23
Deutsche Zeitschrift f. Nervenheflkunde, Bd. 173, S. 161--183 (1955). Aus der Neurologisch-Neuroehirurgischen Klinik der Freien Universit~t im Krankenhaus Westend, Berlin-Charlottenburg (Direktor: Prof. Dr. A. STANDER). ,,Tic douloureux" und Gesichtsschmerz. (Therapeutisehe und pathogenetische Betrachtungen.) Von ECKHARD SPERLINGund ARIST STENDER ~. (Eingegangen am 7. Februar 1955.) 1. Einleitung. Der ,,Tic douloureux" (A~DR~ 1756) der typischen Trigeminusneuralgie geh6rt zu den heftigsten Sehmerzzust£nden der menschliehen Pathologie. Die ~tiologie dieses Leidens ist bis heute nicht geklart. Es ist praktiseh jeder Antei] des Nerven yon der Peripherie bis zum eortikalen sensiblen Rindenfeld als m6glieher Ursprungsort der Neuralgie angespr0ehen worden. Dementspreehend wurden neurochirurgisehe Eingriffe mit dem Ziel der Leitungsunterbreehung an den peripheren Trigeminus~isten, dem Ganglion Gasseri, der Trigeminuswurzel, dem spina]en Tractus und neuerdings ira Thalamus (MoN.WIE~,RIECH~RT) aus- geffihrt. Der Erfolg dieser Behandlungsverfahren war begleitet yon einer Gefiihls. st6rung des ausgeschalteten Bereiches; die Schmerzbeeinflussung wurde als Effekt der Leitungsunterbreehung angesehen. 1951 gab TAARNI-IOJeine Operationsmethode an, die Schmerzfreiheit ohne postoperativen Sensibilit~tsdefekt erbrachte; er nannte sie ,,intra- durale Wurzeldekompression". Bei diesem Eingriff wird auf intraduralem Wege alas Cavum Meckeli er6ffnet, und die Dura fiber der Trigeminus- wurzel bis in die hintere Sch~delgrube hinein gespalten. TAARNHOJ, wie aueh GARDNER, HAMBY, KAUTZKY U. a. schlossen auf maBgebliche mechanische Faktoren ffir die Pathogenese der Trigeminusneuralgie. Die Wurzel habe in ihrem Verlauf an der Felsenbeinspitze einen EngpaB, den sog. ,,Porus trigemini" zu passieren; in h6herem Alter wfirde die rigide Dura an dieser Stelle die Wurzel komprimieren; nach KAUTZKY bewirke dieser Druck eine Steigerung der Erregbarkeit oder Leitf~higkeit des Nerven, so dab schon geringe periphere Reize mit maximalen Ent- ladungen, den blitzartigen Schmerzanf~llen, beantwortet wfirden. Das vornehmliche Befallensein des 2. und 3. Astes sei zwanglos mit der topographischen Lage der Faseranteile in H6he der Pyramidenspitze zu erkl~ren. * Herrn Prof. Dr. WALT]~R KOCHzu seinem 75. Geburtstag in dankbarer Ver- ehrung gewidmet.

„Tic douloureux“ und Gesichtsschmerz

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: „Tic douloureux“ und Gesichtsschmerz

Deutsche Zeitschrift f. Nervenheflkunde, Bd. 173, S. 161--183 (1955).

Aus der Neurologisch-Neuroehirurgischen Klinik der Freien Universit~t im Krankenhaus Westend, Berlin-Charlottenburg (Direktor: Prof. Dr. A. STANDER).

,,Tic douloureux" und Gesichtsschmerz. (Therapeutisehe und pathogenetische Betrachtungen.)

Von

ECKHARD SPERLING und ARIST STENDER ~.

(Eingegangen am 7. Februar 1955.)

1. Einleitung.

Der ,,Tic douloureux" (A~DR~ 1756) der typischen Trigeminusneuralgie geh6rt zu den heftigsten Sehmerzzust£nden der menschliehen Pathologie.

Die ~tiologie dieses Leidens ist bis heute nicht geklart. Es ist praktiseh jeder Antei] des Nerven yon der Peripherie bis zum eortikalen sensiblen Rindenfeld als m6glieher Ursprungsort der Neuralgie angespr0ehen worden. Dementspreehend wurden neurochirurgisehe Eingriffe mit dem Ziel der Leitungsunterbreehung an den peripheren Trigeminus~isten, dem Ganglion Gasseri, der Trigeminuswurzel, dem spina]en Tractus und neuerdings ira Thalamus (MoN.WIE~, RIECH~RT) aus- geffihrt. Der Erfolg dieser Behandlungsverfahren war begleitet yon einer Gefiihls. st6rung des ausgeschalteten Bereiches; die Schmerzbeeinflussung wurde als Effekt der Leitungsunterbreehung angesehen.

1951 gab TAARNI-IOJ eine Operationsmethode an, die Schmerzfreiheit ohne postoperativen Sensibilit~tsdefekt erbrachte; er nannte sie ,,intra- durale Wurzeldekompression". Bei diesem Eingriff wird auf intraduralem Wege alas Cavum Meckeli er6ffnet, und die Dura fiber der Trigeminus- wurzel bis in die hintere Sch~delgrube hinein gespalten. TAARNHOJ, wie aueh GARDNER, HAMBY, KAUTZKY U. a. schlossen auf maBgebliche mechanische Faktoren ffir die Pathogenese der Trigeminusneuralgie. Die Wurzel habe in ihrem Verlauf an der Felsenbeinspitze einen EngpaB, den sog. ,,Porus trigemini" zu passieren; in h6herem Alter wfirde die rigide Dura an dieser Stelle die Wurzel komprimieren; nach KAUTZKY bewirke dieser Druck eine Steigerung der Erregbarkeit oder Leitf~higkeit des Nerven, so dab schon geringe periphere Reize mit maximalen Ent- ladungen, den blitzartigen Schmerzanf~llen, beantwortet wfirden. Das vornehmliche Befallensein des 2. und 3. Astes sei zwanglos mit der topographischen Lage der Faseranteile in H6he der Pyramidenspitze zu erkl~ren.

r _ _ _

* Herrn Prof. Dr. WALT]~R KOCH zu seinem 75. Geburtstag in dankbarer Ver- ehrung gewidmet.

Page 2: „Tic douloureux“ und Gesichtsschmerz

162 ECKKARD SPERLING und ARIST STENDER:

Der Eingriff ist durch deu intraduralen Zugang und die Notwendig- keit der Unterbindung des Sinus petrosus sup6rior bei dem meist hSheren Lebensalter der Trigeminuskranken nicht ganz ungefiihrlich, weshalb yon LOVE eine Modifikation auf extraduralem Wege angewandt wurde. Der Erfolg war bei beiden Verfahren zufriedenstellend. Neuerdings (1954) berichtete TAAR~HOJ jedoch fiber Rezidive der Neuralgie trotz sicher durchgeffihrter Wurzeldekompression.

Pathogenetisch wurden bisher vornehmlich 3 verschiedene Meinungen vertreten: 1. Die Neuralgie sei Folge einer peripheren Irritation des Nerven (HARRIS, ROWSO- T ~ U. a.); 2. es l~ge ihr ursiichlich eine funktionelle, vasomotorische St6rung zugrunde (HAV, RTEL U. SIMOn, KIJLENKAMPFF U. a.); 3. wurden mechanische Fak- toren im Sinne einer Druck- oder Zugwirkung auf die Wurzel angeschuldigt (DANDY, OLIVECRO~A U. a.). Vereinzelte anatomische Untersuchungen des Ganglion Gasseri yon Trigeminuskranken lieBen Veriinderungen erkennen, die als Arteriosklerose- folgen zu deuten waren (Literatur bei D6RINO U. M~GC~ u. a.); SCHALTENBRAND verglich den Schmerzanfall mit dem ,,intermittierenden Hinken"; er nahm ischa- mische Zust~nde auf dem Boden einer Arteriosklerose an. LEWEy glaubte auf Grund pathologisch-anatomischer Befunde an eine thalamische Verursachung der Neural- gie. Ihr anfallsartiger Charakter weise eine gewisse J~hnlichkeit mit epfleptischen Anf~Uen auf. In jiingerer Zeit fand KA~.s Beziehungen zur Osteochondrose der Halswirbelsaule; SC~ULT~ U. KP~UTZU~ hielten DurchblutungsstSrungen in der Medulla fiir die mSgliche Ursache. Schon 1924 hob PETTE die besondere Bedeutung des Sympathicus fiir die Entstehung der Trigeminusneuralgie hervor.

Auf Grund der Erfahrung, dab die Trigeminusneuralgie durch Ein- griffe sehr verschiedener Art und von sehr versehiedenen Ansatzpunkten aus gfinstig beeinfluBt werden konnte, vereinfachte STENDER die Opera- tionsmethode derart, dab er ledigheh die Hfillen des Ganglion Gasseri freipr~parierte, ohne Fasern zu durchtrennen oder eine Wurzeldekom- pression durchzuffihren. Auch dieser Eingriff brachte Schmerzfreiheit. Er schloB daraus auf eine wesentlich vasomotorisch-funktionelle Ver- ursachung der Neuralgie.

ZOLCH sprach sich in Analogie zu der Osteochondrose der Wirbel- si~ule, bei der die ,,relative Verengung" cler Foramina intervertebralia den ,locus minoris resistentiae" ffir das Auftreten vaso-vegetativer StSrungen darstelle, ffir eine FunktionsstSrung auf dem Boden einer ,,relativen Beengung" im Bereieh des Porus trigemini aus.

1954 berichtete JENSE~ fiber gfinstige Ergebnisse bei einem grSBeren Material yon Trigeminuskranken mit Hydantoinmedikation. Er griff &abei zurfick auf Erfolge, die BERGOUm~A~ 1941 find D'AuLNAY 1950 mit dieser Therapie erzielen konnten. Von ALBRECHT U. K~UM~ wurde ebenfalls die ~berlegenheit der Hydantoine gegenfiber den sonstige,1 konservativen BehandlungsmSglichkeiten hervorgehoben.

Damit ist die Frage der Pathogenese der Tr.N. erneut gestellt: Eine Schmerzbeeinflussung l~Bt sich ohne Leistungsunterbrechung oder Wurzeldekompression erzielen; von den konservativen Behandlungs-

Page 3: „Tic douloureux“ und Gesichtsschmerz

,,Tic douloureux" und Gesichtsschmerz. 163

methoden scheint ein spezifisches Antiepilepticum den fibrigen Medi- kamenten fiberlegen zu sein.

2. Krankengut und Fragestellung. An Hand yon insgesamt 524 F~llen, die an Schmerzzust/~nden im Trigeminus.

bereich litten, versuchten wir, besonders im ttinblick auf (lie chirurgischen Be- handlungsverfahren, einen Einblick in mSgliclm pathogenetische Faktoren zu ge- winnen. - - Es handelte sich dabei um 436 Patienten aus den Jahren 194~-1952, yon denen 2] 1 mit nochmaliger Erhebung der genauen Vorgeschichte nachunter- sucht wurden; 21 Kranke gaben verwertbare briefliche Auskunft. Zus/~tzlich be- stellten wir die 18 yon STEaDIeR verSffentlichten'F$11e, bei denen die ,,Gangliolyse" ausgefiihrt worden war, nach nunmehr grSl3erem Zeitabstand nochmals ein. 70 weitere Patienten behandelten wir im Jahre 1954 mit Zentropiltabletten (Diphenyl- hydantoin).

Obwohl eine strenge diagnostische Scheidung zwischen der typischen Trigeminusneuralgie (Tr.N.) und den atypischen Gesichtsschmerzen, der sog. Prosopalgie, mehrfach hervorgehoben wurde (DSRING U. I~AGUN, SCHELLER U. a.), betonte kfirzlich auch FELIX mit Recht, dab eine klare diagnostisehe Abgrenzung zwischen diesen beiden Schmerzformen haufig betrachtliche Schwierigkeiten bereite. Offenbar gibt es eine Gruppe yon Fallen, bei denen eine Mischung im Schmerzcharakter zwischen dem echten Tic douloureux und dem atypischen Dauerschmerz vorzuliegen scheint. Diesen Fallen haben wir unsere besondere Aufmerksamkeit ge- widmet; sie scheinen wertvolle pathogenetische Hinweise zu geben.

Als ,,typische Tr.N." mSchten auch wir ,,messerstichartige", heftigste Schmerzattacken, meist im Versorgungsgebiet des 2. und 3. Astes auf- fassen. Sie treten fast ausschliel31ich auf geringste, die Peripherie treffende Reize hin auf und zeigen Schmerzfreiheit im Intervall. Es hat den An- schein, als ob dutch mehrere, aufeinander folgende Schmerzanfalle eine vorfibergehende Beruhigung eintreten kann (WEXBERG ll. a.).

Auf die Sonderstellung der Neuralgie des 1. Trigeminusastes wurde bereits mehrfach hingewiesen (KULENKAMPFF, TONNIS u. KREISSEL u. a.). Nach unseren Untersuchuagsergebnissen scheint jedoch nicht nur der isolierten Neuralgie des 1. Astes, sondern auch der atypischen ,,Mit- beteiligung" des 1: Astes (s. unten) bci sonst typischem Tic douloureux im 2. und 3. Ast eine besondere Bedeutung zuzukommen.

Dem typischen Krankheitsbild steh$ die Gruppe der atypischen Gesichtsschmerzen gegenfiber; 88 Patienten dieser letzteren Art konnten wir nachuntersuchen.

Als chirurgische Therapie wurde in mlserer Klinik fast ausschlieBlich die Methode nach FRAZIER (subtotale, retroganglion~re Wurzeldurchschneidung) angewandt. (~berwiegend besteht wohl die Ansicht (zuletzt such yon GUIDETTI aUS dem Nach- untersuchungsmaterial OLIVECRONAS best~tigt), dal3 diese Methode die sicher- sten Ergebnisse einbringt. WA~KE betonte, dab die Rezidive nach Wurzeldurch- schneidung in der hinteren Sch~delgrube (Dandysche Methode / 4 mal haufigcr zu erwarten seien, als nach der Durchschneidung in der mittleren Sch~delgrube. - -

Page 4: „Tic douloureux“ und Gesichtsschmerz

164 ECKHARD SFERLING und ARIST STENDER:

Auflerdem fiihrten wir die Alkoholblockade des Ganglion Gasseri nach HAERTI~r. durch. Die Alkoholinjektion nahmen wir bei den Kranken vor, denen auf Grund hohen Alters oder eines erheblichen Bluthochdruckes ein operativer Eingriff nicht zugemutet werden konnte, sowie bei solehen ]iingeren Patienten, bei denen im Rezidivfalle die Voraussetzungen fiir die Durchfiihrung einer Operation noeh giinstig waren. Infolge des starken Anfalles yon Kranken dieser Art muBten wir uns, besonders in den ersten Nachkriegsjahren, bei einer Anzahl leichterer F/tlle mit der Alkoholblockade begniigen, die zumeist ambulant durehgeffihrt werden konnte.

Im Zeitraum von 1946--1952 fiihrten wir 158 mal die Alkoholbloekade des Ganglion Gasseri, 92 mal die Operation nach FRAZIER durch.

Bei der epikritischen Sichtung des Krankengutes wurden u. a. Lebensalter, Konstitution, Blutdruck, Herderkrankungen, sowie be- sonders die Ergebnisse der therapeutischen Eingriffe genau untersucht.

3. Typische Trigeminusneuralgie.

Bei Betrachtung des Lebensalters der Kranken zur Zeit des ersten Auftretens yon typischem Tic douloureux ergibt sich das bekannte ~berwiegen der hSheren Altersklassen. Bedeuttmgsvoll erscheint uns jedoch die Tatsache, da~ die Neuralgic auch in jungen Jahren einsetzen kann, so dab Altersver/~nderungen nJcht als Bediwu W fiir das Auf- treter~ der Tr.N. angenommen werden k6rmen (s. Tabelle 1).

Die yon DSRING U. ~IAGVN beschriebene groi~eAnzahl yon Hypertonikern unter den Tr.N.-Kranken konnten wir in unserem Krankengut, wie auch ALBRECHT u. KRUMP (Krankengut der Neurochirurgischen Abteilung

Tabelle 1. Alter bei Kran]cheitsbeginn.

Unter 20 J. 3 50--60 J. 130 20--30 J. 12 60--70 J. 58 30--40 J. 41 70--80 J. 10 40--50 J. 72 Zusammen: 326

Es ist ersichtlich, dal~ die typische Tr. N. auch in jungen Jahren auftreten kann (326 FMle; Angaben lt. Krankenbli~tter des Gesamtkrankengutes).

Erlangen), nicht best~tigen. Wir fanden Bluthochdruck in 26% der typischen F~lle. Eine Beziehung zwischen einem evtl. vorhandenen Hypertonus und dem Auftreten von Schmerzanf~llen bestand ebenfalls nicht. War pr~operativ ein erhShter Blutdruck vorhanden, so konnte er in der Regel auch nach erfolgreicher Operation nachgewiesen werden und war h~ufig entsprechend dem Lebensalter angestiegen. Ebenso lieI3 sich ein ~berwiegen bestimmter Konstitutionstypen nicht feststellen.

Da mehrfach die Auffassung vertreten wurde, dab die Neuralgie durch Krankheitsprozesse in der Nachbarschaft der peripheren Trige- minus~ste verursacht wiirde (s. o.), widmeten wir diesen bei der Erhebung der Vorgeschichte besondere Aufmerksamkeit. Unter den

Page 5: „Tic douloureux“ und Gesichtsschmerz

,,Tic douloureux" und Gesichtsschmerz. 165

nachuntersuchten Patienten fanden sich seitengleiche Herderkran- kungen jedoch nur in 19% der typischen Falle von Tr. N. (s. Tabelle 2).

Bekannt ist, dab beim Tic douloureux die reehte Gesiehtshi~lfte haufiger befallen ist, in unserem Material zu 65%. Naeh unseren Fest- stellungen ist die reehte Gesiehtshalfte aber auch bei den atypischen

Tabelle 2. Herderkrankungen. Homolaterale Zahnerkrankungen . . . . . . . . . . 10 Homolaterale StirnhShlenerkrankungen . . . . . . . 2 Homolaterale Augenerkrankungen . . . . . . . . . 3 I-Iomolaterale Nasenaffektionen . . . . . . . . . . . 1 Itomolaterale Mittelohrerkrankungen . . . . . . . . 3 Homolaterale KieferhShlenerkrankungen . . . . . . . 6

25 Fokal negativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Davon erhebliche Zahncaries ohne Seitenbevorzugung . 30

Bei der fiberwiegenden Anzahl der Kraaaken waren tterderkrankungen in der Vorgeschichte nicht nachweisbar(137 typische FNle im NachuntersuchungsmateriM).

Sehmerzzustanden im Trigeminusbereich (660/0), sowie bei den Herpes- Zoster-Neuralgien des Gesichtes (61%) haufiger erkrankt. Diese Fest- stellung macht eine yon HARRIS geauBerte Vermutung, wonach Zahn- erkrankungen als Ursache der Neuralgic anzunehmen waren, unwahr- scheinlich. Er nahm an, dab beim Rechtshander das Zahneputzen der linken GebiBhalfte griindlicher erfolge als auf der rechten Seite. Hieraus sehloB er auf eine haufigere Cariesgefahrdung der rechten Seite und damit sekundar auf eine Haufung der Tr. N. auf dieser Seite.

Ergebnisse der operativen BehandlungsmaSnahmen.

(Operation nach FRAZIER und Alkoholblockade nach HAERTEL.) Diese waren am giinstigsten, sofern es sich um echte Schmerz-

anfalle vom Typ des Tic douloureux im 2. und 3. Ast handelte. Bei der Methode nach FRAZlER (S. Tabelle 3), waren von 53 nachuntersuchten Kranken 42 als geheilt anzusprechen. Die Katamnesen umfaBten einen Zeitraum yon 2--7 Jahren. Nur in 2 Fallen kam es zu einem typischen Schmerzrezidiv. Restbeschwerden in Form von postoperativem Brenn- schmerz, Anaesthesia dolorosa oder Ceratitis neuroparalytica wurden von 9 Kranken angegeben (s. Tabelle 5}. In diesem Zusammenhang sei sehon an dieser Stelle vorweggenommen, dab bei solehen Patienten, die neben den echten paroxysmalen Schmerzen vom Typ des Tic doulou- reux, die bekanntlieh zumeist im 2. und 3. Ast auftreten, schon pra- operativ auBerdem eigentiimliche, prolongierte Schmerzzustande mit Brenncharakter (nicht Tic douloureux) im Stirn-Augenbereieh, also dem

Page 6: „Tic douloureux“ und Gesichtsschmerz

166 ECKHARD SPERLING und ARIST STENDER:

Versorgungsgebiet des 1. Tr.-Astes, zu verzeichnen waren. Diese aty- pisehe ,,Mitbeteiligung" des 1. Astes wird weiter unten eingehend be- sprochen w e r d e n . - (Die ErSrterung der selten auftretenden postopera- riven Parasthesien wurde in diese Arbeit nicht einbezogen.)

Nachuntersucht nach Jahren

Ffille

Tabelle 3. Ergebnisse der Wurzeldurchschneidung nach FRAZIER: 53 F5lle. ( N achuntersuchungsmaterial )

bis i1 [ahre !

1 9

Restbeschw.

(s. auch Tabelle 5)

Tabelle 4. Ergebnisse nach Alkoholblockade des Ganglion Gasseri (]:[AERTEL) : 85 F ~ille. ( Nachuntersuchungsmaterial)

/

I Beschwerdefrei insg. I

Nachunter - sucht nach Jahren

Ftille 47

Gr6Bere Rezidivneigung

Rezidive

1 2 3!

insg.

5)6

uube- Restbe- einfluOt schw.

S ,

auch Tab. 5

17

als bei der FRAZIE~chen Methode.

Der bei der Nachuntersuehung erhobeue sensible Befund entsprach den bekannten Verh~ltnissen. Es land sich in der Regel eine Norm- bis Hypalgesie im 1. Ast, eine deutliche Hypalgesie im 2., sowie eine Hyp- his Analgesie im 3. Ast.

Die Erfolge der Alkoholbloekade des Ganglion Gasseri nach HAERTEL waren ebenfalls recht gfinstig, sofern es sich um typische F~lle yon Tic douloureux handelte, jedoch ist die l~ezidivh~ufigkeit dieser l~Iethode, besonders innerhalb des 1. Jahres, grSBer als die nach operativer Wurzel- durchschneidung (s. Tabelle 4).

Eine Operation wegen Rezidivs nach Alkoholblockade des Ganglion Gasseri wurde in 2 F/~llen nach 2 Jahren, in 1 Fall nach 3 Jahren, in 5 F/~llen nach 4 Jahren, sowie einmal nach 5 Jahren notwendig.

Hervorzuheben sind die Angaben yon 7 Patienten, die nach der Alko- holinjektion in das Ganglion Gasseri beschwerdefrei waren, obwohl die Nachuntersuchung eine vSllig wiederhergestellte Sensibilit/~t ergab. (Nachuntersuchungszeit lma l 6 Jahre, 2 real 5 Jahre, 3 real 3 Jahre, 1 mal 2 Jahre.) Die Leitungsunterbrechung ist demnach nicht als Be- dingung ffir den Heilerfolg anzusprechen.

Page 7: „Tic douloureux“ und Gesichtsschmerz

,,Tie douloureux" und Gesichtsschmerz. 167

4. ,,Mitbeteiligung des 1. As tes" .

Lag p r i iopera t iv neben dem typ i schen Tic dou loureux eine , ,Mitbe- te i l igung" des 1. Astes in F o r m a typiseher , p ro longier te r Brennschmerzen vor, so wurde in mehr als zuf~lliger H~ufung nach e inem Eingr i f f am Gangl ion Gasseri fiber Res tbeschwerden geklagt . Hierbe i scheint dem Schmerzcha rak te r im St i rnbere ieh besondere Bedeu tung zuzukommen.

Zuvor mSchten wir 2 Sehmerzqua l i t~ ten un te rsche iden : 1. Schmerzen durch vorwiegende I r r i t a t i o n eines sensiblen Nerven (animales Sys tem) , 2. Vorwiegend vege t a t i v gele i te te Sehmerzen. Der Schmerz des an imalen sensiblen Nerven wird oberfl~chlich, schar f abgrenzbar , ziehend, k r amp- fend, bis zum Tic-Anfal l geschi lder t . Der vege ta t ive Sehmerz is t an- dauernd , mehr in die Tiefe lokal is ier t und h a t h~ufig B r e n n e h a r a k t e r ; zeitweil ig t r i t t e r fiir S tunden ve r s t~ rk t auf.

Die folgenden Krankengesch ieh ten mSgen d i e Bedeu tung einer ge- nauen Ana lyse des Schmerzeharak te r s im Bereieh des 1. Tr igeminus- astes, aueh im Hinb l i ck a u f die Erfo lgsauss ieh ten the rapeu t i sche r Ein- griffe, verdeut l ichen .

.Fall 1. Pat. M. S., 65 Jahre, erkrankte mit 54 Jahren an typischen Tic doulou- reux-Anf~llen vornehmlich im 1. Ast links. Der Schmerzcharakter wurde als ,,messerstichartig" angegeben. Zwischen den einzelnen Schmerzanf~llen bestand vSllige Besehwerdefreiheit. Nach einer Alkoholblockade des Ganglion Gasseri ist die Pat. seit 6 Jahren yon ihren Sehmerzen geheilt. Es besteht Hypalgesie im 1. und 2. und eine Normalgesie im 3. Trig.-Ast.

Fall 2. Dagegen gab der jetzt 69j~hrige Pat. W. M. typischen Tie douloureux im 2. Ast rechts seit dem 53. Lebensjahr an. Gleiehzeitig bestanden jedoeh brennende Sensationen fiber und hinter dem rechten Auge, die aueh unabhangig yon den Schmerzattaeken in der Wangengegend auftraten. Eine 1944 ausw~rts durchge- ffihrte Alkoholblockade des Ganglion Gasseri beseitigte den Tie-Sehmerz, hinter- liel] aber trotz vollst~ndiger An~sthesie einen brennenden, anfallsweise fiir Stunden verst~rkten Dauerschmerz in der rechten Augengegend, weshalb 1949 die totale Faserdurchtrennung yon der mittleren Sch~delgrube aus vorgenommen wurde. Der Schmerz blieb unver~ndert; er wurde als brennender Danerschmerz in der Stirn und hinter dem Auge geschildert. Dieser Pat. bekam eine Ceratitis neuro- paralytiea.

Fall 3. ~hnliehe Angaben machte der jetzt 54j~hrige ]?at. G. A., der mit 47 Jahren an typischem Tic douloureux reehts im Versorgtmgsgebiet des 2. und 3. Astes erkrankte. Au~erdem wurden jedoeh aueh fiber im Intervall auftretende, bren- nende Schmerzen um das rechte Auge herum geklagt. Durch eine 1950 vorge- nommene Alkoholblockade nach Hi~RTEL wurden die vom Hautareal auslSsbaren Schmerzanfitlle im 2. und 3. Ast beseitigt; in der Stirn-Augengegend, mehr in die Tiefe projiziert, bestand der anfallsweise, oft Stunden w~hrende, eher intensivierte Brennsehmerz mit gleichzeitig vermehrter Tr~nensekretion fort. Bei der Unter- suchung naeh 6 Jahren fand sieh eine Analgesie aller 3~ste reehts, ein konjunkti- valer Reizzustand des rechten Auges, sowie eine erhebliche Druekempfindliehkeit des reehten l~.occipitalis, der Halswirbels~ule und rechtsseitigen Nackenmuskulatur. Am reehten Arm war eine radikulare Hypalgesie entspreehend der Wurzel C 8 nachweisbar.

Dtsch . Z. Nervenhe i lk . , Bd . 173. ] 2

Page 8: „Tic douloureux“ und Gesichtsschmerz

168 ECKHARD SPERLING und ARIST STANDER:

Fall 4. Ein t~bergang in das Vollbild der sog. ,,Anaesthesia dolorosa" wird durch den Fall M. B. demonstriert. Die 67j~hrige Patientin erkrankte 4 Jahre zuvor an typischem Tic douloureux im 2. Ast rechts; daneben bestanden heftige, brennende Stirn-Augensensationen. Nachdem eine Exhairese des N.infraorbitalis reehts nur vorfibergehende Erleichterung gebraeht batte, wurde 1949 die Alkoholblockade des Ganglion Gasseri vorgenommen. Bei vollst~ndiger Analgesie der reehten Ge- siehtshMfte wurde nunmehr fiber einen heftigen Brennsehmerz der ganzen reehtcn Gesiehtshkfft~ mit Ausstrahlung in den •acken und den reehten Arm geklagt. Eine deswegen noeh im gleiehen Jahre durehgeffihrte Totalexstirpation des re. Ganglion Gasseri braehte keine Linderung. Bei der Untersuchung nach 5 Jahren war die Analgesie noeh vollsti~ndig; aul~erdem gab die Pat. eine erhebliehe Druek- schmerzhaftigkeit des reehten •.oeeipitalis, der HWS und gleiehseitigen Naeken- muskulatur an.

Epikrise : I m Fall 1 handelte es sich um einen jener seltenen F~lle von typischem Tic douloureux im 1. Trigeminusast (nur 2 F~lle in unserem naehuntersuchten Krankengut) . Durch die Alkoholblockade des Gan- glion Gasseri wurde der typische Schmerzzustand beseitigt. I m 2. Fall schwand nach einer Alkoholblockade des Ganglion Gasseri der Tie dou- loureux im 2. Ast, w~hrend die brennenden Sensationen hinter und fiber dem Auge bestehen blieben. Sie wurden auch durch eine einige Jahre spi~ter vorgenommene totale Durchschneidung tier Trigeminus- wurzet v o n d e r mittleren Sch~delgrube aus nicht beeinfluBt. Es kam im Gegenteil zu einer Intensivierung des bereits pr~operativ vorhanden gewesenen atypischen Dauerschmerzes bei gleiehzeitigem Sistieren der typischen Tic douloureux-AnfKlle. Im Fall 3 liel~en sich die typischen Tie 4ouloureux-Anfiille 4urch eine Alkoholblockade ebenfalls beseitigen, w~hrend die aueh hier pr~operativ angegebenen brennenden Sehmerzen um alas Auge herum eher intensiviert wurden. Bezeichnend war, dab in diesem Fall dariiber hinaus ein Halswirbels~ulensyndrom mit radi- kul~rer Komponente (Nacken-Armschmerz, Sensibili t~tsstSrung)be- stand. Aueh im Fall 4 wurde pr~operativ neben dem Tic douloureux ein atypischer Stirn-Augensehmerz angegeben; naeh Alkoholblockade des Ganglion Gasseri stellte sieh eine typische Anaesthesia dolorosa ein. Es lied sieh bei der Nachuntersuchung auch in diesem Fall ein Hals- wirbels~ulensyndrom feststellen.

Die vorstehend angeffihrten Krankengesehichten sinct bezeiehnend fiir die Bedeutung tier ,,Mitbeteiligung" des 1. Astes. In unserem 51ach- untersuchungsmaterial fanden sich alle ~bergi~nge von leichten Sen- sationen in der Augengegend bis zum heftigen Brermsehmerz tier ganzen befallenen Gesichtsseite mit Ausstrahhmg in den gleiehseitigen Hinter- kopf. Von 37 Fi~llen mit typisehem Tie 4ouloureux ira 2. bzw. 3, Trige- minusast und gleiehzeitiger atypiseher ,,Mitbeteiligung" des 1. Astes klagten 25 Kranke trotz durchgeffihrter Eingriffe am Ganglion Gassed (Alkoholbloekacle naeh HAERTEL oder Operation naeh FRAZI~R) fiber den gleichen oder sogar einen verst~rkten Breimschmerz in der Augen-

Page 9: „Tic douloureux“ und Gesichtsschmerz

,,Tic douloureux" und Gesichtsschmerz. 169

gegend, obwohl die Tic douloureux-Anf~lle beseitigt waren. Wir haben den Eindruck, dal3 die Intensitiit der postoperativen Besehwerden in einem gewissen Verhi~ltnis zu der Sti~rke der bereits priioperativ ge- klagten, atypisehen Stirn-Augensehmerzen steht. War der atypische Sehmerz nur geringgradig vorhanden, so wurde er naeh dem therapeuti- sehen Eingriff zumeist nieht mehr geklagt. Wurden jedoeh sehon prii-

Tabelle 5 (s. aueh Tabelle 3 reehte Spalte). Restbeschwerden nach rdroganyliondrer Wurzeldurchschneidun 9 nach FRAZZER: 9 Fdl/e

(s. Text).

davon Mit- davon ] Zahl beteiligung HWS-

der F&lle des 1. Astes Syndrom

Postoperat. Brennschmerz 6 : 5 4 Anaesthesia dolorosa 1 1 1 Ceratifis 2 2 1

operativ neben dem Tie douloureux die oben beschriebenen atypischen Brennsehmerzen in stiirkerer Intensiti~t angegeben, so blieben diese dureh die ehirurgische Therapie v611ig unbeeinfluBt; in einigen Fiillen wurden sie sogar bis zum Bild der Anaesthesia dolorosa verst/~rkt. Aul3er- dem fiel auf, dab yon den Kranken, die den Brennschmerz in tier Stirn- Augengegend angaben, hiiufiger als es dem Durehschnitt bei i~lteren Menschen entspreehen wfirde, aueh fiber einen Hinterkopf-Nacken- sehmerz, und zwar auf tier gleichen Seite der Tr. N., geklagt wurde. Bei tier Untersuehung boten sieh dann Befunde, die wir sonst als Symptome einer Osteochondrose der Halswirbelsiiule deuten wfirden.

Bemerkenswert erseheint ferner die Tatsaehe, daB. sieh die Fi~lle, die pri~operativ eine ,,Mitbeteiligung" des 1. Astes in atypiseher Form boten, als besonders disponiert ffir das Auftreten einer Ceratitis neuroparaly- tiea naeh einem Eingriff am Ganglion Gasseri erwiesen (z. B. Fall 2). Von 5 F~llen mit postoperativer Ceratitis neuroparalytiea ldagten 4 Patienten prgoperativ fiber Brennsehmerz in der Augengegend.

l~ur e iner dieser 5 P a t . zeigte keine , ,Mi tbe te i l igung" der e rwi ihn ten Art . Das Entstehen der Corneaerkrankung war jedoeh in diesem Falle ohne Schwierigkeit dadurch zu erkl~ren, dab der Pat. seine an~sthetisehe Cornea bei der Arbeit als Stubenmaler stiindig durch Farbspritzer gef~hrdete und es ablehnte, eine Schutz- briUe zu tragen.

Die TabeUen 5 und 6 versehaffen einen ~berbhck fiber diejenigen nachuntersuehten Kranken, die nach Wurzeldurchschneidung nach FRAZIER bzw. Alkoholbloekade des Ganglion Gasseri fiber Restbe- sehwerden in Form eines Brennschmerzes in der Stirn-Augengegend bzw. Anaesthesia dolorosa klagten oder bei denen sieh postoperativ eine Ceratitis neuroparalytiea einstellte. Es ist ersiehtlich, dab die fiber-

12"

Page 10: „Tic douloureux“ und Gesichtsschmerz

170 ECKHARD SPERLING und ARIST STENDER:

wiegende Anzahl dieser Kranken bereits vor dem Eingriff eine atypische ,,Mitbeteiligung" des 1. Astes in Form eines Brennschmerzes angab. AuBerdem haben wir diejenigen Patienten aufgef/ihrt, bei denen sich bei der Nachuntersuchung ein ttalswirbels/~ulensyndrom nachweisen lieB. Wir mSchten hervorheben, dab bei den beiden F/illen yon Anaesthe- sia dolorosa sowohl der atypische Brennschmerz in der Stirn-Augen- gegend, als auch der gleichseitige Hinterkopf-Nackenschmerz bereits pr/ioperativ besonders ausgepr/~gt vorhanden war.

Tabelle 6 (s. auch Tabelle 4 rechte Spalte). Restbeschwerden nach Alkoholblockade des Ganglion Gasseri: 17 FSlle (s. Text).

davon Mit- ] davon Zahl beteiligung HWS-

i der F~llo des 1.Astes Syndrom

Postoperat. Brennschmerz 10 9 Anaesthesia dolorosa 2 2 Ceratitis 5 4

5. Atypische Schmerzzust~inde im Gesichtsbereich. In diese Gruppe mSehten wir solche Kranke einreihen, yon denen in

der Regel ein diffuser, mehr in die Tiefe lokalisier~er, h/~ufig brennender Dauerschmerz mit zeitweiliger, anfallsweiser Verst/~rkung geklagt wurde. Die Schmerzen hielten sich im Gegensatz zu den typischen F/~llen yon Tr. N. zumeist nicht an die Grenzen der Versorgungsgebiete der einzelnen Trigeminus/~ste. Diese Krankengruppe umfaBt eine Vielfalt verschiedener Symptomenbilder und -ursachen. Bei dem Versuch einer Ordnung mSch- ten wir summarisch untersoheiden zwischen 1. atypischer Tr. N., 2. sym- ptomatisch ausgel6ster Tr.N., sowie 3. vegetativ bedingtem Gesiehts- schmerz, der m6glicherweise als Reizsymptom einer bestehenden Osteo- ehondrose der Halswirbels~ule aufzufassen ist. Eine Sonderstellung nehmen offenbar die oft recht hartn/~ckigen und therapeutisch fast un- beeinfluflbaren Neuralgien nach Herpes Zoster ein. Unter den atypischen Trigeminusneuralgien wollen wir Dauerschmerzzust/~nde der oben ge- schilderten Art verstehen, ftir die sich eine faBbare Ursache nicht fest- stellen lieB (18 F/~lle des naehuntersuehten Krankengutes). In der Gruppe der symptomatisch ausgel6sten Tr. N. haben wir hingegen solche Kranke eingeorctnet, bei denen sieh ein atypiseher Gesichtssehmerz in urs/~ch- lichem Zusammenhang mit einer gleichseitigen 6rtlichen Erkrankung (z. B. Nebenh6hlen- oder Augenentziindung, Zahneiterung, Verletzung u. a.) einstellte, jedoch auch nach Sanierung evtl. vorhandener Herde bestehen blieb (30 F/~lle). Von einigen Patienten dieser Gruppe wurde der Dauerschmerz umschrieben lokalisiert angegeben; der Schmerz- eharakter war ,,ziehend". Auf diese Einzelf~lle werden wir noch einmal zurfickkommen, da sie wiederum die Bedeutung der genauen Analyse

Page 11: „Tic douloureux“ und Gesichtsschmerz

,,Tic douloureux" und Gesichtsschmerz. 171

des Sehmerzcharakters im Hinbliek auf die Indikationsstellung ffir Ein- griffe am Ganglion Gasseri unterstreiehen. Bei der 3. Gruppe, die wir jetzt als vegetative Schmerzzust~nde bei Osteochondrose der ttalswirbel- si~ule auffassen m5chten, stand der Gesichtsschmerz deutlich im Vorder- grund. Bei den 21 F~tllen unseres nachuntersuehten Materials, die wir bier einordnen mSchten, fie1 auBer einem vornehmlich in der Stirn- Augengegend geklagten Brennsehmerz ]edoch ein gleichzeitig vo r - handener Hinterkopfschmerz mit teilweiser Einbeziehung des be- treffenden Armes auf. In einigen dieser F~lle lieBen sich Befunde wie beim vegetativen Reizsyndrom des oberen KSrperquadranten (DSRING U. a.) mit partiellem Hornerschen Syndrom und Hyp- bzw. Hyperalgesie im befallenen oberen K6rperviertel nachweisen. Nachdem sich andere therapeutische Mal]nahmen wie Stellatumblockaden, in zwei F~llen Alkoholblockaden nach HAERTEL U. a. als erfolglos erwiesen hatten, ffihrte eine Ultraschallbehandlung der ttalswirbels~ule in bisher 16 dieser F~lle zu einem v5lligen Abk]ingen der Schmerzen. Dieser atypische Dauerschmerz wird yon den Patienten etwa in der gleiehen Art ge- schildert, wie der neben dem typischen Tic douloureux bestehende Brennschmerz, yon dem wir im Kapitel ,,MJtbeteiligung des 1. Astes" berichtet haben. - - Inwieweit die in h5herem Alter allf~llige Osteo- chondrose der Halswirbels~ule als Ursache der Besehwerden tats~ehlich in Frage kommt, wird in der neueren Literatur fiber das ttalswirbel- s~ulensyndrom lebhaft diskutiert. Es scheint, als spiele bei der Ent- stehung dieser Beschwerden eine besondere vegetative Ausgangslage eine grSl]ere Rolle, als die altersbedingten Halswirbels~ulenver~nde- rungen selbst ; jedenfalls ist darfiber bekanntlich eine sehr umfangreiche Literatur entstanden (u. a. PETTE, SAKER, ZtTLCH, BENTE, B~RTSCH).

Als Beispiel ffir diese unsere 3. Gruppe yon atypischen Gesichts- schmerzen mSchten wir fiber den Fall 5 berichten.

Fall 5. Die Pat. A. D., 32 Jahre alt, die seit jungen Jahren an einer Schilddrtisen- iiberfunktion litt, erkrankte mit 28 Jahren an einem brennenden, anfallsweise auf- tretenden Dauerschmerz in der rechten Stim-Wangengegend, sowie brennenden Schmerzen hinter dem rechten Auge. Bei der Untersuchung wurde eine Druck- empfindlichkeit des rechten N. supraorbitalis und des rechten N. occipitalis ge- funden, sowie eine radikul~re ttypalgesie am rechten Arm entsprechend der Wurzel C 6. 10 Novocainiiberflutungen des rechten Ganglion stellatum besserten den Zu- stand ftir 7 Monate. Nach Wiederkehr heftiger Beschwerden waren nochmalige Stellatumblockaden erfolglos, dagegen trat eine deutliche Besserung nach Ultra- schallbehandlung der Halswirbelsaule ein, die zur vSlligen Schmerzfreiheit fiihrte. Bei der nach 2 Jahren erfolgten Nachuntersuchung lieB sich bei der Pat., die sub- jektiv vSllig beschwcrdefrei war, auch objektiv kein krankhafter Befund mehr erheben.

Epikrise : In diesem Fall handelte es sich um einen vegetativen Reiz- zustand bei rSntgenologisch naehgewiesener Osteochondrose der Hals- wirbels~ule eines jungen lYIenschen mit radikul~ren Ausi~allen. Aul]erdem

Page 12: „Tic douloureux“ und Gesichtsschmerz

172 ECKHARD SPERLING und ARIST STENDER:

lag sioher eine durch die Schilddrfisenfiberfunktion gestSrte vegetative Ausgangslage vor. Ein Eingriff am Ganglion Gasseri war im Hinbliek auf den atypischen Schmerzzustand von vornherein unterlassen worden. Es gelang zun~ehst, durch Novocainfiberfiutungen des gleichseitigen Ganglion stellatum den Schmerz gfinstig zu beeinflussen, jedoch blieb diese Therapie bei Wiederauftreten der Schmerzen erfolglos. Erst mit Hilfe einer intensiven Ultrasehallbehandlung der Halswirbels~ule konnte vSllige Schmerzfreiheit erreicht werden.

Bei fast allen unseren F~llen von atypischen Schmerzzust~nden im Trigeminusbereich, gleich welcher der 3 yon uns aufgestellten Krank- heitsgruppen sie angehSren - - ebenso wie bei den Neuralgien naeh Herpes Zoster des Gesichts - - , erwiesen sich Eingriffe am Ganglion Gasseri (Alkoholblockade nach HAERTEL oder Operation nach FRAZIER) als erfolglos. Von 29 Eingriffen dieser Art kam es nur in 2 F~llen zu einer Schmerzheilung. Hierbei handelte es sieh um 2 Patienten mit sympto- matiseh ausgelSster Tr.N., die isoliert im 2. Ast nach KieferhShlen- vereiterung aufgetreten war. Im Gegensatz zu den fibrigen Kranken, die einen schleelit lokalisierbaren Dauersehmerz mit Brenncharakter angaben, klagten diese beiden Patienten fiber einen ziehenden, kramp- fenden, streng auf das Versorgungsgebiet des 2. Astes besehr~nkten Dauerschmerz ohne brennenden Charakter. Beachtenswert erscheint, dag das Stirn-Augengebiet am Schmerzgeschehen nicht beteiligt war, worauf u. E. der giinstige Erfolg mit zu beziehen ist.

Zusammenfassend ist fiber die atypisehen Schmerzzust~nde im Trige- minusbereieh folgendes auszusagen: Handelt es sich um einen diffusen, mehr in die Tiefe lokalisierten Dauerschmerz mit Brenncharakter, so ist yon Eingriffen am Ganglion Gasseri keine Besserung zu erwarten. Diese ~aBnalimen haben bei den atypischen Schmerzformen fiberhaupt nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn 4er Dauersehmerz streng lokalisiert auf das Versorgungsgebiet eines Trigeminusastes besehr~nkt ist, ~hnlieh dem Zahnsclimerz als ziehend-krampfend gesehildert wird und keinen Brenneharakter aufweist. In der fiberwiegenden Zahl cter F~lle wird jedoch 4er atypisehe Brennschmerz in der Stirngegend angegeben, zumindest ist dieses Gebiet ,,mitbeteiligt". Damit ist die Indikation zu Eingriffen am Ganglion Gasseri u. E. bei diesen F~llen auszuschheBen.

TONNIS u. KREISSEL, die ebenfalls die Sonderstellung des 1. Astes bei der Tr.N. betonten, faBten derartige ,,Supraorbitalneuralgien" als symptomatische Schmerzzust~nde auf; sie nahmen als mSgliche Ursache arachnitische Verwachsungen in der hinteren Seh~delgrube an, die sie bei einigen ihrer derartig gelagerten F~lle bioptisch naehweisen konnten. Es hat den Anschein, als w~ren die Erfolge nach Eingriffen in der hin- teren Sch~delgrube bei atypischen Sehmerzzust~nden im Bereich des 1. Trigeminusastes giinstiger ;von Eingriffen am Ganglion Gasseri salien

Page 13: „Tic douloureux“ und Gesichtsschmerz

,,Tic douloureux" und Gesichtsschmerz. 173

wir, wie betont, keine fiberzeugende Schmerzbeeinflussung. Dagegen berichteten TSNNIS U. KR~.~SSEL gerade bei solehen F~llen in der weit- aus grSBten Zahl der Kranken fiber Sehmerzheilungen dureh die Traeto- tomie naeh SJOQVIST. Aueh ein Fall unseres Krankengutes, der an einem anfallsweise auftretenden Dauersehmerz mit Brenncharakter im Stirn-Augenbereich litt und keine BeeinfluBbarkeit durch die Alkohol- blockade nach HAERTEL zeigte, wurde dureh die Tractotomie nach SJOQVIST schmerzfrei. Ob der Erfolg auf die Methode der Tractotomie selbst oder auf die Operation in der hinteren Sch~delgrube als solche zu beziehen ist, erscheint uns nicht sicher gekli~rt. Uns sind 2 Kranke bekannt, die ebenfalls an einem ~typisehen Brennschmerz im Stirn- Augengebiet litten, aul~erhalb nach der ~ethode von FRAZIER erfolglos operiert wurden, jedoch dureh die daraufhin durchgeffihrte Wurzel- durehschneidung in der hinteren Sch~delgrube nach D.kND¥ beschwerde- frei wurden.

Es gibt aber schwere F~lle derartiger atypischer Schmerzzust~nde, bei denen sich jeglieher Eingriff am sensiblen System des Trigeminus als erfolglos erwies. Gerade diese F~lle stiitzen unsere Annahme, dab es sich bei den schweren Brennschmerzzust~nden, die nach Operationen dann den Charakter der Auaesthesia dolorosa annehmen, um Schmerzen handelt, die nicht auf den Bahnen des animalen, sondern des vegetativen Nervensystems geleitet werden. Itierzu folgendes Beispiel:

.Fall 6. Der jetzt 75j~hrige Pat.N.G. erkrankte mit 68 Jahren an heftigen, mehr bren- nenden Dauerschmerzen in der linken Augen-Wangengegend, die sich nach seinen Angaben beim Essen und Sprechen versti~rkten. Gleichzeitig bestanden ziehende Schmerzen in der linken Schulter. 4 periphere Alkoholinjektionen links infraorbital, ausw~rts durchgefiihrt, sowie eine Ganglionblockade nach ItAERTEL, brachten keine Erleichterung. Da auch die Operation nach FRAZIER, die wegen der ,,tic- artigen" Exacerbationen vorgenommen wurde, keine Besserung ergab, nahmen wir noch im gleichen Jahre 1949 die Totalexstirpation des linken Ganglion Gasseri vor. Der Pat. klagte weiterhin glaubhaft fiber heftige Schmerzen. Wir ffihrten die Traktotomie nach SJSQVIST durch : auch diese brachte keinen Erfolg. Lediglich die kontralaterale, pr~frontale Leukotomie besserte den Schmerz des jetzt merkbar abgebauten Pat. zu einem subjektiv ertragbaren Zustand.

Epikrise: Aus dieser Krankengeschichte geht deutlich hervor, dab eine noeh so radikale l~esektion si~mtlieher Fasern im Bereich des N. trigeminus in manchen F~llen keine Schmerzfreiheit bewirkt und zwar u. E. dann, wenn der Schmerz in atypischer Weise Brenncharakter hat.

ZiiLCH dagegen hielt es fiir mSglich, dab der h~ufig nach unvollst~ndiger Nerven- durchtrennung zurfickbleibende, heftige, brennende Schmerz, auch im Trigeminus- bereich, auf eine sensible Fehlleistung infolge Reduktion der Anzahl der leitenden Fasern zuriickzufiihren w~tre. Er schlug deshalb fiir solche Kranke die nochmalige, nunmehr vollst~tndige Faserdurchtrennung vor. Wir meinen, dai~ es nicht die reduzierte Anzahl der verbliebenen Fasern ist, die in unseren F~llen den Brenn- schmerz verursachte, sondern dab dieser auf anderen, vegetativen Bahnen geleitet wird. Anders scheint uns das Beispiel unseres Falles N. G. nicht deutbar zu sein.

Page 14: „Tic douloureux“ und Gesichtsschmerz

174 ECKHARD SPERLING und ARIST STENDER:

6. Anaesthesia dolorosa.

I n der Annahme , d a b der yon den K r a n k e n t ro tz v511iger Lei tungs- un te rb rechung geklagte Brermsehmerz ein vege t a t i ve r Sehmerzzus tand sei, f f ihr ten wi t bei 2 P a t i e n t e n eine Behand lung m i t gangl ienbloekieren- den Mi t te ln durch. I n diesen beiden Fa l l en kombin ie r t en wir die Pheno- th i az inde r iva te Megaphen und Atosi l m i t Lumina l , um eine mSgliehst bre i te Beeinf lussungsmSglichkei t zu haben. W~hrend alas Megaphen neben seiner bekann ten zent ra len K o m p o n e n t e vorwiegend sympa th i - eolyt iseh wirk t , so wird dem Atosi l e i n hypno t i sehe r und mehr para - sympa th i eo ly t i s ehe r Effekt zugeschrieben. Darf iber h inaus potenzieren diese be iden Med ikamen te die W i r k u n g des Lumina l als S t ammhi rn - s eda t i vum und Sehlafmi t te l .

Wit gaben je naeh Eintritt yon SeMafrigkeit steigende Dosen his zu 8real ti~g- lieh eine Tablette Megaphen und Atosil, sowie maximal 6 Tabletten 0,1 Luminal. Die Einzeldosen wurden gemiseht fiber den Tag verteflt. Das Ziel der Kur war, ffir wenigstens eine Woehe einen Zustand weitgehender Bewulltseinstrfibung bei erhaltener Erweckbarkeit zu den Mahlzeiten zu erreiehen.

Fall 7. Bei dem Pat. R. 1~., 70 Jahre, bestanden seit dem 60. Lebensjahr typisehe Tie douloureux-AnfMle im 2. Trigeminusast links, sowie ein diffuser Brennsehmerz in der linken Augengegend. Naeh einer 1953 durchgeffihrten Alkoholbloekade des Ganglion Gasseri kam es zu einer erhebliehen Intensivierung des Brennsehmerzes bei vollstandiger Analgesie aller 3 Trigeminusi~ste links. Es bestand ein ttypertonus yon 240/140 mm Hg. Wit ffihrten die ,,Winterschlafkur" dureli, wonaeh vSllige Besehwerdefreiheit eintrat. Anschliel~end wurde der Pat. auf 4 real taglich eine Sublingualtablette Hydergin eingestellt (s. unten). Bei der Untersuehung nach einem halben Jahr hielt die Schmerzfreiheit an; der Blutdruck betrug jetzt 160/80 mm Hg.

Fall 8. Bei der Pat. M. R., 66 Jahre, war es naeh einer Zahnwurzeleiterung mit 52 Jahren zu einem heftigen, zunaehst ziehenden, spater brennenden Sehmerz in der ganzen linken Gesichtshaffte bei gleiehzeitig bestehenden Sehulter-Armsehmer- zen links gekommen. Eine Behandlung mit wiederholten Novoeainblockaden des linken Ganglion stellatum war erfolglos. Die 1949 durehgefiihrte Wurzeldureh- sehneidung nach FP~ZlER intensivierte den Brennschmerz aufs ~uilerste; die Pat. bot jetzt das VoUbfld der Anaesthesia dolorosa. Bei vollstiindiger Analgesie aller 3 Trigeminusaste bestand ein heftiger Brennsehmerz der ganzen linken Kopfhaffte, einsehlieBlieh Hinterkopf, mit Ausstrahlung in den linken Arm. - - Naeh einer fiber 3 Woehen durehgeffihrten Megaphen-Atosfl-Luminal-Behandlung mit ansehliegen- der RSntgentiefenbestrahlung der Halswirbels~ule, die rSntgenologiseh deutliehe Anzeiehen yon Osteoehondrose aufwies, war die Pat. ein Vierteljahr lang vSllig besehwerdefrei. Dann stellten sieh die alten Besehwerden in geringerem Ausmalle wieder ein, ohne daft jedoch jetzt die Kranke in den Verrichtungen des taglichen Lebens nennenswert beeintrachtigt wurde. Nachbeobaehtung ~ Jahr.

Das Bemerkenswer te dieser be iden Fal le seheint da r in zu liegen, dal~ es gelang, m i t Hilfe t ier Pheno th i az inmed ika t i on die Schmerzphi~nomene bei Anaes thes ia dolorosa ffir eine gewisse Zei t t he rapeu t i sch zu beein- flussen. Naeh den bisher igen Er fah rungen mi t diesen Mi t te ln is t eine die Verabre iehungsze i t f iberdauernde Sehmerzwi rksamke i t offenbar nur bei vege ta t iven Sehmerzzus t~nden beobach te t worden; fiber unsere eigenen

Page 15: „Tic douloureux“ und Gesichtsschmerz

,,Tic douloureux" und Gesichtsschmerz. 175

Ergebn~sse werden wir zu einem sp~teren Zeitpunkt ausffihrlieh be- riehten. Leider ist bisher noeh kein Pr~paxat bekannt, das es ermSglieht, den erzielten Erfolg in einen 4auernden umzuwandeln. Lediglieh im Fall 7 gelang es, den vorher erreichten Erfolg dureh ansehliel~ende Hydergin- gaben zu erhalten. Eine Dauerbehandlung mit den Phenothiazinpr~- paraten erseheint wegen der bekannten sclmellen GewShnung des Orga- nismus an diese Substanzen (FILE U. L6SER U. a.) dagegen wenig aus- sichtsreich.

7. Die ,,Gangliolyse" des Ganglion Gasseri (STENDER). Unter Zugrundelegung der vorstehend beriehteten Ergebnisse haben

wir die 18 im Jahre 1953 erstmalig ver6ffentliehten, mit der,,Gangliolyse" behandelten Patienten nochmals einbestellt. 16 davon konnten nachunter- sueht werden.

Bei allen diesen Kranken handelte es sich bis auf 2 atypische F~lle um Patienten mit eehtem Tic douloureux. Wie bereits seinerzeit be- riehtet, waxen diese typisehen F~lle nach der ,,Gangliolyse" besehwerde- frei - - und sind es weiterhin geblieben (Nov. 1954). Bestand jedoeh, wie bei 2 Kranken dieser Serie pr~operativ eine atypische ,,1Kitbeteiligtmg" des 1. Astes in Form eines Brennschmerzes v o n d e r eingangs beschrie- benen Art, w~hrend im 2. und 3. Ast fiber typisehe Tic-Attaeken gek]agt wurde, so beseitigte die ,,Gang]iolyse" zwar den echten paroxysmalen Sehmerzzustand im 2. und 3. Ast, wogegen der atypische Brennsehmerz im Stirn-Augenbereich bestehen blieb.

Unter den typisehen F~llen war einer insofern bemerkenswert, als bei ihm dureh periphere Reize eehte Tic douloureux-Anfalle vorwiegend im 1. Ast ausgelSst werden konnten; eine nennenswerte vegetative Begleit- symptomatik bestand in diesem Falle jedoeh nicht, insbesondere wurde fiber keinen Brennschmerz im Intervall geklagt. Dieser Patient wurde durch die ,,Gangliolyse" vSllig besehwerdefrei, eine Erfahrung, die gleieh]autend ist mit den Erfolgen der retroganglion~ren Wurzeldurch- sehneidung, sofern die Neuralgie im 1. Ast typisehen, anfallsweisen Chaxakter hatte.

Es ist bereits in der erw~hnten VerSffentlichung fiber diese Opera- tionsmethode darauf hingewiesen worden, dab in der fiberwiegenden Zahl der F~lle die ,,Gangliolyse", wie aueh die Wurzeldekompression nach TAARNHOJ, den groBen Vorteil bietet, in der Regel postoperativ keinen stSrenden Sensibilit~tsdefekt zu hinterlassen. Lediglieh bei 3 F~llen wurden bei genauer Prfifung leichte hyp~sthetisehe Bezirke vornehmlich im 2. oder 3. Ast aufgedeckt, die yon den Patienten kaum bemerkt worden waxen. Die feinen Sensibilit~tsst6rungen sind often- siehtlieh daxauf zurfiekzuffihren, dab bei der AblSsung der Hiillen des

Page 16: „Tic douloureux“ und Gesichtsschmerz

176 ECKHARD SPERLING und ARIST STENDER:

Ganglion Gasseri sich aueh trotz grSl~ter Vorsicht leiehteste Traumati- sierungen des Ganglion selbst, bzw. der Pars triangularis der Wurzel, nicht immer ganz vermeiden lassen.

Bei den 14 naehuntersuchten Kranken mit typischem Tic douloureux ist es bisher zu keinem Rezidiv der lffeuralgie gekommen. Von den 2 nieht ersehienenen Patienten soll allerdings einer wieder fiber gelegent- liehe, typische Schmerzzust~nde ldagen; es w~re somit m6glich, dab in diesem Falle ein Rezidiv eingetreten ist.

Die beiden in der frfiheren Arbeit erw~hnten Versager der l~[ethode betreffen 2 F~lle mit atypischen Formen des Gesichtssehmerzes.

Fall 9. Bei einer 54j~hrigen Pat. lag ein seit 7--8 Jahren bestehender Schmerz der ganzen linken KopfhMfte, irmbesondere der linken Gesichtsh~ffte, mit Brenn- eharakter vor. Die Kranke mach%e dariiber hinaus einen psychisch abwegigen, hypoehondrisehen Gesamteindruck. Eine schwere Belastung durch ungiinstige familii~re Verh~ltnisse schien aul3erdem den Schmerzzustand psychogen zu mater- halten, so dab auch der Versuch einer postoperativen Naehbehandlung mit Mega- phen-Atosil-Luminal in der beschriebenen Form vergeblich war. Sie wurde unter dieser Therapie im Gegenteil psychisch so auff~llig, dab sie in eine psychiatrische Klinik verlegt werden muflte.

Fa~ 10. Der 2. erfolglos operierte Fall litt ebenfaUs an einem Dauerschmerz, vorwiegend in der rechten Wangengegend, mit Brenncharakter und Augensensa- tionen. Eine objektive Grundlage ffir diesen Schmerzzustand konnte nicht fest- gestellt werden. Obwohl der Schmerzcharakter auch in diesem Falle atypisch war, entschlossen wir uns auf das intensive Dr~ngen des Kranken doeh zu dem Versuch, dutch den an sich nicht schweren Eingriff der ,,Gangliolyse" das Leiden giinstig zu beeinflussen. Es trat keine Besserung ein.

Epikrise : Bei diesen beiden F~llen handelte es sich yon vornherein um einen vegetativen Brenuschmerz in der befallenen Gesichtsh~lfte bei psyehiseh sehr labilen Individuen. Durch die ,,Gaugliolyse" konnten die Schmerzen nicht beeinfluBt werden. In einem Fall blieb auch eine post- operativ durehgeffihrte ,,Winterschlafbehandlung" (wir verbleiben bei der ffir die Behandlung mit Phenothiazinderivaten fiblichen Bezeich- hung, obwohl keine Unterkfihlung vorgenommen wurde) erfolglos.

Die operativen Ergebnisse der ,,Gangliolyse"-Methode best~tigen unsere Erfahrungen, die wir mit anderen operativen Verfahren am Gan- glion Gasseri (retroganglion~re Wurzeldurchsehneidung, Alkoholblok- kade) hinsichtlich der Indikationsstellung gewonnen batten: IAil3t sich anamnestisch das Vorliegen eines echten Tic douloureux nachweisen, so kann durch Eingriffe am Ganglion Gasseri, bzw. 4er Wurzel yon der mittleren Sch~delgrube aus, mit allen diesen ~ethoden v611ige Schmerz- freiheit erzielt werden. Ausschlaggebend ist also, dal~ typisehe Schmerz- paroxysmen vorliegen.

Bei 4er ,,Gangliolyse" wird jedoch weder eine Faserdurchtrennung noch eine Wurzeldekompression vorgenommen; infolgedessen kann u. E. eine Wurzelkompression im Porus trigemini, wie sie TAARNHOJ

Page 17: „Tic douloureux“ und Gesichtsschmerz

,,Tic douloureux" und Gesichtsschmerz. 177

vermutete, nieht als Ursaehe der Neuralgie angenommen werden. Sehon in der 1. VerSffentliehung fiber die Methode der ,,Gangliolyse" wurde hervorgehoben, dab die alte These yon der vasomotorischen Entstehung der echten Tr .N. dureh den therapeutischen Erfolg dieses Verfahrens eine Stfitzung erf~hrt. MSglicherweise bringt die Operation dureh Schaf- lung einer Wundfl~che postoperativ eine grunds~tzliche ~ d e r u n g der eingangs gestiirten Vasomotorik zustande. (Einsprossen neuer Gef~fle, Organisation feinster Blutkoagula usw.)

AbsehlieBend mSchten wir nochmals hervorheben, dab aueh yon tier ,,Gangliolyse" kein Erfolg zu erwarten ist, sobald es sich um einen atypischen Sehmerzehar~kter handelt.

8. Ergebnisse der Behandlung mit Diphenylhydantoin.

Bei Abschlu[3 des Berichtes fibersehen wir einen Zeitraum yon 8 Mona- ten, in dem 70 Patienten wegen heftiger Sehmerzzust~nde im Trige- minusbereieh mit Zentropiltabletten behandelt wurden. Ein verbind- liehes Urteil kann nach dem kurzen Zeitraum selbstverst~ndlieh nicht abgegeben werden. Wir mSchten jedoeh die gfinstige Wirkung dieses l~edikamentes, die JEHSEN und neuerdings auch ALBRECHT U. KRUPP besehrieben, best~tigen.

Bei unseren Kranken handelte es sieh in der l~Iehrzahl um solehe F~ille, die naeh unter Umst~nden jahrelanger, erfolgloser konservativer Behandlung mit 4er Fragestellung in unsere Klinik eingewiesen wurden, ob ein operativer Eingriff wegen Tr.N. indiziert wi~re. Trotz des ~iB- trauens der Kranken gegen eine neuerliche , ,Tablettenbehandlung" wurde yon der Mehrzahl der Patienten nach Zentropilmedikation eine sofortige Besserung bis zur Schmerzfreiheit angegeben.

Der Vorteil dieser Behandlung besteht u. E. darin, daft die Therapie ohne Schwierigkeiten auch ambulant durchgeffihrt werden kann. Im allgemeinen ver- ordneten wir 4mal t~glich 1 Tablette Zentropil nach den Mahlzeiten; bei giinstiger Wirktmg konnte in etwa der H~ffte der FMIe die Dosis auf 2--3real t~glich 1 Ta- blette als Dauermedikation reduziert werden.

Wir haben den Eindruck, dab Diphenylhydantoin eine Beeinflussung des Tie douloureux nur so lange bewirkt, wie das Medikament regel- m~13ig eingenommen wird. Nach teilweise willkfirlicher Absetzung durch die Kranken t ra t zun~chst der alte Schmerz wieder auf. Auffallend war, dab auf erneute Gaben yon 4real 1 Tablette pro Tag die vorher erreichte Besserung nicht eintrat, sondern dab es dann gew5hnlich einer kfirzeren Stol3behandlung yon his zu 6 Tablet ten ti~glich bedurfte, um erneut eine Schmerzbeeinflussung zu erzielen. Darauf konnte in der Regel bei Dosen yon 3mal t~glich einer Tablette verblieben werden. Bei dieser erhShten Dosierung muBte nicht selten wegen erheblicher subjektiver Schwindel- erscheinungen Bettruhe eingehalten werden. Bei 2 Patienten waren diese

Page 18: „Tic douloureux“ und Gesichtsschmerz

178 ECKHARD SPERLING und ARIST STENDER:

Schwindelerscheinungen so stark, dab das ~ed ikament abgesetzt werden muBte.Von 2 weiteren Kranken wurden neben m~Bigen Sehwindel- zust~nden reeht unangenehme gastrointestinale Besehwerden mit Nei- gung zu Durchfall, Ubelkeit und krampfart igen Magenschmerzen ange- geben. Bei einem dieser Kranken kam es zu einer allergisehen Haut- reaktion, verbunden m i t einer 6ctematSsen Schwellung der yore Schmerz befallenen Gesiehtsh~lfte. Jedoch war such bei diesen beiden Kranken die Wirkung des •edikamentes auf die Schmerzanfalle zu- friedenstellend.

In einem weiteren Fall wurden Zentropfltabletten bei einer Dosis yon 4real t~glich einer Tablette fiber 3 Monate gut vertragen; nach Ablauf dieser Zeit traten, ohne daft die Dosierung ver~ndert wurde, heftige Schwindelzust~nde mit einem nachweisbaren horizontalen Nystagmus auf. Das Blutbfld zeigt keine Ver~nde- rungen. Nach Absetzen des Zentropil gingen diese Erscheinungen zuriick.

Offenbar ist die Wirkungsbreite des Diphenylhydantoin nicht nur auf Schmerzzust~nde yore Typ des Tic douloureux besehr~nkt, wenn diese aueh am eindrucksvoUsten beeinflul3t werden k6nnen. Auch atypische, prolongierte Schmerzen scheinen auf das 1V[edikament anzusprechen, und zwar um so besser, je umsehriebener der Schmerz auf das Ver- sorgungsgebiet eines peripheren Trigeminusastes besehr~nkt ist, also im wesentlichen die sogen, symptomatisch ausgelSsten Neuralgien nach unserer Einteilung. F~lle mit vegetat ivem Brennschmerz, sowie Neur- algien nach Herpes Zoster des Gesichts konnten mit dieser Therapie nicht eindeutig beeinflu~t werden.

Da eine analgetische Wirkung £ter HydantoinkSrper bisher nieht bekannt ist, muB diesem Pr~parat eine weitgehend spezifische Beein- flussung der eehten Tr.N. zugebflligt werden. Der folgende Fall mag diese ~ber]egung sehr eindrucksvoll vor Augen fiihren.

Fall 11. Der jetzt 54j~hrige Pat. erkrankte vor 9 Jahren an typischem Tic douloureux im Bereich des 2. Astes rechts. Dariiber hinaus bestanden yon den An- fgUen unabh~ngige, zeitweilige Brennschmerzen in der Stirn-Augengegend und ein erheblicher, rechtsseitiger Hinterkopfschmerz. Nach Verordnung yon 4real t~glich 1 Tablette Zentropil war der Tic-Sehmerz fast vollstgndig beseitigt; der Pat. litt jedoch weiterhin unter heftigeu, brennenden Schmerzen in der Stirn mit Ausstrah- lungen in den gleichseitigen Hinterkopf- und Schulter-Armbereich. Unter Bei- behaltung der Zentropilmedikation fiihrten wir 20 Ultrabeschallungen der Hals. wirbels~ule durch, wonach v6Uige Beschwerdefreiheit eintrat (Nachbeobachtungs- zeit bisher 4 Monate).

Epikrise : Bei diesem Kranken hatte, wie auch bei 3 weiteren, ~hnlich gelagerten Fallen, die Zentropilmedikation den Tic-Schmerz beseitigt. Eine Beeinflussung des atypischen, brennenden, mSglieherweise durch eine Osteochondrose der Halswirbels~ule unterhaltenen Sehmerzzustandes im Stirn-Hinterkopf-Sehulter- und Armbereieh war nicht zu erreichen; diese gelang erst durch Verabfolgung einer in solehen F~llen bekanntlieh erfolgreiehen Ultraschallbehandlung der Halswirbels~ule.

Page 19: „Tic douloureux“ und Gesichtsschmerz

,,Tic douloureux" und Gesichtsschmerz. 179

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dab sich Diphenyl- hydantoin als wertvolle Hilfe in der Behandlung der echten Tr. N. erwies; der Behandlungseffekt ist weitgehend an die Behandlungsdauer und -dosis gebunden. Ein Heilmittel gegen die Tr. N. ist es nicht, weft

nach Absetzen des Medikamentes der alte Schmerz in einem gewissen Prozentsatz wieder auftreten kann. Die yon den Trigeminuskranken im Gegensatz zu den Epileptikern h~ufig angegebenen Schwindelzustgnde mSchten wit als einen Hinweis aufeine mSgliche, besondere, anlagem~Big bedingte Vasolabilit~tt dieser Kranken auffassen.

9. Pathogenetische Schlullbemerkungen.

Zuletzt sei es gestattet, aus den mitgeteilten Erfahrungen einige Schlu~folgerungen zu ziehen, die mSglicherweise ein Licht auf die patho- genetischen Faktoren bei der Entstehung der verschiedenen typischen und atypischen Schmerzzust~nde im Trigeminusbereic h werfen.

Es erscheint angebracht, nochmals auf die Hypothese einzugehen, der- zufolge der typische Schmerzanfall des Tic douloureux, wie bereits frfiher yon zahlreichen Autoren angenommen wurde, eine vasomotorische Genese haben k6nnte. Die ~berlegungen der Autoren, die sich fiir eine vaso- motorische Genese aussprachen, f/ihrten dazu, fiir den einzelnen Schmerz- anfall einen hyp- bzw. anox~mischen Zustand im Versorgungsbereich der Gef/~$e der peripheren ~ste, sowie evtl. des Ganglion Gasseri selbst an- zunehmen. In diesem Zusammenhang ist von einem von uns der Schmerz- anfall als,,ein Schrei des Nerven nach Blut" aufgefal~t worden (STEND~R). Diese Annahme wird auch noeh durch die Tatsache gestiitzt, dal3 es nicht selten gelingt, in leichteren F~llen von echter Tr. N. durch Novocain- blockaden des gleichseitigen Ganglion stellatum oder andere hyper~mi- sierende MaBnahmen (W~rmebehandlung, R5ntgenbestrahlung u.a.) therapeutische Erfolge zu erzielen. Es kommt hinzu, dab bereits im Be- ginn des Schmerzanfalles sehr deutliche vasomotorische Reaktionen im Ausbreitungsgebiet der peripheren Trigeminus/~ste beobachtet werden k5nnen (u. a. HautrStung). Auoh eine AnfallsauslSsung durch psychische Einflfisse kann rdcht bestritten werden.

Ebenso spricht die gute Beeinflul3barkeit der echten Tr. N. durch Hydantoinpr/~parate u . E . fiir die Annahme einer vasomotorischen Genese der Neuralgie. Diphenylhydantoin ist pharmakologisch bisher iiberwiegend auf seine antiepileptische Wirkung hin untersucht worden. Auch bei der Entstehung eines cerebralen Krampfanfalles spielen vaso- motorische Vorg/~nge zweifellos eine nicht zu/ibersehende Rolle. An der operativ freigelegten Hirnrinde karm man kurz vor Eintritt eines spontan entstehenden oder elektrisch ausgelSsten Krampfanfalles eine deutliche Kontraktion der Piagef/~Be beobachten (s. bei FOEaST~R, PE~CFIELD,

Page 20: „Tic douloureux“ und Gesichtsschmerz

180 ECKHARD SPERLING und ARIST STENDER"

SELBACH U. a.). lVIan kSnnte infolgedessen geneigt sein, die antiepilep- tische Wirkung tier Hydantoinpr~parate aueh auf eine Einflu•nahme auf die Vasomotorik tier HirngefaBe zu beziehen.

Unsere ~berlegungen werden noch dadurch gestiitzt, dal~ auf Grund yon Unter- suchungen amerikanischer Autoren die Hydantoinpr~parate auch Funktions- zust~nde an peripheren Nerven beeinflussen. So konnten z. B. GOODMAN, TO~IAN U. SWI~YA~D an Nerven, die dutch l~nger dauernde elektrische und chemische t~berreizung eine Herabsetzung ihrer Reizschwelle erkennen lie6en, dutch Appli- kation yon Diphenylhydantoin eine Normalisierung der Reizschwelle beobachten. - - TO,AN schloB aus Versuchen am isolierten Ischiasnerven des Frosches, dab ,,bei Nerven, die dutch Isch~mie oder andere MaBnahmen iibererregbar gemacht waren", sich die Reizschwelle und die Permeabflit~t durch Eintauchen des Nerven in DilantinlSsung (Diphenylhydantoin) wieder normalisieren. DRAKE U. HAURY konnten in Tierversuchen unter Verabreichung dieses Pr~parates einen Blutdruck- abfall nachweisen und folgerten aus ihrer Versuchsordnung, dal3 diese Wirkung des Diphenylhydantoin auf einer Gef~Bdilatation in der Peripherie beruhe.

Abschlieflend ist zu sagen: 1. Wir mSchten den typischen Tic douloureux-Anfall als Reizantwort

einer infolge hypox~mischer oder isch~miseher Zust~nde abnorm ernied- rigten Schmerzreizwelle des Nerven auffassen. Durch die sieh st~ndig wiederholende meehanisohe Irr i tat ion des Trigeminus dfirfte das ganze Schmerzreceptorensystem dieses Nerven in einen solehen Zustand der ~bererregung versetzt werden, da~ zuletzt sogar feinste physiologische Hautreize in der Lage sind, einen Sehmerzanfall auszulSsen. - - l~Ian kSnnte denken, dab die vasomotorische Fehlregulation im Bereiche des Ganglion Gasseri selbst wirksam wird. Hierfiir sprechen insbesondere die gfinstigen Erfolge der , , Gangliolyse" bzw. der Wurzeldekompression nach TXARSHOJ, cter naeh unserer Auffassung das gleiche Wirkungsprinzip zugrunde liegen dfirfte.

2. Es erweist sich als notwendig, fiber die Sonderstellung des I. Trige- minusastes im Rahmen des Schmerzgesehehens noeh folgendes auszu- fiihren: Die Faseranteile des 1. Astes steigen innerhalb der ~edul la oblongata bis zum 2. Cervicalsegment herab (s. CLARA) und durchmischen sich im Gegensatz zu den Fasern des 2. und 3. Astes in der pars triangu- laris nieht (SJ6qVlST). Bemerkenswert erseheint ferner, dal~ naeh KAUTZKY nur ffir den 1. Ast Faserverbindungen zwisehen ctiesem und dem sympathischen Carotisgeflecht naehgewiesen sind. Darfiber hinaus mSchten wir nicht vers~umen, darauf aufmerksam zu maehen, dab aueh Verbindungen zwischen dem sympathischen Vertebralisgefleoht und den sympathisehen Faseranteilen des 1. Trigeminusastes denkbar sind. Wir haben hervorgehoben, dab in mehr als zuf~lliger H~ufung bei atypisehen Brennschmerzzust~nden im Stirn-Augenbereieh, entweder isoliert oder in Form der ,,Mitbeteiligung" des 1. Astes bei sonst typisehem Tic douloureux, gleichzeitig ein ,,Halswirbels~ulensyndrom" nachgewiesen werden konnte. Auch die gute Anspreehbarkeit derartig gelagerter F~lle

Page 21: „Tic douloureux“ und Gesichtsschmerz

,,Tic douloureux" und Gesichtsschmerz. 181

auf eiae Ultras challbehandlung der Halswirbelsi~ule - - w~hrend Novocain- blockaden des Ganglion stellatum wenig oder keinen Erfolg brachten - - weist in diese Richtung. Bisher ist es gelungen, in 16 F~llen urrseres Materials eine definitive Beeinflusstmg eines solehen atypisehen Sehmerz- zustandes im 1. Ast durch diese Behandlung zu erzielen.

Zur Frage der Entstehung einer Ceratitis neuroparalytiea naeh Ein- griffen am Ganglion Gasseri ist zu bemerken, dal3 die ttornhautsehiidi- gung mit Ausnahme eines besonders gelagerten Falles immer nur alarm auftrat, wezm prKoperativ tier Sehmerz eine ,,Mitbeteiligung" des 1.Astes in atypischer Weise erkermen lie[3. Diese Beobaehtung wiirde dafiir spreehen, dab nicht nur die An~sthesie der Cornea an sieh, wie sie nach Eingriffen am Ganglion Gasseri, besonders nach der Alkoholbloekade eintreten karm, die Entwicklung des Uleus herbeiffihrt, sondern dab die bereits priioperativ in Form atypischer Schmerzzust~nde sich dokumen- tierende Irritation sympathischer Fasern, die gleichzeitig eine trophische Funktion haben, an der Entstehnng der Hornhautsch/~digung mal3geb- lieh beteiligt ist. Auch yon PAu wurde die Liision der sympathischen Faseranteile ffir das Auftreten einer Ceratitis neuroparalytiea naeh der Alkoholblockade des Ganglion Gasseri verantwortlieh gemaeht.

Zusammenfassung. An Hand von 524 F/~llen, die mit Schmerzzusti~nden im Trigeminus-

bereich einhergingen, wird zu Fragen der Diagnose, Therapie und Patho- genese Stellung genommen.

1. Bei typischem Tic douloureux ist yon der Operation nach FRAZIER wie yon der ,,Gangliolyse" v511ige Beschwerdefreiheit zu erwarten. Die ,, Gangliolyse" hinterl~Bt keine nezmenswerten Sensibilit/~tsausfalle. Wenn die guten Ergebnisse dieser Methode dauerhaft bleiben, stellt dieses Ver- fahren in seiner Einfachheit eine iiberlegene operative MaBnahme dar.

2. Neuralgien im 1. Ast mfissen hinsichtlieh ihres Schmerzcharakters genau analysiert werden. Treten sie in Form echter Schmerzparoxysmen auf, so besteht keine Kontraindikation ftir Eingriffe am Ganglion Gasseri. In der fiberwiegenden Zahl der FKlle findet sich jedoch im Stirn-Augen- gebiet ein anderer Schmerzcharakter. Dieser zeichnet sieh durch Brenn- schmerz aus. Er kann isoliert, sowie in Form einer atypischen ,,MJt- beteiligung" bei sonst typischem Tic douloureux im 2. und 3. Ast auf- treten. In solchen F/~llen k5nnen Eingriffe am Ganglion Gasseri yon erhebliehen Restbeschwerden his zum Charakter der Anaesthesia dolorosa gefolgt sein.

3. Die Alkoholbloekade des Ganglion Gasseri nach tIA~RTEL ist in denjenigen F/£1len abzulehnen, bei denen der 1. Ast in atypischer Form am Sehmerz ,,mitbeteiligt" ist.

Page 22: „Tic douloureux“ und Gesichtsschmerz

182 ECKHARD SPERLING und ARIST STENDER:

4. Es bestehen gewisse Hinweise dafiir, da~ Operationen in der hin- teren Schadelgrube (DANDY, SJSQVIST) bet Neuralgien im 1. Ast giin- stigere Ergebnisse bringen, als Eingriffe am Ganglion Gasseri.

5. Hydantoinpraparate sind bet allen typischen Fallen zunachst zu versuchen. Sie bewirken in tier Mehrzahl sofGrtige Besserung und iiber- briicken die Zeit bis zur evtl. notwendigen Operation oder dem spontanen Abklingen tier Neuralgie.

6: Diffuse, atypische Schmerzzustande im Trigemiausbereich stellen eiae Kontraindikation fiir Eingriffe am Ganglioa Gasseri dar. In diesen Fallen handelt es sich u. E. um vegetativ verursachte Schmerzen. Ein Eingriff am animalen Nervensystem kann die Bahnen, auf denen dieser Schmerz geleitet wird, nicht erreichen. Bet tier l~ehrzahl dieser Kranken ist das Hinterkopf-Nackengebiet in den Schmerzzustand mit einbezogen. Bestehen keine soastigen Kontraindikationen, so versprieht eine Ultra. sehallbehandlung der Halswirbelsaule in diesen Fallen Erfolg.

7. Bet schwersten vegetativen Gesichtsschmerzen (u. a. Anaesthesia dolorosa) kann die ,,Wintersehlafbehandlung" eine Besserung bringen.

8. ]Fiir die Pathogenese der echten Tr.N. werden vasomotorische StSrungen, mSglicherweise im Ganglion Gasseri selbst, angenommen.

Literatur. ALRR]~CHT, K., U. J. KRInV~P: Diagnose, Differentialdiagnose und Behandlungs-

mSglichkeiten der Trigeminusneuralgie, Miinch. Med. Wschr. 1954~ 985 u. 1037. - - D'AuLNAY, J. : b e Faction du diphenyl-hydantoinate de soude dans le t ra i t ement de la n~vralgie essentieUe du tr i jumeau. Th~se de Bordeaux 1950. - - BARTSC~, W., A. BOROFFKA U. E. K]~TZ: Von der Symptomatologie zur Genese des ttalswirbel- saulen-Syndroms. Act. neurovegetat iva (Wien) (im Druck). - - BENTE, D., u. E. E. SCH~ID: Zur Klinik und Therapie der Krankheitsbi lder bet Osteochondrose der ttalswirbelsaule. Medizinische 1952, 8 1 8 . - BERGOUmNAN, M. : Tra i tement de la n~vralgie faciale par les d6rives de l 'hydantoine. (Notes de m~dicine pratique.) Presse m~d. 1951, 523. - - CLARA, M. : Die Anatomie der Sensibilitat unter besonderer Beriieksichtigung der vegetat iven Leitungsbahnen. Act. neurovegetat iva (Wien) 7, 4 (1953). - - DANDY, W. ]~. : An operation for the cure of tic douloureux. Par t ia l section of the sensory root at the pons. Arch. Sur2.18~ 687 (1929). - - DSRING, G. : Schmerz und vegetatives Nervensystem. Klin. Wschr. 1947, 161. - - DSRI~G, G., u. R. M~GUN: Trigeminusneuralgie und Arteriohypertonie. Dtseh. Z. Nervenheflk. 165, 196 (1951). - - DRAKE, V. G., and M. E. ttAUl~Y: The effect of in t ravenous injections of sodium Diphenylhydantoinate (Dilantin) on respiration, bloodpressure and the vagus nerve. J. Pharmaeol. a. E x p e l Ther., Balt imore 68~ 36 (1940). - - FELIX, W. : Grunds~tzliches zur Trigeminusneuralgie. Dtsch. Gesundheitswesen 1952~ 69. - - FILE, It. , u. A. LOESER: Zur Frage der Gew5hnung bet R a t t e n nach oraler Megaphenzufuhr. Klin. Wsehr. 1954, 661. - - FO]~RSTER, O.: Epflepsie- referate. Dtsch. Z. Nervenheilk. 94, 15 (1926). - - GARDNER, W. J. , and J. P. PINTO: The Taarnhoj operat ion: Relief of trigeminal neuralgia wi thout numbness. Cleveland Clin. Quart. 20, 364 (1953). - - GOOD~iAN, L. S,, J . E. P. TOMAN and E. A. SWI~ARD: Ant iconvulsant drugs. (Mechanisms of action and methods of assay.) Arch. internat . Pharmacodynam. 78, Fasc. 1, 144 (1949). - - GUIDETTI, B. : Tractotomy for the relief of tr igeminal neuralgia, observed in 124 cases. J . Neurosurg.

Page 23: „Tic douloureux“ und Gesichtsschmerz

,,Tic douloureux" und Gesichtsschmerz. 183

7, 499 (1950). - - H ~ B Y , W. B. : Diagnosis and management of trigeminal neuralgia. J. Amer. Geriatrics Soc. II, Fasc. 10, 634 (1954). - - HARRIS, W.: The Facial Neuralgias. London 1937. - - JE~SE~, H. P.: Die Behandlung der Trigeminus- neuralgie mit Diphenylhydantoin. ~rztl. Wschr. 1964, 105. - - KAEs, M. : Ein Bei- trag zur ~tiologie und Behandlung der idiopathischen Trigeminusneuralgie. Miinch. reed. Wschr. 1951, 330. - - KAUTZKY, R. : Kritische Betrachtungen fiber den Begriff der sogenannten peripheren und segmentalen Innervationsfelder im Bereiche des Kopfes. Dtsch. Z. Nervenheilk. 171, 148 (1953). - - Neue Gesichtspunkte in der Therapie und Pathogenese der Trigeminusneuralgie. - - Die Wurzeldekompression nach Taarnhoj. Dtsch. med. Wschr. 1968, 1151. - - KAUTZKY, R., u. R. WELTER: ~ber leptomeningeale Xste des N. trigeminus. Dtsch. Z. Nervenheilk. 168, 24 (1952). - - KVLENKAMPFF, D. : (~ber die Trigeminusneuralgie und ihre Behandlung. Erg. ges. Med. 5, 263 (1910). - - LEWEY, F. H. : Die pathologische Anatomie und Physio- logie der Trigeminusneuralgie. Arch. Psychiatr. Z. Neur. 186, 627 (1950 ) . - LovE, J. G. : Decompression of the Gasserian Ganglion and Its posterior Root: A new treatment for trigeminal neuralgia. (Preliminary Report.) Prec. Staff. Meet. Mayo Clin. 27, 257 (1952). - - MONNIER, M. : Pers6nliche Mitteilung und: Le rSle du thala- mus dans l'organisation dela douleur. Act. Neurovegetativa (Wien) 7, 84 (1953) . - OLIVECRONA, H.: Die Trigeminusneuralgie und ihre Behandlung. Nervenarzt 1941, 49. - - PAU, H. : Operative Eingriffe bei Trigeminusneuralgien. (Ophthalmo- logische Indikation.) Zbl. Neurochir. 196~), H. 6, 333. - - P~NFIELD, W., and T. C. EI~ICKSON: Epilepsy and Cerebral Localization. Springfield, I I I , Ill. : Charles C. Thomas 1941. - - PETTE, H. : Trigeminusneuralgie und Sympathicus. Mfinch. med. Wsehr. 1924, 1092. - - Kritische Bemerkungen zum Kapitel des Bandscheiben- prolapses. Mtinch. med. Wschr. 19&3, 1145. - - RIECHERT, T. : Zit. n. K6BCK~, H., Gezielte Hirnoperationen. Dtsch. reed. Wschr. 1964, 294. - - ROWBOTm~t, G. F. : Trigeminal Neuralgia. Pathology and Treatment. Lancet 1964 I, 796. - - SXEER, G. : Zur Genese des Halswirbelsaulensyndroms und der Behandlung des vegetativen Anteils mit Hydergin. Nervenarzt 1952, 333. - - SCm~LTENBRA~D, G.: Ober den anatomischen Befund bei Trigeminusneuralgie. Dtsch. Z. Nervenheilk. 170, 95 (1953). - - S(]t~ELLER, H. : I-Idb. inn. Med. V, 2, 85--102. Springer 1953. - - SCHULTE, G., u. H. KRAUTZUN : Probleme zur Thcrapie der Trigeminusneuralgie. Strahlenther. 81, 301 (1950). - - SELEAC~, H.: Hdb. inn. Med. V, 3, 1153. Springer 1953. - - SJOQVIST, O. : Studies on pain conduction in the trigeminal nerve. A contribution to the surgical t reatment af facial pain. Act. psychiatr. (Kobenh.) Suppl. 17 (1938). - - STE~DER, A. : Die ,,Gangliolyse" des Ganglion Gasseri. (Ein neuer, vereinfaehter Weg Zur operativen Behandlung der Trigeminusneuralgie.) Zbl. Neurochir. 1963,

I t . 6, 321. - - T A A R N H O J , P.: Decompression of the Trigeminal Root and the posterior Part of the Ganglion as Treatment in Trigeminal Neuralgia. (Preliminary Communication.) J. Neurosurg. IX, 3, 228 (1952.) - - Decompression of the Trige- minal Root. J. Neurosurg. Xl, 3, 299 (1954). - - TSNNlS, W., u. It. KREISSEL: Die Bedeutung einer sorgfMtigen Differentialdiagnose ffir die chirurgische Behand- lung der Trigeminusneuralgic. Dtsch. med. Wschr. 1951, 1202. - - TOMAN, J. E. P. : The Neuropharmacology of Antiepileptics. (Sonderdruek 1950.) - - WANKE, V. R. : Atypische Trigeminusneuralgie. Dtsch. Z. Nervenheilk. 162, 346 (1950). - - WEX- ZERO, E.: ,,Neuralgien" in: I-Idb. Neur. IX, S. 193. Berlin: Springer 1935. - - ZtiLCH, K. J . : Zur Entstehung und Behandlung der Symptome bei der osteo- chondrotischen Erkranklmg der Hals- und Lendenwirbelsiiule. Medizinische 1964, 536. - - ZiiLCH, K. J., u. E. E. SCHMID: ~)33er die Schmerzarten und den Begriff der Hyperpathie. Act. neurovegetation (Wien) 7, 147 (1953).

Dr. E. SPERLINO, Bonn, Wilhelmsplatz 7, Institut ftir Neuropathologie der Universitat.

Dtsch. Z. I~rervenheilk., Bd. 173. 13