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FORSCHUNGSARBEIT
Synästhetische Designansätze stärken die Bindung zwischen Nutzer und Produkt.
Hochschule Darmstadt
Fachbereich Media
Interactive Media Design
Wintersemester 2018/19
Nina Hanselmann
Matrikelnummer: 747458
betreut durch:
Andrea Krajewski
ABSTRACT
The aim of this research was to find out whether synaesthetic design approaches can strengthen
the bond between user and product. Therefore, the phenomenon of synaesthesia as well as tech-
niques of synaesthetic design were investigated on the basis of interviews, literature and Internet
research.
The results disprove the thesis due to insufficient studies. Moreover, they inspire the use of sensory
design concepts in order to make products easier to grasp, thereby increasing the acceptability of
these systems.
ZITIERSTIL UND LITERATURVERZEICHNIS
Zitiert wird nach den Richtlinien der American Psychological Association APA. Im Text befinden sich
direkte oder indirekte Zitate. Diese werden in runden Klammern mit dem Nachnamen des Autors,
der Jahreszahl und ggf. mit der Seitenzahl gekennzeichnet.
Indirektes Zitieren: Bei indirekten Zitaten werden die gelesenen Inhalte mit eigenen Worten zu-
sammengefasst. Dabei wird die Quelle mit dem Nachnamen der Autor/inn/en und der Jahreszahl
versehen.
z.B.: Haverkamp, 2018.
Direktes Zitieren: Wenn Textteile wortwörtlich aus der Quelle entnommen werden, wird neben
der Angabe des Nachnamens und der Quelle zusätzlich auch die Seite angegeben, auf der sich die
zitierte Textstelle befindet.
z.B.: Haverkamp, 2018, S. 25.
Das Literaturverzeichnis ist alphabetisch nach den Nachnamen der Autoren geordnet und befindet
sich wie folgt am Ende des Dokuments: Helmke, A. (2012). Unterrichtsqualität und Lehrerprofessiona-
lität. Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts (4. Aufl.). Bobingen: Klett.
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Die Abbildungsquellen stehen in Form indirekter Zitate unter den Abbildungen. Der Vermerk „In An-
lehnung an“ verweißt auf ein teilweise verändertes Original, „Eigene Darstellung“ auf eine Grafik der
Autorin.
ABKÜRZUNGEN
z.B. zum Beispiel Abb. Abbildung
Hrsg. Herausgeber vgl. vergleiche
ggf. gegebenenfalls evtl. eventuell
SYMBOLE
Hören Schmecken Riechen Fühlen Sehen
6
Abstract .................................................................................................................................................................. 3
Zitierstil und Literaturverzeichnis .................................................................................................................... 5
Abbildungsverzeichnis ........................................................................................................................................ 5
Abkürzungen ........................................................................................................................................................ 5
Symbole ................................................................................................................................................................. 5
Inhaltsverzeichnis ................................................................................................................................................ 6
Inhalt ....................................................................................................................................................................... 8
Motivation ..................................................................................................................................................... 8
Leitfrage ......................................................................................................................................................... 8
Abgrenzung .................................................................................................................................................. 9
Methode ........................................................................................................................................................ 9
Was ist ein Sinn? ................................................................................................................................................. 10
Besondere Sinne ......................................................................................................................................... 11
Konsens ......................................................................................................................................................... 11
Welche Bedeutung haben SInne? ................................................................................................................... 12
Wie werden Reize verarbeitet? ......................................................................................................................... 14
Was ist Synästhesie? ........................................................................................................................................... 15
Ausprägungen .............................................................................................................................................. 15
Die Fähigkeiten der Synästhetiker .......................................................................................................... 18
Synästhesie als erworbene Fähigkeit? ................................................................................................... 20
Wo hat Synästhesie ihren Ursprung? ............................................................................................................. 23
Ideasthesie nach Nikolić .................................................................................................................................... 23
Die synästhetischen Gene ........................................................................................................................ 24
INHALTSVERZEICHNIS
Inhaltsverzeichnis
7
Erlernte Synästhesie als Ergänzung für einen defekten Sinn ................................................................... 26
Synästhetisches Design ..................................................................................................................................... 27
Was ist synästhethisches Design? ........................................................................................................... 27
Techniken der synästhetischen Gestaltung ......................................................................................... 30
Die Zukunft des synästhetischen Designs .................................................................................................... 34
Synästhetische Ansätze beim Gestalten ........................................................................................................ 35
Vorteile ........................................................................................................................................................... 35
Nachteile........................................................................................................................................................ 37
Die Unwissenheit der Gestalter ....................................................................................................................... 38
Fazit ......................................................................................................................................................................... 39
Ausblick .................................................................................................................................................................. 41
Glossar ................................................................................................................................................................... 42
Literaturverzeichnis ............................................................................................................................................ 44
Abbildungsverzeichnis ........................................................................................................................................ 47
Eigenständigkeitserklärung ............................................................................................................................... 48
Archivierung .......................................................................................................................................................... 48
Gendererklärung ................................................................................................................................................. 49
Interviews .............................................................................................................................................................. 51
Ruth Regehly ................................................................................................................................................. 52
Michelle Zipplies .......................................................................................................................................... 56
Dr. Med. Caroline Eva Beier ...................................................................................................................... 58
Dr. med. Sigrun Imhäuser ......................................................................................................................... 60
Inhaltsverzeichnis
8
INHALT
MOTIVATION
Modernes Design zielt darauf ab, funktionell und besonders einfach bedienbar zu sein - dabei
wird das Verhältnis des Nutzers zum Produkt gestaltet, um eine möglichst optimale Interaktion zu
gewährleisten. Die Entwicklung der verschiedenen Produkteigenschaften, wie unter anderem Far-
be, Geruch und Haptik, erfolgt dabei meist in verschiedenen Teams, die unabhängig voneinander
arbeiten. Die strikte Trennung der Produktoptimierung für die Sinnesbereiche in parallel tätigen
Abteilungen verhindert jedoch oft die Entwicklung sinnesübergreifender Konzepte zur Stärkung
dieser Bindungen. (vgl. Haverkamp, M. (2009)) Dabei sind es gerade die sensuellen Erfahrungen,
die der Erfassung von Produkten dienen, weil sie die einzigen Kanäle sind, die dem Menschen zur
Wahrnehmung seiner Umwelt zur Verfügung stehen.
Hier stellt die Synästhesie Lösungsansätze bereit, wie Designer die Produkt-Nutzer-Verhältnisse
durch gezielte Gestaltung von multisensorischen Erlebnissen stärken.
LEITFRAGE
In dieser Forschungsarbeit wird die These „Ein synästhetischer Designansatz stärkt die Bindung
zwischen Nutzer und Produkt.” unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet und diskutiert.
Die Synästhesie beschreibt Menschen, deren besondere neurologische Veranlagung sie dazu be-
fähigt, Sinneseindrücke cross-sensuell wahrzunehmen. So werden beispielsweise Töne als Farben
oder Geschmäcker als Formen wahrgenommen, sodass sich als Folge eine andere Kategorisierung
von Dingen ergibt.
In Designprozessen, also der Entwicklung von Produkten von der Idee bis hin zum fertigen Produkt,
kann diese andere Ordnung der Wirklichkeit ein anderes kreatives Potential hervorrufen, sodass
Produkte von Nutzern besser angenommen werden. Außerdem erhöht die Einbeziehung meh-
rerer Sinne die Erlernbarbarkeit neuer Systeme, sodass die Akzeptanz dieser gesteigert wird. Die
Bindung beschreibt dabei den Umgang und das wechselseitige Verhältnis zwischen Produkt und
Nutzer. Also, welche sensuellen Kanäle ein Produkt ansprechen muss, damit es vom Nutzer ver-
standen und möglichst positiv angenommen wird.
Inhalt
9
ABGRENZUNG
Anzumerken ist, dass es sich bei dieser Arbeit nicht um die Erläuterung verschiedener Definitio-
nen, bzw. Arten von Design (-Begriffen/-Unterarten), Wahrnehmungen/Wahrnehmungspsycholo-
gie, neurologische Phänomene im Allgemeinen oder Lernprozessen handelt, sondern lediglich um
die tiefergehende Auseinandersetzung mit Synästhesie und synästhetischer Gestaltung. Die an-
gesprochenen Sinne beschränken sich dabei lediglich auf die menschlichen und deren erfassbare
Wirklichkeit. Auf die medizinischen Voraussetzungen und Zusammenhänge von Sinnen, Reizweiter-
leitung und des menschlichen Nervensystems wird ebenfalls nicht oder nur teilweise eingegangen.
Der Begriff des „konventionellen” Designs bezieht sich im Text deshalb auf alle Designprozesse, die
keinen gezielten synästhetischen Ansatz verfolgen, diesem jedoch zum Zwecke besserer Erfassung
des Produktes dienlich wäre. Es wird davon ausgegangen, dass als Voraussetzung die Nutzbarkeit
eines Produktes gegeben ist und alle Funktionen aufgabengerecht arbeiten, sodass lediglich die
sensuellen Erfahrungen diskutiert werden können.
METHODE
Zur Erörterung der These gibt die klassische Literatur Aufschluss über die menschlichen Sinne und
deren Funktionsweise, während die persönliche Kommunikation mit synästhetisch Begabten einen
subjektiven Eindruck des Phänomens gewährt. Es ist anzumerken, dass die geführten Interviews
dieses Dokuments aufgrund der geringen Anzahl nicht repräsentativ sind, aber Fachliteratur die
Individualität des Phänomens durch vergleichende Daten nicht vollständig erfassen kann.
Internetquellen werden außerdem herangezogen, um thesenspezifische Informationen über die
Synästhesie selbst und synästhetisches Design zu erhalten. Aufgrund neuer Erkenntnisse über die
Begabung ist die Literatur zum Teil überholt. Statistiken, die aufgrund der schwer erfassbaren Da-
ten nur unzureichend erhoben werden können, sind jedoch auch Teil dieses Dokumentes.
Inhalt
10
WAS IST EIN SINN?
Schon Wochen vor der Geburt bilden die Sinnesorgane die Schnittstelle zwischen der Umwelt und
dem eigenen Bewusstsein. Diese umfassen in der klassischen Physiologie die Wahrnehmung der
Nahsinne - Schmecken (gustatorische Modalität) und Fühlen (taktile Modalität), sowie die Fernsinne
- Hören (auditive Modalität), Sehen (visuelle Modalität) und Riechen (olfaktorische Modalität).
Fernsinne sind alle Wahrnehmungen, die der Körper nur über eine Schnittstelle erfassen kann.
Beim Hören etwa überträgt die Schnittstelle „Luft” Schallwellen auf das Trommelfell, wo sie erst
dann in hörbare Impulse übersetzt werden. (vgl. Linker, K. (2011, Mai))
Als Nahsinne werden alle Wahrnehmungsformen bezeichnet, die unmittelbar und ohne Schnitt-
stelle den Körper betreffen und verarbeitet werden.
Die Sinnesorgane für das Erfassen dieser Wahrnehmungen sind bei der Geburt zwar schon ange-
legt, die Vernetzung zum Gehirn jedoch reift erst mit der Zeit aus (vgl. Dr.med. Imhäuser, persön-
liche Kommunikation, 09. Oktober 2018). Es kann bis zu zwei Jahre dauern, bis sich die Vernetzung
optimal entwickelt hat.
Einen Großteil dieser Zeit benötigen die Sinne, welche nicht unbedingt zur Erfassung der Umwelt
dienen. (vgl. Lubbe, B. Dr. (o.D.)) Denn die Wahrnehmung beschränkt sich nicht immer nur auf äu-
ßerliche Reize. Die Propriozeption dient der Wahrnehmung des eigenen Körpers: Arm- und Bein-
bewegungen können dabei selbst mit geschlossenen Augen erfasst werden, sodass man sich blind
an die Nase fassen kann. Auch der Gleichgewichtssinn, der vestibuläre Sinn, findet seinen Ursprung
nicht unbedingt in der Umwelt. Er sorgt für das Erfassen von „oben” und „unten” - ebenfalls ohne
visuelle Orientierung. Das entsprechende Organ befindet sich im Innenohr und ist für die Körper-
balance, die räumliche Orientierung und die Augen- und Kopfbewegung zuständig.
Interessant dabei ist, dass unter anderem, der vestibuläre Sinn im Kleinkindalter noch nicht voll
ausgeprägt ist. Kommt es in den frühen Lebensjahren zu Wirbelblockaden, so hat dies, durch die
Seitenungleichheit der Informationsaufnahme, weitreichende Folgen. Es können Gleichgewichts-
probleme und Wahrnehmungsschwächen entstehen. (vgl. Lubbe, B. Dr. (o.D.))
Was ist ein Sinn?
11
BESONDERE SINNE
In der Haut befinden sich neben taktilen Rezeptoren auch diejenigen, welche für Schmerz oder
Temperatur verantwortlich sind. Sie werden deshalb in der modernen Physiologie unter den Be-
griffen Nozizeption und Thermorezeption als Sinne aufgeführt.
Eine Vielzahl an Rezeptoren für chemische Substanzen in Organen sind unter dem Begriff der visze-
ralen Sinne bekannt. Sie lassen uns zum Beispiel Hunger oder Durst spüren und geben uns ein Be-
wusstsein über unsere inneren Organe - auch wenn wir diese nicht immer bewusst wahrnehmen.
(vgl. Schönfelder, V. (2007, 02. März))
KONSENS
Egal um welchen Sinn es sich handelt, die Kausalkette eines Sinnes ist identisch. Um einen Sinnes-
reiz ((engl.) sensory stimulus; adäquater Reiz für ein Sinnesorgan) zu erfassen, wird dieser durch
die Aktivierung der Rezeptoren, in eine Erregung umgewandelt. (vgl. Dornblüth, O. (1994)) Diese
Erregung wird über Nervenbahnen an das jeweilige Sinneszentrum im Gehirn weitergeleitet, wo
sie letztendlich in eine Wahrnehmung verarbeitet wird. (vgl. Dornblüth, O. (1994)) Ein Sinn befähigt
einen Menschen also dazu, Reize wahrzunehmen.
Was ist ein Sinn?
12
WELCHE BEDEUTUNG HABEN SINNE?
Die Sinne bilden seit jeher die Schnittstelle zwischen der Umwelt und dem eigenen Körper - im Lau-
fe der Evolution haben die Sinne aber an Bedeutung verloren. Dienten sie in frühen Jahren noch als
überlebensnotwendiges Werkzeug, so sind sie heute ein nützliches Instrument der Wahrnehmung.
Trotzdem haben diese mehrere Funktionen, die dem Menschen ein Leben auf der Welt erst mög-
lich machen. Ohne die Wahrnehmung wäre ein Mensch nicht fähig, zu lernen und sich weiter zu
entwickeln. (vgl. Spielundlern (2017))
Schon während der Schwangerschaft werden über die Sinne die ersten Beziehungen geknüpft.
Über Bonding, dem Hautkontakt zwischen Mutter/Vater und Kind direkt nach der Geburt, wird
die Beziehung zwischen Eltern und Kind schnell vertieft. Der taktile Nahsinn ist dabei von großer
Bedeutung, weil das Kind die Nähe seiner Mutter spürt. Auch der Fernsinn des Geruchs vertieft
die Bindung durch unbewusst ablaufende Prozesse, weil auch Hormone vom Geruchssinn erfasst
werden können. Das Glückshormon Oxytocin wird beim Stillen von der Mutter über die Haut aus-
geschüttet und kann vom Baby unbewusst wahrgenommen werden und dieses beruhigen. (vgl.
Parncutt, R. (2006))
Während der ersten Lebensjahre wird durch die Körpersinne wie der Propriozeption oder dem
vestibulären Sinn dann Laufen gelernt, die Umwelt durch alle möglichen Sinne wie Schmecken,
Riechen, Sehen, Fühlen und Hören erforscht. Durch Ausprobieren, Testen und Prüfen von Gegen-
ständen werden Gegebenheiten der Umwelt solange zerlegt und immer wieder neu geordnet, bis
sich ein Sachverhalt oder ein Ding erschließt. Dank dieser sinnlichen Eindrücke eignen sich Men-
schen schon in jungen Jahren mentale Konzepte an die immer wieder, auch unbewusst, abgerufen
werden. (vgl. Spielundlern (2017))
Für die Einordnung und Bewertung verschiedener Sachverhalte oder Objekte sind die Sinne also
unabdingbar. Diese Lernprozesse, deren Stufen nicht übersprungen werden können, gestalten
somit allmählich die Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt. Weil jeder Mensch
jedoch seinen individuellen Wahrnehmungsprozess durchlebt, ergeben sich hierdurch individuelle
Wahrnehmungsmodelle. (vgl. Karolin, S. (2014, 28. Juni))
Sollten einer oder mehrere Sinne zur Wahrnehmung der Umwelt unterentwickelt sein oder fehlen,
kann das weitreichende Folgen haben. Zwar werden mangelnde Lern- und/oder Erfassungsprozes-
se durch andere Sinne kompensiert, jedoch nicht zur Genüge. Ein Fehlen des Hörsinns hat etwa
auch Auswirkung auf die sprachliche Entwicklung eines Kindes, auch wenn der Seh- oder Tast-
Welche Bedeutung haben Sinne?
13
sinn umso besser ausgebildet ist. Auch ein Abstumpfen des Tastsinns im hohen Alter oder durch
Diabetes kann nicht ohne Weiteres durch gutes Sehen oder Hören ersetzt werden. Das Wegfallen
des Geruchsinns beeinträchtigt sogar den Geschmacksinn und kann durch keinen der anderen
Wahrnehmungen ersetzt werden, auch unbewusst wahrgenommene chemische Signale im Geruch
eines anderen Menschen können nicht mehr zu erfasst werden. (vgl. Gebhardt, U. (2014)) Ein Feh-
len eines Wahrnehmungskanals bedeutet daher also auch das Fehlen einer Möglichkeit die Umwelt
in Gänze zu erfassen und zu interpretieren.
Welche Bedeutung haben Sinne?
14
WIE WERDEN REIZE VERARBEITET?
„Die Energieformen, mit denen wir als Menschen am häufigsten in Kontakt kommen, sind Licht
(elektromagnetische Energie), Klang (akustische Energie oder Klangwellen), Hitze (thermische Ener-
gie), Druck (mechanische oder physische Energie) und chemische Energie.” (Adam, C. (2017), S. 64).
Diese Energieformen müssen zunächst in eine für das Gehirn verständliche Sprache umgewandelt
werden, da dieses mit elektrochemischer Energie arbeitet. Im Körper sorgen deshalb zwei Arten
von Rezeptoren für die korrekte Übersetzung der Reize.
Die allgemeinen Rezeptoren sind überall im Körper anzutreffen und leiten Stimuli direkt als schwa-
ches elektrisches Signal den Sinnesnerven entlang direkt ans Gehirn. Die Weiterleitung erfolgt je-
doch nur dann, wenn ein bestimmtes Aktionspotential erreicht wird - also, wenn der Reiz stark
genug ist. Die Stärke variiert dabei von Mensch zu Mensch in einem bestimmten Normbereich,
was unter anderem für die Subjektivität von Wahrnehmungen verantwortlich ist. (vgl. Dr. Imhäuser,
persönliche Kommunikation, 11. Oktober 2018)
Die speziellen Rezeptoren sind nur an bestimmten Stellen im Körper zu finden und wandeln die
Energieformen der Umwelt zunächst in elektrische Energie um. Dazu gehören die Chemorezepto-
ren in Mund und Nase, Photorezeptoren in den Augen zur Wahrnehmung von Lichtreizen und Me-
chanorezeptoren in den Ohren, die Bewegung wahrnehmen können. (vgl. Fester Kratz, R., Siegfried
D. R.. (2009)). Danach erst erfolgt die Reizweiterleitung wie bei den allgemeinen Rezeptoren über
ein neuronales Signal über die Nervenbahnen ins Gehirn.
Ob ein Reiz schnell oder langsam verarbeitet wird, hängt davon ab, wie viele Synapsen, Schaltstellen
zwischen Nervenzellen, an der Reizweiterleitung beteiligt sind. Beim Geruchssinn ist die Reizweiter-
leitung besonders schnell, weil nur zwei Synapsen an der Übertragung beteiligt sind und diese eng
mit dem unbewusst arbeitenden Teil des Nervensystems zusammenhängen. Zum Vergleich: Für
Sprache sind neun Synapsen notwendig. Grund hierfür ist: Der Geruchssinn gehört zu den ältesten
Sinnen der Menschen und dient seit jeher dem Überleben - der Geruch verdorbener Nahrung wird
etwa von essbarer unterschieden oder löst unmittelbar Unwohlsein aus. Durch die enge Verbin-
dung von Geruchs- und Geschmackssinn kann auch die Speichelproduktion beim Wahrnehmen
angenehmer Gerüche unbewusst angeregt werden. (vgl. Deutscher Verband der Aromenindustrie
e.V. (o.D.))
Wie werden Reize verarbeitet?
15
Dass die Sinnesorgane nicht immer mit dem jeweilig richtigen Sinneszentrum im Gehirn verbunden
sein müssen, belegt das Phänomen der Synästhesie. Dr. Haverkamp, Gründungsmitglied der Syn-
ästhesie-Gesellschaft e.V., beschreibt die Begabung folgendermaßen: „Synästhesie ist eine Vermi-
schung von Sinnen, die Menschen seit Geburt an haben und dann das, was sie zum Beispiel hören
auch sehen [...]. [Es] ... ist praktisch die Fähigkeit die Welt nicht nur so eindimensional wahrzuneh-
men.” (Haverkamp, M. Dr. (o.D.)).
Tatsächlich kombinieren Synästhetiker, Menschen die über diese Begabung verfügen, einen Sinn
mit einem oder mehreren anderen. Daher auch der Name des Phänomens, der sich aus dem grie-
chischen „syn” für “zusammen” und „aisthesis” für „empfinden”, ableitet. (vgl. Deutsche Synästhe-
sie-Gesellschaft e.V., (o.D.))
Etwa 4.4% der Menschen besitzen diese Begabung, jedoch wird diese Zahl seit der Erforschung
dieses Phänomens stetig korrigiert. Sie schwankt seit 1885 (Simner & Carmichael nach Calkins,
1885) zwischen 1 von 4 und 1 von 25.000-100.000 Personen (Simner & Carmichael nach Cytowic,
1993,1997). (vgl. Simner, J. & Carmicheal, D. A. (2015)) Der Grund hierfür liegt in der Komplexität
der Sache selbst. Da Synästhesie angeboren ist, nicht zu lernen und zur alltäglichen Wahrnehmung
gehört, merken die meisten Betroffenen erst spät oder überhaupt nicht, dass sie über diese Be-
gabung verfügen. Die früheren Zahlen waren deshalb auch nicht aussagekräftig, weil Synästhetiker
selbst ihre Begabung für Hochrechnungen melden sollten.
Der Prozentsatz um 4.4% ist deshalb auf einen Versuch der Gehirnforscher Simner und Carmi-
chael zurückzuführen. Sie drehten die vorangegangenen Studien um und suchen ihrerseits die
Synästhetiker in einer großen Gruppe von Menschen mit Hilfe gezielter Tests. Das Ergebnis ist,
dass ungefähr 1 von 25 Menschen mindestens eine Form der Synästhesie besitzt. (vgl. Simner, J. &
Carmicheal, D. A. (2015))
AUSPRÄGUNGEN
Synästhesie hat etwas mit der zufälligen Verknüpfung von verschiedenen Sinneszentren durch Ner-
venzellen zu tun. Da der Mensch über etwa 86 Milliarden Nervenenden im Gehirn verfügt liegt auf
der Hand, dass die Ausprägungen der Begabung sehr vielfältig und vor allem auch subjektiv sind
(vgl. TEDGlobal 2013. (2013, Juni)) Momentan sind mindestens 80 verschiedene Ausprägungen be-
kannt, die sich in drei Unterarten aufteilen lassen, die fließend ineinander übergehen. Nur zwei der
WAS IST SYNÄSTHESIE?
Was ist Synästhesie?
16
Was ist Synästhesie?
Unterarten werden hier vorgestellt, da sich bei der Dritten auch Forscher nicht einig sind, ob es sich
dabei tatsächlich um eine Art von Synästhesie handelt. (vgl. Day S. A. (o.D.))
Abb 1:
Prozentsätze der Häufigkeit bestimmter Synästhesien
SYNÄSTHESIE PROZENTSATZ
Grapheme → Sehen 61,26
SYNÄSTHESIE
Grapheme → Sehen
Zeiteinheiten → Sehen
Musikalische Klänge → Sehen
Geräusche → Sehen
Musiknoten → Sehen
Phoneme → Sehen
Persönlichkeiten → Geschmäcker
Gerüche → Sehen
Geschmäcker → Sehen
Schmerz → Geschmäcker
0,00 25,00 50,00 75,00 100,00
5,43
5,78
6,13
6,49
7,54
7,80
16,21
18,05
22,96
61,26
1
Prozentsätze der 10 häufigsten synästhetischen Ausprägungen. Die Beschreibungen links beziehen sich auf die Kopplungen der Wahrnehmungen, z.B: Grapheme lösen zusätzliche visuelle Wahrnehmungen aus oder Geschmä-cker besitzen Persönlichkeiten. (In Anlehnung an Day S. A. (o.D.))
Bei der genuinen Synästhesie ruft ein äußerlicher Reiz eine synästhetische Wahrnehmung hervor,
dabei löst ein Sinnesreiz gleichzeitig einen oder mehrere andere aus, wie zum Beispiel während des
Farbensehens beim Hören von Tönen. Diese Kategorie der Wahrnehmung ist unmittelbar, spontan,
nicht beeinfluss- oder erlernbar.
Wenn eine synästhetische Wahrnehmung nicht direkt von einem anderen Sinn, sondern aufgrund
eines Gefühls entsteht, spricht man von Gefühlssynästhesie. Sie tritt auf, wenn nicht der semanti-
sche Wert der Wahrnehmung vor dem inneren Auge abgebildet wird, sondern die eigenen emotio-
nalen Gefühlszustände. Dadurch ist diese Form der Begabung nicht immer gleich und hängt stark
von den Lebensumständen der jeweiligen Person ab. (vgl. Wipperfürth, S. (2011))
Eine der häufigsten Synästhesien ist die Graphem-Farb Synästhesie. Hierbei erscheinen Zahlen
und Buchstaben, egal in welcher tatsächlichen Farbe sie gedruckt sind, farbig. Ein schwarzes „A” auf
weißem Papier wird beispielsweise grün wahrgenommen. Das tut es auch, wenn derselbe Buch-
stabe in rot oder blau gedruckt ist. „Es wirkt sogar ein bisschen „falsch”, wenn die Colorierung nicht
stimmt.”, so Frau Regehly (persönliche Kommunikation, 10. Oktober 2018). Ihre 3 sei rosa, während
17
Abb 2: Neurotypische Sicht von Buchstaben und Zahlen. (Eigene Darstellung)
Abb 3: Buchstaben aus Sicht eines Graphem-Farb Synästhetiker. (Eigene Darstellung)
A B C
A B CWas ist Synästhesie?
17
18
die 7 ockerfarben ist. Es ist jedoch festzuhalten dass, auch wenn zwei Menschen über dieselbe syn-
ästhetische Begabung verfügen, diese nicht gleich ausgeprägt sein muss. Die Farben, welche die
Lettern oder Zahlen annehmen sind nicht identisch. Vielmehr sind die Colorierungen immer unter-
schiedlich, zufällig und nicht beeinflussbar. „Teilweise ist die Farbe nicht einmal richtig benennbar,
weil sie, durch Gefühle beeinflusst, einen Ton annimmt, der nicht in der normalen Farbskala ver-
treten ist.”, sagt Frau Regehly (persönliche Kommunikation, 10. Oktober 2018).
Weitere Ausprägungen der Fähigkeit sind unter anderem das „Ticker-Tape”, bei dem gehörte Worte
wie bei einem Nachrichtenticker niedergeschrieben, vor dem inneren Auge erscheinen oder die
Sequenz-Raum Synästhesie. Letztere zählt wie die graphemen Synästhesien zu den häufiger auftre-
tenden und erlaubt es den Begabten, Zeitintervalle graphisch zu ordnen. Die mentalen Visualisie-
rungen werden dabei etwa in einer Ellipse angeordnet und können auch in einen größeren Kontext
gestellt werden. Eine Woche wird so etwa in ein Jahr eingeordnet.
DIE FÄHIGKEITEN DER SYNÄSTHETIKER
Die Lieblingsbeschäftigung des menschlichen Gehirns ist, Dinge in Schubladen einzuordnen, diese
bei Bedarf zu öffnen und wieder zu schließen. So werden Situationen in „gefährlich” oder „nicht-ge-
fährlich” unterteilt oder „Tier” von „Mensch” unterschieden. In einer sich schnell verändernden Welt
wird dadurch die Informationslast durch unbewusste Sortierung reduziert. (vgl. Lech, R. K., Güntür-
kün, O. & Suchan, B. (2016)) Beim Sortieren gibt es zwei Strategien um Dinge korrekt einzuordnen:
die Ausnahme-Strategie und die Prototyp-Strategie. Um zu wissen, ob eine Pflanze in die Schublade
der „Blumen” passt, werden signifikante Merkmale mit bereits bekannten Inhalten der Schublade
verglichen. Hat das Original bunte Blütenblätter und einen Stiel? Wenn das der Fall ist, stimmt das
Original „Blume” mit dem Prototyp „Pflanze” überein und wird als solche identifiziert. Würde die
Blume jedoch nicht mit den bereits bekannten Eigenschaften von Pflanzen übereinstimmen, so
hätte die Ausnahme-Strategie gegriffen: Das Original wäre so lange mit ähnlich aussehenden Proto-
typen verglichen worden, bis eine maximale Ähnlichkeit gefunden wird und das Original identifiziert
werden kann. (vgl. Kalus, A. (2016, 20. Juli)) Gerade Synästhetiker besitzen mehr als die üblichen
„Schubladen”, um Informationen zu ordnen. Je nach Begabung werden Lebensmittel etwa in Farb-
kategorien oder Töne in Formkategorien unterteilt. Die Schubladen sind somit viel individueller und
Was ist Synästhesie?
19
Was ist Synästhesie?
bedienen sich ihrer eigenen Logik. „In dieser schnelllebigen Welt hilft mir die Synästhesie die Dinge
ein bisschen zu ordnen. Das ist irgendwie beruhigend.”, sagt auch Frau Regehly (persönliche Kom-
munikation, 10. Oktober 2018). Sie betont aber, dass es manchen Begabten, die über außergewöhn-
lich viele Synästhesien verfügen, nicht immer ganz leicht fällt so viele Sinneseindrücke zu verarbei-
ten. Und tatsächlich ist eine Reizüberflutung manchmal nicht auszuschließen, da mit der Fähigkeit
auch Hochsensibilität, Aufmerksamkeitsstörungen und räumliche Orientierungsschwierigkeiten
einhergehen können. Oft neigen diese Menschen auch zu Hochbegabungen oder erhöhter Kreati-
vität. (vgl. Deutsche Synästhesie-Gesellschaft e.V., (o.D.)) Beides sind Vorteile die sich vor Allem im
Privatleben, in kreativen Berufen und Hobbys bemerkbar machen. Ihre PIN-Nummer notiert sich
Ruth Regehly beispielsweise mit ihrem persönlichen Farb-Code. (persönliche Kommunikation, 10.
Oktober 2018) Oder es entstehen Bilder aus gemalten Tönen oder umgekehrt Musik, die gut aus-
sieht. Die auditiv-visuelle Begabung kann sogar bei der Stimmbildung helfen. Töne können an die
richtige Farbe angepasst werden, wenn die Tonhöhe die wahrgenommene Farbe beeinflusst. Ein
falscher roter Ton” wird dabei etwa an einen eher lilafarbigen angepasst.
Manche Menschen mit dieser Fähigkeit können sich hierdurch auch Dinge besser einprägen, denn
die Vernetzung der verschiedenen Sinne kann den Lernprozess positiv beeinflussen. Dies ist jedoch
nicht die Regel und geht nicht zwangsläufig mit der Synästhesie einher. In diesem Dokument wird
jedoch nicht weiter auf verschiedene Lerntheorien eingegangen.
Synästhesie hat auch seine Schattenseiten. Frau Regehly berichtet beispielsweise über einen Hör-
sturz diesen Jahres und den Tinnitus, den sie dadurch bekommt. Tinnitus ist ein unangenehmes
Ohrgeräusch, das verschiedene Ausprägungen haben kann und sie seitdem begleitet. Als Therapie-
möglichkeit wird ihr ein Gerät empfohlen, welches die Geräusche des Tinnitus durch beruhigende
Schalleindrücke überdecken soll. Durch ihre Synästhesie nimmt sie jedoch nicht nur die Töne des
Gerätes wahr, sondern sieht nun auch permanent „grauen Schaum” vor ihrem inneren Auge und
fühlt haptisch eine gewisse Rauhigkeit damit einhergehen. Sie entschließt sich daraufhin dazu, ih-
ren Tinnitus so zu malen wie er ist - sie kann sich somit selber helfen und auf das Gerät verzichten.
(Frau Regehly, persönliche Kommunikation, 10. Oktober 2018).
Generell ist zu sagen, dass Synästhetiker nicht alles als gegeben ansehen, sondern leichter zulas-
sen können, dass andere Menschen ihre eigene Wahrheit kennen - gerade weil jede Ausprägung
der Begabung so verschieden und subjektiv ist. Annie Dickinson hält dazu in ihrem TED-Talk fest:
„Another’s viewpoint, while different, is equally true and real” (Dickinson, A. [TEDx Talks](2017, 15.
August)). Vielleicht ist es gerade diese Sicht auf die Welt und der offene Umgang mit anderen Men-
20
schen, welche die Synästhetiker überdurchschnittlich sensibel und einfühlsam macht. (vgl. Freu-
wört, E. (2004))
SYNÄSTHESIE ALS ERWORBENE FÄHIGKEIT?
Lange Zeit nimmt man an, dass die Ursachen von Synästhesie allein in einer besonderen Vernet-
zung der Nervenzellen im Gehirn liegen. Der Beweis zu dieser Theorie fehlt jedoch, wodurch diese
zwischenzeitlich ins Wanken geriet. Das Phänomen tritt in verschiedenen Versuchen nämlich auch
kontextabhängig und übertragbar auf neu Erlerntes auf. (vgl. Nikolić, D., Jürgens U.,M. (2011))
Um der Synästhesie auf den Grund zu gehen, testen Nikolić und Jürgens 2009 die Graphem-Farb Syn-
ästhesie mittels unbekannter Schriftzeichen. Dabei werden Synästhetiker eine ihnen unbekannte, je-
doch nicht allzu komplexe Zeichenschrift, schwarz auf weiß, vorgelegt. Erstaunlicherweise erscheinen
den Synästhetiker die Zeichen zu Anfang genau in dieser Farbe - schwarz. Als nun aber jedes Zeichen
einem lateinischen Buchstaben zugeordnet und einzelne Buchstaben eines Wortes mit diesen ver-
tauscht wird, fällt eine Sache auf: Die Zeichen nehmen die jeweilige Farbe ihres lateinischen pendants
an. Wenn der Buchstabe in der lateinischen Schriftform rot ist und dieser durch das jeweilige Schrift-
zeichen ersetzt wird, nimmt auch dieses eine rote Färbung an. Sie müssen daher annehmen, dass
diese Assoziationen auf neu Erlerntes anwendbar sind. (vgl. Nikolić, D., Jürgens U.,M. (2011))
Abb 4: oben: Ein Symbol wird einem lateinischen Buchstaben zugeordnet. Mitte: Semantik des Symbols wird gelernt. Unten: Symbol wird in alltäglichen Worten verwendet. (In Anlehnung an Nikolić, D., Jürgens U.,M. (2011))
Was ist Synästhesie?
21
Über das Phänomen der verschiedenen Schriftzeichen berichtet auch Ruth Regehly (persönliche Kom-
munikation, 10 Oktober 2018), die sich die altdeutsche Frakturschrift selbst beigebracht hat. Zunächst
sind die Buchstaben nur vereinzelt bunt, später beinahe alle. Es komme bei den Farben auf die Form
der Buchstaben an, nicht auf deren Klang, beschreibt sie und fügt hinzu, dass jedoch das große „A” ein
bisschen anders gefärbt ist. Die Farbwahrnehmung trete nicht bei Schriftzeichen auf, die sie nicht kennt.
Es fehle ihr auch die Erinnerung daran, wie sie Buchstaben wahrgenommen hat, bevor sie anfing lesen
zu lernen.
Auch die Forschergruppe um Mike Dixon von der University of Waterloo führen 2011 einen Versuch mit
Graphem-FarbSynästhetiker durch. Dixon und sein Team finden heraus, dass eine Abstrahierung des
Buchstabens „s” in verschiedenen Kontexten andere Farbwahrnehmungen bei Synästhetiker hervor-
rufen (Nikolić & Jürgens nach Dixon). (vgl. Nikolić, D., Jürgens U.,M. (2011))
Abb 5: links: der Buchstabe „S“ im semantischen Kontext von Buchstaben, rechts: die „5“ im semantischen Kontext von Zahlen. (In Anlehnung an Nikolić, D., Jürgens U.,M. (2011))
Das Phänomen ist nicht nur bei Graphem-FarbSynästhetiker zu beobachten: Britische Forscher zeigen
Wort-Geschmack Synästhetiker Bilder von seltenen Pflanzen oder Tieren und bitten sie, diese zu benen-
nen. Noch bevor sie einen Namen für das gezeigte Objekt fanden, haben sie bereits einen Geschmack
im Mund. Das Wort liegt ihnen also sprichwörtlich „auf der Zunge”. „Die Forscher schließen daraus, dass
Was ist Synästhesie?
22
die Wortbedeutung und nicht etwa der Klang die gekoppelte Wahrnehmung auslöst.” (Wenn Worte
schmecken. (2017)).
Da man zu dieser Zeit noch von einer festen Verdrahtung von Nervenenden im Gehirn ausgeht, war
das ein echtes Novum: Wie kann es sein, dass das Gehirn trotz allem so flexibel auf verschiedene
oder neue Reize, gleich oder erst nach Erlernen reagiert?
Danko Nikolitc, Gehirnforscher unter Anderem am Max-Planck Institut, stellt daraufhin folgende
These auf: „Womöglich ist die enge Verdrahtung zwischen den sensorischen Hirnregionen [...] nicht
Ursache der Synästhesie, sondern deren Folge!” (Nikolić, D., Jürgens U.,M. (2011)).
Gemeint ist, dass die Synästhesie der „Verdrahtung” voraus geht und sich Nervenbahnen intensiver
ausprägen, je mehr jemand seine Fähigkeit anwendet. Solche, sehr intensiv gelernten Verknüpfun-
gen, sind dann auch mit Hilfe von Magnetresonanztomographien sichtbar. (vgl. Nikolić, D., Jürgens
U.,M. (2011))
Gemeint ist, dass die Synästhesie der „Verdrahtung” voraus geht und sich Nervenbahnen intensiver
ausprägen, je mehr jemand seine Fähigkeit anwendet. Solche, sehr intensiv gelernten Verknüpfun-
gen, sind dann auch mit Hilfe von Magnetresonanztomographien sichtbar.
Was ist Synästhesie?
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WO HAT SYNÄSTHESIE IHREN URSPRUNG?
IDEASTHESIE NACH NIKOLIĆ
Die Ideasthesie von Nikolić beschäftigt sich mit der Theorie, dass die Synästhesie nicht auf ein sen-
sorisch-sensorisches Phänomen zurückzuführen ist. Vielmehr ist es ein semantisch-sensorisches,
welches entsteht, wenn Wahrnehmungen in einen Kontext gestellt werden.
Zu Grunde liegt dieser Theorie, dass die menschlichen Sinne und mentalen Konzepte nicht getrennt
voneinander betrachtet werden dürfen. Es ist vielmehr die Verbindung beider Wahrnehmungen,
die eine Erfahrung ausmachen. Sieht man beispielsweise einen Baum, wird dieser im Gehirn nicht
wie üblich direkt dem mentalen Prototyp zugeordnet. Synästhetiker würden zusätzlich auch das
übergeordnete sensuelle Konzept aufrufen: Der Baum hat also nicht nur Blätter und einen Stamm,
sondern ist auch grün & braun, oben rund & unten zylinderförmig und riecht nach Holz. All diese
sensuellen Wahrnehmungen können aber auch Eigenschaften anderer Konzepte/Prototypen sein.
Grün ist etwa auch im Konzept von Gemüse enthalten, während runde Formen auch mit harmoni-
schen Klängen verbunden sein können. Nikolić zufolge läge der Synästhesie dadurch eine gewisse
Logik zugrunde, die auch bei Neurotypen in anderer Ausprägung zu finden ist. (vgl. Nikolić, D. (o.D.))
Er belegt seine These mit Versuchen, die ähnlich zu denen im Abschnitt „Synästhesie als erworbene
Fähigkeit?” beschriebenen sind.
Abb 6: Ideasthetische Darstellung der synästhetischen Wahrnehmung. (In Anlehnung an Nikolić, D. (o.D.))
Wo hat Synästhesie ihren Ursprung?
24
Nikolić beschäftigt sich während seiner Studien aber auch mit der Frage, warum ausgerechnet die
graphemen und zeitlichen Synästhesien so häufig auftreten. Diese genuinen Formen der Synäs-
thesie machen sich schon in der Kindheit bemerkbar und bleiben dann ein Leben lang bestehen.
Er findet heraus, dass das Konzept der Sprache und Buchstaben, sowie der Zeit, ein abstraktes
Konstrukt ist, welches in diesem Entwicklungsstadium erst gelernt wird. Um diese Dinge zu ler-
nen, muss eine Brücke zwischen der kindlich-sensorischen Weltentdeckung und der abstrakten
„Erwachsenenwelt” geschlagen werden. So muss etwa das Konzept eines Wochentages begriffen
werden, der nicht mit einer sinnlichen Erfahrung von Kleinkindern erklärbar ist.
Da dieser Prozess eine hohe kognitive Belastung darstellt, können Kleinkinder nach Nikolić in ein
semantisches Vakuum geraten. Um dieses zu füllen und sich neu Gelerntes zu erklären, werden
den mentalen Erfahrungen unbewusst, sinnliche hinzugefügt. Ein Dienstag fühlt sich dann gege-
benenfalls eckig an oder einzelne Lettern haben unterschiedliche Farben. (vgl. Mroczko-Wąsowicz,
A.,Nikolić, D. (2014))
Nicht nur Synästhetiker ist dieses Phänomen bekannt, auch neurotypische Menschen nutzen es
etwa bei Metaphern. Selbst wenn es nicht logisch ist, werden weiße Laken oft mit Schnee vergli-
chen, nur weil beide dieselbe Eigenschaft „weiß” verbindet. Im künstlerischen Bereich wird die Ver-
mischung von Konzepten ebenfalls angewendet, um so eine Melodie perfekt auf einen emotionalen
Liedtext abzustimmen.
Die Ideasthesie ist nach Nikolić also kein rein synästhetisches Konzept, sondern ein allgemein be-
kanntes Phänomen, das in jedem steckt. Der Unterschied ist lediglich, dass Synästhetiker Informa-
tionen von anderen, übergeordneten Konzepten aus anderen Wahrnehmungsgebieten mit den
tatsächlichen Sinneseindrücken mischen. (vgl. Nikolić, D., Jürgens U. M. (o.D.))
DIE SYNÄSTHETISCHEN GENE
Neueste Studien von 2018 stehen der Theorie von Nikolić teilweise entgegen. Sie belegen, dass der
Ursprung von Synästhesie in den Genen liegt und sogar vererbt werden kann. Hierzu wurden drei
Familien, bei denen eine Klangfarbensynästhesie (auditorisch-visuell) über drei oder mehr Genera-
tionen zu Tage trat, auf ihre genetische Veranlagung getestet.
Die Analysen ergaben 37 Gene, die an der veränderten Wahrnehmung beteiligt sind und mit der
Bildung von Nervenenden in Verbindung gebracht werden. Sechs davon (Col4A1, ITGA2, MYO10,
ROBO3, SLC9A6 und SLIT2) sind besonders spannend. Während sich die Nervenenden bis zum
Wo hat Synästhesie ihren Ursprung?
25
zweiten Lebensjahr vollständig ausbilden, sorgen diese Gene dafür, dass sich diese mit unter-
schiedlichen Sinneszentren verbinden. Nicht nur mit den jeweiligen „richtigen”. (vgl. Tilot A. K., Kuce-
ra K., S., Vino A., Asher J., E., Baron-Cohen S. & Fisher S., E. (2018))
So sind die Sinnesorgane wie bei neurotypischen Menschen zwar gleich angelegt und haben diesel-
be Funktion, es bilden sich die Nervenenden dieser Organe jedoch anders aus. Sie verknüpfen sich
auch mit Hirnregionen anderer Sinnesorgane und nehmen Reize deshalb mit zwei verschiedenen
Sinnen gleichzeitig auf. (vgl. detector.fm (Produzent). (2018, 08. Juni))
Der Ursprung der Synästhesie scheint also in den Genen gefunden und biologisch bewiesen zu
sein. Rouw und Scholte vermuten also schon acht Jahre zuvor, 2010, zurecht: „Synesthesia is a “real”
[sic] phenomenon, and is not related to any psychological, neurological, or psychiatric disease”1
(Rouw R. & Scholte S. H. nach Baron-Cohen et al., 1987 & Rich et al., 2005). (vgl. Rouw R. & Scholte
S. H. (2010) S. 1)
Anregung
Die beiden Theorien von Nikolić und der Forschergruppe um Rouw und Scholte schließen sich je-
doch gegenseitig nicht aus. Vielmehr könnte eine komplexe Verbindung beider Theorien Ursprung
der Synästhesie sein, in der die Gene den „Ausbruch” des Phänomens begünstigen, während die
Ideasthesie die Fähigkeit an sich darstellt mentale Konzepte zu nutzen. Grund hierfür könnte sein,
dass „[m]it dieser Studie ... immer noch nicht alles erklärt werden” kann, so Carina Fron von der
Max-Planck-Gesellschaft (detector.fm (Produzent). (2018, 08. Juni)).
1 zu deutsch: Synästhesie ist ein „echtes” Phänomen, und steht nicht im Zusammenhang mit irgendwelchen psychologi-schen, neurologischen oder psychiatrischen Erkrankungen
Wo hat Synästhesie ihren Ursprung?
26
ERLERNTE SYNÄSTHESIE ALS ERGÄNZUNG FÜR EINEN DEFEKTEN SINN
Erlernte Synästhesie als Ergänzung für einen defekten Sinn
Dass Synästhesie auch adaptierbar ist, zeigt Neil Harbisson. Der selbsternannte Cyborg ist von
Geburt an komplett farbenblind, sodass er lediglich schwarz, weiß und Grautöne in erkennt; Sein
Erfindungsreichtum bringt ihn auf eine Idee: Um Farben wahrnehmen zu können, wandelt er Far-
ben in Töne um und gibt sich diese per Bone-Conduction aus, dazu lässt er sich eine Weiterent-
wicklung seiner ersten Prototypen in den Kopf implantieren. Eine Antenne, die nun fest mit seinem
Schädelknochen verwachsen ist, mündet in einer kleinen Kamera vor seinem Gesicht, nimmt im
Sekundentakt Bilder seiner Umwelt auf und übersetzt diese in bestimmte Töne. Während er an-
fangs noch jeden einzelne Tonfrequenz, sowie dessen Bedeutung lernen muss, wird die auditiven
Farb-Informationen später automatisch Teil seiner Wahrnehmung. Es bedarf keiner wissentlichen
Übersetzung mehr, im Gegenteil: Die Wahrnehmung kehrt sich sogar um und lässt ihn bei alltäg-
lichen Geräuschen Farben assoziieren. Er beginnt sogar Gefühle für die Farben zu entwickeln, hat
Lieblingsfarben und träumt sogar davon, obwohl er noch nie in seinem Leben eine einzige Farbe
wahrgenommen hat.
Harbisson lebt schon über zehn Jahre mit seiner Erfindung und kennt nicht nur die für Menschen
sichtbare Farbpalette. Er sieht zusätzlich Infrarot und Ultraviolett, was ihm vor allem im Sommer
einen kleinen Vorteil verschafft. (vgl. TEDGlobal 2012. (2012, Juni))
Auch blinde Menschen lernen einen anderen Sinn zur Orientierung zu verwenden. Durch „aktive
bildgebende Echoortung”, dem Echosonar wird die Umgebung über sogenanntes „Klicksonar” ab-
getastet. Aus dem zurück geworfenen, hörbaren Echo eines Schnalzens mit der Zunge können im
visuellen Kortex dreidimensionale Bilder entstehen, die zur Interpretation der Umgebung dienen.
(vgl. Klicksonar (aktive bildgebende Echoortung). (o.D.))
Interessant ist, dass nach dem Lernprozess die Übersetzungen verinnerlicht werden, so sehr, dass
Informationen ohne nachzudenken abgerufen werden können. Das widerspricht im Wesentlichen
der Auffassung, dass Synästhesie nicht gelernt werden kann, weil die verknüpften Informationen
auch wieder verlernt werden, wenn sie nicht regelmäßig trainiert werden.
Im Gegensatz zur angeborenen Synästhesie lässt sich diese Form jedoch auch abschalten oder
schlichtweg nicht benutzen. Die Betroffenen haben bei Geräuschen nicht stetig die daraus resul-
tierende Übersetzung im Kopf, während es bei Synästhetiker ein unbewusstes Abrufen von ver-
knüpften Informationen ist.
27
SYNÄSTHETISCHES DESIGN
Synästhetisches Design
WAS IST SYNÄSTHETHISCHES DESIGN?
Im Design geht es grundsätzlich darum, Beziehungen zwischen Nutzer und Produkt zu gestalten.
Eine Art Verbindung herzustellen, welche durch die Zufriedenstellung des Nutzers über die Er-
füllung seiner Erwartungen entsteht. (vgl. Norman, D. (2013)) Dabei werden verschiedenste Para-
meter, wie demographische oder persönliche Hintergründe, einer Zielgruppe analysiert, in einen
Kontext gestellt und ausgewertet, sodass am Ende ein Konzept zur Lösung eines zielgruppenspe-
zifischen Problemes erstellt werden kann. Mentale Modelle spielen bei der Lösung eines solchen
Problems eine entscheidende Rolle, weil Nutzungsmodelle von Dingen aus dem realen Leben auf
digitale Systeme übertragen werden. Je natürlicher und intuitiver die Bedienung eines Produktes
dann ist, desto positiver ist der Umgang mit diesem, was wiederum die Bindung an das Produkt
stärkt. (vgl. Wigdor D., Wixon, D. (2011))
Im diesem Prinzip der Natural User Interfaces spielen auch die Sinne eine große Rolle. Interaktio-
nen werden nicht nur eindimensional über einen Sinn, wie es bei visuellen Screens der Fall ist, ge-
staltet, sondern auch multisensorisch.
Synästhetisches Design zählt zwar in die Kategorie der Natural User Interfaces, geht aber einen
Schritt weiter. Es zielt nicht nur darauf ab, multisensorische Erlebnisse zu generieren, sondern ver-
feinert diese zur cross-sensuellen Wahrnehmung, um ein harmonisches Ganzes zu gestalten. Die
Sinne werden also nicht nur miteinander kombiniert, sondern aufeinander abgestimmt, synästhe-
tisch gemacht. Die taktile Erwartung an eine Oberflächenstruktur muss sich zum Beispiel mit den
visuellen Reizen, die diese sendet und deren Funktion decken. Ein reines taktiles Feedback reicht
also nicht mehr aus.
28
Abb 7: multisensorisches Design und cross-sensorische Harmonisierung. (In Anlehnung an Haverkamp, M. Dr. (2015, 16.-19. Mai))
„When touching it, does it sound what it feels like or does it feel what it looks like?”1 (Haverkamp, M. Dr.
(2015, 16.-19. Mai)). Ist das nicht der Fall, so können intuitiv Rückschlüsse auf die Qualität des Material
gezogen werden, die das positive Gefühl gegenüber des Produktes unbewusst beeinflussen können.
(vgl. Haverkamp, M. Dr. (2015, 16.-19. Mai)).
Dieses Wahrnehmen und Fühlen geschieht in Bruchteilen von Sekunden, in denen das Gehirn die Pro-
dukteigenschaften durch die sensuelle Aufnahme von Informationen interpretiert, mit bekannten Mus-
tern vergleicht und in Schubladen einordnet (siehe Kapitel „Die Fähigkeiten der Synästhetiker“). Das
synästhetische Design nutzt genau dieses Phänomen der Wahrnehmung. Denn je mehr Sinne durch
ein Produkt angesprochen werden, desto mehr Kanäle stehen einem Nutzer zur Verfügung die Qualität
desselben einzuordnen. Und je besser diese neuen und bekannten Muster zusammenpassen, desto
besser ist auch der Zugang des Menschen zum Objekt und desto höher ist das Vertrauen in das Pro-
dukt selber. „If senses other than vision are additionally involved, the emotional involvement of the
potential customer is intensified.”2 (Haverkamp, M. Dr. (2015, 16.-19. Mai).
1 zu deutsch: Wenn man es anfässt, hört es sich so an, wie es sich anfühlt oder wie es aussieht?
2 zu deutsch: Sind zusätzlich andere Sinne als das Sehen beteiligt, wird die emotionale Beteiligung des potenziellen Kunden intensiviert.
Synästhetisches Design
29
Beim synästhetischen Gestalten werden daher nicht nur die Dinge gestaltet, die der Nutzer bewusst
wahrnimmt, sondern auch die Dinge, die er unbewusst wahrnehmen könnte. (vgl. Haverkamp, M. Dr.
(o.D.)) Denn von Objekten gehen immer mehrere sensorische Reize aus, die intuitiv vom Nutzer er-
fasst werden und ein bestimmtes Gefühl zur Folge haben. Dieses Gefühl wird wiederum auf das Objekt
übertragen, wodurch es zu einer Beeinflussung der Akzeptanz des Produktes durch den Menschen
kommen kann.
Abb 8: Wahrnehmungsprozess eines Objektes. (Eigene Darstellung)
Michael Haverkamp schreibt dazu in seinem Buch „Synaesthetic Design Handbook for a multisensory
Approach”: „It is the aim of synaesthetic design to coordinate all sensations stimulated by an object in a
manner that results in a pleasant, harmonious overall appearance while coinciding with the particular
function(s) desired.”3 (Haverkamp, M. Dr. (2013), S. 14).
3 zu deutsch: Ziel des synästhetischen Designs ist es, alle von einem Objekt angeregten Empfindungen so zu koordinieren, dass ein angenehmes, harmonisches Gesamtbild entsteht, das mit der/den gewünschten Funktion(en) übereinstimmt.
Synästhetisches Design
30
TECHNIKEN DER SYNÄSTHETISCHEN GESTALTUNG
Zu den typischen Instrumenten des „konventionellen” Designprozesses gehören ethnographische
Forschung, Nutzer/Nutzungsstories, Usability-Tests, Gruppen- oder Einzelinterviews, Einschätzung
des Wettbewerbspotentials und Crowdsourcing von Verbraucherfeedback. Diese qualitativen Tech-
niken liefern zwar sehr wertvolle Erkenntnisse, liefern aber keine spezifische Einschätzung darüber,
wie die haptischen und wahrnehmungssensorischen Fähigkeiten des Menschen Informationen ver-
arbeiten und welche Reaktionen darauf folgen. (vgl. Bryce Rutter (2017))
Im konventionellen Design werden daher verschiedene sensorische Erlebnisse meist unabhängig
voneinander gestaltet und finden erst spät im Designprozess zusammen, wo sie aufeinander ab-
gestimmt werden. Diese separate Entwicklung von, zum Beispiel auditiven und optischen Reizen,
könnte eine unsaubere Abstimmung aufeinander zur Folge haben. Eine davon wäre, dass die un-
bewusst wahrgenommene Unstimmigkeit die bewusst wahrgenommene Qualität eines Produktes
herabstuft. „Overall, it becomes clear that isolated optimization of the features of each modality be-
ars the risk of cross-sensory misalignment and perceptual conflicts which highly degrade perceived
product quality.”4 (Haverkamp, M. Dr. (2015, 16.-19. Mai) S. 5).
Die synästhetische Gestaltung konzentriert sich deshalb auf Strategien, wie verschiedene Sinnes-
wahrnehmungen miteinander verknüpft werden können und wie diese sich als Teil eines Produk-
tes materialisieren lassen. Denn die cross-sensuelle Wahrnehmung ist kein rein synästhetisches
Phänomen. Haverkamp bemerkt dazu in seinem Buch „Synaesthetic Design: A handbook for a mul-
tisensory design approach” , dass nicht nur genuine Synästhetiker (siehe Kapitel „Ausprägungen“)
über eine Form der cross-sensuellen Wahrnehmung verfügen. Auch bei neurotypischen Menschen
ist diese Fähigkeit veranlagt - sie wird aber durch die multisensorische Wahrnehmung simuliert.
Grund hierfür ist, dass beim Erfassen eines Objektes nicht nur ein Wahrnehmungsmechanismus
angewendet wird, sondern mehrere. Um diese auch im Designprozess nutzen zu können, studiert
Haverkamp deshalb die verschiedenen Mechanismen und stuft sie in fünf Klassen ein: die mathe-
matisch/physikalische Verbindung (oder auch die bewusste Verknüpfung), die genuine Synästhesie,
intermodale Analogien, konkrete Assoziationen, sowie Symbole & Metaphern. (vgl. Haverkamp, M.
Dr. (2013))
4 zu deutsch: Insgesamt wird deutlich, dass eine isolierte Optimierung der Merkmale jeder Modalität das Risiko von sen-sorischen Fehlausrichtungen und Wahrnehmungskonflikten birgt, die die wahrgenommene Produktqualität stark be-einträchtigen.
Synästhetisches Design
31
Abb 9: links: „konventioneller“ Designansatz, rechts: Synästetischer Designansatz. (In Anlehnung an Haverkamp, M. Dr.
(2009))
Die ersten zwei der Klassen, die mathematisch/physikalische Verbindung und die der genuinen
Synästhesie spielen jedoch für den Designprozess selbst eine untergeordnete Rolle.
Zugrunde liegt der mathematisch/physikalischen Verbindung ein bewusstes Verknüpfen von Infor-
mationen, also ein gezieltes Lernen und Abrufen von bestimmten Sachverhalten, die einer intuitiven
Nutzung eines Produktes klar entgegenstehen. Auch die genuine Form dieser Art von Synästhesie
eignet sich nicht zur Gestaltung, da diese Form der Wahrnehmung nicht sehr verbreitet ist und zu-
dem noch schwer verständlich ist für diejenigen, die sie nicht haben. Beide Wahrnehmungsmecha-
nismen bedürfen also eines hohen kognitiven Aufwandes seitens der Nutzer. Es wird daher ledig-
lich auf die drei anderen, intuitiven Formen der Wahrnehmungsmechanismen näher eingegangen,
die fließend ineinander übergehen können. Zu bemerken ist, dass jeder einzelne Mechanismus,
in jedem menschlichen Sinn vorkommen kann - sie sind nicht nur auf den visuellen oder auditiven
Sinn beschränkt. (vgl. Haverkamp, M. (2013))
Synästhetisches Design
32
Intermodale Analogien
Der Begriff der intermodalen Analogien setzt sich zusammen aus „intermodal” für die Wechsel-
beziehungen zwischen den Sinnen und „Analogien” für die Attribute, die sich dabei gleichen. Es
beschreibt also die Fähigkeit Beziehungen zwischen Sinnen herzustellen, um bestimmte Objekte
identifizieren zu können - zum Beispiel durch Farb-Ton Korrelationen. Ein rauer Klang ist etwa die
Analogie einer rauen Oberfläche, Düfte erinnern an einen bestimmten Geschmack. Auch Töne,
deren Klang mit bestimmten Farben oder Formen in Verbindung gebracht werden, sind Analogien.
Dabei wird etwa ein tiefer, warmer Klang mit Erdfarben beschrieben und als eher rundlich empfun-
den, während schrille hohe Töne eckig und hell wirken.
Dieses Wahrnehmungsphänomen ist immer spontan und kontextbasiert ist - es kann außerdem je
nach Person individuell interpretiert werden. (vgl. Strötgen, S. (2012))
Abb 10: subjektive intermodale Analogien der Autorin. (Eigene Darstellung)
Konkrete Assoziationen
Die Wahrnehmung eines Objektes aufgrund von Sinnesreizen ruft ein konkretes Bild im Kopf des
Menschen wach. Ohne ein herunterfallendes Objekt zu sehen, kann das Geräusch des Aufpralls
beispielsweise Aufschluss auf dessen Beschaffenheit und Größe geben. Im Gegensatz zu intermo-
dalen Analogien ist diese Form der Wahrnehmung nicht nur intermodal oder kontextabhängig. Sie
erfordert immer das gelernte Wissen um den Zusammenhang von Sinnesreizen und dem damit
Synästhetisches Design
33
verbundenen mentalen Quellbild. In Hörspielen sind solche konkreten Assoziationen oft zu finden,
da sie die Geschichte durch auditive Klangimitationen untermalen und dadurch die Phantasie der
Zuhörer anregen. (vgl. Haverkamp, M. (2013))
Symbole & Metaphern
Symbole und Metaphern setzen die spezifische Kenntnis ihrer Bedeutung voraus. Um dieses Wis-
sen zu generieren, können die Strategien der anderen Wahrnehmungsmechanismen genutzt wer-
den. Ist die Bedeutung einmal gelernt, kann sie intuitiv abgerufen werden. Etwa, wenn eine Sirene
in Verbindung mit Blaulicht auf eine Gefahrensituation hindeutet oder wenn ein Notenschlüssel die
Tonlage von Noten vorgibt.
Dabei beschränken sich Symbole nicht nur auf bildhafte Elemente denen eine bestimmte Bedeu-
tung innewohnt, auch das Produkt oder eine Eigenschaft desselben kann einen symbolischen Cha-
rakter besitzen. Eine Nationalhymne ist zum Beispiel nicht nur Musik, vielmehr repräsentiert sie
audio-symbolisch ein ganzes Land und erzeugt beim gemeinsamen Singen im Stadion ein Gemein-
schaftsgefühl. (vgl. Haverkamp, M. (2013))
_______________
Grundsätzlich ist bei allen intuitiven Mechanismen zu beachten, dass es sich bei der Wahrnehmung
um etwas Subjektives handelt. Der Nutzung der drei Strategien geht immer die Erkenntnis voraus,
wie wahrnehmungsbezogene Designmerkmale von spezifischen Nutzern erfasst werden und wel-
che Reaktionen diese auf jede der individuellen Sinneseindrücke haben. Die Erkenntnisse können
aus verschiedenen Tests hervorgehen, bei denen Nutzer mit sensuellen Testreizen interagieren,
die anschließend bewertet werden.
Die positiv bewerteten Designattribute werden dann frühestmöglich in den Designprozess einge-
bunden, um verschiedene Gestaltungsmerkmale parallel zu entwickeln, sodass ein harmonisches
Ganzes entsteht . Nur so kann sichergestellt werden, dass positive Gefühle beim Nutzer entstehen,
was wiederum die Akzeptanz des Produkts steigert. (vgl. Bryce Rutter (2017))
34
DIE ZUKUNFT DES SYNÄSTHETISCHEN DESIGNS
In Zukunft ist zu erwarten, dass synästhetisches Design noch persönlicher wird. Vor allem die Indi-
vidualität wird eine große Rolle spielen, wenn es darum geht multisensorische Erlebnisse zu gene-
rieren, gerade weil die Wahrnehmungen von Mensch zu Mensch variieren.
Durch diese Subjektivität der Sinneswahrnehmung rückt auch die Inklusion immer mehr in den Fo-
kus des synästhetischen Gestaltens. Menschen, denen ein oder mehrere Sinne fehlen - etwa durch
Blindheit oder Taubheit - werden in besonderem Maße in das Design mit eingebunden, sodass eine
Behinderung durch andere sensuelle Wahrnehmungen kompensiert werden kann. Die Techniken
von Michael Haverkamp (siehe Kapitel „Techniken der synästhetischen Gestaltung“) sind dabei von
großer Bedeutung und haben Einfluss auf die Bindung zwischen Objekt/Produkt und Mensch.
Zusätzlich zu den „konventionellen” Gestaltungsmethoden die durch Sehen, Hören und Fühlen er-
fassbar werden, rücken zukünftig auch „ungewöhnliche” Sinne für das Gestalten in den Fokus. Das
Schmecken und Riechen etwa wird gegenwärtig eher seltener verwendet, um die Bindung zwischen
Produkt und Nutzer zu stärken. Beide Sinne dienen dem Menschen jedoch ebenfalls dazu, Ein-
drücke von der Umwelt zu verarbeiten. Gerüche gelangen ohne „Filter” direkt ins Gehirn, wo die
Interpretation derselben unmittelbar stattfindet. Durch die enge Verknüpfung dieser Sinne (siehe
Kapitel „Wie werden Reize verarbeitet?“), tritt der Geschmackssinn ebenso in den Fokus synästheti-
scher Designvorgänge. Denn Geschmäcker werden teilweise vom Geruchssinn ergänzt oder sogar
ersetzt - er kann eine Einschätzung über Art, Zustand und Schmackhaftigkeit eines Lebensmittels
geben.
Generell sollen in Zukunft aber nur die Sinne bewusst angesprochen werden, die der Nutzer auch
wirklich erfassen soll. „It must be the goal of contemporary design to achieve a maximum of conclu-
sive perceptual quality with a minimum of sensory stimuli.”1 (vgl. Haverkamp, M. (2013))
1 zu deutsch: Es muss das Ziel des zeitgenössischen Designs sein, ein Maximum an schlüssiger Wahrnehmungsqualität mit einem Minimum an Sinnesreize zu erreichen.
Die Zukunft des synästhetisches Designs
35
SYNÄSTHETISCHE ANSÄTZE BEIM GESTALTEN
VORTEILE
Genuine Synästhetiker haben grundsätzlich einen anderen Bezug zu ihren Sinnen. Wie unter „Die
Fähigkeit der Synästhetiker” beschrieben, ist nicht nur die Wahrnehmung bestimmter Sinnesein-
drücke eine andere, auch die Art wie diese verarbeitet werden und welche „Schubladen” damit
befüllt werden können ist besonders. Diese Art zu denken und Informationen anders zu ordnen
kann auch in Designprozessen neue Wege aufzeigen, wie Produkteigenschaften von Nutzergrup-
pen leichter erfasst und verarbeitet werden können. Synästhetiker haben durch das Phänomen
die Möglichkeit, sich vieler verschiedener sensueller Konzepte zu bedienen. Hierdurch ergibt sich
automatisch eine andere Art, bzw. Erweiterung der Strukturierung verschiedener Eindrücke zum
Beispiel unter der Kategorie „Gelb”: der Geschmack von Brokkoli ist beispielsweise gelb, genauso
wie die Farbe der Zahl 5 und ein Ton in C-Moll. Für die Erfassung neuer, unbekannter Informationen
stehen also viel mehr Kanäle zur Verfügung diese Eindrücke einzuordnen, weil diese nicht nur über
einen Sinn interpretiert werden. Für neurotypische Menschen ist die Verbindung mancher Elemen-
te nicht nachvollziehbar und mag deshalb besonders kreativ erscheinen.
Ob diese Verbindungen kreativ oder veranlagt sind, liegt auf Grund der Ursachen von Synästhesie
(siehe Kapitel „Wo hat Synästhesie ihren Ursprung?“) jedoch im Auge des Betrachters. Ruth Regehly,
selbst Betroffene, hält dazu fest, dass Synästhesie nicht künstlerisch oder kreativ ist, sondern eine
andere Ebene der Wirklichkeit. (persönliche Kommunikation, 10. Oktober)
Diese andere, synästhetische Wirklichkeit kann in Designprozessen schon früh adaptiert werden
um andere, sensuelle Lösungen für Produktfunktionen zu entwerfen. Die Bedienung kann dabei
intuitiver und unmittelbarer gestaltet werden, weil der Lernprozess über mehrere Sinne erfolgt und
Erfahrungen auch wahrnehmungsübergreifend genutzt werden können. Dabei ist die Synästhesie,
mit ihren sensuellen Konzepten und der anderen Ordnung der Dinge ein gutes Vorbild für die Er-
lernbarkeit eines Systems. Das heißt, im Sinne intermodaler Analogien (siehe Kapitel „Techniken der
synästhetischen Gestaltung“) werden mentale Modelle eines Sinnes auf einen anderen übertragen
und Informationen somit besser begreifbar gemacht. Auch konkrete Assoziationen dienen einem
Nutzer dazu, ein Produkt, Eigenschaften oder Funktionen besser einzuordnen. Eine Assoziation
erfolgt nur dann, wenn die vergleichbare Wahrnehmung zuvor mit irgendeinem Sinn gelernt wurde.
Wenn dieser Vergleich fehlt, muss das neue Designattribut erst verstanden werden, wodurch die
Akzeptanz des Nutzers gegenüber des Produktes sinken kann.
Synästhetische Ansätze beim Gestalten
36
Bei den multisensorischen Lerntheorien können aber auch synästhetische Ansätze beim Lernen
von neuen Funktionen nützlich sein. Nicht immer kann sichergestellt werden, dass Nutzer ihre Er-
fahrung zum Erfassen von Produkten anwenden können. Studienergebnisse Leipziger Forscher des
Jahres 2015 bestätigen, dass das Gehirn leichter lernt, wenn mehrere Sinne parallel angesprochen
werden. In der Studie lernen Probanden „Vimmi”, eine Kunstsprache, und verknüpfen zunächst
unbekannte, komplexe Substantive mit Bildern und deren Wortklang. Danach werden die Worte in
der Luft nachgemalt oder durch Gesten ausgedrückt, um das Ansprechen möglichst vieler Sinne
zu gewährleisten. Das Ergebnis der Studie belegt, dass Probanden sich am Besten an einen Begriff
erinnern, wenn Informationen aus verschiedenen Sinnesorganen miteinander assoziiert werden.
Die Sinneseindrücke sollten jedoch im Idealfall zusammen passen: ein Apfel wird etwa mit dem
Geschmack, dem Aussehen und der Form desselben in Verbindung gebracht.
Die Forscher belegen auch, dass das menschliche Gehirn fehlende sinnliche Informationen eigen-
ständig simuliert - telefoniert man beispielsweise mit einer bekannten Person, werden nicht nur
die auditiven Informationen abgerufen, sondern auch die Person selber ins Gedächtnis geru-
fen. Sogar die Gehirnregionen, die für die Gesichtserkennung zuständig sind, werden aktiv. (vgl.
Max-Planck-Gesellschaft (2015)) Dieses Phänomen ist auch auf die sinnliche Erfahrung von Produk-
ten übertragbar. Fehlt dem Nutzer eine sinnliche Erfahrung, weil das Produkt nicht gewährleistet,
dass ein Mensch diese erfassen kann, so simuliert das Gehirn unbewusst die fehlenden Wahr-
nehmungskanäle. Das kann dazu führen, dass falsche Rückschlüsse auf Qualität oder Funktions-
weise verschiedener Designattribute gezogen werden, die wiederum die Akzeptanz des Produktes
seitens des Nutzers beeinträchtigen. Durch synästhetische Ansätze haben Designer jedoch schon
früh die Möglichkeit, sinnliche Erfahrung von Produktmerkmalen parallel zu entwickeln, um auch
wahrnehmungsbezogene Lücken zu schließen.
Synästhetische Designansätze steigern aber nicht nur die Erfassbarkeit eines Systems, sondern
erfüllen auch sensuelle Erwartungen des Nutzers: Wenn sich eine Fläche beispielsweise genauso
rau anfühlt, wie sie aussieht, gleicht die sensuelle Erwartung der tatsächlichen Empfindung. Ist das
nicht der Fall, so können auch hier Rückschlüsse auf das Produkt selber gezogen werden, was die
Bindung zwischen Produkt und Nutzer negativ beeinflussen kann.
Synästhetische Ansätze beim Gestalten
37
NACHTEILE
Festzuhalten ist, dass die Synästhesie Gestaltern zwar zu anderen kreativen Lösungen inspirieren
kann, diese sich aber trotz allem nach neurotypischen Standards richten müssen - sofern dies die
Zielgruppe ist. Wenn Töne auf Farben abgestimmt werden, könnte die synästhetische der neuro-
typischen Wahrnehmung entgegenstehen. Die Kombination einer bestimmten Farbe mit dessen
„auditiven Partner”, macht im Kopf eines Menschen mit dem Phänomen etwa Sinn, während die
Verbindung für neurotypische Menschen nicht ersichtlich ist - und umgekehrt. Spezifische Gestal-
tungsmerkmale müssen deshalb stets durch Nutzerfeedback genau überprüft und koordiniert wer-
den.
Synästhetische Gestaltungsansätze setzen die genaue Kenntnis der Nutzergruppe eines Produktes
unabdinglich voraus. Dabei darf sich die genaue Untersuchung der nutzerspezifischen Informatio-
nen jedoch nicht nur auf demographische, familiäre oder persönliche Hintergründe beschränken,
sondern auch auf sensuelle Empfindungen. Diese können jedoch sehr individuell ausfallen, deshalb
müssen die Erkenntnisse aus Nutzertests zum Leidwesen der synästhetischen Gestaltung wieder
vereinheitlicht werden. Das heißt, es muss ein Querschnitt, eine Art einheitliches Muster für eine
Vielzahl an Nutzern gemacht werden, um Eigenschaften von Designattributen zu entwickeln. Eine
Antwort darauf könnte sein, Nutzergruppen spezifisch zu unterteilen, damit individuellere Lösun-
gen generiert werden können. Die Unterteilung würde dann nach sensuellen Empfindungen er-
folgen, was die Individualität der einheitlichen Muster steigern könnte. Im Endeffekt bleiben die
Querschnitte jedoch erhalten, sodass momentan noch keine 100%ige synästhetische Individualität
möglich ist.
Michael Haverkamp schreibt dazu in seinem Buch „Synaestetic Design Handbook for a multisenso-
ry approach”, dass es aber in Zukunft das Ziel sei möglichst individuell zu gestalten. (vgl. Haverkamp,
M. (2013))
Darüber hinaus muss gesagt sein, dass nicht bei jedem Design ein synästhetischer Ansatz von nut-
zen sein muss, weil diese Art der Gestaltung nicht für alle Produktarten sinnvoll ist - Der Einsatz von
synästhetischen Ansätzen bei Industrierobotern wäre beispielsweise nicht notwendig.
Synästhetische Ansätze beim Gestalten
38
DIE UNWISSENHEIT DER GESTALTER
Synästhetisches Design wird nicht immer gezielt unter diesem Namen genutzt, um Nutzererlebnisse so
intuitiv wie möglich zu gestalten. Gestalter arbeiten teilweise unbewusst mit synästhetischen Ansätzen,
wissen das jedoch nicht. Denn wie unter „Techniken der synästhetischen Gestaltung” beschrieben spielen
Symbole, mentale Modelle, Assoziationen und Analogien dabei eine große Rolle. Auch Haverkamp hält
dazu fest: „Remarkably, the perception of shapes of sound is not limited to people who experience genui-
ne synaesthetic phenomena.”1 (Haverkamp, M. (2015, 16.-19. Mai))
Oft sind diese synästhetischen Verknüpfungen Teil des kreativen Arbeitsprozesses und werden instinktiv
genutzt. Die Formalästhetik beschäftigt sich beispielsweise mit der Übersetzung von bildleeren Adjektiven
wie “„leicht” oder „vertrauensvoll” in Formen. (vgl. Raasch, K. (2018)) Auch die Farbenlehre setzt sich mit der
Übersetzung von Farben in Emotionen oder Bedeutungen auseinander. Rot steht je nach Kontext unter
anderem für Gefahr oder Liebe und wird als „warm” empfunden. Blau hingegen repräsentiert Kälte oder
Klarheit und wird im technischen Kontext gerne für E-Autos verwendet. (vgl. Böhm, C. (2017))
Es werden aber nicht nur visuelle Verknüpfungen genutzt, sondern zum Beispiel auch auditive, wie bei der
Gestaltung von Motorgeräuschen bei Autos. Der Klang kann Aufschluss auf den Motor geben oder auch
auf andere charakteristische Eigenschaften des Vehikels hindeuten. (vgl. Dr. Haverkamp, M. (2015, 16.-19.
Mai))
Der iterative Prozess des Design Thinkings hilft vor allem Gestaltern dabei solche mentalen Modelle oder
(emotionale) Reaktionen gegenüber verschiedener Designattribute zu sammeln. Indem diese sich wie
im konventionellen Designprozess (siehe Kapitel „Techniken der synästhetischen Gestaltung“) gezielt mit
einer Zielgruppe auseinandersetzen, aber auch wahrnehmungsbezogene Designmerkmale von Produk-
ten testen, kann ein Gestalter sich sein eigenes, breites Repertoir von Konzepten aneignen. Durch wie-
derholtes Anwenden dieses Repertoires bei iterativen Prozessen einer Produktentwicklung, wird dieses
verfeinert und erweitert. Ausschlaggebend ist hierbei vor allem das Feedback von potentiellen Nutzern.
Auf Grund dieser Lernprozesse wird das kreative und damit auch synästhetische Bewusstsein eines Ge-
stalters geschult. (vgl. Raasch, K. (2018))
Designer haben also die Gabe mentale Modelle und sensuelle Konzepte von Nutzern als Teil eines Pro-
duktes zu materialisieren. Dabei sind sie in der Lage ihre gelernte synästhetische Wahrnehmung in den
kreativen Arbeitsprozess einzubringen.
1 zu deutsch: Bemerkenswert ist, dass die Wahrnehmung von Klangformen nicht auf Menschen beschränkt ist, die echte synästhetische Phänomene erleben.
Die Unwissenheit der Gestalter
39
FAZIT
In dieser Forschungsarbeit wurde die These „Synästhetische Designansätze stärken die Bindung zwi-
schen Nutzer und Produkt” behandelt. Die Thematik der Sinne und der Synästhesie ist dabei eingehend
betrachtet worden, um die Bedeutsamkeit sensueller Erfahrungen im Bezug auf Design einordnen zu
können.
Die Ergebnisse zeigen, dass die sinnliche Wahrnehmung dem Menschen zum Erfassen und Interpre-
tieren von Eindrücken seiner Umwelt dient. Die verschiedenen Wahrnehmungskanäle kombinieren die
Sinneseindrücke dabei zu mentalen Konzepten, welche bei der Einordnung neuer Eindrücke abgerufen
und mit dem Neuen verglichen werden. Synästhetisches Design greift auf diese gelernten Muster zu-
rück, sodass Produkte leichter erfasst und bewertet werden können. Auch mentale Konzepte werden
intermodal auf andere Sinne übertragen, sodass die Erlernbarkeit eines Systems gesteigert wird.
Die Entwicklung verschiedener sensueller Produkteigenschaften findet im Gegensatz zu „konventionel-
len” Designprozessen nicht getrennt voneinander statt, sondern konzentriert sich auf sinnesübergrei-
fende Konzepte, die zur Befriedigung von Nutzererwartungen angewendet werden. Deshalb folgt die
Implementierung synästhetischer Ansätze schon früh in Designprozessen und setzt die genaue Kennt-
nis voraus, wie Nutzer wahrnehmungsspezifische Desigattribute verarbeiten. Ein individuelles Eingehen
auf einzelne Nutzer ist momentan jedoch noch nicht möglich, weshalb sich aus den Nutzertest wieder-
um nur eine Durchschnittswahrnehmung ableiten lässt. Während der Entwicklung eines Produktes kann
die Synästhesie selbst jedoch zur Findung von kreativen Lösungen für komplexe Probleme beitragen.
Zur vollständigen Bewertung der These fehlen jedoch eindeutige Statistiken, ob synästhetische Ansätze
tatsächlich die Annehmbarkeit von Systemen seitens des Nutzers steigern. Es liegen keine eindeutigen
Ergebnisse vor, dass die frühe, aufeinander abgestimmte Entwicklung sensueller Parameter in Design-
prozessen die Akzeptanz von Produkten steigert oder eine späte Abstimmung dieselbe Wirkung erzielt.
Demnach kann die These, dass synästhetische Designansätze die Bindung zwischen Nutzer und Pro-
dukt steigern nicht bestätigt werden.
Um aber herauszufinden, ob synästhetisches Design die Bindung stärkt, könnte man vergleichsweise
Versuche durchführen, deren Ziel es ist ein bestimmtes Problem zu lösen. Die herangehensweise wür-
de getrennt voneinander über den „konventionellen” und den synästhetischen Designansatz erfolgen,
an deren Ende jeweils ein Produkt steht. Nutzertests mit den Endprodukten beider Designprozesse
würden dann aufschluss über die Annehmbarkeit beider Systeme geben und so eindeutig die These
bestätigen oder widerlegen.
Fazit
40
AUSBLICK
Die Implementierung synästhetischer Designansätze kann in vielen Gestaltungsbereiche möglich
sein, weil alles, was der Mensch wahrnimmt, über seine Sinne erfolgt. Herauszufinden ist jedoch,
in welchem dieser Bereiche die Wahrnehmung von besonderer Bedeutung ist und wo eine Einbin-
dung dieser Ansätze besonders sinnvoll wäre.
Überlegenswert ist, ob synästhetische Denkansätze zur Kompensation eines fehlenden Sinnes in-
teressante Lösungen bieten können. Wie bei Harbisson (siehe Kapitel „Erlernte Synästhesie als
Ergänzung für einen defekten Sinn“) würde dann etwa eine körperliche Einschränkung wie die Far-
benblindheit ausgeglichen oder teilweise kompensiert werden können.
Auch Bereiche, in denen Lernmethoden zum Trainieren oder (neu-) Erwerben sinnlicher Fähig-
keiten, wie Sprachtherapien, nach Schlaganfällen oder Krebs eingesetzt werden, könnten von Be-
deutung sein.
Die Synästhesie kann durch ihre Vielfältigkeit einen anderen Zugang und eine andere Sicht auf die
menschlichen Sinne ermöglichen. Dadurch ist es in Zukunft möglich sensibler, individueller und
barrierefreier zu gestalten.
Ausblick
41
42
GLOSSAR
Bone-conduction
Auch: Knochenleittechnik. Über die Schädelknochen werden Schallschwingungen, auf das Innen-
ohr übertragen und somit hörbar gemacht.
cross-sensorisch
Wahrnehmungen, die nicht aus der Kombination verschiedener Sinne (siehe multisensorisch),
sondern aus deren Verbindung untereinander entstehen sind cross-sensorisch.
Designattribut
Eine Eigenschaft oder eine Charakteristik eines Produktes - zum Beispiel Farbe, Form, Geruch
oder Geschmack.
genuine Synästhesie
„echte” Synästhesie. Bezeichnet die Fähigkeit der Mitreizung eines Sinnes, bei Reizung eines ande-
ren. (siehe Kapitel „Was ist Synästhesie?“)
Grapheme
Eine Kombination von Buchstaben die einen Laut abbilden wie „ck“ für „k“ oder „sch“.
Graphem-Farb Synästhesie
Bezieht sich auf die Fähigkeit verschiedene, aber immer gleich bleibende Farben, beim Anschauen
von bekannten Ziffern oder Buchstaben auf diese zu Projizieren.
iterativ
„sich wiederholend”
iterativer Designprozess
Produktentwicklung, bei der ein Prozessschritt so lange getestet wird, bis eine zufriedenstellende
Lösung gefunden wird. Erst auf dieser Basis erfolgt dann ein weiterer Schritt.
mentales Modell
Eine Ansammlung von Annahmen, wie ein System funktioniert. Diese gründen sich unter anderem
aus Erfahrung, Lernen oder Erziehung.
multisensorisch
Verschiedene Sinneseindrücke verbinden sich dabei zu einer Wahrnehmung.
Glossar
43
Natural User Interface
Mentale Modelle von Interaktionen aus dem realen Leben werden auf digitale Systeme übertra-
gen. Das ermöglicht eine natürliche, intuitive und unmittelbare Nutzung dieser.
neurotypisch
Menschen, deren angeborene neurologische Entwicklung nicht von der Norm abweicht.
Phoneme
Unterschiedliche Lautbildung gleicher oder ähnlicher Buchstaben, die die Wortbedeutung ändern,
wie p/b in „Bein” oder „Pein”.
Ticker-Tape Synästhesie
Menschen mit dieser Begabung sehen gesprochene Worte geschrieben vor ihrem inneren Auge,
wie bei einem Nachrichten-„Ticker”.
Tinnitus
Wenn unangenehme Ohrgeräusche, wie Pfeifen, Zischen oder Brummen anhaltend oder immer
wieder über einen längeren Zeitraum auftreten.
Glossar
44
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ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Abbildungsverzeichnis
Abb 1: Prozentsätze der 10 häufigsten synästhetischen Ausprägungen. Die Beschreibungen links beziehen sich auf die Kopplungen der Wahrnehmungen, z.B: Grapheme lösen zusätzliche visuelle Wahrnehmungen aus oder Geschmäcker besitzen Persönlichkeiten. (In Anlehnung an Day S. A. (o.D.)) ......................................................................................................................................................16
Abb 2: Neurotypische Sicht von Buchstaben und Zahlen. (Eigene Darstellung) ................................................................................17
Abb 3: Buchstaben aus Sicht eines Graphem-Farb Synästhetiker. (Eigene Darstellung) .................................................................17
Abb 4: oben: Ein Symbol wird einem lateinischen Buchstaben zugeordnet. Mitte: Semantik des Symbols wird gelernt. Unten: Symbol wird in alltäglichen Worten verwendet. (In Anlehnung an Nikolić, D., Jürgens U.,M. (2011)) .................20
Abb 5: links: der Buchstabe „S“ im semantischen Kontext von Buchstaben, rechts: die „5“ im semanti-schen Kontext von Zahlen. (In Anlehnung an Nikolić, D., Jürgens U.,M. (2011)) ......................................................................21
Abb 6: Ideasthetische Darstellung der synästhetischen Wahrnehmung. (In Anlehnung an Nikolić, D. (o.D.)) ............................23
Abb 7: multisensorisches Design und cross-sensorische Harmonisierung. (In Anlehnung an Haver-kamp, M. Dr. (2015, 16.-19. Mai)) ......................................................................................................................................................28
Abb 8: Wahrnehmungsprozess eines Objektes. (Eigene Darstellung) ..................................................................................................29
Abb 9: links: „konventioneller“ Designansatz, rechts: Synästetischer Designansatz. (In Anlehnung an Haverkamp, M. Dr.(2009)) ...................................................................................................................................................................31
Abb 10: subjektive intermodale Analogien der Autorin. (Eigene Darstellung) ....................................................................................32
48
EIGENSTÄNDIGKEITSERKLÄRUNG
ARCHIVIERUNG
Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig erstellt und keine anderen als die an-
gegebenen Hilfsmittel und Quellen verwendet habe. Soweit ich auf fremde Materialien, Texte oder
Gedankengänge zurückgegriffen habe, enthalten meine Ausführungen vollständige und eindeutige
Verweise auf die Urheber und Quellen. Alle weiteren Inhalte der vorgelegten Arbeit stammen von
mir im urheberrechtlichen Sinn, soweit keine Verweise und Zitate erfolgen. Mir ist bekannt, dass ein
Täuschungsversuch vorliegt, wenn die vorstehende Erklärung sich als unrichtig erweist.
Mit der Archivierung der gedruckten Abschlussarbeit in der Bibliothek bin ich einverstanden.
Ort, Datum
________________________________________ ________________________________________
Nina Hanselmann
Eigenständigkeitserklärung | Archivierung
Neckarsulm, 08. November 2018
49
GENDERERKLÄRUNG
Zur besseren Lesbarkeit wurde versucht in der Dokumentation personenbezogene Bezeichnun-
gen, die sich auf Menschen jeglichen Geschlechts beziehen, in einem ausgeglichen Verhältnis von
der im Deutschen üblichen männlichen und weiblichen Form aufzuführen, also z.B. „Nutzer“ oder
„Nutzerin” statt „Nutzer*innen“ oder „Nutzerinnen und Nutzer“.
Dies soll jedoch keinesfalls eine Geschlechterdiskriminierung oder eine Verletzung des Gleichheits-
grundsatzes gegenüber anders identifizierenden Personen zum Ausdruck bringen. Menschen jeg-
licher Identität mögen sich von den Inhalten dieses Dokumentes gleichermaßen angesprochen
fühlen.
Ich danke für Ihr Verständnis.
Gendererklärung
51
INTERVIEWS
Die hier aufgeführten Interviews mit Synästhetiker und Ärzten sind wie folgt zu lesen: Die Über-
schrift gibt Aufschluss über den Interviewpartner. Die zusätzlichen Informationen unter derselben
informieren über den Grund für die Wahl als Interviewpartner und das Datum des Interviews. Au-
ßerdem ist die Art des Interviews vermerkt:
Zitat aus E-mailkontakt: Die Fragen werden schriftlich von Interviewpartnern beantwor-
tet. Der E-Mailverlauf ist 1:1 aus den Original-E-mails kopiert.
Telefonische Befragung: Der Kontakt erfolgt telefonisch. Die Antworten der Interviewfra-
gen enstammen daher einem Gedächtnisprotokoll.
Whatsapp-Zitat: Falls informationen per Whatsapp nachgetragen werden, sind diese
extra vermerkt. Die Kopie dieser Nachträge erfolgt aus der schriftlichen Konversation,
signifikante Rechtschreibfehler, wie verdrehte oder fehlende Buchstaben, wurden korri-
giert.
Die Nachfragen der Interview führenden zu bestimmten Aussagen der Interviewpartner sind ein-
gerückt.
Interviews
g
g
g
52
RUTH REGEHLY
Über welche synästhetische Begabung verfügen Sie?
Ich bin Graphem-Farb Synästhetin, sehe also Buchstaben und Zahlen in Farben. Manchmal, al-
lerdings nur sehr selten, besitzen die Zahlen für mich auch einen Charakter – dann ist die 7 zum
Beispiel ockerfarben und ein bisschen heimtückisch, die 3 rosa, oder die 6 sonnengelb. Das Gelb
ist dabei aber kein gewöhnliches Gelb, es scheint zu leuchten und ich verbinde es mit einer ge-
wissen Emotion.
Außerdem besitze ich zusätzlich eine Tiker-Tape Synästhesie - gesprochene Worte laufen bei mir
wie bei einem Nachrichtenticker von dem inneren Auge ab. Ich kann dann mitlesen, was jemand
sagt.
Für mich haben auch Töne Farben und erzeugen gleichzeitig haptische Gefühle. Die Farben die
ich bei einem Klang höre sind nicht nur flächig, sondern eher im Raum verteilt, transparent und
opak. Töne sind dann auch auf der Haut spürbar. Dabei stupst mich der Ton zum Beispiel in die
Seite. Wenn ich sehe, dass ein anderer Mensch umarmt oder gestupst wird, dann spüre ich das
manchmal auch selber wie ein leichtes Druckgefühl um mich herum. Auch beim Essen sind meine
geschmacklichen Empfindungen mit Formen verbunden und auch haptisch spürbar – Schokolade
beispielsweise ist für mich eckig. Mit Gerüchen ist es genauso. Durch meine Synästhesien habe ich
also einen völlig anderen Bezug zu Buchstaben, Zahlen oder zu meinen Sinnen selbst.
Ändert sich die Empfindung, wenn die Schokolade geschmolzen ist oder Essen
generell anders zubereitet wird?
Nein, weil die Form an den Geschmack geknüpft ist, nicht an den Zustand oder die Textur.
Wann haben Sie bemerkt, dass Sie diese Fähigkeit besitzen?
Ich denke das ist schwer zu sagen. Meine Fähigkeiten habe ich nie als besonders oder „abnormal”
eingestuft, weil ich diese schon immer habe. Aber wahrscheinlich mit Mitte 20 würde ich sagen. Es
ist ja auch schwer einzuschätzen, wie viele Leute überhaupt synästhetische Fähigkeiten besitzen.
Man schätzt die Zahl auf 5%, aber man muss die Leute gezielt darauf ansprechen, weil sich auch
viele nicht bewusst sind, dass sie eine andere Wahrnehmung haben. Und selbst wenn dann eine
Synästhesie erkannt wird, ist nicht sicher ob Weitere vorhanden sind. Weil man ja selber erst be-
merken muss, dass auch andere Bereiche der Wahrnehmung nicht neurotypisch sind. Es passiert
Interviews
Synästhetin | 10. Oktober 2018 | Gedächtsnisprotokoll aus Telefonat & Whatsapp-Zitat
53
deshalb oft, dass Menschen die sich mit der Synästhesie befassen erst nach und nach auch weitere
Fähigkeiten entdecken.
Welche Vorteile ergeben sich daraus für Sie (im Job oder beim Hobby: zum Beispiel, dass
Sie sich Dinge besser merken können)?
Da gibt es tatsächlich ein paar. Meine PIN-Nummer habe ich mir zum Beispiel als Farbfolge notiert.
Die kann ich dann auch herumliegen lassen, weil keiner meine Codierung kennt und weiß, welche
Farben ich welchen Nummern zuordne.
Mir ist auch schon früh aufgefallen, dass ich sehr gut Korrektur lesen kann - irgendwie erkenne ich
bestimmte Muster in Buchstaben oder Wörtern, dadurch fällt es mir relativ leicht.
Sind die Wörter dabei bunt oder vermischen sich die Farben der Buchstaben in
einem Wort?
Farben sehe ich immer getrennt in einem Wort. Dadurch wirkt das Ganze für mich sehr
farbenfroh.
Momentan arbeite ich mit älteren Menschen, auch da kommt mir die Synästhesie zu Gute. Ich kann
mithilfe der Gefühlssynästhesie die Athmosphäre spüren und verschiedene Stimmungen erfassen.
Dadurch bin ich in der Lage, sensibel auf Menschen zuzugehen.
Ich habe auch einen emotionalen Bezug zur Musik. Nach meiner Ausbildung zur Stimmphysiolo-
gin habe ich in diesem Bereich gearbeitet. Weil ich Farben sehe wenn ich Töne höre, kann ich als
Stimmphysiologin mit zwei Kanälen arbeiten. Wenn ein Ton lila klingen soll, der aber rot ist, kann ich
diese Feinheiten durch meine zusätzlichen Sinne optimieren. Auch der Raumeindruck eines Tones
hilft mir bei der Korrektur. Dadurch kann ich auch Rückschlüsse auf den Stimmapparat eines Men-
schen ziehen, zum Beispiel wie Kehlkopf oder Stimmbänder ungefähr angelegt sind.
Für mich ist die Synästhesie deshalb wie das „Sahnehäubchen obendrauf“, weil ich Fähigkeiten
besitze die nicht alle haben. Ich kenne auch einige Synästhetiker die sich Dinge durch bestimmte
Memo-Techniken besser merken können. Das kann ich aber leider nicht.
Gibt es dadurch Dinge, die Sie im Alltag stören (etwa, wenn farbig gedruckte Buchstaben
die falsche Farbe besitzen)?
Wenn Texte einfarbig dargestellt sind ist das eigentlich kein Problem. Aber wenn die einzelnen
Buchstaben auch noch bunt sind, dann habe ich schon so meine Schwierigkeiten beim Lesen. Auf
Dauer kann das mitunter etwas anstrengend sein. Vor allem meine Vokale sind beim Lesen dann
Interviews
54
farbig - ich weiß allerdings nicht was mit meiner Graphem-Farb Synästhesie war, bevor ich mit dem
Lesen anfing... Da ich aber sehr früh und auch gern Lesen gelernt hatte, war es dann wie eine Be-
freiung. Die Sprache fühlte sich plötzlich irgendwie plastischer für mich an.
Funktioniert Ihre Begabung auch umgekehrt? Sehen sie beispielsweise Farben, wenn die
Musik hören - und hören Musik, wenn Sie Farben sehen?
Meine Synästhesien sind nicht umkehrbar. Wenn ich Sonnengelb sehe, denke ich nicht automatisch
an die Zahl mit der ich diese Farbe verbinde. Das ist eher wie eine Art Einbahnstraße - es ist sehr
selten, dass es in beide Richtungen funktioniert.
Ist die sinnliche Erfahrung manchmal überwältigend, wenn Sie sich an einen Ort bege-
ben, der Ihre Begabung besonders anspricht (Bei visueller Synästhesie vielleicht an be-
lebte Orte, bei Auditiver bei Konzerten)?
Tatsächlich dienen mir meine Fähigkeiten im Gegenteil eher zur Orientierung. In unserer schnelle-
bigen Gesellschaft helfen sie mir diese ganzen Eindrücke zu strukturieren und zu ordnen. Synästhe-
sie ist nah am Autismus und eng mit der Hochsensibilität verknüpft, wodurch die Wahrnehmungs-
schwelle sinkt. Je mehr Synästhesien ein Mensch hat, desto eher kann es auch zu Reizüberflutungen
kommen.
Hilft Ihnen Ihre Fähigkeit beim Lernen?
Ich habe mir die Frakturschrift selber beigebracht. Da sind die Farben eigentlich dieselben wie bei
den lateinischen Buchstaben, nur die vom großen A ist anders. Für mich gibt auch nicht der Laut-
wert der Schriftzeichen die Farben vor, sondern deren Form. Mein „ß” ist beispielsweise in der Alt-
Schrift ein bisschen konturierter, vorsichtiger, und lispelt.
Was bedeutet dann Synästhesie für Sie?
Synästhesie ist für mich nicht künstlerisch oder kreativ, sondern einfach eine andere Ebene von
Wirklichkeit. Ich habe mich schon oft gefragt ob mein Rot tatsächlich auch dasselbe Rot ist, das alle
anderen sehen. Ich glaube Farben sind eine Welt die in diesem Kontext jeder anders sieht.
Die Fähigkeiten geben mir deswegen auch die Chance nicht alles als gegeben zu sehen, sondern
ebenso zuzulassen, dass andere Menschen ihre eigene Wahrheit kennen. Gerade weil ich selbst
weiß dass meine Wahrnehmung nicht der Norm entspricht. Ich finde, die Synäshtesie gibt gerade
deshalb der Gesellschaft eine gewisse lockere Offenheit im Bezug auf die Thematik.
Interviews
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Haben Sie noch Anregungen, die für meine Bachelorarbeit hilfreich sein könnten, Buch-
tipps oder weitere Kontakte?
Man muss verstehen, dass Synästhesie nicht logisch ist. Die Verbindungen, die zwischen den Sin-
nen entstehen, sind rein zufällig. Vielleicht inspiriert Sie ja Danko Nikolić. Soweit ich mich erinnere
hat er Zeichen aus einer anderen Sprache in deutsche Worte eingebaut, sodass diese nach mehr-
maligem Schreiben auch farbig erschienen. Ich habe außerdem mal gehört, dass Synästhesie erst
nach der Geburt entsteht, weil sich dann erst die Nervenenden mit den Sinneszentren im Gehirn
verbinden. Die Webseite des deutschen Synästhesie-Verbandes könnte ihnen da aber noch genau-
ere Einblicke liefern. Dazu gibt es auch einige interessante Bücher.
Schriftlicher Nachtrag per Whatsapp
„Mir fällt noch was ein: Körperempfinden, angenehmes aber auch Schmerz, geht bei mir zusammen
mit Farbe. Ich hatte im April einen Hörsturz und seitdem verstärkt Tinnitus. Mir hat geholfen, den
Tinnius so zu malen, wie ich ihn sehe. Eigentlich müsste ich dreidimensional arbeiten, aber Bilder
helfen auch. Ich kann daran sehen bzw zeigen, wie sich der Tinnitus verändert. Es sind keine Kunst-
werke, eher Notizen. Generell ist Synästhesie nie kompliziert oder raffiniert. Es geht immer um
schlichte Grundformen bzw Muster.
Ein Ohren Arzt hat mir einen Noiser empfohlen. Das ist eine Art Hörgerät, das versucht, den Tinni-
tus in ein Rauschen „einzupacken“, damit er nicht mehr stört. Ich habe das abgelehnt, weil ich das
Rauschen zusätzlich zum Tinnitus sehe (grauer Schaum mit Blasen ) und haptisch als Rauhigkeit
spüre.“
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MICHELLE ZIPPLIES
Über welche synästhetische Begabung verfügen Sie?
Graphem-Farb, Geräusche sehen, Zeit-Raum
Wann haben Sie bemerkt, dass Sie diese Fähigkeit besitzen?
Mir war schon immer klar, dass ich diese „Begabung“ habe. Mir war nur nicht klar, dass andere sie
NICHT haben. Ich hatte nie den Eindruck, dass sich meine Wahrnehmung von anderen unterschei-
det. Ich hatte lediglich das Gefühl, z.B. Musik intensiver wahrzunehmen, bzw. sie mehr zu genießen.
Nach einer von mir getätigten Bemerkung hat mich vor etwa 2 Jahren eine Freundin darauf hinge-
wiesen, dass das Ganze einen Namen hat und nicht der Norm entspricht. Zuvor hatten weder ich
noch andere den Eindruck, dass ich anders sein könnte.
Welche Vorteile ergeben sich daraus für Sie (im Job oder beim Hobby: zum Beispiel, dass
Sie sich Dinge besser merken können)?
Als Vorteil im privaten Bereich würde ich mein gutes Gedächtnis anmerken. Beruflich sieht es an-
ders aus. Ich bin Altenpflegerin und arbeite in der Eingliederungshilfe mit geistig behinderten und
psychisch kranken Menschen.
Gibt es dadurch Dinge, die Sie im Alltag stören (etwa, wenn farbig gedruckte Buchstaben
die falsche Farbe besitzen)?
Im Alltag und im Beruf bin ich bei hoher Lautstärke sehr schnell reizüberflutet. Ebenso schaffe ich
es nicht zu schreiben oder zu lesen, wenn zeitgleich jemand spricht. Ich genieße Musik sehr. Nie-
mals würde ich ein Lied nicht zu Ende hören. Wenn ich dazu „genötigt“ werde, weil jemand mit mir
sprechen möchte, ignoriere ich das häufig einfach. In der Beziehung führt dies gerne zu Spannun-
gen. Wenn Buchstaben oder zahlen die falsche Farbe haben, fällt es mir schwer diese zu erkennen.
Aufgrund der Farbvielfalt von Zahlen ergibt Mathematik für mich keinen Sinn. Ich kann das kleine
1:1 nur weil ich es auswendig gelernt habe. Zahlen zerfließen ab einem vierstelligem Wert zu einer
Art Farbbrei.
Funktioniert Ihre Begabung auch umgekehrt? Sehen sie beispielsweise Farben, wenn
die Musik hören - und hören Musik, wenn Sie Farben sehen?
Nein, keine der Formen funktioniert anders herum.
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Synästhetin | 09. Oktober 2018 | Zitat aus E-Mailkontakt
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Ist die sinnliche Erfahrung manchmal überwältigend, wenn Sie sich an einen Ort bege-
ben, der Ihre Begabung besonders anspricht (Bei visueller Synästhesie vielleicht an be-
lebte Orte, bei Auditiver bei Konzerten)?
Ich bin klassischer Einzelgänger und unternehme nur wenig. Da eben auch Stimmen optische Reize
hervorrufen, beschränke ich die Kommunikation auf wenige Menschen. (dies könnte aber auch
an meinem kommunikationsintensiven Beruf liegen) Die größten Probleme habe ich mit lauten,
monotonen Geräuschen, wie staubsaugen, sägen oder bohren. Auch bei einfachem Rauschen legt
sich ein wimmelndes schwarz-weißes Bild über mein normales sehen. Es sieht in etwa aus, wie eine
Empfangsstörung beim fernsehen. Man kann alles noch grob erkennen, aber der „Ameisenkanal“
macht es unmöglich diese Situation auszuhalten.
Wie verhält es sich mit Medien? Also Fernsehen, Hörspiele und co.?
Beim fernsehen verhält es sich im Prinzip nicht anders als mit anderen Reizen. Ich sehe das Bild
und die dazu gehörigen Geräusche erscheinen wie bei allem anderen farbig. Ich sehe sehr selten
fern. Nur wenn ich bei anderen zu Besuch bin und der Fernseher läuft dort oder ich absolut nichts
mit mir anzufangen weiß. Ich finde fernsehen nicht spannend. Ich habe alles bereits vorgegeben.
was ich sehe, was ich höre, was ich fühlen soll... Ich muss meine Phantasie nicht benmühen. Des-
wegen packt es mih auch nicht. Deswegen lese ich wahnsinnig gerne. Ich kann durch mein eigenes
betonen von Wörtern oder Passagen die Schwerpunkte setzen. Schon Hörbücher machen mir das
unmöglich.
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DR. MED. CAROLINE EVA BEIER
Über welche synästhetische Begabung verfügen Sie?
Graphem-Farb-, Sequenz-Raum-, Ticker-Tape-, Ordinal-Linguistic-Personification-Synästhesie
Wann haben Sie bemerkt, dass Sie diese Fähigkeit besitzen?
Etwa mit Anfang 20, zu Beginn des Studiums, bekam das ganze den Namen Synästhesie. Die Wahr-
nehmungen an sich sind immer schon da.
Welche Vorteile ergeben sich daraus für Sie (im Job oder beim Hobby: zum Beispiel, dass
Sie sich Dinge besser merken können)?
Gedächtnisstützen, gute Planung/Organisation, leichtes Auswendiglernen, Rechtschreibung ohne
Probleme (da jedes Wort, sobald man dran denkt oder es hört, vor dem geistigen Auge wie ge-
schrieben erscheint), Hang zur Kreativität (Malen, Gedichte), allerdings nur als Hobby, wenn Zeit
dafür bleibt. Synästhetiker haben oft eine gute Beobachtungsgabe und erhöhte Empathiefähigkeit,
beides sehe ich auch an mir.
Gibt es dadurch Dinge, die Sie im Alltag stören (etwa, wenn farbig gedruckte Buchstaben
die falsche Farbe besitzen)?
Falsche Farbzuordnungen sind in der Tat sehr störend, können aber auch ausgeblendet werden
bzw übersehen werden. Insgesamt ist die Reizschwelle schneller erreicht, da jede Wahrnehmung
mehrere/viele neuronale Prozesse auslösen.
Funktioniert Ihre Begabung auch umgekehrt? Sehen sie beispielsweise Farben, wenn die
Musik hören - und hören Musik, wenn Sie Farben sehen?
Bidirektionale Synästhesie gibt es, habe ich jedoch nicht.
Ist die sinnliche Erfahrung manchmal überwältigend, wenn Sie sich an einen Ort begeben,
der Ihre Begabung besonders anspricht (Bei visueller Synästhesie vielleicht an belebte
Orte, bei Auditiver bei Konzerten)?
Ja, siehe Frage 4
Interviews
Synästhetin | 08. Oktober 2018 | Zitat aus E-Mailkontakt
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Ist es eher die Ausnahme, dass Synästhetiker mehrere Ausprägungen ihrer Begabung
besitzen?
Da Synästhetiker die grundlegende Fähigkeit besitzen, Dinge anders wahrzunehmen und Informa-
tionen, die über die Sinne aufgenommen werden, auf mehreren Ebenen zu verarbeiten, ist es eher
die Regel, dass mehrere Synästhesieformen gleichzeitig vorliegen.
Sicherlich gibt es den einen oder anderen Synästhetiker, der an sich nur eine Form der Synästhesie
wahrnimmt, meist hat er sich dann aber damit nur noch nicht intensiv genug beschäftigt und ent-
deckt beim nähreren Hinsehen dann doch die eine oder andere Synästhesie noch dazu.
Kurz gesagt, ich kenne fast nur Synästhetiker, die mehrere Synästhesieformen haben. Je mehr
desto spezieller, manchen Menschen mit sehr vielen Synästhesien überfordern die vielen Wahr-
nehmungen dann auch. Ich habe selbst ja auch einige Synästhesien, andere aber dafür definitiv
auch nicht. Mein Maß an Synästhesie ist daher insgesamt sehr nützlich und durchweg angenehm
(synästhetische Wahrnehmungen lösen in aller Regel beruhigende Gefühle aus), manch eine(r) mit
sehr vielen, teils eher seltenen Synästhesien, fühlt sich im Alltag doch davon auch ein wenig einge-
schränkt, zumindest wenn man in unserer schnelllebigen Gesellschaft funktionieren will.
Synästhesie geht häufig auch parallel mit Hochbegabung und Hochsensibilität, ersteres ist im Alltag
sicher auch hilfreich, letzteres für manche jedoch auch anstrengend.
Es gibt mittlerweile sehr viel Literatur dazu, ein erster Einblick darauf gibt unsere Homepage.
Interviews
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DR. MED. SIGRUN IMHÄUSER
Entwickeln sich alle unsere Sinne von Klein auf?
Die Sinne entwickeln sich von klein auf. Schon im Mutterleib, so etwa ab der 20. Woche sind wir
Menschen teilweise schon in der Lage bestimmte Reize aufzunehmen. Bis diese Reize aber richtig
verarbeitet werden müssen sie ausreifen. Das heißt, die Vernetzung im Gehirn muss in den ersten 3
Lebensjahren stattfinden, damit die Wahrnehmung optimal funktioniert. Das Tasten ist dabei einer
der Sinne, die früher ausreifen, etwa im 3. Monat. Davor ist der Tastsinn Reflex gesteuert - wenn
man also die Hand eines Kleinkindes berührt, greift dieses automatisch zu.
Was passiert, wenn wir vor dem zweiten Lebensjahr ein Trauma erleiden, dass uns an
der Entwicklung eines Sinnes hindert?
Sollte ein Sinn in der frühen Entwickung fehlen, kann das weitreichende Folgen haben, die die Ent-
wicklung des Kindes stören. Durch Wasser im Ohr wird zum Beispiel das Sprechen behindert, weil
Laute nicht nachgeahmt werden können. Und je früher man so etwas erkennt, desto wahrschein-
licher ist es, dass man noch etwas tun kann. Das wiederum hat dann auch Auswirkungen auf den
dadurch beeinträchtigten Sinn.
Wird das Fehlen des einen Sinnes von den anderen, noch während der Entwicklung, ab-
gefangen? Also, wenn der Sehsinn beschädigt wird, kann man dann automatisch zum
Beispiel besser hören?
Ja, definitiv. Sie kennen bestimmt die Hör-Fähigkeiten von Blinden. Dadurch, dass diese Menschen
schon früh lernen sich über ihre Ohren zu orientieren, kann der fehlende Sehsinn ausgeglichen
werden. Wenn dann ein anderer Sinn trainiert wird, sozusagen, ist nachweislich auch eine Vergrö-
ßerung des verantwortlichen Sinneszentrums zu vermerken.
Wie funktioniert die psychologische Wahrnehmung vom Sinnesreiz bis hin zur Verarbei-
tung des Reizes?
Also zunächst ist das ein Tappen im Dunkeln. Weil jeder anders wahrnimmt und nicht genau klar
ist, wie das Gehirn das alles anstellt. Also, wie genau die Reize verarbeitet werden. Man kann aber
schon sagen dass die Wahrnehmung durch die Erfahrung die ein Mensch so in seinem Leben
macht geprägt werden und die dann auch einfluss darauf haben, wie unser Eindruck der Umwelt
dann letztendlich ist. Man kann aber sagen, dass auch die Anlagen von Sinnesorganen eine Rolle
Interviews
HNO Ärztin, Fachärztin für Phoniartrie und Pädaudiologie | 11. Oktober 2018 | Gedächtsnisprotokoll aus
Telefonat
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spielen, Ohren sind ja nicht immer gleich. Die einen nehmen stärker wahr, die anderen nicht - aber
da gibt es schon einen Normbereich. Ob dann jemand empfindlicher ist oder nicht, liegt eben daran
ob der Reiz stark genug für den individuellen Wahrnehmungsbereich ist. Ein Teil der Hörwahrneh-
mung findet zum Beispiel im Mittelohr statt, nicht nur im Gehirn.
Da die Wahrnehmung immer subjektiv ist, obwohl der physikalische Reiz derselbe ist:
Was beeinflusst unsere Wahrnehmung?
Da gibt es vieles: Emotionen, Sicherheit zu Vertrauenspersonen, Trauma in den ersten Lebens-
jahren,… Vieles davon führt auch zur Störung des vegetativen Nervensystems. Das kann schon
gravierend sein.
Inwiefern prägen mentale Modelle, persönliche Erfahrungen oder die Erziehung unsere
Wahrnehmung?
Wahrnehmung ist das, was unser Gehirn aus Sinneseindrücken macht. Das Schubladendenken
hilft ungemein dabei, alles zu ordnen und auch kognitiv nicht zu sehr ausgelastet zu sein. Beim Au-
tismus fehlt manchmal die Sortierung, sodass zu viele Eindrücke den Menschen belasten können.
Wie fest sind diese verankert, wie leicht oder schwer kann man diese Prägung „umtrai-
nieren”?
Das braucht sehr, sehr viel Zeit, viel Geduld und Durchhaltevermögen. Die Wahrnehmung ist dabei
immer im Fluss und muss gezielt trainiert werden. Der pawlowsche Test, bei dem ein Hund beim
Geräusch einer Glocke konditioniert wird ist da ein gutes Beispiel.
Die Sinne sind also teilweise veränderbar, aber nur schwer - und je älter man ist, desto schwerer
ist das. Man kann auch Kleinigkeiten in der Sprache korrigieren, die falsch gelernt wurden, wie die
Aussprache des „s” oder „k” und „t”.
Haben Sie noch Anregungen, die für meine Bachelorarbeit hilfreich sein könnten, Buch-
tipps oder weitere Kontakte?
Behalten Sie sich im Kopf, dass die Wahrnehmung geschult sein muss, um zu funktionieren. Kinder,
die zum Beispiel nur vor dem TV sitzen oder vor anderen Bildschirmen, haben zum Beispiel Schwie-
rigkeiten mit Plastizität. Durch die Zweidimensionalität wird die Tiefenwahrnehmung nur wenig trai-
niert - manche Kinder sind durch den Medienkonsum auch kurzsichtig.
Zum Thema Entwicklung empfehle ich Ihnen Jean Piaget.
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