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Öffentliche Vorlesung Öffentliche Vorlesung Öffentliche Vorlesung Öffentliche Vorlesung Herbstsemester 2016 Herbstsemester 2016 Herbstsemester 2016 Herbstsemester 2016 Tempel, Kraftorte, Reiseziele: Tempel, Kraftorte, Reiseziele: Tempel, Kraftorte, Reiseziele: Tempel, Kraftorte, Reiseziele: Religiöse Kultstätten in Geschichte und Gegenwart Religiöse Kultstätten in Geschichte und Gegenwart Religiöse Kultstätten in Geschichte und Gegenwart Religiöse Kultstätten in Geschichte und Gegenwart Sieben Vorlesungen, jeweils Mittwoch, 20.15 bis 21.45 Uhr, Sieben Vorlesungen, jeweils Mittwoch, 20.15 bis 21.45 Uhr, Sieben Vorlesungen, jeweils Mittwoch, 20.15 bis 21.45 Uhr, Sieben Vorlesungen, jeweils Mittwoch, 20.15 bis 21.45 Uhr, 21.9. bis 2.11.2016, Raum HSG 01 21.9. bis 2.11.2016, Raum HSG 01 21.9. bis 2.11.2016, Raum HSG 01 21.9. bis 2.11.2016, Raum HSG 01-014 014 014 014 Uralte religiöse Zentren sind bis heute Reisedestinationen mit globaler Ausstrahlung für fromme Pilgergruppen und neugierige Reisende. Die Vermengung von religiöser Praxis und Tourismus ist kein modernes Phänomen. Von Anfang an waren Kultstätten multifunktionale „Kraftorte“, die neben der Verehrung der jeweiligen Gotthei- ten immer auch politischen, ökonomischen und kulturellen Zwecken dienten. Was macht die Faszination dieser Orte aus? Was verbanden und verbinden religiöse Bewegungen mit ihnen? Die Vorlesung widmet sich den religionsgeschichtlichen Ursprüngen und Entwicklungen bekannter Pilgerziele und beleuchtet ihre aktuelle Relevanz für Politik und Kultur. Mittwoch, 21. September 2016 Jerusalem Mittwoch, 28. September 2016 Rom Mittwoch, 5. Oktober 2016 Mekka Mittwoch, 12. Oktober 2016 Stonehenge Mittwoch, 19. Oktober 2016 Benares / Varanasi Mittwoch, 26. Oktober 2016 Epidauros Mittwoch, 2. November 2016 Wittenberg Vorlesung 1 Vorlesung 1 Vorlesung 1 Vorlesung 1, 21. September 2016 , 21. September 2016 , 21. September 2016 , 21. September 2016 Jerusalem Jerusalem Jerusalem Jerusalem Inhalt: Inhalt: Inhalt: Inhalt: 1. 1. 1. 1. Einleitung: Bethel aus Beispiel für die En Einleitung: Bethel aus Beispiel für die En Einleitung: Bethel aus Beispiel für die En Einleitung: Bethel aus Beispiel für die Entwicklungsgeschichte, Multifunk twicklungsgeschichte, Multifunk twicklungsgeschichte, Multifunk twicklungsgeschichte, Multifunktionalität und Multireligiosi- tionalität und Multireligiosi- tionalität und Multireligiosi- tionalität und Multireligiosi- tät von Kultstätten tät von Kultstätten tät von Kultstätten tät von Kultstätten a) a) a) a) «Haus Gottes, Tor des Himmels»: «Haus Gottes, Tor des Himmels»: «Haus Gottes, Tor des Himmels»: «Haus Gottes, Tor des Himmels»: Heilige Stätten als Orte der irdi Heilige Stätten als Orte der irdi Heilige Stätten als Orte der irdi Heilige Stätten als Orte der irdischen Erfahrung des Göttlichen schen Erfahrung des Göttlichen schen Erfahrung des Göttlichen schen Erfahrung des Göttlichen b) b) b) b) Bauliche Markierung des Ortes Bauliche Markierung des Ortes Bauliche Markierung des Ortes Bauliche Markierung des Ortes c) c) c) c) Kultstätten als multifunktio Kultstätten als multifunktio Kultstätten als multifunktio Kultstätten als multifunktionale Ort nale Ort nale Ort nale Ort d) d) d) d) Religiöse Multifunktionalität Religiöse Multifunktionalität Religiöse Multifunktionalität Religiöse Multifunktionalität 2. 2. 2. 2. Jerusalem Jerusalem Jerusalem Jerusalem a) a) a) a) Jerusalem erusalem erusalem erusalem als heilige Stadt des Judentums als heilige Stadt des Judentums als heilige Stadt des Judentums als heilige Stadt des Judentums b) b) b) b) Jerusalem als heilige Stadt des Christentums Jerusalem als heilige Stadt des Christentums Jerusalem als heilige Stadt des Christentums Jerusalem als heilige Stadt des Christentums c) c) c) c) Jerusalem als heilige Stadt des Islams Jerusalem als heilige Stadt des Islams Jerusalem als heilige Stadt des Islams Jerusalem als heilige Stadt des Islams

Tempel, Kraftorte, Reiseziele: Tempel, Kraftorte ... · Vorlesung 1, 21. September 2016Vorlesung 1 , 21. September 2016, 21. September 2016 ... 1.. . Einleitung: Bethel aus Beispiel

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Tempel, Kraftorte, Reiseziele:Tempel, Kraftorte, Reiseziele:Tempel, Kraftorte, Reiseziele:Tempel, Kraftorte, Reiseziele: Religiöse Kultstätten in Geschichte und GegenwartReligiöse Kultstätten in Geschichte und GegenwartReligiöse Kultstätten in Geschichte und GegenwartReligiöse Kultstätten in Geschichte und Gegenwart Sieben Vorlesungen, jeweils Mittwoch, 20.15 bis 21.45 Uhr,Sieben Vorlesungen, jeweils Mittwoch, 20.15 bis 21.45 Uhr,Sieben Vorlesungen, jeweils Mittwoch, 20.15 bis 21.45 Uhr,Sieben Vorlesungen, jeweils Mittwoch, 20.15 bis 21.45 Uhr, 21.9. bis 2.11.2016, Raum HSG 0121.9. bis 2.11.2016, Raum HSG 0121.9. bis 2.11.2016, Raum HSG 0121.9. bis 2.11.2016, Raum HSG 01----014014014014

Uralte religiöse Zentren sind bis heute Reisedestinationen mit globaler Ausstrahlung für fromme Pilgergruppen und neugierige Reisende. Die Vermengung von religiöser Praxis und Tourismus ist kein modernes Phänomen. Von Anfang an waren Kultstätten multifunktionale „Kraftorte“, die neben der Verehrung der jeweiligen Gotthei-ten immer auch politischen, ökonomischen und kulturellen Zwecken dienten. Was macht die Faszination dieser Orte aus? Was verbanden und verbinden religiöse Bewegungen mit ihnen? Die Vorlesung widmet sich den religionsgeschichtlichen Ursprüngen und Entwicklungen bekannter Pilgerziele und beleuchtet ihre aktuelle Relevanz für Politik und Kultur. Mittwoch, 21. September 2016 Jerusalem Mittwoch, 28. September 2016 Rom Mittwoch, 5. Oktober 2016 Mekka Mittwoch, 12. Oktober 2016 Stonehenge Mittwoch, 19. Oktober 2016 Benares / Varanasi Mittwoch, 26. Oktober 2016 Epidauros Mittwoch, 2. November 2016 Wittenberg

Vorlesung 1Vorlesung 1Vorlesung 1Vorlesung 1, 21. September 2016, 21. September 2016, 21. September 2016, 21. September 2016 JerusalemJerusalemJerusalemJerusalem Inhalt:Inhalt:Inhalt:Inhalt: 1.1.1.1. Einleitung: Bethel aus Beispiel für die EnEinleitung: Bethel aus Beispiel für die EnEinleitung: Bethel aus Beispiel für die EnEinleitung: Bethel aus Beispiel für die Entwicklungsgeschichte, Multifunktwicklungsgeschichte, Multifunktwicklungsgeschichte, Multifunktwicklungsgeschichte, Multifunktionalität und Multireligiosi-tionalität und Multireligiosi-tionalität und Multireligiosi-tionalität und Multireligiosi-

tät von Kultstättentät von Kultstättentät von Kultstättentät von Kultstätten a)a)a)a) «Haus Gottes, Tor des Himmels»: «Haus Gottes, Tor des Himmels»: «Haus Gottes, Tor des Himmels»: «Haus Gottes, Tor des Himmels»: Heilige Stätten als Orte der irdiHeilige Stätten als Orte der irdiHeilige Stätten als Orte der irdiHeilige Stätten als Orte der irdischen Erfahrung des Göttlichenschen Erfahrung des Göttlichenschen Erfahrung des Göttlichenschen Erfahrung des Göttlichen b)b)b)b) Bauliche Markierung des OrtesBauliche Markierung des OrtesBauliche Markierung des OrtesBauliche Markierung des Ortes c)c)c)c) Kultstätten als multifunktioKultstätten als multifunktioKultstätten als multifunktioKultstätten als multifunktionale Ortnale Ortnale Ortnale Ort d)d)d)d) Religiöse MultifunktionalitätReligiöse MultifunktionalitätReligiöse MultifunktionalitätReligiöse Multifunktionalität

2.2.2.2. JerusalemJerusalemJerusalemJerusalem a)a)a)a) JJJJerusalem erusalem erusalem erusalem als heilige Stadt des Judentumsals heilige Stadt des Judentumsals heilige Stadt des Judentumsals heilige Stadt des Judentums b)b)b)b) Jerusalem als heilige Stadt des ChristentumsJerusalem als heilige Stadt des ChristentumsJerusalem als heilige Stadt des ChristentumsJerusalem als heilige Stadt des Christentums c)c)c)c) Jerusalem als heilige Stadt des IslamsJerusalem als heilige Stadt des IslamsJerusalem als heilige Stadt des IslamsJerusalem als heilige Stadt des Islams

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1111. . . . Einleitung: Bethel aus Beispiel für die Entwicklungsgeschichte, Multifunktionalität und Einleitung: Bethel aus Beispiel für die Entwicklungsgeschichte, Multifunktionalität und Einleitung: Bethel aus Beispiel für die Entwicklungsgeschichte, Multifunktionalität und Einleitung: Bethel aus Beispiel für die Entwicklungsgeschichte, Multifunktionalität und Multireligiosität von KultstättenMultireligiosität von KultstättenMultireligiosität von KultstättenMultireligiosität von Kultstätten

Genesis Genesis Genesis Genesis 28282828: : : : Jakobs Traum im Heiligtum vom BethelJakobs Traum im Heiligtum vom BethelJakobs Traum im Heiligtum vom BethelJakobs Traum im Heiligtum vom Bethel 10 Jakob aber zog weg von Beer-Scheba und ging nach Charan. 11 Und er gelangte an einen Ort und blieb dort über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen von den Steinen des Ortes, legte ihn unter seinen Kopf, und an jener Stelle legte er sich schlafen. 12 Da hatte er einen Traum: Sieh, da stand eine Treppe auf der Erde, und ihre Spitze reichte bis an den Himmel. Und sieh, Boten Gottes stiegen auf ihr hinan und herab. 13 Und sieh, der HERR stand vor ihm und sprach: Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks. Das Land, auf dem du liegst, dir und deinen Nachkommen will ich es geben. 14 Und deine Nachkommen werden sein wie der Staub der Erde, und du wirst dich ausbreiten nach Westen und Osten, nach Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen werden Segen erlangen alle Sippen der Erde. 15 Und sieh, ich bin mit dir und behüte dich, wohin du auch gehst, und ich werde dich in dieses Land zurückbringen. Denn ich verlasse dich nicht, bis ich getan, was ich dir gesagt habe.

16 Da erwachte Jakob aus seinem Schlaf und sprach: Fürwahr, der HERR ist an die-ser Stätte, und ich wusste es nicht. 17 Und er fürchtete sich und sprach: Wie furcht-bar ist diese Stätte! Sie ist nichts Geringeres als das Haus Gottes, und dies ist das Tor des Himmels. 18 Am andern Morgen früh nahm Jakob den Stein, den er unter seinen Kopf gelegt

hatte, richtete ihn als Mazzebe auf und goss Öl darauf. 19 Und er nannte jenen Ort Bet-El; früher aber hiess die Stadt Lus. 20 Dann tat Jakob ein Gelübde und sprach: Wenn Gott mit mir ist und mich auf diesem Weg, den ich jetzt gehe, behütet, wenn er mir Brot zu essen und Kleider anzuziehen gibt 21 und wenn ich wohlbehalten in das Haus meines Vaters zurückkehre, so soll der HERR mein Gott sein. 22 Und dieser Stein, den ich als Mazzebe aufgerichtet habe, soll ein Gotteshaus werden, und alles, was du mir geben wirst, will ich dir getreulich verzehnten.

a)a)a)a) «Haus Gottes, Tor des Himmels»: «Haus Gottes, Tor des Himmels»: «Haus Gottes, Tor des Himmels»: «Haus Gottes, Tor des Himmels»: Heilige Stätten als Orte der irdischen Erfahrung des Göttlichen. Heilige Stätten als Orte der irdischen Erfahrung des Göttlichen. Heilige Stätten als Orte der irdischen Erfahrung des Göttlichen. Heilige Stätten als Orte der irdischen Erfahrung des Göttlichen.

Gen 28,10ff erzählt, wie Jakob irgendwo im offenen Gelände schläft und im Traum eine „Him-melsleiter“ – so die traditionelle Übersetzung des nur hier belegten Begriffs סלם sullām – sieht. Sie steht auf der Erde und ragt mit ihrer Spitze zu Gott in den Himmel. Göttliche Wesen steigen an ihr auf- und nieder. Daran erkennt Jakob, dass hier eine Verbindung zwischen Himmel und Erde besteht und Gott an diesem Ort wohnt. Deswegen nennt er den Ort Bethel, „Haus Gottes“. Die „Himmelsleiter“ bildet in Gen 28,12 das statische Hintergrundbild des Jakobstraumes. Der Traum enthält zwei deutungsbedürftige, bildhafte Traumszenen mit je eigenen Handlungsträ-

Bethel: Lage in Zentral-Palästina; Ansicht, 1895

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gern (Gottesboten; JHWH). Der erste Satz in Gen 28,13 ist zudem doppeldeutig: Der anthropo-morph vorgestellte Gott steht über ihm (dem schlafenden Jakob) oder auf ihr (der Himmelslei-ter). Die „Himmelsleiter“ markiert die vertikale Verbindung des himmlischen Residenzbereichs Got-tes mit dem irdischen heiligen Ort, an dem dieser Gott anwesend ist, und Jakob deutet seinen Traum, obwohl er seinen Gott auch an anderen Orten erfährt, in genau diesem Sinne. JHWHs Transzendenz und seine Anwesenheit an einem bestimmten Ort sind also gleichzeitig gedacht und ins Bild gesetzt. Der heilige Ort wird als Wohnsitz oder Rastplatz Gottes verstanden und von daher als Heiligtum enthüllt und begründet. Mit dem Traumbild der „Himmelsleiter“ ist die Vorstellung einer vertikalen Weltachse belegt, wie sie zur tempeltheologischen Begründung altorientalischer Städte – und so unter anderem auch Jerusalems – gehörte. Diese Vorstellung ist in der Himmelsleiter mit dem Heiligtum von Bethel verknüpft. Altorientalische Vorstellung von einer Himmelsleiter Es legt sich nahe, סלם sullām als hebräisches Äquivalent zu akkadisch simmiltu „Leiter / Treppe / Treppenhaus / Stufenrampe“ zu verstehen. Eine „Himmelsleiter“ genannte Verbindung zu je einem Tor im Himmel und in der Unterwelt begegnet in der assyrischen Version des Mythos von Nergal und Ereschkigal. Kakka, einer der kleineren Götter und Bote der Himmelsgötter, sowie Namtar, der dämonische Wesir der Unterweltsgötter, und schliesslich der Unterwelts-gott Nergal selbst beschreiten in beiden Richtungen eine Treppe, die ihnen Zugang zum Bereich des Himmels ermöglicht. Eine Himmelstreppe ist auch im ägyptischen Pyramidenspruch 267 erwähnt. Der tote Pharao steigt auf ihr zum Himmelstor im Westen auf. 1) Himmelstor, aber kein Unterweltstor. Die Himmelsleiter in Gen 28,12 verbindet Himmel und Erde. In der folgenden Deutung Jakobs wird der irdische Ort „Himmelstor“ genannt (Gen 28,17). Die Unterwelt wird nicht erwähnt – derartige bedeutungstragende Leerstellen sind in der Hebräischen Bibel oft zu beobachten und sind theologisch motiviert. Jedoch ist der vor dem Familienkonflikt fliehende Jakob physisch und sozial dem Tode nahe. 2) Götterboten. Die auf- und absteigenden Götter des oben genannten assyrischen Textes sind sicher mit den Gottesboten von Gen 28,12 vergleichbar. Im biblischen Text bleibt ihre Funktion offen: Sie vermitteln Jakob keine Botschaft, sondern markieren lediglich die Vertikale. Ihr Auf-treten tritt daher nicht in Spannung zur folgenden Gottesrede. Dies muss nicht verwundern: Anders als die einzeln auftretenden Deuteengel haben in Gruppen erscheinende Engel im Alten Testament nie eine Funktion als Sprecher. 3) Treppenmetaphorik und Zikkuratsvorstellung. Ob unter dem סלם sullām in Gen 28,12 die Freitreppe eines mesopotamischen Hochtempels verstanden werden kann, scheint zunächst unwahrscheinlich. In Kanaan / Palästina fehlen derartige Bauten. Die Treppenmetaphorik ist zudem nur in der Namensgebung der Zikkurat in Sippar belegt, die „Haus der Treppe zum hei-ligen Himmel“ genannt wird. Zikkurats galten aber als Abbild des Kosmos und als „Weltberg“ oder „Urhügel“, der bei der Schöpfung zuerst aus dem Chaosmeer aufgetaucht war. Dies drückt sich in der Namensgebung aus. Die Freitreppe einer Zikkurat verband den Ort des Himmels und den Erdboden. Ohne dass eine besondere kultarchitektonische Gestaltung nötig war, steht die Vorstellung vom Weltberg auch in der Jerusalemer Zionstheologie im Hintergrund (Ps 24,1-3). Daher kann die Vorstellung von einer Zikkurat für Bethel in Gen 28,12f nicht ausgeschlossen werden.

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b)b)b)b) Bauliche Markierung des Ortes: Bauliche Markierung des Ortes: Bauliche Markierung des Ortes: Bauliche Markierung des Ortes: Durch bauliche Massnahmen (Geländeverschiebungen; Errichten von Monumenten; Erstellen von Gebäuden) wird die Besonderheit des Ortes markiert. In Genesis 28: Errichtung einer Mazzebe Der Begriff Mazzebe (hebr. maṣṣevāh, oft mit „Steinmal“ übersetzt) bezeichnet einen willent-lich aufgerichteten, naturbelassenen oder behauenen Stein mit einer (auch im weiteren Sinne) religiösen Funktion. Im Unterschied zu einer Stele weist eine Mazzebe in der Regel keine ikoni-sche Dekoration oder Inschrift auf. Dennoch werden die Begriffe Mazzebe und Stele häufig sy-nonym gebraucht. Archäologische Funde: Stehende Steine mit gesicherter oder sehr wahrscheinlicher kultischer Funktion sind aus nahezu allen Kulturperioden Palästinas belegt. Neben unbehauenen oder nur grob bearbeiteten Mazzeben können oben abgerundete, sich verjüngende oder halbrunde Steinplatten, viereckige oder obeliskoide Stelen unterschieden werden. Im Negev wurden zahlreiche Anlagen mit Mazzeben gefunden, die aus dem Neolithikum stam-men (keramische Jungsteinzeit, 5300 bis 4000 v.Chr.).

Marc Chagalls Fenster im Zürcher

Fraumünster (1970), Himmelsleiter links

Ruine einer Zikkurat in Tschoga Zanbil, Iran;

Rekonstruktion des Zikkurat von Ur (bei Nasiriya, Irak)

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Historische Quellen zum Gebrauch und zur Beurteilung der Mazzeben - In den Königsbüchern werden Mazzeben als illegitime kultische Objekte verstanden.

Ihre Errichtung bzw. Beseitigung durch bestimmte Könige wird negativ bzw. positiv ge-wertet. 1Kön 14,23 erwähnt die Errichtung von Mazzebe und Kultpfahl in der Zeit des Rehabeam durch die Judäer; 2Kön 10,26f berichtet über die Entfernung der Mazzebe des Baal durch Jehu; 2Kön 17,9f geisselt die Errichtung von Mazzeben und Ascheren als Grund für den Untergang Israels 722 v. Chr.

- In den Rechtskorpora gilt die Mazzebe als nicht mit dem Jahweglauben zu vereinbaren-des Kultsymbol. Den zentralen Textbietet das Deuteronomium mit dem Verbot von Ma-zzeben und Kultpfählen in Dtn 16,21-22 und begründet dieses damit, dass JHWH sie hasst.

- In den Erzvätererzählungen der Genesis (Genesis 12-50) aber auch in anderen erzäh-lenden Texten des Alten Testaments werden Mazzeben überwiegend unpolemisch er-wähnt: a) als Kultobjekte, die die Gegenwart Gottes symbolisieren, b) als Vertragszei-chen und c) als Gedenksteine für Verstorbene. a) Kultobjekte: Die Erzählung von Jakob und der Himmelsleiter in Gen 28 enthält eine Kultätiologie des Reichsheiligtums des Nordreichs in Bethel. In Gen 28,18 und Gen 28,22 errichtet Jakob am Ort seiner Gotteserscheinung den Stein, auf den er im Schlaf seinen Kopf gebettet hatte, als Mazzebe. Auch Gen 31,13 nimmt hierauf Bezug. Der Stein ist gerade in Bethel – der Ortsname bedeutet „Haus Gottes“ – ein Symbol der Gegenwart Gottes. b) Vertragszeichen: In Gen 31,45 und Gen 31,51-52 fungiert eine von Jakob aufgerich-tete Mazzebe als Vertragszeuge zwischen ihm und Laban. Eine sowohl kultisch-rituelle wie juridische Funktion haben die von Mose in Ex 24,4 aufgerichteten Mazzeben: Zum Anlass des Bundesschlusses errichtet Mose eine Ritualinstallation bestehend aus einem Altar und 12 Mazzeben, die die Stämme Israels symbolisieren. c) Gedenksteine für Verstorbene.(Memoria): Als solche werden Mazzeben in Gen 35,20 und in 2Sam 18,18 erwähnt. In Gen 35,20 errichtet Jakob eine Mazzebe über dem Grab seiner verstorbenen Frau Rahel an der Strasse nach Bethlehem.

c)c)c)c) Kultstätten als multifunktionale Orte:Kultstätten als multifunktionale Orte:Kultstätten als multifunktionale Orte:Kultstätten als multifunktionale Orte:

Überlappung und Verbindung religiöser, rechtlicher, kultureller, politischer und wirtschaftlicher Funktionen

d)d)d)d) Religiöse Multifunktionalität:Religiöse Multifunktionalität:Religiöse Multifunktionalität:Religiöse Multifunktionalität:

Freilichtheiligtum in Geser mit einem als Ausgrabung einer Mazzebe in Tall Zira’a

Opferstele gedeuteten Steintrog

(Mittelbronzezeit II B; ca. 16. Jh. v. Chr.).

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Prominente Kultstätten wurden selten von einer Religion beansprucht. Sondern entweder gleichzeitig (parallele Multireligiosität) oder in einer religionsgeschichtlichen Abfolge (sequen-tielle Multireligiosität) von mehreren religiösen Gruppen beansprucht.

- Gottheiten: Am Ende des 10. Jh.s hat sich Nord-Israel unter Jerobeam I. von Juda gelöst und als eigener Staat etabliert. Als Grenzstadt dürfte Bethel jetzt strategische Bedeu-tung erhalten haben. Vielleicht hat schon Jerobeam I. den Ort zum Sitz des königlichen Staatstempels (Am 7,13) erhoben, immerhin dürfte ein Staatsheiligtum, das der Herr-scherlegitimierung und innenpolitischen Festigung des neuen Staates diente, seinen In-teressen entsprochen haben. Dem Ortsnamen nach wurde in Bethel ursprünglich El ver-ehrt, der in der Späten Bronzezeit einer der wichtigsten Götter in Syrien / Palästina war. Seit der Königszeit verschmolz er mit Jahwe, dessen Kult von ausserhalb nach Palästina gekommen war. Der neue Gott trat als Staatsgott Israels in Bethel an die Stelle Els. Mög-licherweise hat man in Bethel – vielleicht mit dem Jahwe-Kult verbunden – auch die Göttin Aschera verehrt (2Kön 21,7; 2Kön 23,4), die inschriftlich als Begleiterin Jahwes

belegt ist. Nichts zu tun hat der Ort mit dem gleichnamigen Gott Bethel, der im 1. Jahr-tausend zunächst in Syrien beheimatet war. - Kultbilder: In Bethel stand vermut-lich eine Mazzebe, ein aufrecht gestellter Stein, als Symbol der Gegenwart Gottes. Solche Steine hatten an Kultstätten Jahwes lange Zeit ihre festen Ort, erst später galten sie als anstössig und mussten verschwin-den. Vermutlich im Allerheiligsten des Tempels stand eine Stierstatuette, in der eine Tradi-

tion der Späten Bronzezeit fortlebte. Sie repräsentierte ursprünglich wohl El, der in U-garit als Stier bezeichnet wurde, später jedoch Jahwe. In dem Stierbild, das man sich nach Analogien nur als kleine Statuette vorstellen darf, manifestierte sich Gottes Ge-genwart, zugleich sagte das Bild im Unterschied zur Mazzebe aspektiv etwas über Gott aus. Der Glanz des Goldes verwies mit seiner Leuchtkraft auf die Herrlichkeit und Hei-ligkeit Gottes. Die Gestalt des Stieres gab der helfenden Macht Jahwes Ausdruck, der Israel aus Ägypten geführt (1Kön 12,28; vgl. Ex 32,4) und sich damit als ein Gott erwie-sen hatte, der in der Geschichte für die Seinen eintritt. In den Grenzstädten Bethel und Dan zeugt sie speziell von dem Glauben, dass Jahwe seine Macht in der Sicherung des Staates nach aussen erweisen werde. Im Stierbild vergewisserte sich der Staatskult also der rettenden Macht und der helfenden Präsenz Jahwes zugunsten Israels und seines Königs. Die Ätiologie der Mazzebe (Gen 28,10-19) wird in einer Vätererzählung überliefert, in der es letztlich nicht mehr um die Präsenz Gottes in Bethel, sondern um Gottes Zusage an Jakob = Israel geht. Das Stierbild ist in die polemische Erzählung vom Goldenen Kalb eingeflossen, die eine Ätiologie der Zerstörung des Staates 722 v. Chr. bietet, denn sie erklärt, dass Stierbildverehrung zum Gericht führt.

Bronzefigurine eines Stiers aus Samaria; 1400-1150

v. Chr.

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2. Jerusalem2. Jerusalem2. Jerusalem2. Jerusalem JerusaleJerusaleJerusaleJerusalemmmm----SyndromSyndromSyndromSyndrom Eine Psychose / psychische Störung, von der jährlich etwa 100 Besucher und Einwohner der Stadt Jerusalem betroffen sind. Die Erkrankung zeigt sich in plötzlichen Persönlichkeitsverän-derungen wie Angstzuständen und Wahnvorstellungen: Der oder die Betroffene identifiziert sich z. B. in einigen Fällen mit einer heiligen Person aus dem Alten oder Neuen Testament und gibt sich als diese aus. Zum Heilsbringer berufen, funktionieren die Betroffenen Hotelbettlaken zu Tuniken um und pilgern laut singend und betend zu den heiligen Stätten. Vor allem während christlicher oder jüdischer Feiertage wie Weihnachten oder Ostern beobachtet man eine Zu-nahme des spontanen Persönlichkeitswechsels. Im internationalen Diganoseschlüssel für psy-chische Krankheiten fällt es wegen seinem episodenhaften Auftreten unter "Akute und vo-rübergehende psychotische Störung". In den 1930er Jahren beschrieb der israelische Psychiater Heinz Hermann das Krankheitsbild als Jerusalem-Fieber. Auf Yair Bar El, ehemals Direktor der Psychiatrischen Kfar Shaul Klinik, geht der Begriff Jerusalem Syndrom zurück, der die psychotische Störung zwischen 1979 und 1993 genauer beschrieb und behandelte (470 Fälle). Er unterscheidet drei verschiedene Typen. Typ I ist medizinisch vorerkrankt, ist beispielsweise manisch-depressiv oder schizophren. Die Reise nach Jerusalem oder auch öffentliche Auftritte mit Predigt und Gebeten sind Ausdruck ihrer allgemeinen Krankheit. Typ II ist grundsätzlich anfällig für psychische Erkrankungen. Die Betroffenen reisen nach Jerusalem und haben im Geiste ihre fixe Idee schon mit im Gepäck. Zu Typ III zählen die wenigsten Menschen: Sie kommen als normale Touristen in die Heilige Stadt und werden erst dort plötzlich psychotisch. Vgl. Stendhal-Syndrom, Paris-Syndrom

Gliederung der historischen Epochen der Geschichte Jerusalems

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a)a)a)a) Jerusalem als heilige Stadt des JudentumsJerusalem als heilige Stadt des JudentumsJerusalem als heilige Stadt des JudentumsJerusalem als heilige Stadt des Judentums Zeit des ersten Tempels (1800 bis 500 v.Chr.)Zeit des ersten Tempels (1800 bis 500 v.Chr.)Zeit des ersten Tempels (1800 bis 500 v.Chr.)Zeit des ersten Tempels (1800 bis 500 v.Chr.) Jerusalem (ירושלם/j eru šalem) wurde um 1800 v. Chr. an einer Verkehrsverbindung zw. Süd- und Nordpalästina auf dem mittelpaläst. Gebirgsrücken als befestigte Stadtsiedlung gegründet. Der Name Jerusalem ist vorbibl. seit dem 18.Jh. in den äg. Ächtungstexten und der Korrespon-denz von Amarna, dort akkad. als URUu-ru-sa-lim, belegt. Er leitet sich von dem Verb jrh I (»gründen«) ab und bedeutet »Gründung des (Gottes) šalem«. In der Spätbronze-Zeit stand Jerusalem als kanaan. Stadt unter äg. Oberhoheit. Das AT weiss hist. zutreffend davon, dass Jerusalem um die Wende vom 2. zum 1.Jt., von David erobert und judäisch wurde. Jerusalem wurde städtisches Zentrum und Königssitz des bis in das 8.Jh. auf dem judäischen Gebirgsblock isolierten Tribalstaates Juda. Erst seit der Zeit des Königs Hiskia im ausgehenden 8.Jh., als Juda in den Sog der internationalen Politik geriet und das Nordreich Israel mit dem Zentrum Samaria von den Assyrern zerstört war, gewann Jerusalem eine grös-sere polit. Bedeutung für die Region, die sich auch in einem Anstieg der Bevölkerung von kaum mehr als 2000 Einwohnern noch in frühjudäischer Zeit bis zu 10 000 Einwohnern bei Ausdeh-nung des Stadtgebietes über das Zentraltal hinaus vom Südost- auf den Südwesthügel des heu-tigen jüd. Viertels der Altstadt Jerusalem widerspiegelt. Geographische Lage Jerusalems: Antike Hauptverkehrsachsen; Höhenquerschnitt; Topographie Jerusalems. Illustrationen aus: Othmar Keel, Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus (Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007); ders., Jerusalem und der eine Gott. Eine Religionsgeschichte.

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Das AT projizierte die unter den Königen Hiskia bis Josia 640 bis 609 v.Chr. gewachsene Bedeu-tung Jerusalem zurück in die Zeit Davids und Salomos, bewahrte aber hist. zutreffende Erinne-rung darin, dass Salomo in Verbindung mit seinem Palast auch den Tempel als Palastkapelle der Davididen bauen liess (1Kön 6 f.). Dynastie- und Präsenheiligtum: Die mit der Lade verbundene Präsenz des Königsgottes JHWH verlieh Jerusalem schon in vorjosianischer Zeit rel. Bedeutung als Ort des Dynastieheiligtums. Zionstheologie / «Tochter Zion»: Aufgrund der Erfahrung der Rettung des Zion vor den Assyrern (701 v. Chr.) verdichtete sich diese Präsenztheologie des Tempels zu einer Zionstheologie Jeru-salems. Motive der Gottespräsenz im Tempel wurden auf den Berg Zion und von dort auf die Stadt Jerusalem übertragen, die die Funktion eines Thronsitzes für JHWH übernehmen konnte (Jer 3,16 f.). JHWH nahm dabei Züge eines altorientalischen Stadtgottes an, der für ihre Sicher-heit vor Feinden einsteht (Ps 46,2–8; 48,5–9) und dessen polit. und kosmische Macht Ausdruck in der Befestigung der uneinnehmbar erscheinenden Stadt fand (Ps 48,13 f.). Psalm 48,1 Ein Lied. Ein Psalm der Korachiter. 2 Gross ist der HERR und hoch zu preisen in der Stadt unseres Gottes. Sein heiliger Berg, 3 schönster Gipfel, der ganzen Welt Wonne, der Berg Zion, äusserster Norden, ist die Stadt eines grossen Königs. 4 Gott ist in ihren Palästen, als Schutzburg hat er sich kundgetan. 5 Denn sieh, Könige taten sich zusammen, zogen gemeinsam heran. 6 Sie sahen es und erstarrten, flohen entsetzt davon. 7 Zittern ergriff sie dort, Wehen wie eine Gebärende. Als »Stadt JHWHs« (Jes 60,14) und »hl. Stadt« (Jes 48,2; 52,1; Neh 11,1.8), die JHWH »meine Stadt« nennt (Jes 45,13), konnte Jerusalem, vermittelt durch den Zionsberg (»Tochter [= Frau] Zion«), als Frau personifiziert, in der Funktion einer Göttin an JHWHs Seite (Jes 52,2; Zeph 3,14; Sach 9,9) und als JHWHs Gründung (Jes 14,32) verherrlicht werden. Der Widerspruch zur Er-oberung durch David wurde durch das Motiv der Erwählung ausgeglichen, die eng mit der des Geschlechts der Davididen verknüpft ist (Ps 132,11 f.), so dass Jerusalem auch das Epitheton »Stadt Davids« (1Kön 8,16; Jer 33,14–22; Ps 78,68–72) erhalten konnte. Kultzentralisation / Jerusalem als der eine legitime Kultort: Josia trug ihnen bei der Abwehr neuassysrischen Hegemonialansprüche religionspolitisch Rechnung, als er den legitimen Op-ferkult in Juda als Gegenprogramm zum zentralisierten Assur-Kult auf Jerusalem beschränkte und die Vielzahl der lokalen JHWH-Manifestationen auf den einen JHWH an dem von ihm er-wählten Ort Jerusalem einschränkte (Dtn 6,4 f.; Deuteronomium). V Prophetie: Jerusalems Untergang und Aufstieg zum universalen Heiligtum Die Schriftpropheten kritisierten heftig die aus der Jerusalemer Präsenztheol. resultierende Selbstsicherheit, die ethisches Handeln verhindert und nicht befördert. Sie kündigten als Folge

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die Vernichtung Jerusalem und des Gottesbergs an (sie erfolgt tatsächlich 597 v. Chr.) und leg-ten damit den Grund für die Verarbeitung der Zerstörung von Stadt und Tempel durch die Ba-bylonier. Zu den prophetischen Zukunftserwartungen gehören auch Erhöhung (Ez 40,2) und ewiger Bestand Jerusalem (Jo 4,20) gehören. Die Völker werden dorthin wallfahren, um Rechts-weisungen von Gott zu empfangen (Jes 2,2–4), so dass von Jerusalem Frieden für die Völker ausgehen werde. Jesaja 2,1-4: Die sog. Völkerwallfahrt zum Zion 1 Das Wort, das Jesaja, der Sohn des Amoz, geschaut hat über Juda und Jerusalem: 2 In fernen Tagen wird der Berg des Hauses des HERRN fest gegründet sein, der höchste Gipfel der Berge, und erhoben über die Hügel. Und alle Nationen werden zu ihm strömen, 3 und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt und lasst uns hinaufziehen zum Berg des HERRN, zum Haus des Gottes Jakobs, damit er uns in seinen Wegen unterweise und wir auf seinen Pfaden gehen. Denn vom Zion wird Weisung ausgehen und das Wort des HERRN von Jerusalem. 4 Und er wird für Recht sorgen zwischen den Nationen und vielen Völkern Recht sprechen. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Speere zu Winzermessern. Keine Nation wird gegen eine andere das Schwert erheben, und das Kriegshandwerk werden sie nicht mehr lernen. Zeit des zweiten Tempels (500 v.Chr. bis 70 n.Chr.)Zeit des zweiten Tempels (500 v.Chr. bis 70 n.Chr.)Zeit des zweiten Tempels (500 v.Chr. bis 70 n.Chr.)Zeit des zweiten Tempels (500 v.Chr. bis 70 n.Chr.) Nach der Zerstörung 587 v. Chr. dominierte die religiöse Bedeutung Jerusalem für die Judäer über die politische, die nach dem Verlust der staatlichen Eigenständigkeit aufgrund der Einglie-derung Judas zunächst in das babylonische und dann in das persische Reich weiter zurücktrat. Unter Drängen der Propheten Haggai und Sacharja wurde der Tempel in Jerusalem in frühpers. Zeit wieder errichtet. Die Mission des Nehemia stärkte die polit. Bedeutung Jerusalem als Ver-waltungszentrum der pers. Provinz Jehud. Er liess die Mauern der Stadt wieder aufbauen (Neh 1–7) und steigerte die Einwohnerzahl durch einen Synoikismus («Eingemeindung» umliegender Dörfer; Neh 11). Die Situation Jerusalem in der Zeit nach Esra und Nehemia bleibt historisch relativ dunkel. Die sich innerhalb der von Nehemia wiedererbauten Stadtmauern befindliche Stadt war sehr klein und organisatorisch Teil der pers. Provinz Jehud. Als solche unterstand sie der Kontrolle der Hohepriester und pers. Satrapen. Erst in hellenistischen Zeit ab 300 v.Chr. scheint Jerusalem an politischer und wirtschaftlicher Bedeutung gewonnen zu haben. Die Ptolemäer und Seleukiden, denen die Stadt von 301 bis 164 v. Chr. unterstand, befreiten sie aus ihrer Isolation und integrierten sie in das wirtschaftli-che und kulturelle Leben der hellenistischen Welt. Die bessere wirtschaftliche Situation Jerusa-lem erlaubte es dem Hohepriester Simon, Sohn des Onias (Oniaden), eine Reihe von Baupro-jekten und Renovierungsarbeiten durchzuführen. Innerhalb der jüd. Bevölkerung Jerusalem kam es in seleukidischer Zeit zu Spannungen zw. hellenistischen Kreisen und den toratreuen Frommen. Ob die Hellenisten den Versuch Antiochus' IV., Jerusalem in eine Polis nach griechi-

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schem Vorbild umzuwandeln, den Tempel zum Gemeingut aller Bürger zu machen und die Au-tonomie des jüd. Tempelstaates zu beseitigen, gutgeheissen haben oder sogar initiierten, ist umstritten. Judas Makkabäus gelang es, 164 v. Chr. die Stadt zurückzuerobern, den Tempel zu reinigen und den Tempelkult wiederherzustellen – ein Ereignis, an das man sich am Chanukka-Fest erinnert. Von diesem Zeitpunkt an und bis zum Beginn der römischen Herrschaft war Jerusalem vollstän-dig unter jüdischer Kontrolle. Als Ort, an dem sich das zentrale Heiligtum befand, war Jerusalem von ausserordentlicher rel. Bedeutung. Im Tempel verrichteten die Priester den Tempeldienst und Opferkult zugunsten ganz Israels. Auch Juden aus der Diaspora kamen einmal jährlich an-lässlich der Wallfahrtsfeste nach Jerusalem Mit der Eroberung Jerusalem durch Pompeius 63 v. Chr. verlor Jerusalem seine Unabhängigkeit. Judäa wurde zum Vasallenstaat Roms. Als Herodes die Stadt 37 v. Chr. mit röm. Unterstützung einnahm, wurden viele Einwohner ge-tötet. Unter Herodes (37–4 v. Chr.) erlebte Jerusalem eine letzte Blütezeit. Die zahlreichen Bau-massnahmen des Herodes (königlicher Palast, Renovierung des Tempels) machten Jerusalem zum administrativen Zentrum seines Herrschaftsgebiets. In den 74 Jahren von seinem Tod bis zur Zerstörung durch die Römer wurde die Stadt in ihrem äusseren Bild nicht wesentlich verän-dert.

Der sog. Herodianische Tempel, 30 v.Chr. bis 70 n.Chr.

Nachdem Titus i.Jerusalem 70 Jerusalem erobert und den Tempel zerstört hatte (Jüdischer Krieg), lag die Stadt in Trümmern. Sie wurde fortan von der Zehnten Legion (Fretensis) bewacht, die noch bis zum Ende des 3.Jh. in der Stadt präsent gewesen zu sein scheint. Der Grossteil der jüdischen Bevölkerung war von den Römern vertrieben, als Sklaven nach Rom verschleppt, oder getötet worden. Dennoch mögen die Überlebenden auf den baldigen Wiederaufbau des Hei-ligtums gehofft haben. Messianische Erwartungen scheinen eine der Ursachen für den Bar Kokhba-Aufstand der Jahre 132–135 gewesen zu sein. Ein anderer Grund war Hadrians Absicht, Jerusalem in die römische Kolonie Aelia Capitolina mit einem dem Gott Jupiter geweihten Tempel umzuwandeln. Nach-dem der Aufstand niedergeschlagen worden war, setzte Hadrian seine Pläne in die Tat um. Je-rusalem wurde zur römischen Kolonie Aelia Capitolina und Juden das Betreten der Stadt fortan unter Androhung der Todesstrafe verboten. Aelia Capitolina erhielt ein für röm. Städte übliches Strassennetz sowie ein Forum. Es blieb aber im 2. und 3.Jh. eine relativ kleine und unbedeu-tende Militärniederlassung.

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Das byzantinischDas byzantinischDas byzantinischDas byzantinisch----christliche Jerusalemchristliche Jerusalemchristliche Jerusalemchristliche Jerusalem 100 bis 600100 bis 600100 bis 600100 bis 600:::: In byzantinischen Zeit entwickelte Jerusalem sich durch reiche Kirchenbautätigkeit, z.B. von He-lena und Eudokia sowie Justinian I. gefördert, zu einem geistlichen Zentrum für Wallfahrt und Gottesdienst. Der Tempel wurde jedoch nicht wieder aufgebaut; ein Versuch unter Kaiser Julian Apostata scheiterte. Das Verbot für Juden, die Stadt zu betreten, blieb bestehen. Das Das Das Das mmmmuslimischeuslimischeuslimischeuslimische JerusalemJerusalemJerusalemJerusalem 600 bis 1100:600 bis 1100:600 bis 1100:600 bis 1100: Obwohl die Anzahl der Juden in byz. Zeit gering war, unterstützen die Juden die Perser, als diese 614 die Stadt eroberten. Kaiser Heraklius eroberte sie 628 zurück, kurz darauf jedoch wurde Jerusalem von der islamischen Eroberung des Mittleren Ostens erreicht und 638 von Kalif ʿUmar eingenommen. Jerusalem wurde schrittweise zu einem isl. Zentrum. Der prächtige Fel-sendom wurde 691/92 von ʿAbdalmalik erbaut, die Al-Aqsā-Moschee 715 unter al-Walīd ibn ʿAbdalmalik vollendet. Die abbasidischen Kalifen sorgten für eine bauliche Erweiterung und weitere Besiedlung der Stadt; jüdische und christliche Gemeinden wurden in diesem blühenden Zentrum des Islam an den Rand gedrängt. Die seldschukische Eroberung (1071) verwüstete die Stadt und dezimierte die Bevölkerung. Das Jerusalem der Kreuzzüge 1100 bis 1200: Vom Ende des 11.Jh. bis zum 13.Jh. übten die Kreuzzüge den stärksten Einfluss auf Jerusalem aus. Die Eroberung Jerusalem durch die Kreuzfahrer (1099) war von einem Massaker an musli-mischen und jüdischen Bewohnern der Stadt begleitet. Während der 90jährigen Herrschaft der Kreuzfahrer wurde das Königreich von Jerusalem errichtet. Die Grabeskirche wurde umgebaut (1149) und die Stadt mit Einwanderern aus dem christlichen Europa besiedelt. Das muslimische Jerusalem Das muslimische Jerusalem Das muslimische Jerusalem Das muslimische Jerusalem 1200 bis 1200 bis 1200 bis 1200 bis 1900190019001900:::: 1187 wurde Jerusalem von Saladin zurückerobert. Von diesem Zeitpunkt an war Jerusalem sie-ben Jahrhunderte lang ein überwiegend muslimisches Zentrum. Das restliche MA über wurde es vom Mamlūkenreich, das seinen Mittelpunkt in Kairo hatte, beherrscht. Es ereignete sich ein stetiger Zustrom von christlichen wie jüdischen Wallfahrern und Siedlern. Die Zerstörung jüdi-schen Zentren auf der iberischen Halbinsel trieb zahlreiche jüdische Flüchtlinge nach Osten, von denen einige Jerusalem erreichten. Die Errichtung des Osmanischen Reiches, das 400 Jahre lang die Herrschaft über Jerusalem ausübte (1516–1917), ermöglichte weiteren Juden und Christen die Ansiedlung in der Stadt. Süleyman der Prächtige (Herrschaftszeit 1520–1566) baute 1537–1540 die bis heute überdauernden Stadtmauern, innerhalb derer christlichen und jüdischen Viertel blühten. 1267 stiftete Nachmanides mit der ersten Synagoge den Keim des späteren jüdischen Viertels südwestlich der Klagemauer, und um 1333 richteten Franziskaner im Abendmahlsaal die Cus-todia di Terra Sancta zur Betreuung christliche Pilger ein. Zu Beginn der osmanischen Herrschaft (1516/17–1917) erlebte die Stadt unter Sultan Süleyman dem Prächtigen (1520–1566), der sich in Jerusalem inschriftlich als »zweiter Salomo« verewigt hat, mit der Errichtung der heutigen Stadtmauer, der Sanierung der Wasserversorgung und der Ausgestaltung des Felsendoms eine Renaissance. Dann aber verlor Jerusalem an Bedeutung, und seine Einwohnerzahl sank im 17.Jh. auf unter 10 000. Seit 1840 verstärkten die Grossmächte Grossbritannien, Russland, Preussen und Österreich ih-ren Einfluss und richteten kirchliche und diplomatische Niederlassungen ein (1849 ang-lik. Christ Church; 1860 russ. Kirche in Mōskōbīya; 1893–1898 dt. ev. Erlöserkirche, 1898–1910 dt. kath. Kirche Dormitio Mariae). 1860 gründete Moses Montefiori mit Mishkenot Ša‘ananim die erste jüd. Siedlung ausserhalb des Stadtmauerrings.

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1867 zählte die Jerusalem 25 000 Einwohner (48% jüd., 30% musl., 22% christl.), 1922 bereits 62 000 (54% jüd., 21% musl., 25% christl.) und 1967 262 000 (74% jüd., 17% musl., 9% christl.). Heute: ca. 600 000 Einwohner (72% jüd., 23% musl., 5% christl.). Jerusalem als die umstrittene Jerusalem als die umstrittene Jerusalem als die umstrittene Jerusalem als die umstrittene HHHHaaaauuuuppppttttstadt Israels 19stadt Israels 19stadt Israels 19stadt Israels 1947 bis heute47 bis heute47 bis heute47 bis heute:::: Mitte des 19.Jh. stellten die Juden die Mehrheit der Bevölkerung in Jerusalem und begannen, ausserhalb der Stadtmauern Siedlungen zu gründen. Zionistische jüdische Einwanderer errich-teten zahlreiche neue jüdische Siedlungen ausserhalb der Altstadt, so dass die jüdische Bevöl-kerung in der Stadt vorherrschend wurde. Im 1. Weltkrieg wurde Jerusalem 1917 von General Allenby, dem Oberbefehlshaber der brit. Streitkräfte im Nahen Osten, eingenommen; der Völkerbund machte Palästina infolge der Bal-four-Erklärung zum brit. Mandatsgebiet, um den Juden eine nationale Heimat (national home) zu verschaffen. Jerusalem wurde Sitz der britischen Verwaltung und Hauptstadt Palästinas. Nach Ende der Mandatszeit brachen Kämpfe zw. Arabern und Juden aus, und die Stadt wurde 1948 geteilt. Der arab. Teil wurde dem Emirat Transjordanien zugeschlagen, das zum König-reich Jordanien wurde; der jüdische Teil wurde zur Hauptstadt des Staates Israel. Auf Beschluss der UN-Generalversammlung vom 29.11.1947 sollte Palästina in einen arabische und einen jüdischen Staat geteilt, Jerusalem internationalisiert werden und unter Aufsicht der UN stehen.

Jerusalem als Hauptstadt Israels; die sog. Klagemauer und der Tempelberg.

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Dieser Beschluss wurde von den Zionisten akzeptiert, von den Arabern jedoch abgelehnt. Da-raufhin brach ein Bürgerkrieg zw. Juden und Arabern in der Stadt aus, der sich nach Ende der Mandatszeit am 15.5.1947 und nach der Invasion arabischen Streitkräfte aus Transjordanien und Ägypten zu einem Krieg ausweitete. Das Waffenstillstandsabkommen Ende 1948 führte zur Teilung der Stadt in die Altstadt, deren erobertes jüdisches Viertel geräumt und zerstört wurde, und in die westlichen Bezirke unter jüdischer Kontrolle. In beiden Stadthälften kam es zu Ver-treibungen und Massenflucht der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe. 1949 erklärte die isra-elisch Regierung Jerusalem zur Hauptstadt Israels, während Transjordanien den Ostteil annek-tierte und das Königreich Jordanien ausrief. Als es am 5.6.1967 entlang der ägyptisch-israeli-schen Grenze zu Gefechten kam, besetzte die jordanische Armee das Hauptquartier der UN und griff mehrere jüdische Siedlungen entlang der Front zu Lande und aus der Luft an. Während dieser Nacht und der folgenden zwei Tage eroberte die israelische Armee ganz Jerusalem und Umgebung. Nach wenigen Wochen wurde Jerusalem als Ganzes zur Hauptstadt des Staates Israel erklärt. Die arab. Bewohner von Jerusalem erhielten Wohnrecht in Israel und bekamen die Staatsbür-gerschaft angeboten; jedoch blieben die meisten von ihnen jordanische Staatsbürger. Die isra-elischen Behörden beliessen den Felsendom und die Al-Aqsā-Moschee auf dem Tempelberg de facto einer islamischen Verwaltung durch die Waqf (rel. Stiftung); Juden dürfen (aus Gründen der Halakha) nicht in Gruppen am Ort des salomonischen Tempels beten. Sie beten auf dem grossen Platz, der vor der westlichen Mauer (»Klagemauer«) des Tempelberges geräumt wurde. Archäologische Ausgrabungen und Bauvorhaben in diesem Bereich sind eine Quelle häufiger, äusserst emotional geführter Auseinandersetzungen. Gegenwärtig leben ca.600 000 Menschen in Jerusalem Nachdem israelische Siedlungen im Stadtgebiet und auf den umliegen-den Hügeln mit grosser Geschwindigkeit errichtet wurden, leben nun 250 000 Juden in West-Jerusalem; östlich der sog. »Grünen Linie« von 1967 beträgt ihre Zahl 170 000 und reicht damit nahezu an die der Araber, die um das Dreifache gewachsen ist, heran. Ca. 40% der Juden sind ultra-orthodox und leben in separaten Gemeinden. Die Zahl der Christen in Jerusalem und Um-gebung (d.h. Bethlehem) nimmt stetig ab. Der Niedergang der christl. Gemeinden in Jerusalem und Umgebung spiegelt sich im abnehmenden Einfluss der Forderungen nach einer Internatio-nalisierung der Stadt wider. Auf der Konferenz in Camp David im Juli 2000 zw. Ehud Barak, dem damaligen Premierminister Israels, Jassir Arafat, dem Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde, und Bill Clin-ton, dem Präsidenten der USA, wurde Jerusalem zum Hauptfaktor von Meinungsverschieden-heiten, die zum Abbruch des Gipfels führten. Der Weg von den Friedensvereinbarungen von Oslo 1993 zw. Israel und den Palästinensern zu einem vollständigen Frieden wird derzeit durch den Streit um die Herrschaft über Ost-Jerusalem und den Tempelberg versperrt. Trotz dieses Konfliktes ist davon auszugehen, dass die gegenwärtige demographische Situation eine wie auch immer geartete politische Lösung entscheidend prägen wird.

b)b)b)b) JJJJerusalem als heilige Stadt des Christentumserusalem als heilige Stadt des Christentumserusalem als heilige Stadt des Christentumserusalem als heilige Stadt des Christentums Die antike jüdische Stadt Jerusalem bildet sich im NT (139mal) durchaus als geschichtliches und religiöses Zentrum des Judentums ab, bekommt aber vom Schicksal Jesu her und dessen Deu-tung durch die jesuanisch-christl. Gemeinden neue, positive und negative Attribute. Jerusalem ist und bleibt die heilige Stadt (Mt 27,52 f.), zu der man an den grossen Festtagen wallfahrtet (Lk 2,41–50; Apg 2,1–13) und deren Tempel den vorzüglichsten Ort (Joh 4,19–22) der Verehrung des Gottes Israels darstellt (Lk 2,22–38; Mk 11,17; 13,1 f.; Lk 24,53 par. Apg 2,46). Zugleich ist sie aber auch die »Prophetenmörderin« (Mt 23,34–38 par. Lk), die in ihrer Verstock-theit »die Stunde der Heimsuchung nicht erkannt« hat (Lk 19,44) und deshalb in Jesus von Na-zareth auch ihren letzten, entscheidenden Boten Gottes ablehnt. Jesu provokatorische Worte

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und Handlungen im Tempel und vor den Behörden Jerusalem werden als prophetisches Han-deln dargestellt, an welchem sich das Schicksal von Jerusalem entscheidet (vgl. Lk 23,28–31). Dass der Schnellprozess der jüd. und röm. Behörden mit Jesus einem vielfach erprobten Reflex der für die Ordnung verantwortlichen Jerusalemer Autoritäten entsprach, wird von den neu-testamentlichen Autoren nicht hervorgehoben. Die Passionsgeschichten der Evangelien spiegeln ein historisch durchaus plausibles Bild der ge-ographischen Verhältnisse (Gethsemane, Ölberg), der wichtigsten Institutionen (Tempel, Syn-hedrion [Sanhedrin], Hohepriester, Prätorium) und Feste (Pesach, Pfingsten) der Stadt vor 70 n.Chr. Jerusalem wandelte sich erst seit der Machtergreifung Konstantins 312 in mehreren Wellen parallel zur Entwicklung der Christologie und Volksfrömmigkeit zum Mnemotop (Gedächtnis-ort): Unmittelbar nach dem Konzil von Nicaea 325 wurden in wörtlicher Entsprechung zum Credo von Nicaea in Bethlehem eine Basilika zum Gedenken der Menschwerdung Christi, in Jerusalem anstelle der paganen Tempelanlagen eine Kirchenanlage zum Gedenken der Aufer-stehung (Grabeskirche) und am Ölberg über der o. genannten Grotte eine Basilika zum Geden-ken der Himmelfahrt errichtet. Etwas später beginnend, entstanden über Gräbern und Reli-quien bibl. Heiliger weitere Kirchen. So wurde über Reliquien Johannes des Täufers am östli-chen Ölberg eine Kapelle errichtet, über dem Grab des Jakobus eine Kapelle im Kidrontal und schliesslich, kaum zufällig zw. den Konzilien von Ephesus 431 und Chalcedon 451 mit der Defi-nition Mariens als »Gottesgebärerin« (Theotokos), eine Kirchenanlage über ihrem vermuteten Grab in Gethsemane. Parallel zu den Kirchen der Stadt entstanden unter dem Zustrom von Pil-gerinnen und Pilgern am Ölberg im Umkreis der Klosteranlagen Melania d. Ä. und Melania d. Jerusalem monastische Niederlassungen mit Dependencen im Westen der Stadt. Doch liess die stetige Zunahme des Pilgerverkehrs auch Hospitäler und Armenhäuser nötig werden. Als sich die Stadt zw. 635 und 639 den islamischen Truppen ergab, blieben die Kirchen unbeschädigt. Erst nach 809 (wohl infolge der Thronfolgewirren nach dem Tod des Kalifen Hārūn ar-Rašīd) gingen zahlreiche Kirchen verloren.

Grabeskirche

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Die Grabeskirche wird von sechs christlichen Konfessionen geteilt: Die Hauptverwaltung der Kirche haben die

Griechisch-Orthodoxe, die römisch-katholische Kirche, vertreten durch den Franziskaner-Orden, und die Armeni-

sche Apostolische Kirche inne. Im 19. Jahrhundert kamen die Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien, die Kopten und die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche hinzu. Sie bekamen nur einige kleinere Schreine und Aufgaben zugeteilt, die

Äthiopier leben als kleine Gruppe auf einem Dach der Kirche. Dieses Deir-al-Sultan-Kloster wird jedoch von den

Kopten beansprucht und ist seit 2004 einsturzgefährdet. Der Streit verhindert jedoch eine Renovierung. Protes-

tantische Konfessionen sind in der Kirche nicht vertreten.

Wegen der Streitigkeiten verwahrt die muslimische Familie Joudeh seit mehreren Jahrhunderten die Schlüssel der

Kirche und die ebenfalls muslimische Familie Nusseibeh schließt die Haupttür morgens auf und abends wieder zu.

Durch die Bemühungen des jerusalemischen Bischofs Juvenal wurde die Kirche des Hl. Landes auf dem Konzil von Chalcedon 451 zum eigenständigen Patriarchat erhoben und diesem nach Rom, Konstantinopel, Alexandrien und Antiochien der fünfte Rang in der Reihe der autokepha-len Jurisdiktionsbezirke zugewiesen. Nach und nach gelang es allen altorientalischen National-kirchen, den Westsyrern, Armeniern, Kopten und Äthiopiern Niederlassungen unter eigener bischöflicher Leitung in Jerusalem zu gründen, deren Hauptaufgabe in der Betreuung der Pilger aus ihren Heimatländern bestand. Sie sind bis heute präsent. Doch trägt nur der leitende Bi-schof der Armenier, als solcher ab dem 7.Jh. nachweisbar, seit 1307 den Titel eines Patriarchen. Wiewohl das Land seit 638 unter muslimischer Herrschaft stand, brachte erst die Eroberung Jerusalem durch die abendländischen Kreuzfahrer 1099 eine grundlegende Änderung der kirch-lichen Situation mit sich. Der griechische Patriarch Symeon II. und seine Bischöfe wurden ver-trieben und durch einen lateinischen Patriarchen und Episkopat ersetzt, während das ortho-doxe Kirchenleben in den Gemeinden und Klöstern weitgehend unangetastet blieb. Die Nieder-lage der Kreuzritter zu Hattin 1187 stellte die alten Verhältnisse wieder her. Zwar ernannte Rom auch weiterhin Titulare von Jerusalem, doch blieben sie ausser Landes. Die Interessen der westlich-lateinischen Kirche wahrten vielmehr die Minderbrüder, deren erste Niederlassung Franziskus von Assisi persönlich 1219 in Jerusalem begründet hatte. 1336 zur privilegierten Kus-todie aufgestiegen, lagen die Franziskaner und Armenier mit dem chalcedonisch-orthodoxen Patriarchat seit dem 14.Jh. in ständigem Streit um Besitz und Nutzung der Hl. Stätten.

Mittelalterliche Karte der Route nach Jerusalem, ca. 1250 (British Library); moderne Karte für Pilger.

c)c)c)c) JJJJeeeerrrrusalem als heilige Stadt des Islamsusalem als heilige Stadt des Islamsusalem als heilige Stadt des Islamsusalem als heilige Stadt des Islams Den Muslimen gilt Jerusalem (I fliyāʾ [Aelia Capitolina], Bait al-Maqdis oder al-Quds, »das Heilig-tum«) mit Mekka und Medina als hl. Stadt, weil es die Gebetsrichtung (Qibla) der Propheten vor Muhammad war und der Schauplatz seiner Nächtlichen Reise (isrāʾ) und Himmelfahrt (miʿrāgˇ). Die Stadt ergab sich den Arabern wahrscheinlich im Frühjahr 635 kampflos. Die Christen blieben

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im Besitz ihrer Kirchen und Heiligtümer und genossen Kultfreiheit mit bestimmten Einschrän-kungen. Die Juden durften in der Stadt nicht wohnen, wurden drei Jahre später aber wieder zugelassen. Die Muslime nahmen den Tempelplatz (al-Haram aš-Šarīf) in Besitz und richteten dort eine Mo-schee ein. Mit dem Antritt der Umaiyaden, die in Damaskus residierten, gewann die Stadt an religiöser Bedeutung. Der Kalif ʿ Abdalmalik (685–705) gab mit seinem Bauprogramm dem zent-ralen Heiligtum die noch heute gültige Gestalt. Über dem hl. Felsen erbaute er den Felsendom (Qubbat as-Sahra); die Al-Aqsā-Moschee wurde von al-Walīd (705–715) vollendet, und südlich des Haram entstand ein Komplex von Regierungsbauten. Der im Zentrum des Felsendoms stehende Felsen heisst im Hebräischen Even ha-Shetiyya, der Gründungsfels, denn nach jüdischer Tradition sei darauf die Welt gegründet worden, deren Mittelpunkt im Jerusalemer Tempel der Stein bildete. An dieser Stelle habe sich die Bundeslade befunden, und hier habe Abraham seinen Sohn Isaak opfern wollen. Nach der islamischen Tra-dition soll Mohammed von diesem Felsen aus die Himmelfahrt und seine Begegnung mit den früheren Propheten des Judentums und Jesus angetreten haben. Die islamische Tradition und Koranexegese bringen den Felsen mit Abrahams Opfer jedoch nicht in Zusammenhang. Nach der Kreuzfahrerzeit wurden zahlreiche Moscheen, Medressen, Derwischklöster u. ä. er-richtet, und es entstanden private und öffentliche Stiftungen (waqf, Pl. auqāf), von denen viele noch existieren. Der Felsendom erhielt seine jetzige äussere Gestalt unter Sultan Süleyman dem Prächtigen in der 1. Hälfte des 16. Jh., der auch die Stadtmauer erneuerte und ihr den heutigen Verlauf gab. Juden, Christen und Muslime wohnten bis zum 10./11.Jh. vermischt, die endgültige Trennung der Wohnviertel fand nach den Kreuzzügen statt. Die Muslime übernah-men die jüd.-christl. Überlieferung, dass das Gericht in Jerusalem stattfindet. Jerusalem ist dann wieder das Zentrum; die Kaʿba wird, von Engeln geleitet, zur Libyschen Wüste pilgern.

Felsendom: Aussen- und Innenansicht