7
297 praxis ergotherapie Jg. 16 (5) Oktober 2003 Praxis Therapie bei leichter armbetonter Hemiparese Karl-Michael Haus Anamnese Medizinische Anamnese Frau L. ist 56 Jahre alt und erlitt vor knapp einem Jahr einen Infarkt der Arteria cerebri media links aus dem eine leichtgradige armbetonte Hemi- parese rechts resultierte. Nach dem Insult war Frau L. in einer neurologi- schen Rehaklinik, von wo aus sie zu uns in Behandlung kam. Als Grund für den Besuch der Ergo- therapie nannte sie starke Verspan- nungsschmerzen im Schulter- und Nackenbereich rechts, sowie eine Verkrampfung der rechten Hand/Fin- ger. Die Verkrampfung zeigt sich vor allem beim Schreiben und bei län- ger dauernden feinmotorischen Tä- tigkeiten. Zudem beschreibt sie Wortfindungs- störungen und eine Konzentrations- schwäche, die sie sehr schnell, so- wohl bei den feinmotorischen Tätig- keiten als auch beim Lesen, ermü- den lässt. Aufgrund der beschriebe- nen Symptome kann Frau L. derzeit ihren Beruf als Lehrerin nicht aus- üben. Sozialanamnese Frau L. bewohnt mit ihrem Mann ein Einfamilienhaus und war bis zu ih- rem Schlaganfall als Deutsch- und Geschichtslehrerin in einer Realschu- le tätig. Als Hobbys nennt sie Lesen, Briefe schreiben, Gartenarbeit und Reisen. Ziele der Patientin – Grund für die Therapie Frau L. ist eine sehr agile Frau, die fest im öffentlichen Leben steht und ihre diesbezüglichen Aufgaben sehr gewissenhaft und umfassend tätigt. Die Verkrampfung ihrer rechten Hand, der Schulterschmerz und die damit verbundenen Funktionseinschränkun- gen belasten sie sehr (sie braucht länger, ermüdet schneller und han- tiert ungenau etc.). Dabei setzt sie sich z. T. unter ei- nen großen psychischen Druck, der einer Verbesserung der Symptoma- tik eher entgegenwirkt. Nach einer Reduzierung ihrer Schulter- und Nak- kenschmerzen und einer Verbesse- rung ihrer Handfunktionen, würde sie gerne wieder eine Tätigkeit, evtl. als Teilzeitkraft, in ihrem Beruf als Leh- rerin ausüben. Frau L. wird von ihrem Mann mit dem Pkw zur Therapie gefahren. Laut ih- rer Aussage traut sie sich selbst das Autofahren noch nicht zu. Die Auf- gaben des täglichen Lebens erledigt sie trotz der o. g. Symptomatiken ohne Hilfsmittel selbständig. Sie be- nötigt jedoch noch sehr viel Zeit und muss längere Pausen einlegen, um der besagten Verkrampfung der Fin- ger vorzubeugen. Frau L. ist sehr motiviert, an der Verbesserung ihres Zustandes mitzuwirken. In der Rumpfmotorik und im Gang- bild zeigen sich nur dezente Auffäl- ligkeiten, wie z. B. eine leichtgradige Fußhebeschwäche im rechten Bein bei längeren Spaziergängen oder wenn Frau L. sehr müde ist. Die Art und Weise wie Frau L. den Therapieraum betritt und wie sie sich entkleidet, lässt auf den ersten Blick die eigentliche Problematik kaum erkennen. Selbst ihr Schriftbild ist gut lesbar (siehe S. 302). Freie Beobach- tungen beim Spargel schälen, Teig kneten und vor allem beim Schrei- ben zeigen jedoch, dass Frau L. weniger ihre Hand- (Handgelenk) und Befunderhebung A+ B+ C (SV)

Therapie bei leichter armbetonter Hemiparese · Therapie bei leichter armbetonter Hemiparese Karl-Michael Haus Anamnese Medizinische Anamnese Frau L. ist 56 Jahre alt und erlitt vor

Embed Size (px)

Citation preview

297praxis ergotherapie • Jg. 16 (5) • Oktober 2003

Praxis

Therapie bei leichter armbetonter Hemiparese

Karl-Michael Haus

AnamneseMedizinische Anamnese

Frau L. ist 56 Jahre alt und erlitt vorknapp einem Jahr einen Infarkt derArteria cerebri media links aus demeine leichtgradige armbetonte Hemi-parese rechts resultierte. Nach demInsult war Frau L. in einer neurologi-schen Rehaklinik, von wo aus sie zuuns in Behandlung kam.

Als Grund für den Besuch der Ergo-therapie nannte sie starke Verspan-nungsschmerzen im Schulter- undNackenbereich rechts, sowie eineVerkrampfung der rechten Hand/Fin-ger. Die Verkrampfung zeigt sich vorallem beim Schreiben und bei län-ger dauernden feinmotorischen Tä-tigkeiten.

Zudem beschreibt sie Wortfindungs-störungen und eine Konzentrations-schwäche, die sie sehr schnell, so-wohl bei den feinmotorischen Tätig-keiten als auch beim Lesen, ermü-den lässt. Aufgrund der beschriebe-nen Symptome kann Frau L. derzeitihren Beruf als Lehrerin nicht aus-üben.

Sozialanamnese

Frau L. bewohnt mit ihrem Mann einEinfamilienhaus und war bis zu ih-rem Schlaganfall als Deutsch- undGeschichtslehrerin in einer Realschu-le tätig. Als Hobbys nennt sie Lesen,Briefe schreiben, Gartenarbeit undReisen.

Ziele der Patientin – Grund fürdie Therapie

Frau L. ist eine sehr agile Frau, diefest im öffentlichen Leben steht undihre diesbezüglichen Aufgaben sehrgewissenhaft und umfassend tätigt.Die Verkrampfung ihrer rechten Hand,

der Schulterschmerz und die damitverbundenen Funktionseinschränkun-gen belasten sie sehr (sie brauchtlänger, ermüdet schneller und han-tiert ungenau etc.).

Dabei setzt sie sich z. T. unter ei-nen großen psychischen Druck, dereiner Verbesserung der Symptoma-tik eher entgegenwirkt. Nach einerReduzierung ihrer Schulter- und Nak-kenschmerzen und einer Verbesse-rung ihrer Handfunktionen, würde siegerne wieder eine Tätigkeit, evtl. alsTeilzeitkraft, in ihrem Beruf als Leh-rerin ausüben.

Frau L. wird von ihrem Mann mit demPkw zur Therapie gefahren. Laut ih-rer Aussage traut sie sich selbst dasAutofahren noch nicht zu. Die Auf-gaben des täglichen Lebens erledigtsie trotz der o. g. Symptomatikenohne Hilfsmittel selbständig. Sie be-

nötigt jedoch noch sehr viel Zeit undmuss längere Pausen einlegen, umder besagten Verkrampfung der Fin-ger vorzubeugen. Frau L. ist sehrmotiviert, an der Verbesserung ihresZustandes mitzuwirken.

In der Rumpfmotorik und im Gang-bild zeigen sich nur dezente Auffäl-ligkeiten, wie z. B. eine leichtgradigeFußhebeschwäche im rechten Beinbei längeren Spaziergängen oderwenn Frau L. sehr müde ist.

Die Art und Weise wie Frau L. denTherapieraum betritt und wie sie sichentkleidet, lässt auf den ersten Blickdie eigentliche Problematik kaumerkennen. Selbst ihr Schriftbild ist gutlesbar (siehe S. 302). Freie Beobach-tungen beim Spargel schälen, Teigkneten und vor allem beim Schrei-ben zeigen jedoch, dass Frau L.weniger ihre Hand- (Handgelenk) und

Befunderhebung

A+

B+C

(SV)

298 praxis ergotherapie • Jg. 16 (5) • Oktober 2003

Praxis

Fingerfunktionen nutzt, sondern die-se über die proximalen Gelenksbe-wegungen im Ellenbogen- und vorallem im Schultergelenk kompensiert.So führt sie beim Spargel schälen dieSchneidbewegung nicht mit demHandgelenk aus, sondern kompen-siert dies mit einer en bloc Ab- bzw.Aufwärtsbewegung des komplettenArmes. Zudem wird deutlich, dass siedabei die eigentlich automatisiertenBewegungen sehr bewusst, d. h. sehrkonzentriert ausführt.

Beim Placing zeigen sich, gegenüberder weniger betroffenen Seite (Sei-tenvergleich) auf der betroffenenSeite deutliche Widerstände beischnellen Außenrotations-, Abdukti-ons- und Anteversionsbewegungenüber 90° im Schultergelenk, sowie beischnellen Extensions- und Supinati-onsbewegungen im Unterarm. Dieslässt auf eine Tonuserhöhung derInnenrotatoren im Schultergelenkbzw. der Pronatoren im Ellbogenge-lenk schließen. Mit dem linken Arm/Hand kann Frau L. dagegen harmo-nisch und uneingeschränkt der takti-len (nonverbalen) Bewegungsvorga-be der Therapeutin auf allen Ebenenfolgen.(siehe S. 297)

Therapieziele:● langfristige Ziele– Berufliche Wiedereingliederung– Harmonische Bewegungsausfüh-

rung bei den Verrichtungen destäglichen Lebens

● mittelfristige Ziele– Verbesserung der automatisierten

Armfunktionen (Zielmotorik)

– Abbau der Kompensationsmecha-nismen im Schultergelenk

– Reduzierung des Schulterschmer-zes

● kurzfristige Ziele– Tonusnormalisierung im Schulter-

bereich

– Tonusnormalisierung im Ellbogen-gelenk

– Verbesserung der selektiven Hand-und Fingerbewegungen (Greifmo-torik)

Hypothesen zur Therapie-planung, Maßnahmen(Therapiebeispiele)Aus der Befunderhebung und denoben genannten Beobachtungen ausden ADL-Bereichen zeigt sich, dassFrau L. auch für die Ausführung klei-ner feinmotorischer Bewegungsab-läufe kompensatorisch Schulter- undArmbewegungen einsetzt. Die Schul-tergürtel- und Schultergelenksmusku-latur wirkt einerseits stabilisierend,wie z. B. für die Zielmotorik der Handoder als Stützfunktion des Armes, an-dererseits lässt sie aber auch dyna-mische, schwungvolle Bewegungenzu, wie z. B. bei den Gleichgewichts-reaktionen (Stellreaktionen).

Der kompensatorische Dauereinsatzder Schultermuskulatur, selbst beikleinen Bewegungsamplituden derHand (Feinmotorik) könnte daher ein

Tätigkeit als auch auf die Bewegungselbst konzentrieren muss, könntedies eine Überforderung der ohne-hin geschädigten neuronalen Struk-turen darstellen. Dies wäre eine Er-klärung für die schnelle Ermüdbar-keit bei der Ausführung feinmotori-scher Tätigkeiten und vor allem beikognitiven Aufgaben, wie z. B. demSchreiben.Um die Verspannungen im Schulter-/Nackenbereich zu lösen, bekommtFrau L. zu Beginn der Therapie einemobilisierende Massage und/odereine heiße Rolle (evtl. auch mit derPhysiotherapieabteilung abstimmen).Eine Massage alleine bringt in derRegel keine langfristige Verbesse-rung der Schulter-Nackenverspan-nung, da sie zwar das Symptom (Ver-spannung) angeht, aber nicht denGrund dessen behandelt. Währendder Massage schildert Frau L. ihren

Grund für die Verspannungen undSchmerzen im Schulter-/Nackenbe-reich sein.

Desweiteren hat sich gezeigt, dassFr. L. die eigentlich „automatisierten“bzw. „bewusst-automatisierten“ Be-wegungen sehr bewusst steuert.Dabei benötigt sie neben dem ohne-hin höheren Tonus bei bewusst aus-geführten Bewegungsabläufen auchein hohes Maß ihrer Aufmerksam-keitsressourcen (Konzentration), dieeigentlich der Handlung und nicht derBewegungsausführung dienen soll-ten. Da sich Frau L. sowohl auf die

Wochenendausflug zum Rhein undihre dortigen Erlebnisse mit derSchnakenplage. Diese Idee greift dieTherapeutin auf und fertigt aus einemBierdeckel und einem Peddigrohr-flechtfaden die sogenannte „Ergo-schnake“ (nicht zu verwechseln mitder im Pschyrembel beschriebenenSteinlaus). Frau L. knotet ein Hand-tuch an einem Ende zusammen undmuss damit die Schnake erschlagen.Die Flugrichtung sowie die Flugge-schwindigkeit der Schnake entschei-

AutomatisierteArmbewegungen(Zielmotorik)

299praxis ergotherapie • Jg. 16 (5) • Oktober 2003

Praxis

den über das Bewegungsausmaßund die Bewegungsgeschwindigkeit(räumlich zeitliche Koordination). Umdie Schnake zu treffen muss Frau L.schwungvolle, relativ schnelle undsehr automatisierte Armbewegungen

ausführen (Zielmotorik, Auge-Arm-Koordination). Zudem kann sie durchdiese Übung die Aggressionen vonihrem Wochenendausflug verarbei-ten. Als Steigerung knotet Frau L. einzweites Handtuch, ebenso wie daserste, zusammen. Sie soll nun ähn-lich einer Galeerentrommel, rhyth-misch den Takt mit den Handtüchernschlagen.Trotz dieser nicht mehr ganz zeitge-mäßen Aktivität bietet die Übung einähnliches Bewegungspotential wieoben bei der Stechmückenjagd und

Armstütz, Ziel- und Greifmotorik (Therapiebeispiel)

a)

b) c)

d) e)

zudem einen Seitenvergleich über dieAusführung der Bewegungsqualität(Rhythmus, Stärke des Aufschlagsetc.).Zur Reflexion führt die Therapeutinam Ende, ebenso wie am Anfang, das

Placing durch und spürt dabei einedeutliche Bewegungsverbesserung.Frau L. kann der Bewegungsvorga-be sowohl räumlich als auch zeitlichleichter folgen und fühlt sich im Schul-ter- Nackenbereich entspannter.Schnelle physiologische Bewegun-gen können wie bei Frau L. einepathologische Tonuserhöhung redu-zieren (Hemmung durch Bahnung);fehlt jedoch noch das motorischePotential, können sie auch zu einerÜberforderung, d. h. zur pathologi-schen Tonuserhöhung und/oder

Kompensation und damit zur Ver-schlechterung führen. Es ist daherunbedingt zu prüfen (z. B. durch dasPlacing vor und nach der Bewe-gungssequenz) ob sich die Sympto-matik auch wirklich verbessert.

300 praxis ergotherapie • Jg. 16 (5) • Oktober 2003

Praxis

„In der funktionellen Therapie musseinerseits die Notwendigkeit zur Aus-führung einer physiologischen Bewe-gung geschaffen werden. Anderer-seits darf dabei das Anforderungs-niveau aber auch nicht zu hoch aus-fallen, um kompensatorische Bewe-gungsstrategien und/oder pathologi-sche Bewegungsmuster zu verhin-dern (das Mögliche Verlangen – nichtdas Unmögliche)“

a) Frau L. bekommt von der Thera-peutin Kunststoffbecher (Kaffeebe-cher) so gereicht, dass sie ihrenrechten Arm automatisiert alsStützfunktion einsetzen muss (Not-wendigkeit für den Armstütz schaf-fen). Durch den Armstütz werdenalle Muskelgruppen aktiviert, diezur physiologischen Fixation derScapula auf dem Thorax notwen-dig sind. Der Schultergürtel erhältdadurch das stabilisierende Poten-tial, um dem Arm bzw. der Handdie koordinative Ziel- bzw. Greif-motorik zu ermöglichen.

Zudem erfolgt durch die physiolo-gische Muskelaktivität eine Hem-mung pathologischer Tonuszu-stände (Hemmung durch Bah-nung, s. reziproke Hemmung). Imkonkreten Bewegungsbeispielhemmt die physiologische Aktivi-tät der Außenrotatoren (Rotatoren-manschette) die pathologische To-nuserhöhung der Innenrotatoren(M. pectoralis major, M. latissimusdorsi – s. Befunderhebung).

b) Die Becher werden von Frau L.,ähnlich einer Wurfpyramide aufdem Jahrmarkt, übereinander ge-stapelt (zur Erleichterung könnenauch Erdnussdosen o. ä. verwen-det werden). Sie nutzt dabei diedurch die Stützfunktion erworbe-ne Stabilität, um differenzierteBewegungen mit dem Arm bzw.der Hand auszuführen (Auge-Hand-Koordination). Durch dieHöhe der Therapiebank kann dasräumliche Bewegungsausmaß desArmes bestimmt werden. Ihre Auf-merksamkeit liegt dabei vor allembei den Bewegungen der Hand(bewusste Greifmotorik und Koor-

dination der Hand) und weniger beiden proximalen Muskelgruppender Schulter, die entsprechendihrer Natur, automatisiert in dieBewegungsabläufe eingebundensind.

c) Frau L. schiebt vorsichtig denRollhocker mit beiden Händen(Hand-Hand-Koordination/Seiten-vergleich) so weit als möglich zurWand. Dabei führt sie eine vonproximal eingeleitete (Rumpf =Punctum mobile) Anteversion imSchultergelenk nahezu endgradigaus. Als Steigerung kann Frau L.den Rollhocker in die linke bzw.rechte Ecke schieben.

d) Um nach dieser koordinativen Lei-stung die Schultergürtelmuskula-tur wieder zu entspannen wirftFrau L. (ähnlich dem vorhergehen-den Therapiebei-spiel) mit einem Balldie Becher um(Hand-Auge-Koordi-nation, Zielmotorik).

e) In einer früherenEinheit erzählte FrauL. von ihrem Garten(Hobby) und dass esihr ein großes Anlie-gen wäre, diesenwieder zu bewirt-schaften. Die Thera-peutin greift dieseAussage auf (Ziele/Bedürfnisse der Pa-tientin) um sie in dieTherapie zu inte-grieren.

Frau L. soll in derTherapie auf denKnien rutschend dieBecher an derWand einsammeln.Dabei setzt siewechselnd (je nachLage des Bechers)die rechte Extremi-tät ein, um die Be-cher aufzunehmen(Mobilität, Ziel- undGreifmotorik) oderals Stützarm (Stabi-lität), um die Becher

mit der linken Hand zu greifen. Fürden Transfer zur Gartenarbeit be-sorgte sich Frau L. in einem Bau-markt handelsübliche Knieschoner(Fliesenbedarf) und tätigte auf denKnien, ähnlich dem Behandlungs-beispiel, ihre Arbeit. (siehe Abbil-dungen)

a) Um die selektiven Fingerbewegun-gen zu verbessern führt Frau L.eine feinmotorische Tätigkeit imkleinen Aktionsradius aus. Dabeiwird durch das Aufliegen des El-lenbogens die kompensatorischeSchulter- Nackenaktivität verhin-dert.

Unter Berücksichtigung der beiFrau L. vorhandenen kognitivenProblematik wird hier das Spiel„Solitaire“ eingesetzt, da es nebender motorischen Komponente auch

b)

a)

301praxis ergotherapie • Jg. 16 (5) • Oktober 2003

Praxis

die kognitiven Bereiche, wie z. B.die selektive Aufmerksamkeit(Konzentration), fördert.

b) Um die Bewegungen des Unter-arms aus der Pronation (s. Befund-erhebung) heraus zu führen, d. h.verstärkt Supinationsbewegungenerforderlich zu machen, positioniertdie Therapeutin das Steckspielneu.

c) Als Steigerung (erhöhte Anforde-rung an die Haltungsmotorik) führtFrau L. die Bewegungen im Standaus. Bei den Bewegungen im gro-ßen Aktionsradius achtet die The-rapeutin darauf, dass Frau L. dieSchulter bzw. den Oberarm mög-lichst physiologisch stabilisiert,während Fr. L. den Unterarm, dasHandgelenk und die selektiven Fin-gerbewegungen einsetzt. Dabei istzu beachten, dass das Halten desArmes im freien Raum auch fürden Gesunden nur begrenzt mög-lich ist. Die Aufgabe sollte daher

nicht allzulange, bzw.mit Pausenoder abwech-selnd ausge-führt werden.

d) Bemerkt dieTherapeutineine zu starkeN a c k e n - /Schulteraktivi-tät, wechseltsie die Spiel-hand. Frau L.

führt nun die Aufgabe mit der lin-ken Hand aus, während sie sichmit der rechten Hand aufstützt.Durch den Stütz kann sich die Ex-tremität erholen und tonisiert sichphysiologisch (Stabilität), um nacheiner gewissen Zeit (besonders di-stal) wieder die Bewegungen imfreien Raum (Mobilität) funktionel-ler auszuführen.

Die Therapeutin beginnt mit dem gra-phomotorischen Training. Hierbeiverwendet sie keine Vorlagen, wie sievielerorts noch verwendet werden

Innerhalb dieser Vorlagen muss diePatientin die Schriftzüge genauestensausführen (Höhe zwischen den Zei-len, Bögen, Linien etc.). Dabei be-nötigt sie eine hohe Aufmerksamkeit,einen höheren Tonus und damit ver-bunden eine langsamere Bewe-gungsgeschwindigkeit (mit einer ähn-lichen Problematik kämpfen nichtwenige Grundschüler beim Erlernender lateinischen Normschrift).

Selbsterfahrunga) Wir nehmen uns ein leeres Blatt,

einen Stift und schreiben vier A’s(egal ob groß, klein, gedruckt oderLatein) – bitte vor dem Weiterle-sen ausführen –. Ausgeführt ?

b) Nun ziehen wir die Linien der A’smöglichst genau nach – bitte aus-führen –.

Bei Punkt a) ging es um das Ziel –Schreiben der A’s –, die Bewegungwurde weitestgehend automatisiertgesteuert (vor allem über die supple-mentär mötorische Kortexareale),während bei Punkt b) das Nachzeich-nen der Linien, – wie schreibe ichdie „A’s“ möglichst exakt, sehr be-wusst geschah (prämotorische Kor-texareale, größere Anforderung andie Motorik (Auge-Hand-Koordinati-on)). Bei letzterem benötigen wir einehöhere Aufmerksamkeit (ca. 80% derSchlaganfallpatienten leiden untereiner Aufmerksamkeitsstörung), ei-nen höheren Tonus in den Fingern(den wir bei unserer Patientin eigent-lich reduzieren wollen(Verkramp-fung)) und führen die Aufgabe miteiner geringeren Bewegungsge-schwindigkeit aus.

Beginn des graphomotori-schen TrainingsDie Therapeutin lässt sich von FrauL. alte Schriftstücke mitbringen, umihr prämorbides Schriftbild als Vor-lage zu verwenden (s. Seite 303).Dies gilt als das anzustrebende The-rapieziel, da auch das Beüben derlateinischen Normschrift zu ähnlichenResultaten wie das Arbeiten mit Vor-lagen (siehe S. 302) führen würde.

Frau L. beginnt (mit möglichst wenigTonus) wahllos Striche/Linien auf einBlatt zu ziehen. Zuerst senkrecht,dann quer, schräg, Bögen usw.. Be-merkt die Therapeutin eine Kompen-sation im Ellenbogen, setzt sie einentaktilen Reiz am Ellbogen, um dieAusführung möglichst aus dem Hand-gelenk und durch selektive Finger-bewegungen zu bahnen.

Das Ellenbogengelenk dient lediglichdazu, die Hand im Zuge der Zeilen-

AutomatisierteArmmotorik,selektive Finger-bewegungen,feinmotorischeTätigkeit mitkognitiven Inhal-ten (Therapiebei-spiel)

c)

d)

302 praxis ergotherapie • Jg. 16 (5) • Oktober 2003

Praxis

führung über das Blatt zu bewegen.Ein etwas dickerer Stift oder eineGriffverdickung ermöglichen die Aus-führung mit einem geringeren Tonus.Ist er jedoch durch eine Griffverdik-kung zu dick, entspricht dies nichtmehr der Alltagssituation. Ein Hilfs-mittel sollte daher nur als Alternati-ve zu einem alltagsüblichen (evtl.etwas breiteren) Stift eingesetzt wer-den. Denn: Was passiert, wenn kei-ne Griffverdickung zur Verfügungsteht?

Diese Schreibübungen werden in derRegel nicht allzu lange durchgeführt(je nach Potential des Patienten ca.3 bis 5 min). Bemerkt die Therapeu-tin und/oder Frau L. eine Verkramp-fung bzw. einen Tonusanstieg in derHand/Finger, wird eine Schreibpau-se eingelegt, um (evtl. Lockerungs-übungen – Hand ausschütteln) einSpiel, Handmobilisation oder ähnli-ches durchzuführen. Ist der Tonus derHand wieder normalisiert, zieht FrauL. undefinierte Kreise/Bögen (ohneVorgabe der Größe, Form etc.) aufdas Blatt.

Erste BuchstabenDie Therapeutin wählt anhand derpersönlichen Vorlage Buchstabenaus und führt Frau L. mit ihrem be-reits gewonnenen Potential (Striche/Kreise) an diese heran.

Die Dauer und Art des graphomoto-rischen Trainings richtet sich nachFrau L’s Konstitution. Eine eher

schlechtere Tagesverfassung kanndazu führen, dass der Therapie-schwerpunkt eher in Lockerungs-übungen als im eigentlichen Schreib-training liegt. Bei guter Tagesverfas-sung ist gegenteilig zu verfahren.Dabei muss die Therapeutin perma-nent beobachten und befunden, wasin der Hand und im Arm passiert, umentsprechend darauf zu reagieren.

Graphomotorisches Training (auf die richtige Sitzposition achten)

„Die Sprache des ZNSsprechen“Frau L. beginnt mit ersten Buchsta-ben. Dabei zieht sie möglichst auto-matisiert (ohne pathologischen To-nus aufzubauen) senkrechte Linienauf das Papier und ergänzt diese eineschräge Linie und Bögen, ähnlich ih-rer prämorbiden Schreibweise. Dieausführliche Beschreibung des Vor-gangs soll nicht dazu verleiten, diesso verbal dem Patienten zu vermit-teln. Im Gegenteil: der Patient solltedie Buchstaben nach dem gleichenSchema wie vor seiner Läsion aus-führen.Dies wird fortgesetzt, bis Frau L. dieBuchstaben entsprechend be-herrscht. Steigerungsmöglichkeitensind z. B. Wörter und Sätze aus derTageszeitung abzuschreiben. Frau L.ist sehr motiviert und verbringt zuHause viel Zeit mit therapeutischenHausaufgaben. Die Therapeutinmusste sie zu Beginn eher bremsen,bzw. die strenge Anweisung geben,

Schriftbild/Reflexion

303praxis ergotherapie • Jg. 16 (5) • Oktober 2003

Praxis

die Übung nicht zu lange auszufüh-ren und bei den ersten Anzeicheneiner Verkrampfung eine Pause mitLockerungsübungen einzulegen.

Nach ca. einem 3/4 Jahr Therapie hatdie Hand annähernd ihren prämorbi-den Zustand erreicht (s. Schriftbild).Die kompensatorische Nacken-/Schulteraktivität ist deutlich reduziert,wodurch sich auch die Schulter-schmerzen verringerten. Diese tre-

ten lediglich an sehr nasskalten Ta-gen auf und/oder wenn Frau L. un-ter einer sehr starken psychischenBelastung steht.

Sie tätigt ihre ADL deutlich sichererund schneller und kann sich dabeilänger auf kognitive Aufgaben kon-zentrieren. In Ihrer Freizeit pflegt sieihren Garten und unternimmt mit ih-rem Mann Reisen in das europäischeAusland. Frau L. fährt wieder selb-

ständig Auto, anfangs auf eher be-kannten Strecken. Um den berufli-chen Wiedereinstieg zu erleichtern,leitet sie zwei mal wöchentlich für jezwei Stunden den Nachhilfeunterrichtfür eine Gruppe von Kindern in ih-rem Wohnort.

Anschrift des Verfassers:

Karl-Michael HausSportplatzstr. 47, 76857 Rinnthal