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In den vergangenen drei Dekaden hat das Verständnis tachykarder Arrhythmien eine bemerkenswerte Entwicklung erfah- ren. Dieser Fortschritt ermöglicht es heu- te, die allermeisten Tachykardien bezüg- lich Mechanismus und Substrat einzuord- nen und bei entsprechender Indikation einer interventionellen Therapie mit ho- hen Erfolgsaussichten zuzuführen. Poten- tiell lebensbedrohliche Arrhythmiefor- men können immer früher und präziser identifiziert werden, um schützende oder gar präventive Maßnahmen einzuleiten. Diese Entwicklungen wurden wesent- lich durch Erkenntnisse der invasiven und interventionellen Elektrophysiologie als Spezialdisziplin der Kardiologie im Er- wachsenenalter geprägt, unterstützt durch wissenschaftliche Fortschritte in den Be- reichen der kardialen Anatomie, Patho- physiologie, Ultrastruktur und Genetik. Wesentliche technische Fortschritte gelangen v. a. durch die Einführung von dreidimensionalen (3D-)elektroanatomi- schen Navigations-/Rekonstruktionsver- fahren mit Integration von Daten moder- ner Bildgebungsverfahren. Sie ermögli- chen heute eine auf die kardiale Anato- mie/Topographie bezogene Visualisie- rung von Entstehungsorten und Verläu- fen vieler Tachykardien. Die Anwendung dieser Techniken hat das Verständnis und damit auch den Erfolg und die Sicherheit der interventionellen Therapie kontinu- ierlich erhöht. Kinder und Patienten mit angebore- nen Herzfehlern (AHF) unterscheiden sich zwar prinzipiell nicht von Erwachse- nen mit normal angelegtem Herzen hin- sichtlich arrhythmogener Substrate, Ta- chykardiemechanismen und Behand- lungsansätzen, jedoch bestehen relevante Unterschiede im Hinblick auf die alters- spezifischen Verteilungsmuster der Ar- rhythmien. Diese wesentlich kleinere und v. a. heterogene Patientengruppe profitiert grundsätzlich von den am Kollektiv der Erwachsenen gewonnenen rhythmologi- schen Erkenntnissen, welche dort die Ba- sis z. B. für eine evidenzbasierte Systema- tisierung individueller Prognoseeinschät- zung oder die Auswahl spezifischer The- rapien darstellen. Jedoch ist eine unmit- telbare Übertragung dieser immer weiter fortschreitenden Entwicklungen auf Pati- enten im Kindes-/Jugendalter nicht ohne Weiteres möglich. Vor allem durch deutlich kleinere kar- diale und vaskuläre Dimensionen kön- nen technische Limitationen bedingt sein, wenn es sich um die Durchführung elek- trophysiologischer Eingriffe oder Device- Implantationen handelt, da bis heute nur sehr wenige größenbezogen angepasste Systeme zur Verfügung stehen. Diese technischen Aspekte prägen die Indikationsstellung und die Nutzen/Risi- ko-Abwägung für derartige Eingriffe we- sentlich, jedoch auch die altersspezifisch hohe Wahrscheinlichkeit für das Auftre- ten von Tachykardien durch angeborene Substrate und v. a. deren hohes Potential für eine spontane Rückbildung in den ers- ten Lebensjahren. Bei zusätzlich vorhandenen angebo- renen Herzfehlern trägt die große Band- breite der Anomalien von Herz und herz- nahen Gefäßen, ggf. deren jeweiliger Sta- tus nach unterschiedlichen chirurgischen Palliativ- und Korrekturverfahren sowie daraus resultierender individueller Resi- dualzustände, eine weitere Dimension an Variablen bei. Dadurch erfordert der Einsatz der bei Erwachsenen bereits etablierten inter- ventionellen Verfahren eine vorsichti- ge und sorgfältige Anpassung an die Be- sonderheiten des Kindesalters, nicht nur aus technischer Sicht, sondern insbeson- dere auch bei Indikationsstellung und der Auswahl eines altersgerechten Zeitfens- ters. Verständlicherweise besteht gegen- über invasiven Eingriffen bei Kindern ge- nerell eine noch größere Zurückhaltung als bei Erwachsenen. Die kleinen und inhomogenen Pati- entenkollektive des Kindesalters werden auch in Zukunft Studien zu rhythmolo- gischen Fragestellungen mit hohem Evi- denzniveau nur schwer ermöglichen. Die ordnungspolitischen Rahmenbedingun- gen zur Durchführung von prospektiven Medikamentenstudien bei Kindern (z. B. zur Evaluation einer antiarrhythmisch wirksamen Substanz) erscheinen heu- te unüberwindlich. Somit wird die Ent- wicklung weiterhin wesentlich von der Erfahrung und Expertise spezialisierter Behandlungsteams geprägt werden. In Zeiten vorwiegend evidenzbasier- ter medizinischer Entscheidungen stellt die Rhythmologie/Elektrophysiologie im Kindesalter daher eine große Herausfor- derung an die Behandelnden dar. Die be- sondere Verantwortung gegenüber dem sich entwickelnden Kind und v. a. die Sorge vor Nebenwirkungen oder Kom- plikationen mit Blick auf den noch lan- gen Lebensweg erfordert individualisier- Joachim Hebe 1 · Rainer Schimpf 2 1  Elektrophysiologie Bremen, Am Klinikum Links der Weser, Bremen, Deutschland 2  Medizinische Klinik, Universitätsklinikum Mannheim, Mannheim, Deutschland Tachykarde Herzrhythmusstörun- gen im Kindes- und Jugendalter Vorkommen, Diagnostik, nichtinvasive und invasive Therapie Herzschr Elektrophys 2014 ∙ 25:127–128 DOI 10.1007/s00399-014-0326-6 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 127 Herzschrittmachertherapie + Elektrophysiologie 3 · 2014 | Editorial

Tachykarde Herzrhythmusstörungen im Kindes- und Jugendalter

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In den vergangenen drei Dekaden hat das Verständnis tachykarder Arrhythmien eine bemerkenswerte Entwicklung erfah-ren. Dieser Fortschritt ermöglicht es heu-te, die allermeisten Tachykardien bezüg-lich Mechanismus und Substrat einzuord-nen und bei entsprechender Indikation einer interventionellen Therapie mit ho-hen Erfolgsaussichten zuzuführen. Poten-tiell lebensbedrohliche Arrhythmiefor-men können immer früher und präziser identifiziert werden, um schützende oder gar präventive Maßnahmen einzuleiten.

Diese Entwicklungen wurden wesent-lich durch Erkenntnisse der invasiven und interventionellen Elektrophysiologie als Spezialdisziplin der Kardiologie im Er-wachsenenalter geprägt, unterstützt durch wissenschaftliche Fortschritte in den Be-reichen der kardialen Anatomie, Patho-physiologie, Ultrastruktur und Genetik.

Wesentliche technische Fortschritte gelangen v. a. durch die Einführung von dreidimensionalen (3D-)elektroanatomi-schen Navigations-/Rekonstruktionsver-fahren mit Integration von Daten moder-ner Bildgebungsverfahren. Sie ermögli-chen heute eine auf die kardiale Anato-mie/Topographie bezogene Visualisie-rung von Entstehungsorten und Verläu-fen vieler Tachykardien. Die Anwendung dieser Techniken hat das Verständnis und damit auch den Erfolg und die Sicherheit der interventionellen Therapie kontinu-ierlich erhöht.

Kinder und Patienten mit angebore-nen Herzfehlern (AHF) unterscheiden sich zwar prinzipiell nicht von Erwachse-nen mit normal angelegtem Herzen hin-sichtlich arrhythmogener Substrate, Ta-

chykardiemechanismen und Behand-lungsansätzen, jedoch bestehen relevante Unterschiede im Hinblick auf die alters-spezifischen Verteilungsmuster der Ar-rhythmien.

Diese wesentlich kleinere und v. a. heterogene Patientengruppe profitiert grundsätzlich von den am Kollektiv der Erwachsenen gewonnenen rhythmologi-schen Erkenntnissen, welche dort die Ba-sis z. B. für eine evidenzbasierte Systema-tisierung individueller Prognoseeinschät-zung oder die Auswahl spezifischer The-rapien darstellen. Jedoch ist eine unmit-telbare Übertragung dieser immer weiter fortschreitenden Entwicklungen auf Pati-enten im Kindes-/Jugendalter nicht ohne Weiteres möglich.

Vor allem durch deutlich kleinere kar-diale und vaskuläre Dimensionen kön-nen technische Limitationen bedingt sein, wenn es sich um die Durchführung elek-trophysiologischer Eingriffe oder Device-Implantationen handelt, da bis heute nur sehr wenige größenbezogen angepasste Systeme zur Verfügung stehen.

Diese technischen Aspekte prägen die Indikationsstellung und die Nutzen/Risi-ko-Abwägung für derartige Eingriffe we-sentlich, jedoch auch die altersspezifisch hohe Wahrscheinlichkeit für das Auftre-ten von Tachykardien durch angeborene Substrate und v. a. deren hohes Potential für eine spontane Rückbildung in den ers-ten Lebensjahren.

Bei zusätzlich vorhandenen angebo-renen Herzfehlern trägt die große Band-breite der Anomalien von Herz und herz-nahen Gefäßen, ggf. deren jeweiliger Sta-tus nach unterschiedlichen chirurgischen

Palliativ- und Korrekturverfahren sowie daraus resultierender individueller Resi-dualzustände, eine weitere Dimension an Variablen bei.

Dadurch erfordert der Einsatz der bei Erwachsenen bereits etablierten inter-ventionellen Verfahren eine vorsichti-ge und sorgfältige Anpassung an die Be-sonderheiten des Kindesalters, nicht nur aus technischer Sicht, sondern insbeson-dere auch bei Indikationsstellung und der Auswahl eines altersgerechten Zeitfens-ters. Verständlicherweise besteht gegen-über invasiven Eingriffen bei Kindern ge-nerell eine noch größere Zurückhaltung als bei Erwachsenen.

Die kleinen und inhomogenen Pati-entenkollektive des Kindesalters werden auch in Zukunft Studien zu rhythmolo-gischen Fragestellungen mit hohem Evi-denzniveau nur schwer ermöglichen. Die ordnungspolitischen Rahmenbedingun-gen zur Durchführung von prospektiven Medikamentenstudien bei Kindern (z. B. zur Evaluation einer antiarrhythmisch wirksamen Substanz) erscheinen heu-te unüberwindlich. Somit wird die Ent-wicklung weiterhin wesentlich von der Erfahrung und Expertise spezialisierter Behandlungsteams geprägt werden.

In Zeiten vorwiegend evidenzbasier-ter medizinischer Entscheidungen stellt die Rhythmologie/Elektrophysiologie im Kindesalter daher eine große Herausfor-derung an die Behandelnden dar. Die be-sondere Verantwortung gegenüber dem sich entwickelnden Kind und v. a. die Sorge vor Nebenwirkungen oder Kom-plikationen mit Blick auf den noch lan-gen Lebensweg erfordert individualisier-

Joachim Hebe1 · Rainer Schimpf2

1  Elektrophysiologie Bremen, Am Klinikum Links der Weser, Bremen, Deutschland2  Medizinische Klinik, Universitätsklinikum Mannheim, Mannheim, Deutschland

Tachykarde Herzrhythmusstörun-gen im Kindes- und Jugendalter

Vorkommen, Diagnostik, nichtinvasive und invasive Therapie

Herzschr Elektrophys 2014 ∙ 25:127–128DOI 10.1007/s00399-014-0326-6© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

127Herzschrittmachertherapie + Elektrophysiologie 3 · 2014 |

Editorial

tes „maßgeschneidertes“ medizinisches Handeln im Kontext aktueller gesammel-ter (gepoolter) klinischen Erfahrung.

Da die Patientenzahl auch in den meis-ten hierauf spezialisierten Institutionen weiterhin relativ gering ist im Vergleich zu solchen aus dem Erwachsenenbereich, kann die Erfahrung nur vergleichswei-se langsamer aufgebaut werden. Deshalb findet heute pädiatrische Elektrophysiolo-gie idealerweise in speziell hierfür ausge-richteten Zentren mit unmittelbarer An-bindung an eine Erwachsenenelektrophy-siologie statt. Letzteres dient dem gegen-seitigen Transfer von Erfahrung und Ex-pertise und ermöglicht ein Schritt-Halten mit den Entwicklungen beider Bereiche.

Trotz eines Mangels an großen Regis-terdaten und prospektiven randomisier-ten Studien als Basis für evidenzbasier-tes Handeln wurde in den vergangenen Jahrzehnten dennoch aus zusammenge-fassten (retrospektiven) Beobachtungen und Erfahrungen ein Gerüst für prognos-tische Einschätzungen und systematische Entscheidungswege in der pädiatrischen Elektrophysiologie entwickelt, die u. a. die Wahl von Zeitpunkten und Art einer an-tiarrhythmischen Therapie wesentlich un-terstützen.

Obwohl Allgemeinmediziner, Internis-ten und Kardiologen üblicherweise nicht regelhaft mit der Therapie an Kindern be-fasst sind, so werden Sie dennoch im kli-nischen Alltag immer wieder mit rhyth-mologischen Patienten im Kindes- und Jugendalter betraut.

Da zwar die grundsätzlichen Themen und Inhalte aus der „Erwachsenenmedi-zin“ weitestgehend bekannt sind und auch teilweise große Parallelen aufweisen, stellt dennoch die Diagnostik und Therapie von Herzrhythmusstörungen im Kindes-alter nicht lediglich eine „miniaturisierte“ Form der an „großen Patienten“ etablier-ten Medizin dar, (wie hier im Heft gut zu sehen ist).

Sie erfordert vielmehr ein mit Bedacht und größter Sorgfalt an die besonderen Erfordernisse kleiner und heranwachsen-der Patienten angepasstes Vorgehen und ist längst zu einer Spezialdisziplin mit ei-genen altersgerechten diagnostischen und therapeutischen Empfehlungen wie Richtlinien geworden.

Deshalb haben wir uns zum Ziele ge-setzt, Ihnen einen Querschnitt durch die im Kindesalter typischerweise auftreten-den (Tachy-)Arrhythmien zu präsentie-ren, um den aktuellen Stand diagnosti-scher wie therapeutischer Möglichkeiten für diese Altersgruppe zusammenzufas-sen.

Thomas Kriebel befasst sich mit der Inzidenz von Tachykardien bei Kindern, dem Spektrum klinischer Auswirkungen und dem zu erwartenden Spontanver-lauf von Arrhythmien im sich noch ent-wickelnden Herzen.

Da Ionenkanalerkrankungen eine kon-genitale Ursache zugrunde liegt, liegt de-ren erste klinische Manifestation mit ho-her Wahrscheinlichkeit und oft im Kin-des- und Jugendalter. Christian Wolpert fasst den derzeitigen Stand der Erkennt-nisse bezüglich potentiell vital bedrohli-cher Arrhythmien zusammen, mit beson-derem Blick auf die Möglichkeiten der Di-agnostik, Prognoseeinschätzung und the-rapeutischer/präventiver Optionen beim Heranwachsenden.

Einen Überblick über aktuelle Mög-lichkeiten des nichtinvasiven Manage-ments von Tachyarrhythmien bei Kin-dern wird von Jan Nürnberg gegeben. Be-sonderer Fokus liegt hierbei auf dem Not-fallmanagement hämodynamisch bedeut-samer oder intolerabler Tachykardien und die allgemeinen Strategien kurz- oder und langfristig ausgerichteter medikamentö-ser Therapie und deren altersspezifischen Limitationen.

Die invasive interventionelle Elekt-rophsysiologie ist heute nahezu unabhän-gig vom Alter und der Größe des Pati-enten und vom Vorhandensein komple-xer angeborener Anomalien des Herzens oder der herznahen Gefäße möglich. Die besonders im interventionellen Bereich rasant fortgeschrittene Entwicklung der Rhythmologie hat unter Anpassung an kinderspezifische Erfordernisse inzwi-schen breiten Einzug in diese Altersgrup-pe gehalten. Der Stand der Elektrophy-siologie im Kindesalter wird von Gabriele Hessling zusammengefasst und von mei-ner Seite für das zusätzliche Vorliegen ei-nes angeborenen Herzfehlers ergänzt.

Obwohl insbesondere im Implantati-onssektor keine kindgerechte Anpassung von Geräten und Sonden stattgefunden

hat, kann auch beim kleinen Patienten, wenn auch viel seltener, die Implantation eines ICD oder ICD/CRT notwendig sein. Jan Janoussek setzt sich mit den Indikati-onen, Ergebnissen und Folgen der ICD/CRT-Therapie auseinander und gibt einen Einblick in die technischen Herausforde-rungen, insbesondere bei zusätzlich vor-liegendem AHF.

Inwieweit heute die Errungenschaften der invasiven Elektrophysiologie bereits im chirurgischen Denken Berücksichti-gung finden oder zukünftige Modifikatio-nen chirurgischen Vorgehens bei Operati-onen von AHF sinnvoll erscheinen lassen, wird von Alexander Horke aus der Sicht des Chirurgen bearbeitet.

Wir wünschen Ihnen auch im Namen meiner Koautoren viel Freude, Erkennt-nis und Anregung beim Lesen dieser Aus-gabe,

Ihre

Joachim Hebe und Rainer Schimpf

Korrespondenzadresse

Dr. J. HebeElektrophysiologie BremenAm Klinikum Links der Weser Senator-Wessling-Straße 1 28277 [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt. J. Hebe und R. Schimpf geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

128 | Herzschrittmachertherapie + Elektrophysiologie 3 · 2014

Editorial