die Erschei- hung sofort. Als tIirnchirnrg hatte DA~Du keine Veranlassung, sich n~her mit seiner Entdeckung zu befassen. Dem Physiologen und Oto- logen scheint DA~])u Beobachtung mit wenigen Ausnahmen (S~I~GEL, Gt#TTIC~) unbekannt geblieben zu sein. In einzelnen Arbeiten, die sich mit den Vestibularissch~digungen dnrch Streptomycin beschi~ftigen, sind in den Krankengeschichten Symptome beschrieben, die an die Be- obachtnng DA~Drs erinnern (H~w~E~G]~R, GloAt). Anf unsere unter- suchungen hat JAT~O in seiner Arbeit fiber Streptomycinwirkungen be- reits hingewiesen. Eine eingehende Besehreibung der Analyse der DA~DYschen Beobaehtung ist bisher jedoch nicht erfolgt.

]:m folgenden so]] eine vorl~ufige Mitteilung unserer bisherigen Unter- suchungen, die noch nicht abgeschlossen sind, gegeben werden.

In allen yon uns beobachteten Fi~llen des DANDYsehen Symptoms bestand vSlliger Ausfall der Vestibularisfunktion. Beide Labyrinthe waren weder kalorisch noch auf Drehreiz erregbar.

Unsere erste Beobachtung geht auf das Jahr 1946 zurfiek. Bei der Kranken land sich ein beiderseitiger Labyrinthausfall neben einer ge- ringen InnenohrschwerhSrigkeit. Die Ursaehe des Vestibularisausfalls war trotz eingehender und neurologischer Liquoruntersuchung nicht festzustellen. In zwei weiteren F~llen bestand eine M~NI~wsche Er- krankung, die therapieresistent war und dauernde Arbeitsunf~higkeit

StSrungen der visuellen Wahrnehmung naeh Vestibularisausfall. 63

verursachte. Wir fiihrten in beiden F~llen eine Ausschals des Vesti- bularis mit Streptomycin durch. Im klinischen Befund boten beide Falle das Bild der M~NI~a~schen Erkrankung mit einseitiger Innenohr- schwerhSrigkeit, Ohrensausen und typischen Schwindelanfallen. Nach Abschlu~ der Streptomycinbehandlung war Labyrinthausfall beider~ seits festzustellen.

In 2 weiteren Fallen, die nur einmalig poliklinisch untersucht werden konnten, war beiderseitiger Vestibularisausfall bei erhaltenem HSr- vermSgen nachzuweisen. Die Ursaehe des Vestibularisausfalts war nieht zu klaren.

Das Symptomenbild aller yon uns beobachteten F~]le war charakte- ristisch. Bei Kopf- oder KSrperbewegungen traten sehr unangenehme StSrungen der visuellen Wahrnehmung auf, die yon den Kranken als eine Art ,,Verwackeln" der Sehobjekte beschrieben wurden. Eine immer wiede~kehrende Angabe war die, dal~ beim Gehen auf der Stral~e be- kannte Personen erst in nachster Entfernung erkannt werden konnten, und dal~ Strai~enschilder und Aufschriften an Geschaftsh~usern nicht gelesen werden konnten, solange sieh der Kranke in Bewegung befand. Eine der Kranken besehrieb deutlieh, dal~ bei Kopfdrehungen das Gesichtsfeld eine Scheinbewegung in entgegengesetzter Riehtung machte. Beim Treppensteigen waren die Erscheinungen meist ebenfalls deutlieh, auch Fahrbewegungen ffihrten zu unangenehmen Empfindungen.

Die im Folgenden besehriebenen Untersuchungen konnten nur in den ersten 3 Fallen, die l~ngere Zeit in unserer Beobachtung standen, durch- geffihrt werden.

In allen 3 Fallen war normaler optokinetischer Nystagmus nach- zuweisen. Alle Kranken batten nach Korrektur yon Brechungsfehlern normale Sehseh~rfe.

Der halsreflektorische Nystagmus nach F~E~ZEL war in 2 Fallen sehr deutlich auslSsbar, in 1 Falle war er nicht mit Sicherheit festzustellen. Die Prfifung erfolgte nach der yon F~ENZEL angegebenen Methode.

Um die subjektiven Erscheinungen der Kr~nken zu objektieren, wurde ein einfacher Versuch ausgeffihrt. Bei gesunden Versuchspersonen ffihren aktive oder passive Sehfittelbewegungen des Kopfes in horizon- taler oder vertikaler Richtung nicht zu einer Beeintr~ehtigung der Seh- sch~rfe, solange Frequenz und Amplitude der Sehwingungsbewegungen einen Grenzwert nieht iiberschreiten. In allen 3 Fallen yon beiderseitigem Vestibularisausfall konnte durch passive Schiittelbewegungen des Kopfes in horizontaler und vertikaler Richtung eine Herabsetzung der in l~uhe normalen Sehseh~rfe, und zwar auf 6/15 bis 6/2 0 erzielt werden.

Hierbei.war es charakteristisch, dal~ einzelne Buehstaben und Zahlen der SehtafeIn bei horizoutalen, andere bei vertikalen Bewegungen nicht gelesen werden konntem E wurde beispielsweise bei vertikalem Schiittein

6~ A. ~EYER ZUiK GOTTESB]~RGE :

nieht erkannt, 0ffenbar deswegen, Weft seine visuelle Charakteristik auf den 3 horizontalen Linien beruht, die beim :r Schiitteln in- einander verschwimmen.

Vergleichspriifungen an normulen Versuchspersonen hatten bei gleicher Frequenz und Amplitude der Schiittelbewegungen keine Be- eintrachtigung der Sehscharfe ztir Folge. Ebenso negativ verlief der Vet- such auffallenderweise bei einer taubstummen Versuchsperson mit an- geborenem bzw. in friihester Jugend erworbenem Vestibularisausfall.

In allen 3 Fallen ist im Laufe you Wochen oder Monaten eine weit- gehende subjektive GewShnung eingetreten. Es hat den Anschein, dab die Xranken gelernt haben, stSrende Kopf- und KSrperbewegungen zu vermeiden. Eine objektive Besserung ist jedoch beim Sehiittelversueh in keinem Falle eingetreten.

Die beschriebenen StSrungen sind nicht spezifisch fiir Streptomycin- schadigung, sondern kommen auch bei vestibularen Degenerationen un- bekannter )~tiologie und nach Durchtrennung beider l~erven vor. Wie DANDYS Experiment beweist, sind sie aueh nicht unbedingt Ausdruck einer Kernschadigung. Vorlaufig ist noch ungeklart, warum die StSruu- gen in manchen Fallen yon beiderseitigem Vestibularisausfall auftreten, in anderen Fallen fehlcn, warum sie bei angeborenem Vestibularisaus- fall nicht beobachtet sind, ob sie auf die Dauer repurubel oder irreparabel sind nnd yon welchen Faktoren das versehiedene Verhalten abhangig ist.

Die beschriebenen Beobachtungen sind ffir die Physiologie des Ny- stagmus yon hSchstem Interesse. Die StSrungen der visuellen Wahr- nehmung nach beiderseitigem Vestibularisausfall beweisen, dal~ der labyrinthar-okulare Reflexmechanismus Scheinbewegungen der Seh- dinge bei Kopf- oder KSrperbewegungen verhinder~. DaB dieses seine wesentliche Aufgabe ist, hat F~v~sz~L zuerst klar gesehen. Er sagte, dal~ ,,die kompensatorischen Augenbewegungen gemeinsam mit den gleich- sinnigen langsamen Komponenten des Drehnystagmus und des opto- motorischen l~ystagmus die Aufgabe haben, das Bild der Umgebung vorfibergehend festzuhalten, nnd dab es ferncr der Hauptzweck des Nystagmus ist, ahnlich einer kinematographischen Anfnahme das bei Drehungen jeder Art vorbeigleitende Gesichtsfeld in geniigend belichtete Einzelaufnahmen zu zerlegen".

lXiach dieser Theorie miiSten bei Ausfall der Vestibularisfunktion StSrungen bestimmter Art auftreten. Wir haben Erscheinungen be- schreiben kSnnen, die durchaus den theoretischen Voruussetzungen ent- sprechen. Wenn dus Sehobjekt durch Ausfull der kompensatorischen Augenbewegungen und der langsamen Phasen nicht mehr festgehalten werden kann, entsteht ein Verschwimmen des Brides. Wenn durch Aus- fall des I~ystagmus das voriibergleitende Gesichtsfeld nicht in geniigend betichtete Einzelaufnahmen zerlegt wird, ~reten Scheinbevzegungen auf.

StSrungen der visuellen Wahrnehmung nach Vestibularisausfal]. 65

Einer besonderen Er5rterung bedarf noch das Problem kompen- satorischer Augenbewegungen nach Linearbeschleunigmngen. Die bei Gehbewegungen auftretenden, ja hier besonders ausgesprochenen Er- seheinungen legen es nahe, cinen Ausfall kompensatoriseher Augen- bewegungen auf Linearbeschleunigungen zu vermuten. Beim Gehen wird der KSrper, wie folgende Berechnung zeigen wird, erheblich in vertika]er l=Mchtung beschleunigt.

Bei Annahme tines sinusfSrmigen Verlaufes der Vertikalbeschleuni- gungen erhalten wit einen unteren Grenzwert der Beschleunigung.

Die Auslenkung des Sehwingungspunktes aus der Ruhelsge ist y ~ A sin cot (A Amplitude, e) Kreisfrequenz, t Zeit) ;

die Geschwindigkeit

y , dy =- -~- = A~ cos ~ot.

die Besehleunigung

d~Y Aeo ~ sin ~t t !

y - - dt ~ - -

Die Besehleunigung ist bei Durchgang durch die t~uhelage o, bei grSSter Aus- lenkung maximal. Bei maximaler Beschleunigung wird sin cot = 1.

Die Amplitude A kann mit 2 cm angesetzt werden, da der KSrper beim Gehen 4 em in vertikaler Richtung bewegt wird, die Frequenz mit 2 Hz. (Marsehtempo 120 in der Minute). Die Kreisfrequenz ~ ist 2~ [ (I = Frequenz).

Die Berechnung ergibt eine Besehleunigung von 315 em see -2 = rd. 1/3 g bei Annahme eines sinusfSrmigen Verlaufes der Gehbewegung. Da die Bewegungen in Wirklichkeit mehr ruekweise erfolgen, kann mR Werten yon �89 g gereehnet werden.

Es ist nicht ausgesehlossen, da$ beim Gehen auch kleine Drehbe- wegungen des Kopfes auftreten. Ob dureh reine Linearbesehleunigung die beobaehteten StSrungen der visuellen Wahrnehmung naeh Vesti- bularisausfall ausgelSst werden kSnnen, ist dutch weitere experimentelle Untersuchungen zu kl/~ren. Es kSnnte hierdurch endgfiltig entschieden werden, ob es tats/~ehlich beim Mensehen kompensatorisehe Augen- bewegungen nach Linearbesehleunigungen gibt.

I m ganzen hat man den Eindruck, da$ der labyrinth~r-okulKre l~eflexmeehanismus mit einer welt hSheren Feinheit und Pr~zision arbeitet, als das naeh den frfiheren tierexperimentellen Ergebnissen und den Beobaehtungen beim Menschen erwartet werden kSrmte. Die neueren Untersuehungen des Aktionspotentials haben indessen gezeigt, dalt der ~ffervus vestibularis als ,,Dauerl~ufer" (v. HoLsT) sieh ohne ~u$eren t~eiz im Zustand st/~ndiger Erregung befindet und daher keine Reizsehwelle und keine Adaption hat. Das darf wohl als Ausdruek st~ndiger Funk- tionsbereitschaft gedeutet werden.

Arch. Ohr.- usw. ]teilk. u. Z. llals- usw. lteilk,, Bd. 162. 5

66 A. M~:Y~.R z ~ GOTT~SBERG~: StSrungen der visueUen Wahrnehmung usw.

Zusammenfassung.

Xach beiderseitigem Funktionsausfalt des ~ervus vestibularis kSnnen eigenartige St6rungen der visuellen Wahrnehmung auftreten. Die StS- rungen bestehen in einer Bildunscharfe bei KSrper- oder Kopfbewe- gungen, seltener in Scheinbewegungen. tIalsrefiekt0rischer und opto- kinetischer Nystagmus k5nnen dabei erhalten sein. Objektiv lassen sich die beschriebenen StSrungen durch einen einfachen Schiittelversuch nachweisen. Leichte Schiittelbewegungen des Kopfes, die beim Normalen keine S t Stung der visuellen W~hrnehmung zur Folge haben, setzen in den beschriebenen Fallen yon Vestibularisausfall die Sehscharfe auf G/15 bis 6/20 herab.

Die beobachteten Erscheinungen zeigen an, dab normalerweise d e r labyrint, har-okulare Reflexmechanismus Scheinbewegungen der Sehdinge verhindert und die Bildscharfe bei Kopf- und KSrperbewegung sichert.

Die Beobachtung, dal~ die StSrungen der visuellen Wahrnehmung bei Gehbewegungen besonders ausgesprochen sind, l~l]t einen 'Ausfall kompensatorischer Augenbewegungen auf Linearbeschleunigungen ver- mnten. Berechnungen zeigen, dab der KSrper beim Gehen um Werte yon 1/a--1/2 g in vertikaler Richtung beschleunigt wi rd .

Literatur. DANDr: Surg. etc. 72, 421 (194I). - - ] ~ Z E L : Z. ttals-usw.Heflk. 21, 177

(1928). - - PASSow-Scv~AEFSRS Beitr, 28, 305 (1931).-- GRASS u. FA~CONI u. LSFFL]~R : �9 Streptomycin und Tuberkulose. Basel: Benno Schw~be 1948. --Practiea .oto- laryngolog. 10 (1948). GfdTTIC~: Neurologie des Ohrlabyrinthes. Leipzig 1944, S. 21. JACHO: Arch. Ohr- usw. I:[eilk~ 157, 292 (1950). - - HAmBURgER; ttYD~S U. KOCh: Arch. Ohr- usw. Heilk. 155, 667 (1949). - - SPIEGEL: Neurology of the Eye, Ear,, Nose and Throab Aufl. S. 94 1N'ew York: 1946.

ProL Dr. A. M~y~R zu-~ GOTTESBERGE, K~iln-Lindenburg, Hals-Nasem Ohren-Klinik.