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Tilman Plath

Zwischen Schonung und Menschenjagden________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________

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Tilman Plath

Zwischen Schonung und Menschenjagden

Die Arbeitseinsatzpolitik in den baltischenGeneralbezirken des Reichskommissariats

Ostland 1941–1944

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Umschlagabbildungen:

Oben: Das Lager Salaspils bei Riga nach dem Abzug der Deutschen im Herbst 1944,aus: Nollendorfs, V. (Hrsg.), Museum of the Occupation of Latvia. Latvia under theRule of the Soviet Union and National Socialist Germany, Riga 2002, S. 74.

Unten: Männer des Reichsarbeitsdienstes bei einer Parade auf dem Domplatz vonRiga 1943, aus: Latvia State Archive of Audiovisual Documents, Standbild aus„Ostland-Woche“ Nr. 65.

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung derStiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“.

Im Rahmen eines internationalen Forschungsprogramms unterstützte die Stiftung„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ 13 Forschungsvorhaben, umWissenslücken in der historischen Forschung zur Zwangsarbeit während desNationalsozialismus sowie zur Situation ehemaliger Zwangsarbeiterinnen undZwangsarbeiter nach 1945 zu schließen.

Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung der Stiftung „Erinnerung,Verantwortung und Zukunft“ dar. Für inhaltliche Aussagen trägt der Autor dieVerantwortung.

1. Auflage September 2012Satz: Griebsch & Rochol Druck GmbH & Co. KG, HammUmschlaggestaltung: Volker Pecher, EssenDruck und Bindung: Griebsch & Rochol Druck GmbH & Co. KG, HammISBN 978-3-8375-0199-5

© Klartext Verlag, Essen 2012Alle Rechte vorbehalten

www.klartext-verlag.de

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Inhaltsverzeichnis

Grußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

1.1 Methodisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

1.1.1 Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

1.1.2 Allgemeine Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

1.1.3 Forschungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

1.1.4 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

1.2 Inhaltlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

1.2.1 Einführung zur Geschichte des Baltikums am Vorabendder Deutschen Besatzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

1.2.2 Grundzüge der nationalsozialistischen „Arbeitseinsatz-politik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

1.2.3 Einführung zum Begriffsfeld der Interaktion von Besat-zern und Besetzten – Kollaboration . . . . . . . . . . . . . . . . 34

2. Die „Arbeitseinsatzpolitik“ in den baltischen Generalbezirkenmit Perspektive auf die Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

2.1. Zivilverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

2.1.1 Struktur – vier Verwaltungsebenen und sich überschnei-dende Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

2.1.2 Zielvorstellungen zum Ort des „Arbeitseinsatzes“ – Ver-teidigung gegen Ansprüche von außen . . . . . . . . . . . . . 58

2.1.3 Zielvorstellungen zur Art des „Arbeitseinsatzes“ und zurMethode der Rekrutierung – Kontrast zwischen Wirt-schafts- und Politikabteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

2.1.4 Rassenideologische Zielvorstellungen – Spannungen vonNah- und Fernzielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

2.1.5 Zusammenfassung – Zivilverwaltung als kraftlose Zentra-le der „Arbeitseinsatzpolitik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

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2.2 Polizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

2.2.1 Struktur – Gegensatz von Wirtschaftsverwaltungshaupt-amt (WVHA) und Reichssicherheitshauptamt (RSHA) . . . 105

2.2.2 Zielvorstellungen zum Ort des „Arbeitseinsatzes“ – Wi-derstand gegen die Sauckelaktionen . . . . . . . . . . . . . . . 114

2.2.3 Zielvorstellungen zur Art des „Arbeitseinsatzes“ und zurMethode der Rekrutierung – Zwangsmaßnahmen in La-gern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

2.2.4 Rassenideologische Zielvorstellungen – Geringere „Be-vorzugung“ für die baltische Mehrheitsbevölkerung . . . . 127

2.2.5 Zusammenfassung – Dominanz des sicherheitspolizei-lichen Aspekts und Zunahme der Befugnisse für den Poli-zeiapparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

2.3. Wehrmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

2.3.1 Struktur – Wehrwirtschaftliche Behörden und Institutio-nen im „Reichskommissariat Ostland“ . . . . . . . . . . . . . . 134

2.3.2 Zielvorstellungen zum Ort des „Arbeitseinsatzes“ – Wi-derstand gegen die Sauckelaktionen . . . . . . . . . . . . . . . 144

2.3.3 Zielvorstellungen zur Art des „Arbeitseinsatzes“ und zurMethode der Rekrutierung – „Härteres Durchgreifen“und selektive Milde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

2.3.4 Zusammenfassung – Zielkonflikte zwischen Heeresgrup-pe Nord und Rüstungsinspektion Ostland . . . . . . . . . . . . 153

2.4. Wirtschaftsbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

2.4.1 Struktur – Der „Generalbevollmächtigte für den Arbeits-einsatz“ als Vertreter der Reichswirtschaft und die Ostge-sellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

2.4.2 Zielvorstellungen zum Ort des „Arbeitseinsatzes“ – Ge-gensatz von Sauckel und Ostgesellschaften . . . . . . . . . . 162

2.4.3 Zielvorstellungen zur Art des „Arbeitseinsatzes“ und zurRekrutierung – „Kriegsentscheidende Dringlichkeitrechtfertigt jedes Mittel“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

2.4.4 Rassenideologische Zielvorstellungen – Indifferenz . . . . . 176

2.4.5 Zusammenfassung – Primat des Nutzens – „Die MasseMensch als Rohstoff“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

6 Inhalt

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2.5. „Landeseigene Verwaltungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

2.5.1 Struktur – Landesdirektoren, Generaldirektoren, Gene-ralräte und „landeseigene“ Arbeitsverwaltung . . . . . . . . 178

2.5.2 Zielvorstellungen zum Ort des „Arbeitseinsatzes“ – Ver-teidigung der Arbeitskräfte gegen Ansprüche von außen 199

2.5.3 Zielvorstellungen zur Art des „Arbeitseinsatzes“ und zurMethode der Rekrutierung – Entschärfung deutscherVorgaben und Widerstand von unten . . . . . . . . . . . . . . . 209

2.5.4 Rassenideologische Zielvorstellungen – AntislawischePolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212

2.5.5 Zusammenfassung – Gestaltungsspielräume durch per-sonellen Überhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

3. Die „Arbeitseinsatzpolitik“ in den baltischen Generalbezirkenmit Perspektive auf die Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

3.1. Baltische Mehrheitsbevölkerung – Esten, Letten und Litauer . . . 229

3.1.1 „Arbeitseinsatz“ und Rekrutierung zum „Reichseinsatz“1941 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230

3.1.2 „Arbeitseinsatz“ und Rekrutierung zum „Reichseinsatz“1942 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

3.1.3 „Arbeitseinsatz“ und Rekrutierung zum „Reichseinsatz“ab 1943 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

3.1.4 „Arbeitseinsatz“ und Rekrutierung zum „Reichseinsatz“ab Sommer 1944 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306

3.1.5 Fazit des „Arbeitseinsatzes“ der baltischen Bevölke-rungsmehrheiten – relative Bevorzugung und Gleichzei-tigkeit von passivem Widerstand und abwartender Ko-operationsbereitschaft der Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . 321

3.2. Slawische Arbeitskräftegruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324

3.2.1 Indigene slawische Minderheiten – „Menschenjagden“als Rekrutierungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324

3.2.2 Kriegsgefangene – „Kriegsgefangene ohne Recht“ . . . . 346

3.2.3 „Ostarbeiter“ – Benachteiligung trotz normativer Gleich-stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368

3.2.4 „Evarussen“ ab 1943 – „Schlimmer als die bolschewisti-sche Verschleppung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376

Inhalt 7

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3.2.5 Fazit des „Arbeitseinsatzes“ der slawischen Arbeitskräf-tegruppen – Benachteiligung wegen fehlender Reprä-sentationsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398

3.3. Juden und Roma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400

3.3.1 Juden – Vom Massenmord zum „kriegswichtigen Ar-beitseinsatz“ in der Ölschieferproduktion . . . . . . . . . . . . 400

3.3.2 Roma – Vernichtungspolitik mit Ausnahmen . . . . . . . . . 426

3.4. „Arier“ und Sondergruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430

3.4.1 Nicht Deutsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430

3.4.2 Deutsche – Erwünschte und unerwünschte Ansiedlungim „Reichskommissariat Ostland“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 445

4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463

Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471

8 Inhalt

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Grußwort

Die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ wurde im Jahr 2000 mit dop-peltem Auftrag gegründet. Ihr vorrangiges Ziel war zunächst, Zahlungen an ehema-lige Zwangsarbeiter und andere NS-Opfer zu leisten. Diese Aufgabe hat sie erfolg-reich abgeschlossen: Von 2001 bis 2007 wurden 4,4 Milliarden Euro an 1,66 Millio-nen Menschen in fast 100 Ländern ausgezahlt. Der zweite Auftrag der Stiftungbleibt: In Erinnerung an die Opfer nationalsozialistischen Unrechts setzt sich die Stif-tung EVZ für die Stärkung der Menschenrechte und für Völkerverständigung ein. Sieengagiert sich weiterhin auch für die Überlebenden. Die Stiftung EVZ ist damit Aus-druck der fortbestehenden politischen und moralischen Verantwortung von Staat,Wirtschaft und Gesellschaft für das nationalsozialistische Unrecht.

Im Erinnern an die Gräuel der Nationalsozialisten wurde die millionenfacheZwangsarbeit lange Zeit vergessen oder bewusst verschwiegen. Um Wissenslückenin der historischen Forschung zur Zwangsarbeit während des Nationalsozialismussowie zur Situation ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter nach1945 zu schließen, unterstützte die Stiftung EVZ 13 internationale Forschungspro-jekte, darunter auch das hier vorliegende. Die Wissenschaftler und Wissenschaft-lerinnen untersuchten verschiedene Aspekte der Zwangsarbeit, die Menschen fürdas Deutsche Reich auch außerhalb seiner Grenzen sowie in mit Deutschland ver-bündeten Ländern leisten mussten. Hier hat Tilman Plath mit seiner Arbeit über dieZwangsarbeit im „Reichskommissariat Ostland“ einen beispielhaften Beitrag geleis-tet.

Andere geförderte Forschungsprojekte befassten sich unter anderem mit Themenwie den Zwangsarbeitslagern für Juden im Distrikt Krakau, den Arbeitsverwaltungenin jugoslawischen Besatzungsgebieten, der Zwangsarbeit von nach Transnistriendeportierten Roma und den Zwangsarbeitserfahrungen belarussischer Opfer.

Eine internationale Konferenz im November 2010 bildete den Abschluss des For-schungsprogramms und bot die Möglichkeit, Forschungsergebnisse vorzustellen, zudiskutieren und zu vergleichen. Dadurch wurde ein differenzierter Blick auf die natio-nalsozialistische Zwangsarbeit als transnationale Erfahrung in der europäischenGeschichte möglich.

Nach dem Ende der Auszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter erfüllt die Stif-tung EVZ mit ihrer einmaligen Förderinitiative einen ihrer gesetzlichen Grundaufträ-ge: Sie unterstützt die internationale und nationale Auseinandersetzung mit derZwangsarbeit im Nationalsozialismus und hilft Wissenslücken in der historischen For-schung zu schließen.

Günter SaathoffVorstand der Stiftung EVZ

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Vorwort

Der vorliegende Band ist das Resultat eines Projekts, das in mehrfacher Hinsicht pro-totypisch ist für das Haus, an dem es entstand – das Institut für schleswig-holsteini-sche Zeit- und Regionalgeschichte der Universität Flensburg (IZRG).

Wesentlichen Tendenzen der Forschung folgend haben sich Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter des Instituts in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten immerwieder in verschiedenen Forschungsprojekten mit dem Thema der Zwangsarbeitausländischer Arbeitskräfte im nationalsozialistischen Deutschland beschäftigt. Dazugehören neben einer umfänglichen Statuserhebung bezogen auf die preußische Pro-vinz Schleswig-Holstein zahlreiche Regionalstudien sowie eine wichtige Spezialstu-die zum Thema Zwangsarbeit und Krankheit.

Weniger offensichtlich ist der Forschungsschwerpunkt zum „ReichskommissariatOstland“ für eine regionalhistorische Einrichtung. Hier liefert die stark ausgeprägtePersonalunion von Besatzungspersonal und schleswig-holsteinischen Nationalsozia-listen, angefangen bei Reichskommissar, Oberpräsident und NSDAP-Gauleiter Hin-rich Lohse bis hinunter zu einfachen Verwaltungskräften und Fahrern, eine wichtigeBegründung für das Paradoxon, das „Reichskommissariat Ostland“ auch als einStück schleswig-holsteinische Regionalgeschichte zu begreifen.

Inhaltlich ist Tilman Plaths Studie ergo tief verankert im Arbeitsgebiet des IZRG.Zugleich spiegelt die Tatsache, dass die Studie mit hoher Intensität in hoher Qualitätund rekordverdächtiger Zeit von nur zwei Jahren abgeschlossen wurde, das Tätig-keitsprofil und das Verständnis von Projektarbeit in unserem Haus wider. Dazugehört auch, dass Tilman Plath seine Sachkenntnis, Arbeitskraft und sein sonnigesGemüt in die Arbeit des Instituts und vor allem in die am Haus beheimatete Dokto-randen-Arbeitsgemeinschaft eingebracht hat, von der er als junger Doktorand selbsterheblich profitieren konnte.

Zur Realität der täglichen Forschungsarbeit nicht zuletzt kleinerer Institutegehört, dass Projekte, wie jenes, dessen Ergebnisse nun hier vorliegen, ohne einge-worbene Drittmittel kaum denkbar sind. Umso erfreulicher ist zu bewerten, dass dieStiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ das Projekt „Zwischen Schonungund Menschenjagden. Die Arbeitseinsatzpolitik in den baltischen Generalbezirkendes Reichskommissariats Ostland 1941–1944“ in ihr Forschungsprogramm „Doku-mentation der Zwangsarbeit als Erinnerungsaufgabe“ aufgenommen und durch einStipendium sowie durch die Finanzierung der Druckkosten des Bands auf groß-zügigste Weise gefördert hat.

Prof. Dr. Uwe Danker (Geschäftsführender Direktor des IZRG),Schleswig im Juni 2012

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1. Einleitung

1.1 Methodisch

1.1.1 Thema

„Die Juden haben wir ihnen ja nun beseitigt, bei den Altgläubigen und Polen gehenihre Ziele konform mit unseren. Nun kommt das Problem der Russen. Auch diesemöchte man nun bei der Gelegenheit aus Lettgallen herausbringen. Es wird von let-tischer Seite mit allen Mitteln versucht, dieses Ziel, das ihnen in den 20 Jahren nichtgelungen ist, nun zu erreichen und durchzusetzen mit Hilfe und auf die Kappe derDeutschen“1.

Zu dieser Einschätzung kam der deutsche Gebietskommissar in Dünaburg (Dau-gavpils) Friedrich Schwung im Sommer 1942. Schwung bezog sich auf die „Lettgal-lenaktion“, bei der etwa 8000 Zivilpersonen aus der im Osten Lettlands gelegenenRegion Lettgallen (Latgale) unter der organisatorischen Regie der deutschen Arbeits-einsatzverwaltung für den „Reichseinsatz“ deportiert worden waren. Diese „Aktion“besitzt gewissermaßen exemplarische Funktion der historischen Problematik derdeutschen „Arbeitseinsatzpolitik“ in den drei baltischen Generalbezirken. Das natio-nalsozialistische Verwaltungskonstrukt „Reichskommissariat Ostland“, das am17. 7. 1941 ins Leben gerufen wurde2, umfasste neben den drei baltischen Bezirkennoch den Generalbezirk Weißruthenien, der sich jedoch nicht nur bezüglich der „Ar-beitseinsatzpolitik“ von der Besatzungsherrschaft im Baltikum gravierend unter-schied3. Hier war die deutsche Besatzungspolitik deutlicher von der auf der Idee des„Untermenschentums“ basierenden Politik bestimmt. Doch auch die „Arbeitseinsatz-politik“ im Baltikum war alles andere als eine nur auf die Zustimmung der Zivilbevöl-

13

1 LVVA-P-69.1a.18 S. 485–497. Gebietskommissar in Dünaburg gez. Schwung, Monatsbericht Mai/Juni1942 – Kurzer Überblick über geschichtliche Ereignisse zum Verständnis der augenblicklichen politi-schen Struktur Lettgallens. An: GK in Riga Abt. II z.H. Bönner, 18. 6. 1942, hier: S. 488.

2 Seppo Myllyniemi, Die Neuordnung der baltischen Länder 1941–1944: Zum nationalsozialistischenInhalt der deutschen Besatzungspolitik, Helsinki 1973, S. 87–96; Siehe zum Reichskommissariat Ost-land auch: Wolfgang Benz (Hg.), Einsatz im „Reichskommissariat Ostland“. Dokumente zum Völker-mord im Baltikum und in Weißrussland 1941–1944, Berlin 1998; David Gaunt (Hg.), Collaboration andresistance during the Holocaust. Belarus, Estonia, Latvia, Lithuania, Bern 2004; Hans-Dieter Handrack,Das Reichskommissariat Ostland. Die Kulturpolitik der deutschen Verwaltung zwischen Autonomieund Gleichschaltung 1941–1944, Hann. Münden 1981; Uwe Danker, Die „Zivilverwaltung“ des Reichs-kommissariats Ostland und der Holocaust: Wahrnehmung, Rolle und „Verarbeitung“, in: David Gaunt(Hg.), Collaboration and resistance during the Holocaust, Bern 2004, S. 45–76.

3 Zu Weißrussland unter deutscher Besatzung: Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirt-schafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944, Hamburg 20001; Bernhard Chiari, All-tag hinter der Front : Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrussland 1941–1944, Düssel-dorf 1998; Babette Quinkert, Propaganda und Terror in Weißrussland 1941–1944: Die deutsche „geis-tige“ Kriegführung gegen Zivilbevölkerung und Partisanen, Paderborn 2009.

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kerung abzielende Strategie, wie folgende im Zitat Schwungs deutlich werdendeProblemfelder aufzeigen:● Die menschenverachtende Qualität der deutschen „Arbeitseinsatzpolitik“4: Wie

in dem Zitat deutlich wird, stellte das Baltikum keine Ausnahme dar. Im Gegen-teil, die Versuche auch aus dieser Region einen größtmöglichen Nutzen für diedeutschen Kriegsanstrengungen zu gewinnen, stellen einen exemplarischen Fallfür die allgemeine deutsche „Arbeitseinsatzpolitik“ dar.

● Die rassenideologische Komponente der „Arbeitseinsatzpolitik“: Schwung stelltin diesem Zitat unmissverständlich die inhaltliche Verknüpfung zwischen Rekru-tierung von Arbeitskräften und dem Kriterium von ethnischen Gruppen als poten-tielle Opfergruppen her. Wie am Beispiel des „Arbeitseinsatzes“ von Fremdarbei-tern im Reich schon hinlänglich gezeigt5, war die Praxis des nationalsozialisti-schen „Arbeitseinsatzes“ massiv von einer auf rassenideologischen Grundsätzenbasierenden Hierarchie begründet. Auch diesbezüglich war das Baltikum keineAusnahme. Und trotzdem war diese Region in gewisser Weise ein Spezialfall, wiedie Definitionsgrenze des Ostarbeitstatus‘ verdeutlicht6: Denn Arbeitskräfte ausdem Baltikum – einschließlich der slawischen Minderheiten – galten nicht als„Ostarbeiter“. Und doch gab es „Ostarbeiter“ im Baltikum7 – eine widersprüchli-che Situation, auf die einzugehen sein wird.

● Die Verbindung der „Arbeitseinsatzpolitik“ mit dem System der „Vernichtungdurch Arbeit“8: Wie durch den Verweis Schwungs auf die Vernichtung der Judendargelegt, ist diese Politik auch unmittelbar im Zusammenhang des Holocaust zu

14 Einleitung

4 Einführend zur nationalsozialistischen „Arbeitseinsatzpolitik“: Hans-Christoph Seidel u. Klaus Tenfelde(Hg.), Zwangsarbeit im Europa des 20. Jahrhunderts. Bewältigung und vergleichende Aspekte, Essen20071; Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirt-schaft des Dritten Reiches, Bonn 19992; Ulrich Herbert (Hg.), Europa und der „Reichseinsatz“. Auslän-dische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938–1945, Essen 1991b1;Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene undHäftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939–1945, Stuttgart 2001.

5 Hierzu siehe vor allem: Herbert, Fremdarbeiter, 1999, S. 96–104, 244–250.6 Zur Definitionsgrenze siehe: Stefan Karner u. a., Zwangsarbeit in der Land- und Forstwirtschaft auf

dem Gebiet Österreichs 1939 bis 1945, Wien, München 2004, S. 90 f., 118; Pavel Polian, Die Erinne-rung an die Deportationen während der deutschen Besatzung in der Sowjetunion, in: Hans-ChristophSeidel u. Klaus Tenfelde (Hg.), Zwangsarbeit im Europa des 20. Jahrhunderts. Bewältigung und verglei-chende Aspekte, Essen 20071, S. 59–74, S. 62.

7 Siehe: BA-R-91.439 u. p. GK in Riga gez. Matthiessen, Verordnung über die Einsatzbedingungen derOstarbeiter in den Generalbezirken Estland, Lettland und Litauen, 28. 1. 1943.

8 Zu dieser Beziehung im Allgemeinen: Dieter Maier, Arbeitseinsatz und Deportation. Die Mitwirkungder Arbeitsverwaltung bei der nationalsozialistischen Judenverfolgung in den Jahren 1938–1945, Ber-lin 19941.

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verstehen9. Das Zitat Schwungs zeigt, wie gleichgültig physische Vernichtung(„die Juden haben wir ihnen ja nun beseitigt“) mit der Deportation zum „Arbeits-einsatz“ von Menschen gleichsetzt wurde. Die Berücksichtigung des Holocaustund des jüdischen „Arbeitseinsatzes“ ist für das Baltikum10 auch deshalb von gro-ßer Bedeutung, da sich die einzigen KZs auf sowjetischem Territorium im Balti-kum befanden und das KZ Kaiserwald in Riga sowie die ÖlschieferabbaustättenEstlands zu den wichtigsten Schauplätzen von jüdischer Zwangsarbeit zählten11.

● Gestaltungsspielräume der „landeseigenen Verwaltung“: Schwungs Beschwerdeüber den Versuch der Beeinflussung der deutschen Besatzungspolitik durch letti-sche Kräfte verweist auf die Tatsache, dass der deutschen Besatzungsmacht nurbegrenzte machtpolitische Mittel zur Verfügung standen. Hierbei ergeben sichFragen sowohl nach der Reichweite der deutschen Aufsichtsverwaltung bei derUmsetzung politischer Ziele als auch nach Formen von Kollaboration12 undWiderstand, die Relevanz für das weite Forschungsfeld der Kollaborationsfor-schung anhand des exemplarischen Falls der Arbeitseinsatzverwaltungen besit-zen13.

● Ethnische Konflikte: Die Relation von Rasse- und „Arbeitseinsatzpolitik“ fand inLettland, wie das Zitat Schwungs zeigt, vor dem Hintergrund eines bereits beste-henden ethnischen Konfliktes statt, der insbesondere zwischen dem lettischen

Methodisch 15

9 Zum Holocaust im Baltikum siehe als Einführung u. a.: Benz, Einsatz im „Reichskommissariat Ost-land“, 1998; Gaunt, Collaboration and resistance during the Holocaust, 2004; Wolfgang Curilla, Diedeutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrussland: 1941–1944. Diedeutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrussland, Paderborn 2006;Hans-Heinrich Wilhelm, Die Einsatzgruppe A der Sicherheitspolizei und des SD 1941/42, Frankfurtam Main 1996.

10 Zum jüdischen „Arbeitseinsatz“ in Riga siehe vor allem: Andrej Angrick u. Peter Klein, Die „End-lösung“ in Riga. Ausbeutung und Vernichtung 1941–1944, Darmstadt 2006, S. 276–297, 323–337,346–360.

11 Zu diesen KZ siehe: Abschnitt zu jüdischer Zwangsarbeit in den KZ des Baltikums.12 Zum Kollaborationsbegriff: Werner Röhr, Kollaboration: Sachverhalt und Begriff. Methodische Überle-

gungen auf der Grundlage vergleichender Forschungen zur Okkupationspolitik der Achsenmächte imZweiten Weltkrieg, in: Joachim Tauber (Hg.), „Kollaboration“ in Nordosteuropa. Erscheinungsformenund Deutungen im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2006, S. 21–39; Werner Röhr (Hg.), Europa untermHakenkreuz:. Okkupation und Kollaboration, Berlin 1994a; Michajl Ivanovic Semirjaga, Kollaboracio-nizm: priroda, tipologija i projavlenija v gody vtoroj mirovoj vojny, Moskva 2000; Vgl. auch Abschnittzum Kollaborationsbegriff in dieser Einleitung.

13 Zur Kollaboration im Baltikum siehe u. a.: Meelis Maripuu, Kollaboration und Widerstand in Estland1940–1944, in: Collaboration and resistance during the Holocaust. 2004, S. 403–419; Katrin Rei-chelt, Kollaboration und Holocaust in Lettland 1941–1945, in: Täter im Vernichtungskrieg. 2002,S. 110–124; Karlis Kangeris, Kollaboration vor der Kollaboration? Die baltischen Emigranten und ihre„Befreiungskomitees“ in Deutschland 1940/1941, in: Werner Röhr (Hg.), Europa unterm Hakenkreuz.Okkupation und Kollaboration, Berlin 1994, S. 165–190; Robert Bohn, Kollaboration und deutscheMobilisierungsbemühungen im RK Ostland: Grundsätzliche Überlegungen, in: David Gaunt (Hg.), Col-laboration and resistance during the Holocaust, 2004, S. 33–44.

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und slawischen Bevölkerungsteil schwelte14. Ähnliche angespannte Situationenbestanden auch in den beiden Nachbarländern Lettlands zwischen den Mehr-heitsbevölkerungen und den slawischen Minderheiten15.

All diese Punkte bilden nicht etwa in sich abgeschlossene Problemfelder, sondernbedingten sich wechselseitig und entwickelten eine interdependente Dynamik, wel-che die „Arbeitseinsatzpolitik“ im Baltikum kennzeichnete. Beispielsweise ver-schärfte die nationalsozialistische Rassedoktrin die interethnischen Konflikte ebenso,wie die menschenverachtenden Züge der deutschen „Arbeitseinsatzpolitik“ dieBeziehungen zu der „landeseigenen Verwaltung“ belastete. Zudem ist zu berück-sichtigen, dass die hier vom Gebietskommissar Schwung suggerierte Einheit derdeutschen Besatzungspolitik insbesondere auf dem Feld der „Arbeitseinsatzpolitik“eine Illusion und alles andere als geschlossen war. Ganz im Gegenteil wurde sie zumAustragungsort von machtpolitischen Auseinandersetzungen zwischen einer Viel-zahl von deutschen und nicht deutschen Akteuren. Dass das Charakteristikum derWidersprüchlichkeit die „Arbeitseinsatzpolitik“ kennzeichnete, war also nicht nurdas Ergebnis einer in sich wechselhaften und unentschlossenen Politik, sondernauch Folge von Zielkonflikten, welche die unterschiedlichen Akteure der deutschenBesatzungspolitik untereinander austrugen16.

Relevanz des Themas – Erkenntnisgewinne:Die „Arbeitseinsatzpolitik“ im Baltikum wird hier als exemplarisches Untersuchungs-feld der nationalsozialistischen Herrschaft in ihrer Gesamtheit verstanden undbewertet, eingebettet in umfassendere Fragen der Forschung zur nationalsozialisti-schen „Arbeitseinsatzpolitik“ – eine Politik, die zu keinem Zeitpunkt eine zur Ruhekommende Balance zwischen den beiden Gegenpolen von rassenideologischen Vor-stellungen und kriegswirtschaftlichen Notwendigkeiten gefunden hat17.

In diesem Sinne liefert diese Arbeit einen wesentlichen Beitrag zur Erforschungder nationalsozialistischen „Arbeitseinsatzpolitik“ mittels der diesbezüglich bisher

16 Einleitung

14 Zur Geschichte der Minderheiten in Lettland zur Einführung: Leo Dribins, Mazakumtautı-bas Latvija:vesture un tagadne, Rı-ga 2007.

15 Karsten Brüggemann, Estonia and its escape from the east: the relevance of the past in Russian-Esto-nian relations, in: Representations on the margins of Europe. 2007, S. 139–165, S. 139–165; MichaelMcQueen, Collaboration as an element in the Polish-Lithuanian struggle over Vilnius, in: Joachim Tau-ber (Hg.), „Kollaboration“ in Nordosteuropa, 2006, S. 164–173.

16 Zu dem hinter dieser Argumentation liegende Begriff der „Polykratie“ als Erscheinungsform national-sozialistischer Herrschaft vgl.: Bernhard Gotto, Polykratische Selbststabilisierung. Mittel- und Unter-instanzen in der NS-Diktatur, in: Rüdiger Hachtmann (Hg.), Hitlers Kommissare. Sondergewalten inder nationalsozialistischen Diktatur, Göttingen 2006, S. 28–50.

17 Zu diesem strukturellen Gegensatz siehe: Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, Stutt-gart 2001, S. 24–34.

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unberücksichtigten Region des Baltikums. Denn gerade vor diesem Hintergrund desGegensatzes von rassenideologischer Doktrin und kriegsökonomischen Überlegun-gen spielte insbesondere das Baltikum eine aufschlussreiche Rolle. Es waren die bal-tischen Länder, in denen sich die nationalsozialistische Herrschaft in einem andau-ernden Schwebezustand zwischen Repressionsmaßnahmen und Kooperationsver-suchen befanden18. Nur das Ziel der größtmöglichen Ausnutzung der heimischenRessourcen für die deutschen Kriegsanstrengungen war kleinster gemeinsamer Nen-ner der deutschen Besatzungspolitik, was sich insbesondere in der „Arbeitseinsatz-politik“ im Baltikum zeigen lässt.

Auch kann die „Arbeitseinsatzpolitik“ im Baltikum als exemplarisches Analysefeldfür die allgemeine deutsche Besatzungszeit auf dem Territorium des Baltikums gese-hen werden und in dieser Funktion Erkenntnisse für die regionalhistorische For-schung zum Baltikum liefern. In diesem Kontext ist vor allem an das Themenfeld derinterethnischen Beziehungen in dieser Region zu denken, das insbesondere durchdie Problematik der Kollaborationsfrage innerhalb der Arbeitsverwaltung eine nichtzu unterschätzende Brisanz besitzt, was unter anderem an der bis heute höchstunterschiedlichen Wahrnehmung dieser Zeit durch Angehörige der slawischen Min-derheiten im Baltikum im Vergleich zu den baltischen Mehrheitsbevölkerungenersichtlich ist19.

Zum Verständnis dieser beiden hier ausgeführten Herangehensweisen ist eineEinführung in den Bezugsrahmen der historischen Verortung des Baltikums am Vor-abend des deutschen Angriffs notwendig, um die spezifischen regionalen Begeben-heiten hinreichend zu berücksichtigen. Dabei ist in diesem Zusammenhang vor allemauf die Aufeinanderfolge der recht kurzen Unabhängigkeitsphase und der einjäh-rigen sowjetischen Herrschaft unmittelbar vor der deutschen Okkupation zu verwei-sen – ohne deren Erwähnung und Behandlung viele Aspekte der deutschen Besat-zungszeit unverständlich bleiben würden20. Auch müssen die charakteristischenMerkmale des NS-„Arbeitseinsatzprogramms“ im Allgemeinen skizziert werden, umso die Grundlage für eine vergleichende Perspektive zu schaffen, welche die beson-dere Rolle der Region des Baltikums in der nationalsozialistischen „Arbeitseinsatz-politik“ erst deutlich zu machen vermag.

Methodisch 17

18 Myllyniemi, Die Neuordnung der baltischen Länder 1941–1944: Zum nationalsozialistischen Inhaltder deutschen Besatzungspolitik, 1973, S. 286.

19 Björn M. Felder, Lettland im Zweiten Weltkrieg. Zwischen sowjetischen und deutschen Besatzern1940–1946, Paderborn 2009b, S. 345–349; auch: B. M. Felder, Stalinismus als „russisch-jüdischeHerrschaft“. Sowjetische Besatzung und ethnische Mobilisierung im Baltikum 1940 bis 1941, in: Zeit-schrift für Geschichtswissenschaft 57. 2009a, S. 5–25.

20 Daina Bleiere (Hg.), Latvija Otraja pasaules kara: (1939–1945), Rı-ga 2008, S. 7–10.

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1.1.2 Allgemeine Fragestellungen

Im Mittelpunkt der Untersuchung steht das Spannungsverhältnis zwischen normati-ven und planerischen Zielvorstellungen einerseits sowie der praktischen Umsetzungdes „Arbeitseinsatzes“ und der Rekrutierungspraxis in den drei baltischen Generalbe-zirken des Reichskommissariats Ostland andererseits. Zentral ist dabei der Umstand,dass sowohl die Diskussion um die normativen Vorgaben, als auch die Praxis des„Arbeitseinsatzes“ von massiven Zielkonflikten der an der „Arbeitseinsatzpolitik“beteiligten Akteure gekennzeichnet war. Diese Zielkonflikte erwuchsen unter ande-rem aus der Konkurrenzsituation zwischen der Ausnutzung von baltischen Arbeits-kräften im Reich oder im Baltikum. Im Ergebnis war sowohl die Differenz zwischennormativen Vorgaben und „Arbeitseinsatzpraxis“ immens, als auch die Praxis des„Arbeitseinsatzes“ selbst von markanten Widersprüchen beispielsweise bezüglichder Statuszuschreibung einzelner Betroffenengruppen durchzogen.

Konzept der Gliederung und spezifische Fragestellungen:Vor dem Hintergrund der angedeuteten Determinanten und Konstellationen verfolgtdie Untersuchung einen Ansatz, der sowohl die Handelnden auf deutscher und ein-heimischer Seite als auch die vom Arbeitseinsatz „Betroffenen“ mit einschließt.Denn betrachtet man die hier bereits als insgesamt verworren und widersprüchlichgekennzeichnete „Arbeitseinsatzpolitik“ im Baltikum, so lässt sich festhalten, dasseine Beschäftigung mit diesem Thema nur dann zu gewinnbringenden Ergebnissenführen wird, wenn sowohl nach den Ursachen als auch nach den Wirkungen dieserPolitik gefragt wird. Diese Überlegungen rechtfertigen eine Gliederung der Unter-suchung in einen Abschnitt, der sich mit den „Machern“ und den Planern der „Ar-beitseinsatzpolitik“ beschäftigt und einen Teil, in dem den Auswirkungen auf dieMenschen, die für die nationalsozialistische Herrschaft arbeiten mussten, nach-gegangen wird.

Beiden Blickrichtungen gemeinsam ist das Interesse am bereits thematisiertenGegensatz von Theorie und Praxis der „Arbeitseinsatzpolitik“ im Baltikum, da diesereines der Wesensmerkmale eben dieser Politik war. Was sich mit Blick auf dieAkteure auf eine Gegenüberstellung von Planung und umgesetzter Praxis der „Ar-beitseinsatzpolitik“ konzentriert, findet seine Entsprechung im Rahmen der Beschäf-tigung mit den Betroffenengruppen in dem Gegensatz von normativen Vorgabender Behandlung von bestimmten Gruppen und deren tatsächlichem Schicksal, alsodem noch bestehenden Forschungsdesiderat der Statuszuschreibung von Arbeits-kräften im Baltikum.

Über dieses grundsätzliche Interessengebiet des Gegensatzes von Planung undPraxis der „Arbeitseinsatzpolitik“ hinaus soll sich in der Feinstruktur der Fragestellun-

18 Einleitung

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gen eine gewisse Parallelität der Interessenschwerpunkte in beiden Untersuchungs-teilen fortspinnen: Konkret heißt dies, dass auf der Ebene der Untersuchung derAkteure nach folgenden Untersuchungsparametern gefragt wird:1. Parameter des Ortes des „Arbeitseinsatzes“: Der vielleicht bedeutendste Zielkon-

flikt entsprang aus der Frage, wo die zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte derdeutschen Besatzungsmacht den größeren Nutzen bringen würden. Neben ande-ren „Einsatzorten“ entzündete sich diesbezüglich die Hauptauseinandersetzungan dem Prioritätenkonflikt zwischen „Reichseinsatz“ und der Arbeit vor Ort imBaltikum. Oder, wie es auf einer Konferenz zur „Arbeitseinsatzplanung“ beimRKO auf den Punkt gebracht wurde: „Es ergaben sich somit drei Punkte, die es zuberücksichtigen galt: a) Einsatz der Menschen im Ostland selbst, b) Forderungender Heeresgruppe, c) Forderungen des Reiches“21.

2. Parameter der Art des „Arbeitseinsatzes“: Eine weitere grundsätzliche Frage der„Arbeitseinsatzplaner“ bezog sich auf das Ausmaß von Zwangsmitteln, um einenfür deutsche Absichten möglichst großen Nutzen zu erzielen. Hier stellt sich dieFrage, mit welchen Methoden zwischen Repression und Kooperation der Akteurgedachte, die Arbeitskräfte des Baltikums für die deutsche Kriegswirtschaftgewinnen zu können. Zu diesen höchst komplexen strategischen Überlegungender deutschen Besatzungsbehörden gehörte nicht zuletzt auch der Einsatz vonPropaganda und der Versuch der Einbindung „Landeseigener Verwaltungen“,weshalb dieser Aspekt auch im Kontext der weiteren Kollaborationsforschunganzusiedeln ist.

3. Parameter der Rassenideologie: Neben reinen ökonomischen Erwägungen spiel-ten in der nationalsozialistischen Herrschaftspolitik bekanntermaßen auch rassen-ideologische Überlegungen eine entscheidende Rolle. So stellt sich mit Bezug aufdie einzelnen Akteure die Frage, in welchem Maße rassenideologische Prinzipienihre Politik bestimmte.

4. Bewertung der Durchsetzungsfähigkeit: Schließlich ist zurückzukommen auf dasVerhältnis von Theorie und Praxis und die Frage nach dem Durchsetzungsver-mögen des einzelnen Akteurs. Konnten oben genannte Ziele durchgesetzt wer-den, und wenn nicht, woran scheiterte der entsprechende Akteur?

Diese Untersuchungsparameter sollen, um die versprochene Parallelität der Unter-suchung zu gewährleisten, auch im zweiten Teil mit Blick auf die Betroffenen als the-matischer Leitfaden dienen. Die entsprechenden Einzelaspekte lassen sich wie folgtformulieren:1. Parameter des Ortes des „Arbeitseinsatzes“: In wie starkem Maße war die jewei-

lige Betroffenengruppe von der Rekrutierung für den „Reichseinsatz“ betroffen.

Methodisch 19

21 LVVA-P-1018.1.43 S. 64 f. Konferenzprotokoll beim RKO Lohse vom 15. 2. 1944, KonferenzprotokollBeitrag des Abteilungsleiters für Arbeit Schütte, 15. 2. 1944.

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Wurden die Arbeitskräfte eher vor Ort eingesetzt oder in das Reich oder in anderebesetzte Gebiete zum „Arbeitseinsatz“ deportiert?

2. Parameter der Art des „Arbeitseinsatzes“: Wie ist der Charakter der Rekrutierungund des „Arbeitseinsatzes“ im Baltikum zu beschreiben? War es eine „Zwangs-rekrutierung“ oder bestand ein gewisses Maß an Freiwilligkeit? Zur Beantwor-tung dieser Fragen wird ein hohes Maß an vergleichender Perspektive vonnötensein, da absolute Aussagen zum Begriff „Zwang“ normativ schwer zu fassen sind.Ein mögliches Untersuchungskriterium wird dabei das Ausmaß an Einflussmög-lichkeiten darstellen, welche die jeweiligen Gruppen ausüben konnten, um ihrSchicksal innerhalb der nationalsozialistischen „Arbeitseinsatzpolitik“ in ihremSinne zu verändern22.Weitere Kriterien zur Unterscheidung von Betroffenengrup-pen sind beispielsweise Arbeitsbedingungen, Löhne, Anteil an den für den„Reichseinsatz“ Rekrutierten und schließlich auch die Sterblichkeitsrate vonZwangsarbeitern. Doch besitzen diese Kriterien bereits den Charakter von sekun-dären Kriterien, denn sie stellen eine Folge des ersten Kriteriums der Einflussnah-memöglichkeit dar. Bei solchen Gruppen allerdings, die keinerlei Einflussmöglich-keiten auf ihr eigenes Schicksal hatten, ist jedoch auf diese sekundären Kriterienzurückzugreifen.

3. Parameter der Rassenideologie: Auf welcher Stufe innerhalb der nationalsozialis-tischen Rassenhierarchie rangierte die jeweilige Gruppe und hatte dies auf ihrSchicksal bezüglich des „Arbeitseinsatzes“ Konsequenzen?

4. Bewertung des Verhältnisses von normativen Vorgaben und der Praxis: Um denangesprochenen Kontrast von Theorie und Praxis auch im Hinblick auf die Betrof-fenengruppen anzusprechen, müssen hier die normativen Vorgaben der deut-schen „Arbeitseinsatzpolitik“ bezogen auf die jeweilige Betroffenengruppe mitdem tatsächlichen Schicksal verglichen werden, um so schließlich die hier vor-genommene Einteilung von Betroffenengruppen abschließend zu bewerten undzu rechtfertigen.

Der hier gewählte Ansatz, parallele Untersuchungsfelder in zweifach gebrochenerPerspektive auf die Akteure und auf die Betroffenen der „Arbeitseinsatzpolitik“ imBaltikum zu konstruieren verspricht den Vorteil, klare Kriterien der Vergleichbarkeitzu schaffen – vor dem Hintergrund einer sich auf den ersten Blick als äußerst wider-sprüchlich und verworren präsentierenden „Arbeitseinsatzpolitik“ im Baltikum. Sosoll die Zuordnung von klareren Verantwortlichkeiten auf Seiten der Akteure ermög-licht werden, die durch den Abgleich von Zielen und Praxis auch den Aspekt der Effi-zienz der „Arbeitseinsatzpolitik“ der jeweiligen Akteure mit einschließt. Auf Seitender Betroffenen wird so eine Kategorisierung und relative Unterscheidbarkeit ver-

20 Einleitung

22 Zum Kriterium der Einflussnahmemöglichkeit: Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, 2001,S. 14 f.

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schiedener Schicksale gewährleistet, die ebenfalls noch die Betrachtung von einernormativen und praktischen Binnendifferenzierung umfasst.

Methode der Darstellung:Nach Benennung der inhaltlichen Hauptaspekte und der Erläuterung der strukturel-len Themenschwerpunkte der zwei Hauptteile, nun ein paar Worte zur Darstellungs-weise dieser zwei Teile: Die Untersuchung der Akteure wird der oben vorgestelltenStruktur der Fragestellungen folgen. Die Beschäftigung mit den Betroffenen verstehtsich aber zugleich auch als stärker deskriptiv gehaltene Dokumentation der Schick-sale der einzelnen Gruppen mit weitgehend chronologischer Struktur, so dass hiereine strikte Befolgung der vier Untersuchungsparameter, so wie im Teil A, nichtgeeignet erscheint. Stattdessen wird eine freiere Erzählstruktur zu wählen sein, umdie höchst unterschiedlichen Bedingungen des jeweiligen „Arbeitseinsatzes“ flexib-ler einzufangen. Diese ungleichen Schicksale manifestieren sich schon bereits in derGröße der anzusprechenden Gruppen. So wird dem „Arbeitseinsatz“ der Mehrheits-bevölkerung größeren Raum zugestanden werden müssen, als beispielsweise derTeilgruppe der „Ostarbeiter“. Doch sollen die genannten Untersuchungsparameterstets Leitfaden und Interessenschwerpunkt der Darstellung bleiben.

1.1.3 Forschungslage

Das Thema nationalsozialistische „Arbeitseinsatzpollitik“ in den baltischen General-bezirken des RKO stellt bisher ein Forschungsdesiderat dar. Nur vereinzelt ist es zumGegenstand der Forschung geworden und meist dann auch nur am Rande thema-tisch weiter oder anders gefasster Studien. So finden sich die detailreichstenErkenntnisse zum „Arbeitseinsatz“ von Balten in einer Studie zur Zwangsarbeit inder österreichischen Land- und Forstwirtschaft23. Die verdienstvollen und detaillier-ten Informationen dieser Untersuchung leiden jedoch an einer gewissen Schwächeder Kontextualisierung, da einzelne Quellenfunde detailliert wiedergegeben werden,darüber hinaus aber die Suche oder Existenz anderer, womöglich konträrer Quellen-funde, gar nicht thematisiert wird. Eindrücklichstes Beispiel für diese Kritik ist dieBeschränkung auf litauische und estnische Zwangsarbeiter, da eine Sichtung desumfangreichen Quellenmaterials in Riga offenbar nicht im Rahmen einer Studie zurZwangsarbeit in Österreich durchführbar war. Das Fehlen einer Thematisierung vonlettischen Arbeitskräften wird dabei allerdings weder angesprochen noch begrün-det.

Methodisch 21

23 Karner u. a., Zwangsarbeit in der Land- und Forstwirtschaft auf dem Gebiet Österreichs 1939 bis1945, 2004.

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Im Gegensatz dazu finden sich zu den lettischen zwangsweise ins Reich ver-schleppten Personen Hinweise in der Untersuchung der DDR-Historikerin RoswithaCzollek zur deutschen Wirtschaftspolitik im Baltikum von 1974, welche sich imWesentlichen auf die veröffentlichten Akten der Alliierten Kriegsverbrecherprozessevon Nürnberg, aber auch auf baltische Archivbestände stützt. Allerdings ist die Stu-die durch die ideologisch begründeten Sichtweisen teilweise schwer lesbar und ins-besondere Zahlenangaben, auch zur Zwangsarbeiterverschleppung, weichen deut-lich von westlichen Forschungsergebnissen ab24.

Realistisch erscheinende Zahlenangaben, aber insgesamt nur einen kurzenAbschnitt zur „Arbeitseinsatzpolitik“, liefert die Studie zur deutschen Besatzungs-politik im Baltikum von Myllyniemi, die etwa zeitgleich zu Czolleks Untersuchungentstand25. Beide Darstellungen bildeten in der Regel die Basis für Referenzen zurZwangsarbeiterverschleppungen aus dem Baltikum in den folgenden Studien zurdeutschen Besatzungszeit in den baltischen Generalbezirken26. Selbständige niveau-volle, aber kurze Einzeluntersuchungen zum Thema entstanden in der Zwischenzeitnur in der baltischen Historiographie selbst für Lettland und Litauen27. InsbesondereKarlis Kangeris weitete inzwischen den Blick über sein Heimatland hinaus und ver-öffentlichte bereits einen Aufsatz zum gesamten Baltikum und seinen Zwangsarbei-tern, der neben den Untersuchungen aus Österreich die kenntnisreichste Veröffent-lichung zum Thema darstellt und vergleichsweise deutlich besser kontextualisiertist28.

So gering die Forschungsdichte zum Thema der „Arbeitseinsatzpolitik“ im Balti-kum ist, so immens erweitert sich die Forschungsliteratur, dehnt man das Thema aufeinen seiner beiden Bestandteile – „Arbeitseinsatzpolitik“ bzw. deutsche Besat-zungspolitik im Baltikum 1941–1944 – aus.

22 Einleitung

24 Roswitha Czollek, Faschismus und Okkupation.Wirtschaftspolitische Zielsetzung u. Praxis des faschis-tischen dt. Besatzungsregimes in d. baltischen Sowjetrepubliken während d. 2. Weltkrieges, Berlin1974.

25 Myllyniemi, Die Neuordnung der baltischen Länder 1941–1944: Zum nationalsozialistischen Inhaltder deutschen Besatzungspolitik, 1973.

26 Valdis O. Lumans, Latvia in World War II, New York 2006; Romuald J. Misiunas u. Rein Taagepera,The Baltic States : years of dependence 1940–1980, London 1983.

27 Karlis Kangeris, Nodeva reiham. Latvijas g‘eneralapgabala iedzı-votaji darbos Lielvacija, in: Latvijaszinatnu akademijas vestis 12. 1990b, S. 34–47; Justinas Braslauskas, Okupacine darbo prievoliupolitika Lietuvoje 1941–1944 metais, in: Lietuvos istorijos studijos 15. 2005, S. 38–59.

28 Karlis Kangeris, Baltische Zwangsarbeiter im Dritten Reich, in: Peter Ruggenthaler u. Walter Iber(Hg.), Hitlers Sklaven – Stalins „Verr�ter“. Aspekte der politisch-administrativen Repressionen anZwangsarbeitern und Kriegsgefangenen; eine Zwischenbilanz, Innsbruck 20101, S. 43–62.

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Die „Standardwerke“ hierzu sind die bereits genannten Werke von Myllyniemiund Czollek. Sie werden noch flankiert durch eine Einzeluntersuchung zur deutschenKulturpolitik im Baltikum durch Handrack29 und die militärhistorisch-apologetischeDarstellungen Werner Haupts30. Jüngst ist eine Überblicksdarstellung zu den natio-nalsozialistischen Verbrechen in den drei baltischen Generalbezirken erschienen, diebisherige Forschungsergebnisse zusammenträgt. Doch ist der Darstellung ein zustarker Impetus zueigen, die verbrecherische Kollaboration der baltischen Völkerherauszustellen, und deren tatsächlich nicht ganz unproblematische Aufarbeitungder Ereignisse zu dramatisieren31. Lobenswert ist die starke Berücksichtung auch derrussischen und sowjetnahen Forschung, doch ist diesem Kontext auch zugleich derallzu unkritische Umgang mit Zahlenangaben und der damit verknüpfte Zweck einerDramatisierung leicht ersichtlich32. Eine ausgewogene Grundlage zur deutschenBesatzungspolitik in den besetzten Ostgebieten im weiteren Kontext bilden dieArbeiten von Dallin33, Reitlinger34, sowie der Band zur Sowjetunion in der Reihe „Eu-ropa unterm Hakenkreuz“35, aber auch die neuere Studie von Zellhuber zum Ost-ministerium36. Die Forschung zur deutschen Besatzungspolitik im RKO im engerenRahmen erhielt in der jüngeren Vergangenheit vor allem durch Ergebnisse vieler Ein-

Methodisch 23

29 Handrack, Das Reichskommissariat Ostland. Die Kulturpolitik d. dt. Verwaltung zwischen Autonomieu. Gleichschaltung 1941–1944, 1981; Vgl. zur Kultur- bzw. Hochschulpolitik in Riga auch: MargotBlank, Nationalsozialistische Hochschulpolitik in Riga (1941–1944): Konzeption und Realität einesBereiches deutscher Besatzungspolitik, Lüneburg 1991.

30 Werner Haupt, Das war Kurland: d. 6 Kurlandschlachten aus d. Sicht d. Divisionen, Friedberg 1987;Werner Haupt, Baltikum 1941: Die Geschichte eines ungelösten Problems, Neckargmünd 1963.

31 Speziell zur Aufarbeitung der deutschen Besatzungsgeschichte in Lettland siehe auch die Arbeitenvon Eva-Clarita Onken: Eva-Clarita Onken, Revisionismus schon vor der Geschichte: Aktuelle Kontro-versen in Lettland um die Judenvernichtung und die lettische Kollaboration während der nationalso-zialistischen Besatzung, Köln 1998; Eva-Clarita Onken, Demokratisierung der Geschichte in Lettland:Staatsbürgerliches Bewußtsein und Geschichtspolitik im ersten Jahrzehnt der Unabhängigkeit, Ham-burg 2003.

32 Karl Heinz Gräfe, Vom Donnerkreuz zum Hakenkreuz: Die baltischen Staaten zwischen Diktatur undOkkupation, Berlin 2010.

33 Alexander Dallin, German rule in Russia, 1941–1945. A study in occupation politics, London 1957.34 Gerald Reitlinger, The house built on sand: the conflicts of German policy in Russia ; 1939–1945,

London 1960.35 Norbert Müller, Europa unterm Hakenkreuz, Sowjetunion. Die faschistische Okkupationspolitik in den

zeitweilig besetzten Gebieten der Sowjetunion (1941–1944), Berlin 1991a.36 Andreas Zellhuber, „Unsere Verwaltung treibt einer Katastrophe zu . . .“. Das Reichsministerium für

die besetzten Ostgebiete und die deutsche Besatzungsherrschaft in der Sowjetunion 1941–1945,München 2006; Eine aktuelle Übersicht zur Literatur über die deutsche Besatzungsherrschaft in derSowjetunion in: Rolf-Dieter Müller u. Gerd R Ueberschär, Hitler’s war in the east, 1941–1945. A criti-cal assessment, New York 20093.

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zeluntersuchungen Auftrieb37. Von außerordentlichem Wert sind weiterhin dieErgebnisse der drei in den baltischen Ländern seit 1998 gegründeten Historikerkom-missionen, die sich mit der Aufarbeitung der deutschen und sowjetischen Vergan-genheit im 20. Jahrhundert in ihren Ländern beschäftigen. Während in Estland zurdeutschen Besatzungszeit ein beachtliches Werk mit einer Vielzahl von wertvollenEinzelstudien erschienen ist38, veröffentlichte die litauische Historikerkommissionunter internationaler Beteiligung zwei Bände zur deutschen Besatzungszeit39. InLettland wiederum sind bisher 25 Sammelbände erschienen, welche aber nicht alledie deutsche Besatzungszeit behandeln40. Eine Art Zusammenfassung der Ergeb-nisse der lettischen Historikerkommission findet sich in der Überblicksdarstellung zurGeschichte Lettlands im Zweiten Weltkrieg, herausgegeben von den führenden letti-schen Historikern41.

Neben diesen äußerst wertvollen Veröffentlichungen der drei Historikerkommis-sionen sind in jüngster Zeit noch einige Studien zu den einzelnen Ländern erschie-nen. Insbesondere sei hier auf die kürzlich veröffentlichte Arbeit von ChristophDieckmann zu Litauen verwiesen, die eine ungeheure Informationsdichte zusam-menträgt42. Zu Lettland ist die Überblicksdarstellung des amerikanischen HistorikersLumans mit lettischen Wurzeln43 zu nennen, sowie eine auf fundierter Quellenbasisberuhende Studie des deutschen Historikers Björn Michael Felder, der einen beson-deren Schwerpunkt seines Interesses auf die ethnischen Aspekte unter den wech-selnden Herrschaften zwischen Stalinismus und Nationalsozialismus legt44. Eineebenfalls in jüngster Zeit erschienene wertvolle Untersuchung ist die Arbeit zur deut-

24 Einleitung

37 Siehe vor allem die Sammelbände: Sebastian Lehmann (Hg.), Das „Reichskommissariat Ostland“, Tat-ort und Erinnerungsobjekt, Paderborn 2012; Gaunt, Collaboration and resistance during the Holo-caust, 2004, sowie u. a. folgende Artikel in Sammelbänden: Uwe Danker, Der gescheiterte Versuch,die Legende der ’sauberen’ Zivilverwaltung zu entzaubern. Staatsanwaltschaftliche Komplexermitt-lungen zum Holocaust im ’Reichskommissariat Ostland’ bis 1971, in: Robert Bohn (Hg.), Die deutscheHerrschaft in den „germanischen“ Ländern 1940–1945, Stuttgart 1997, S. 159–186; Uwe Danker,Der schleswig-hosteinische NSDAP-Gauleiter Hinrich Lohse: Überlegungen zu seiner Biografie, in:Michael Ruck u. Karl Heinrich Pohl (Hg.), Regionen im Nationalsozialismus, Bielefeld 2003, S. 91–120; Wulf Pingel, Von Kiel nach Riga. Schleswig-Holsteiner in der deutschen Zivilverwaltung desReichskommissariats Ostland, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte122. 1997, S. 439–466, Klaus Bästlein, Völkermord und koloniale Träumerei. Das „ReichskomisssariatOstland“ unter schleswig-holsteinischer Verwaltung, in: NS-Gewaltherrschaft. 2005, S. 217–236.

38 Toomas Hiio (Hg.), Estonia 1940–1945: reports of the Estonian International Commission for theInvestigation of Crimes Against Humanity, Tallinn 2006.

39 Christoph Dieckmann (Hg.), Lietuvos zydu persekiojimas ir masines zudynes 1941 m. vasara ir rudeni:šaltiniai ir analize 2006b; Christoph Dieckmann u. a. (Hg.), Karo belaisviu ir civiliu gyventoju zudynesLietuvoje. 1941–1944 = Murders of prisoners of war and of civilian population in Lithuania, Vilnius2005.

40 Im Internet sind inzwischen ab Band 11 alle Publikationen frei zugänglich unter: www.president.lv41 Bleiere, Latvija Otraja pasaules kara: (1939–1945), 2008.42 Christoph Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944, Göttingen 2011.43 Lumans, Latvia in World War II, 2006.44 Felder, Lettland im Zweiten Weltkrieg, 2009b.

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schen Zivilverwaltung in Lettland von Sven Jüngerkes45. Das Gegenstück zur Arbeitvon Jüngerkes stellt gewissermaßen die Untersuchung des jungen lettischen Histori-kers Edvins Evarts zur lettischen „Landeseigenen Verwaltung“ dar, die in verglei-chender Perspektive zu Litauen und Estland strukturiert ist und das Feld der Wirt-schaftspolitik in den Mittelpunkt des Interesses stellt46. Das damit angeschnitteneThema der Kollaboration in Lettland wird auch in einer Vielzahl von Artikeln der His-torikerin Katrin Reichelt behandelt, von der eine Gesamtdarstellung zu diesemThema unlängst erschienen ist47. Ihr Interessenschwerpunkt bildet allerdings die let-tische Beteiligung am Holocaust48.

Diesen thematischen Schwerpunkt haben auch die neueren Veröffentlichungenzur Besatzungsgeschichte im nördlichen Nachbarland Estland. Ruth Bettina Birnbehandelt in diesem Kontext ausschließlich die Rolle der Sicherheitspolizei währendder deutschen Besatzung49, während Anton Weiss-Wendt den Forschungsrahmenauf die Beziehung des estnischen Volkes zum Holocaust ausweitet. Letztere Unter-suchung ist hier von besonderem Wert, da sie eine ausführliche Darstellung zu derbisher nahezu unerforschten jüdischen Zwangsarbeit in den estnischen Ölschiefer-gebieten enthält50.

Die somit angesprochenen Forschungen zur Kollaboration im Baltikum leitenzum Thema des Holocaust im Baltikum über, das Gegenstand einer enormen Viel-zahl von Einzeluntersuchungen51, teils in den genannten Ergebnissen der Historiker-kommissionen veröffentlicht, geworden ist, die mitunter auch Aspekte der jüdischenZwangsarbeit beleuchten52. Bis heute fehlt jedoch eine Überblicksdarstellung zumHolocaust im Baltikum. Aufgrund dieser historiographischen Schieflage wird in die-ser Arbeit versucht, die jüdische Zwangsarbeit im Baltikum von 1941–1944 in denVordergrund zu stellen und gleichsam einen ersten Überblick zu diesem Thema ausder bestehenden umfangreichen Holocaustliteratur zu erlangen.

Methodisch 25

45 Sven Jüngerkes, Deutsche Besatzungsverwaltung in Lettland 1941–1945. Eine Kommunikations- undKulturgeschichte nationalsozialistischer Organisationen, Konstanz 2010.

46 E. Evarts, Zemes pašparvalde Latvijas g‘eneralapgabala 1941.–1944.g., Rı-ga 2008.47 Katrin Reichelt, Lettland unter deutscher Besatzung 1941–1944. Der lettische Anteil am Holocaust,

Berlin 2011.48 Katrin Reichelt, Kollaboration und Holocaust in Lettland 1941–1945, 2002; Katrin Reichelt, Der Anteil

der Letten an der Enteignung der Juden ihres Landes zwischen 1941 und 1943, in: Kooperation undVerbrechen. 2003, S. 224–242; Katrin Reichelt, Kollaboration: Zwei Beispiele aus der Judenverfol-gung in Lettland 1941–1944, in: Joachim Tauber (Hg.), „Kollaboration“ in Nordosteuropa. Erschei-nungsformen und Deutungen im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2006, S. 77–86.

49 Ruth Bettina Birn, Die Sicherheitspolizei in Estland 1941–1944: Eine Studie zur Kollaboration imOsten, Paderborn 2006.

50 Anton Weiss-Wendt, Murder without hatred. Estonians and the Holocaust, Syracuse, N.Y. 20091.51 Siehe Literaturhinweise im Abschnitt zur jüdischen Zwangsarbeit.52 Hier ist neben der schon erwähnten Studie von Weiss Wendt folgende Arbeit besonders hervorzuhe-

ben: Angrick u. Klein, Die „Endlösung“ in Riga, 2006. Sowie Untersuchungen zu den KZ in Riga, Vau-vara und Kauen in: Wolfgang Benz u. Barbara Distel (Hg.), Riga-Kaiserwald, Warschau, Vaivara,Kauen (Kaunas), Płaszów, Kulmhof/Chełmno, Bełzec, Sobibór, Treblinka, München 2008.

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Da diese Untersuchung sich in doppelter Weise als exemplarische Studie versteht,und nicht nur als Teilstudie zur deutschen Besatzungszeit in der Region des Balti-kums zu lesen ist, sondern auch in umgekehrter Richtung Ergebnisse für die über-regionale Forschung zur nationalsozialistischen „Arbeitseinsatzpolitik“ liefern möch-te, sei kurz auch die Forschungslage auf diesem Feld dargestellt. Im Zentrum der His-toriographie zu diesem Thema steht die Feststellung, dass sich die Forschung zurLage der ausländischen Zwangsarbeiter auf dem Territorium Deutschlands seit derStudie Ulrich Herberts auf einem hohem Niveau des Kenntnisstandes bewegt53. Diesgilt jedoch weniger für die Frage der nationalsozialistischen „Arbeitseinsatzpolitik“in den besetzten Gebieten Europas. Nicht zuletzt auch die besetzten Ostgebiete stel-len in weiten Teilen noch ein Forschungsdesiderat dar, obwohl in diesen Gebietenetwa 35 Millionen „arbeitsfähige“ Menschen über Jahre hinweg für die deutschenBesatzer hatten arbeiten müssen54. Erst in jüngster Zeit sind auf diesem Feld ersteLücken geschlossen worden55. Das Baltikum und der Aspekt der deutschen „Arbeits-einsatzpolitik“ stellt hier keine Ausnahme dar. Erste Ansätze zur Schließung diesesDesiderats sind in jüngerer Zeit die Forschungsarbeiten von Christian Gerlach zuWeissrussland, in denen er sich auch umfassend mit dem Aspekt der deutschenMobilisierungsbemühungen zum „Arbeitseinsatz“ und der Rekrutierungsmethodenzum „Reichseinsatz“ beschäftigt56. Ähnliche Ergebnisse finden sich zu der Ukrainebei Tanja Penter57. Überblicksdarstellungen hauptsächlich zu den Rekrutierungenvon „Ostarbeitern“ für den „Reichseinsatz“ finden sich in den zahlreichen Aufsätzenund Schriften des russischen Geographen Pavel Polian58, sowie bei Rolf Dieter Mül-

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53 Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft desDritten Reiches, Berlin [u. a.] 1985; Frühe Überblicksdarstellungen sind: Edward L. Homze, Foreignlabor in Nazi Germany, Princeton 1967; Hans Pfahlmann, Fremdarbeiter und Kriegsgefangene in derdeutschen Kriegswirtschaft 1939–1945, Darmstadt 1968; Siehe darüber hinaus zur Einführung auchzur Historiographie: Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, 2001.

54 Vgl.: Sergej Kudryashov, Labour in the occupied territory of the Soviet Union, 1941–1944, in: RichardJ. Overy (Hg.), Die „Neuordnung“ Europas. NS-Wirtschaftspolitik in den besetzten Gebieten, Berlin1997, S. 161–167.

55 Siehe: Karsten Linne, Florian Dierl (Hg.), Arbeitskräfte als Kriegsbeute: Der Fall Ost- und Südosteuropa1939–1945, Berlin 2011.

56 Gerlach, Kalkulierte Morde, 2000.57 Tanja Penter, Arbeiten für den Feind in der Heimat: Der Arbeitseinsatz in der besetzten Ukraine

1941–1944, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte. 2004, S. 65–94.58 Siehe u.a.: Pavel Markovic Poljan, Zertvy dvuch diktatur, Moskva 20022; Pavel Polian, Die Rekrutie-

rung der Zwangsarbeiter in der Sowjetunion, in: Dittmar Dahlmann (Hg.), Zwangsarbeiterforschungin Deutschland. Das Beispiel Bonn im Vergleich und im Kontext neuerer Untersuchungen, Essen2010a1, S. 63–86; Pavel Polian, Sowjetische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene im Dritten Reich,in: Peter Ruggenthaler u. Walter Iber (Hg.), Hitlers Sklaven – Stalins „Verräter“. Aspekte der politisch-administrativen Repressionen an Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen; eine Zwischenbilanz, Inns-bruck 2010b1, S. 27–42.

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ler59. Neuere Studien zu anderen deutsch besetzten Gebieten sind gerade im Entste-hen oder jüngst herausgekommen60. In diesem Kontext ist auch die Untersuchungals Teilstudie eines übergeordneten Projektes der Stiftung „Erinnerung, Verantwor-tung, Zukunft“ zur nationalsozialistischen Zwangsarbeit in den besetzten Gebieteneinzuordnen.

1.1.4 Quellen

Zur Analyse der nationalsozialistischen „Arbeitseinatzpolitik“ in den baltischenGeneralbezirken des RKO wurden überlieferte Akten der deutschen und „landes-eigenen“ Verwaltungsorgane der deutschen Besatzungszeit im Baltikum aus denStaatsarchiven in Tallinn, Riga und Vilnius, sowie aus dem Bundesmilitärarchiv inFreiburg und dem Bundesarchiv in Berlin herangezogen. Die Nutzung gedruckterQuellenbände61, sowie die Heranziehung von Quellenbeständen des IfZ bilden eineErgänzung zu den oben genannten staatlichen Archiven.

Mit dem methodischen Ansatz einer Zweiteilung der Untersuchung in einen Ana-lyseabschnitt mit Blick auf die Akteure der „Arbeitseinsatzpolitik“ und einem zweitenAbschnitt mit Perspektive auf die Betroffenen korreliert in gewissem Maße aucheine Unterscheidung der Quellengattungen. Während bei der Analyse der Zielkon-flikte der Akteure vor allem der Schriftwechsel der verschiedenen deutschen und„landeseigenen“ Behörden im Vordergrund steht, da hier die Absichten, Lösungs-strategien und die Durchsetzungsfähigkeit der Akteure zum Ausdruck kommen,dominieren im zweiten Teil der Arbeit eher die Lageberichte der Arbeitsverwaltungals Grundlage für die stärker dokumentarisch gehaltene Beschreibung des Schicksalsder Betroffenengruppen in chronologischer Perspektive.

Bestände, die somit für den ersten Teil der Arbeit von besonderem Wert waren,sind vor allem die Akten der vier Ebenen der Zivilverwaltung, die in den Archiven inBerlin, Riga, Tallinn und Vilnius überliefert sind. Hier wiederum zeichnen sich in Ber-

Methodisch 27

59 Rolf-Dieter Müller, Die Rekrutierung sowjetischer Zwangsarbeiter für die deutsche Kriegswirtschaft,in: Ulrich Herbert (Hg.), Europa und der „Reichseinsatz“. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangeneund KZ-Häftlinge in Deutschland 1938–1945, Essen 1991c1, S. 234–250; Rolf-Dieter Müller, Men-schenjagd. Die Rekrutierung von Zwangsarbeitern in der besetzten Sowjetunion, in: Hannes Heer(Hg.), Vernichtungskrieg.Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944, Hamburg 19952, S. 92–103.

60 Siehe beispielsweise: Anna Maria Grünfelder, Arbeitseinsatz für die Neuordnung Europas. Zivil- undZwangsarbeiterInnen aus Jugoslawien in der „Ostmark“ 1938/41–1945, Wien 2010.

61 Beispielsweise die gedruckten Quellen der Kriegsverbrecherprozesse von Nürnberg (IMT), sowie u. a.:Benz, Einsatz im „Reichskommissariat Ostland“, 1998; A. Kadikis (Hg.), Mes apsudzam. Dokumentiun materiali par hitlerisko okupantu un latvie�u burzuazisko nacionalistu laundarı-bam LatvijasPadomju Socialistiskaja Republika, Rı-ga 1965a.

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lin vor allem die Akten des Ostministeriums62, des Reichskommissars Ostland63 unddes Generalkommissariats in Riga64 aus. Leider existieren im Bundesarchiv die ent-sprechenden Bestände zu den Generalkommissariaten in Reval und Kauen nicht.Genauso auf Riga konzentriert sind im Bundesarchiv auch die Bestände der Gebiets-kommissariatsebene65. Doch kann diese Lücke durch die Bestände der Generalkom-missariate und Gebietskommissariate in Estland und Litauen der Archive in Tallinnund Vilnius ausgeglichen werden66. Dies gilt für den Aspekt des „Arbeitseinsatzes“umso mehr, da in den dortigen Archiven eigene Bestände zur Wirtschafts- undArbeitsverwaltung existieren67. Von besonderem Interesse sind dabei nicht zuletztAkten der „Landeseigenen Verwaltungen“68.

Insbesondere diese „landeseigene“ Komponente rechtfertigt den Besuch im His-torischen Staatsarchiv in Riga, um die umfangreichen Materialien aus dem Bundes-archiv zu vervollständigen69, was insbesondere für die lettische Arbeitsverwaltunggilt70. Doch auch darüber hinaus finden sich zur deutschen Verwaltung reichhaltigeFunde in Riga, die eine ertragreiche Ergänzung zu den Beständen des Bundesarchivsdarstellen71.

Nicht zuletzt die erwähnten überlieferten Akten der „landeseigenen“ und deut-schen Arbeitsverwaltungen enthalten z.T. die umfangreichen bereits genanntenLageberichte, welche über die Betroffenengruppen und chronologische Entwick-lungsschübe Auskunft geben können72. Ergänzend zu den zivilen Lageberichten sindaber auch die Berichte der Wehrwirtschaftsbehörden in diesem Zusammenhang vonbesonderem Wert73.

28 Einleitung

62 Bestand: BA-R-6.63 Bestand: BA-R-90.64 Bestand: BA-R-92.65 Bestand: BA-R-91.66 Siehe beispielsweise folgende Bestände: Generalkommissar in Reval: ERA-R-65, sowie: Generalkom-

missar in Kauen: LCVA-R-615 und Gebietskommissar Wilna Land resp. Stadt: LCVA-R-613 resp. 614.67 Siehe beispielsweise: Arbeitsamt Wilna: LCVA-R-626, sowie: Arbeitsamt Kauen: LCVA-R-1474.68 Beispielsweise in Tallinn: Wirtschafts- und Finanzdirektorium: ERA-R-66, sowie: Wirtschafts- und

Finanzdirektorium Abteilung Arbeit: ERA-R-76; In Vilnius: Amt für Arbeit und Sozialwesen:LCVA-R-625.

69 Siehe u. a.: Wirtschaftsgeneraldirektion: LVVA-P-34, sowie: Generaldirektion des Innern: LVVA-P-97,sowie: Generaldirektion des Innern – Departement der Selbstverwaltung: LVVA-P-812.

70 Siehe: Lettische Arbeitsverwaltungen in Riga, Libau, Windau und Wenden: LVVA-P-958–61, undbesonders: Lettisches Arbeitsdepartement: LVVA-P-989.

71 Bestände: Ostministerium: LVVA-P-1018, sowie: Reichskommissariat Ostland: LVVA-P-70, sowie:Generalkommissar in Riga: LVVA-P-69.

72 Von besonderem Wert diesbezüglich in Berlin u. a. die Bestände: BA-R-91.394 und 395, sowie:BA-R-9. 2. 1153, und in Riga: Arbeitsamt Riga: LVVA-P-98, sowie das schon genannte LettischeArbeitsdepartement: LVVA-P-989.

73 So vor allem aus dem Militärarchiv in Freiburg die Bestände: Rüstungsdienststellen im RKO/RKU: BA-MA-RW-30, sowie: Wirtschaftsstab Ost: BA-MA-RW-31.

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Neben den genannten Quellen aus der Provenienz der zivilen und militärischenVerwaltung bilden die überlieferten Akten der verschiedenen örtlichen Polizeiorganeeine sinnvolle Ergänzung zur Lage der Bevölkerung, sowie zum Umgang mit Häftlin-gen und Juden. Dies erscheint nicht zuletzt auch deshalb sinnvoll, da der Polizei-apparat Himmlers hier als eigenständiger Akteur untersucht wird74.

Insgesamt ist die Quellenlage als umfangreich, aber lückenhaft zu bezeichnen.Die bestehenden Lücken vor allem auf den unteren Verwaltungsebenen könnenaber durch den Rückgriff auf die nächst höheren Verwaltungsebenen, oder dasHerausgreifen exemplarischer Beispiele auf unterer Verwaltungsebene dort, wo dieQuellenlage dichter ist, erschlossen werden.

Da das Thema der „Arbeitseinsatzpolitik“ in den baltischen Generalbezirken mitder Perspektive auf die Akteure und die Betroffenen dieser Politik als Analyse einerMobilisierungspolitik der Besatzer den Besetzten gegenüber verstanden wird, folgteine Darstellung der Vorgeschichte und der historisch bedingten Ausgangslage die-ses Verhältnisses. Daran schließt sich eine kurze Einführung der nationalsozialisti-schen „Arbeitseinsatzpolitik“ über den geographischen Rahmen des Baltikumshinaus an, um schließlich einführend noch das theoretische Begriffsfeld dieser Bezie-hungsanalyse von Besatzern und Besetzten zu klären.

1.2 Inhaltlich

1.2.1 Einführung zur Geschichte des Baltikums am Vorabend der DeutschenBesatzung

Aus der Vorgeschichte des Baltikums für die Beziehungsgeschichte zwischen deut-schen Besatzern und einheimischer Bevölkerung sind vor allem zwei Ereignisse vonbesonderer Relevanz. Das ist zum Einen die Besatzungserfahrung des Ersten Welt-krieges durch deutsche Truppen während und nach dem Krieg, und zweitens dieunmittelbare Besatzungserfahrung unter der ersten sowjetischen Besatzung von1940/1941 und der zwangsweisen Inkorporierung in die Sowjetunion. Beide Ereig-nisse hinterließen im Verhältnis zwischen deutscher Besatzungsmacht und einhei-mischer Bevölkerung nachhaltige Spuren. So sammelten die Deutschen am Ende desErsten Weltkrieges erste Erfahrungen hinsichtlich der Verwaltung dieser Territorien,

Inhaltlich 29

74 Siehe dazu folgende Bestände: Polizeidienststellen in den besetzten Ostgebieten: BA-R-70, sowie:SSPF Lettland: LVVA-P-82, sowie: KdS Lettland: LVVA-P-252, sowie: BdS Ostland: LVVA-P-1026,sowie: KdS Estland: ERA-R-819, sowie: KdS Litauen: LCVA-R-1399.

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was auch für die „Arbeitseinsatzpolitik“ in der Verwaltungseinheit „Ober Ost“ gilt75.Auch Pläne einer zukünftigen deutschen Kolonie im Baltikum existierten und sinddurchaus als erste Vorläufer späterer Pläne, wie dem Generalplan Ost, zu verste-hen76. Allerdings war der Einfluss der Deutschbalten, insbesondere in Hinblick aufEstland und Lettland, wesentlich bedeutender77.

Aus Sicht der einheimischen Bevölkerung war die Besatzungserfahrung durchdeutsche Truppen ein höchst ambivalentes Ereignis – mit zudem großen Unterschie-den in den drei Ländern, was vor allem für das Ende und die Befreiungskrieg in denjeweiligen Ländern gilt. Während in Litauen und Kurland in Lettland die Besatzungam längsten währte, waren die deutschen Truppen in Estland nur wenige Monate.Auch das Verhältnis der estnischen Bevölkerung zu den militärischen Verbändengestaltete sich in Estland reibungsloser als in Lettland. Denn, wie angedeutet, stan-den sich deutschbaltische, deutsche, baltisch-nationale und baltisch-sowjetischeund russisch-sowjetische und schließlich russisch-nationale, sowie alliierte Truppenin wechselnden Bündnissen gegenüber, sodass das wechselseitige Verhältnis vonDeutschen zur baltischen Mehrheitsbevölkerung alles andere als eindeutig und klarwar. Höhepunkt dieser Auseinandersetzungen in Lettland war die Schlacht vonWenden im Juni 1919, bei der sich die deutschbaltische Landeswehr aus Lettlandund lettische und vor allem estnische Truppen gegenüberstanden. Die Landeswehrverlor und musste sich zurückziehen, beteiligte sich aber im November unter derFührung des russischen Oberst Pavel Bermont-Avalov an einem weiteren Versuch,die junge lettische Armee aus Riga zu vertreiben, was die Beziehungen zwischenDeutschen und Letten in Lettland enorm belastete. In Litauen zog sich die deutscheArmee friedlicher zurück und die Hauptauseinandersetzungen im Zuge des Befrei-ungskampfes des jungen litauischen Staates richteten sich gegen die Sowjetunionund schnell auch gegen Polen, das gewaltsam die litauische Hauptstadt Vilniusbesetzte. Aus deutscher Sicht war das Verhältnis zu Litauen aber ebenfalls nicht kon-fliktfrei, da hier die „Memelfrage“ die gegenseitigen Beziehungen belastete78.

30 Einleitung

75 Christian Westerhoff, Deutsche Arbeitskräftepolitik in den besetzten Ostgebieten, in: Joachim Tauber(Hg.), Über den Weltkrieg hinaus: Kriegserfahrungen in Ostmitteleuropa 1914–1921, Lüneburg 2009,S. 83–107. Zur deutschen Besatzungspolitik in „Ober Ost“ vgl.: Vejas Gabriel Liulevicius, War land onthe Eastern Front. Culture, national identity, and German occupation in World War I, Cambridge2000; Abba Strazhas, Deutsche Ostpolitik im Ersten Weltkrieg. Der Fall Ober Ost, 1915–1917, Wies-baden 1993.

76 Dazu: Myllyniemi, Die Neuordnung der baltischen Länder 1941–1944: Zum nationalsozialistischenInhalt der deutschen Besatzungspolitik, 1973, S. 18–28; Kevin O’Connor, The history of the Balticstates, Westport, Conn. 2003, S. 78 f.

77 Michael Garleff, Die baltischen Länder, Regensburg 2001, S. 99; Gert von Pistohlkors, Baltische Län-der, Berlin 1994. S. 465–480.

78 Volker Blomeier, Litauen in der Zwischenkriegszeit. Skizze eines Modernisierungskonflikts, Münster1998, S. 190–212.

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Das politische Klima der Deutschen zu den Esten/Letten und Litauern währendder sich anschließenden Phase der staatlichen Unabhängigkeit in den baltischenStaaten war vor allem dadurch geprägt, dass sich die jungen baltischen parlamenta-rischen Demokratien durch weitgehende Rechte für ihre zahlreichen Minderheitenauszeichneten, was auch für die dort lebenden Deutschen galt79. Trotzdem warendie Beziehungen von Anfang an insbesondere in Estland und Lettland zwischenDeutschbalten und Esten und Letten gespannt, da die Deutschbalten durch dieAgrarreformen ihre dominierende Stellung in der Landwirtschaft verloren. Zudemverstärkte sich in allen drei Ländern der staatlich geförderte Nationalismus, der sichnicht zuletzt gegen die deutschbaltisch dominierte Wirtschaftselite richtete. DieseTendenz wurde entscheidend durch den systempolitischen Wandel zu autoritärenRegimen in allen drei Ländern verstärkt80.

Die zweite entscheidende Komponente für das gegenseitige Verhältnis zwischender deutschen Besatzungsmacht und der einheimischen Bevölkerung am Vorabendder deutschen Besatzung war das erste sowjetische Okkupationsjahr, das nach derUnterzeichnung des Molotov-Ribbentrop-Paktes am 23. August 1939 möglichgeworden war81. In dem einen Jahr der sowjetischen Herrschaft versuchte die sow-jetische Führung in allen drei Ländern eine stabile Herrschaft zu installieren. Zu die-sem Zeck mussten die alten Eliten der Nationalstaaten beseitigt werden. Höhepunktdieser Politik waren die massenhaften Deportationen (aus Estland ca. 11 000, ausLettland ca. 15 000 und aus Litauen ca. 22 000 Personen) vom 14./15. Juni 1941,eine Woche vor dem deutschen Angriff82. Da die stalinistische Herrschaft sich gegeneine nationalistisch eingestellte Elite richtete, waren ihre Maßnahmen selbst hoch-gradig von ethnischen Motiven erfüllt83. Inwieweit die stalinistische Herrschaft selbstschon von einem ethnisch motivierten Denken gelenkt wurde, oder ob die Benach-teiligung der baltischen Völker nur als Präventivmaßnahme gegen eine zu erwar-tende höhere Resistenz unter dieser Bevölkerung zu bewerten ist, soll hier nicht ent-schieden werden. Relevant für die deutsche Besatzungszeit ist jedoch die Tatsache,dass die sowjetische Herrschaft entscheidend zu einer Spaltung der Gesellschaftnach ethnischen Kriterien beitrug, die wiederum von den Deutschen aufgegriffenwerden konnte. Dass dabei die Ethnisierung der politischen Konflikte auch auf Ste-reotypen basierte, die weit von der historischen Wahrheit entfernt waren, zeigt ins-

Inhaltlich 31

79 Dazu: Garleff, Die baltischen Länder, 2001, S. 124–144.80 Zum Hintergrund der Errichtung autoritärer Regime in Ostmitteleuropa vgl.: Erwin Oberländer u. Rolf

Ahmann (Hg.), Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südosteuropa 1919–1944, Paderborn 2001.81 Garleff, Die baltischen Länder, 2001, S. 159–162; Bleiere, Latvija Otraja pasaules kara: (1939–1945),

2008, S. 111–115.82 Dazu: Elmars Pelkaus (Hg.), Aizvestie: 1941. gada 14. junijs, Rı-ga 2007; Garleff, Die baltischen

L�nder, 2001, S. 166 f.; Vgl. mit abweichenden Zahlenangaben auch: Gr�fe, Vom Donnerkreuzzum Hakenkreuz: Die baltischen Staaten zwischen Diktatur und Okkupation, 2010, S. 124–128.

83 Dazu: Felder, Stalinismus als „russisch-jüdische Herrschaft“, 2009a.

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besondere der tragische Fall des vermeintlichen jüdischen Verräters. Denn aus-gerechnet der jüdische Anteil war unter den im Juni 1941 deportierten Personenüberproportional hoch, was den Vorwurf einer jüdisch- bolschewistischen Zusam-menarbeit widerlegt84. Doch waren diese Statistiken zu dieser Zeit nicht in dasöffentliche Bewusstsein gelangt, sodass der Boden für einen radikalen Antisemitis-mus bereitet war. Auch der Hass gegen die slawische Minderheit wurde durch dieTatsache, dass die russische Sprache und Kultur während des sowjetischen Okkupa-tionsjahres gefördert wurde und eine Reihe der führenden Politiker ebenfalls Russenwaren, ebenfalls geschürt85. Dies hatte nicht zuletzt Auswirkungen auf das hier zuuntersuchende Gebiet der Arbeitskräfterekrutierung.

1.2.2 Grundzüge der nationalsozialistischen „Arbeitseinsatzpolitik“

Als die deutsche Besatzungsmacht nach ihrem Einmarsch im Baltikum damitbegann, ein System der Arbeitsverwaltung zu installieren, waren neben dem his-torisch gewachsenen spezifischen Verhältnis von Besatzern und Besetzten für die„Arbeitseinsatzpolitik“ in dieser Region auch überregionale Faktoren der nationalso-zialistischen „Arbeitseinsatzpolitik“ von großer Bedeutung. Aus diesem Grunde seihier neben einer Einführung zum Verhältnis der Besatzer zu den Besetzten auch dies-bezüglich auf die wichtigsten Merkmale verwiesen:● Merkmal „Improvisation“: Der millionenfache „Arbeitseinsatz“ von ausländischen

Arbeitskräften im Reich und die Heranziehung einheimischer Arbeitskräfte in dieörtliche Kriegswirtschaft waren nicht das Ergebnis und die Umsetzung einer jah-relangen Planung. All diese Maßnahmen sind als Antwort auf den aus nationalso-zialistischer Sicht ungünstigen Kriegsverlauf zu verstehen86. Wesentliches Merk-mal der nationalsozialistischen „Arbeitseinsatzpolitik“ war somit die Improvisa-tion als verzweifelter Abwehrversuch der sich anbahnenden Niederlage.

● Zäsur 1941/1942: Bei diesem Prozess ist vor allem eine deutliche Zäsur im Winter1941 / 1942 erkennbar. Das Scheitern des Unternehmens „Barbarossa“ vor Mos-kau und der Kriegseintritt der USA zwangen die deutsche strategische Planung87,sich auf einen lang andauernden Abnutzungskrieg einzustellen, wozu ein gewal-tiges Potential an Arbeitskräften benötigt wurde, und zwar sowohl im Reich alsauch in den besetzten Gebieten.

● Sauckelprogramm: Zwar waren auch schon vorher massenhaft ausländischeArbeitskräfte – vor allem aus Polen und aus Frankreich – auf deutschem Boden

32 Einleitung

84 Pelkaus, Aizvestie: 1941. gada 14. ju nijs, 2007, S. 687 f.85 Dazu: Felder, Lettland im Zweiten Weltkrieg, 2009b, S. 90 f.86 Herbert, Fremdarbeiter, 1999, S. 37 f.87 Homze, Foreign labor in Nazi Germany, 1967, S. 303.

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für den „Arbeitseinsatz“ herangezogen worden. Aber erst durch die Entschei-dung zum „Einsatz“ zunächst der Kriegsgefangenen, kurz darauf auch zivilenArbeitskräften aus der Sowjetunion wurde der „Arbeitseinsatz“ von Ausländernin Deutschland zum dauerhaften Kalkulationsmoment der deutschen Kriegswirt-schaft88. Die organisatorische Entsprechung dieser gewandelten Umstände wardie Ernennung Fritz Sauckels zum Generalbevollmächtigten für den Arbeitsein-satz im März 1942, der weitgehende Befugnisse zur Beschaffung von Arbeitskräf-ten aus den besetzten Gebieten erhielt89, und unmittelbar damit begann, „dieMillionen der Ostarbeiter nach Deutschland (zu) holen ohne Rücksicht auf ihreGefühle, ob sie wollen oder nicht!“90

● Ideologie – Ökonomie – Gegensatz: Allerdings war die nationalsozialistische „Ar-beitseinsatzpolitik“ von nun an keineswegs ausschließlich von kriegsökonomi-schen Faktoren bestimmt. Auch weiterhin spielten rassenideologische Aspekteeine bedeutende Rolle, die vehement von Seiten des RSHA vertreten wurden,und ihren Ausdruck insbesondere in den im Februar erlassenen „Ostarbeiter-bestimmungen“ fanden91. (Ausgehend von rechtlichen Überlegungen ist weiterzwischen zivilen Arbeitskräften, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen zu unter-scheiden.)

● Gegensatz von Planung und Umsetzung: Gerade die menschenunwürdigen„Ostarbeiterbestimmungen“ waren mit ein Grund für die schnell nachlassendenErfolge der Anwerbungen. Die Reaktion der deutschen Werber war eine Verstär-kung sowohl der Propaganda, als auch der Zwangsmaßnahmen der Rekrutie-rung, was wiederum kaum die erwünschten Resultate zeitigte, sondern stattdes-sen die Bevölkerung zu den Partisanen drängte92. Was für die Anwerbungen zum„Reichseinsatz“ galt, zeigte sich in ähnlicher Form auch beim „Arbeitseinsatz“ inden besetzten Ostgebieten selbst. Auch hier wurden die verzweifelten Versucheder örtlichen Arbeitseinsatzverwaltungen, die Arbeitsleistung durch strengere

Inhaltlich 33

88 Herbert, Fremdarbeiter, 1999, S. 152–154.89 Etwa zeitgleich erfolgte die Ernennung Speers zum Nachfolger Todts, was zusammen mit Sauckels

Ernennung die personelle Entsprechung der kriegswirtschaftlichen Wende von Anfang 1942 bedeu-tete. Siehe ausführlich zum Wandel der deutschen Kriegswirtschaft mitsamt ihrer organisatorischenSpitze: Walter Naasner, Neue Machtzentren in der deutschen Kriegswirtschaft 1942–1945: Die Wirt-schaftsorganisation der SS, das Amt des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz und dasReichsministerium für Bewaffnung und Munition, Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduk-tion im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Boppard 1994.

90 Zitiert nach: Peter Kleist, Zwischen Hitler und Stalin 1939–1945: Aufzeichnungen, Bonn 1950, S. 195.91 Herbert, Fremdarbeiter, 1999, S. 154–157; Zu dem Antagonismus von Kriegsökonomie und Rassen-

ideologie siehe: Ulrich Herbert, Arbeit und Vernichtung. Ökonomisches Interesse und Primat der„Weltanschauung“ im Nationalsozialismus, in: ders. (Hg.), Europa und der „Reichseinsatz“. Auslän-dische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938–1945, Essen 1991a1,S. 384–426.

92 Quinkert, Propaganda und Terror in Weißrussland 1941–1944: Die deutsche „geistige“ Kriegführunggegen Zivilbevölkerung und Partisanen, 2009, S. 257–267.

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Verordnungen anzuziehen mit zunehmender Arbeitsverweigerung und passivemoder aktivem Widerstand beantwortet93.

● Bilanz: Nicht zuletzt diese Widerstände werfen schließlich die Frage der „Effekti-vität“ der nationalsozialistischen „Arbeitseinsatzpolitik“ auf. Zwar stellte der mil-lionenfache „Einsatz“ von Arbeitskräften im Reich und in den besetzten Gebie-ten94 selbst die Grundvoraussetzung für Speers Rüstungserfolge und die Verlän-gerung des Krieges dar, doch waren die repressiven Rekrutierungsmethoden unddie rassenideologisch begründeten Erniedrigungen vor allem den als „Untermen-schen“ eingestuften Sowjetbürgern gegenüber derartig rigoros, dass die deut-sche Herrschaft jegliche Unterstützungsbereitschaft von Seiten der Zivilbevölke-rung verlor95. Auch verhinderten starke Reibungsverluste zwischen mehrerenAkteuren der „Arbeitseinsatzpolitik“, welche auch nach der Ernennung Sauckelsnicht aufhörten, eine effektive Planung und waren zugleich für die außerordentli-che Diversifizierung der Betroffenengruppen mit verantwortlich, welche die Dis-kussion über den Zwangscharakter der Arbeitskräfte erschweren.

1.2.3 Einführung zum Begriffsfeld der Interaktion von Besatzern undBesetzten – Kollaboration

Für die Verwirklichung der Ziele der nationalsozialistischen „Arbeitseinsatzpolitik“war das gegenseitige Verhältnis zwischen Besatzern und Besetzten von außer-ordentlicher Bedeutung. Denn die Lösungsstrategien der beteiligten Akteure orien-tierten sich nicht zuletzt auch an dem Grad ihrer Durchführbarkeit, welche wie-derum vom Kooperationswillen der Betroffenen abhing. Diese Thematik führtzwangsläufig zum weiten Themenfeld von Kooperation, Kollaboration und Wider-stand. Ein terminologischer Klärungsversuch zur Verwendung dieser Begriffe sei imFolgenden vorangestellt, um das in dieser Arbeit verwendete Verständnis zu diesemThemenkomplex zu umreißen.

Es lassen sich zwei Gründe ausmachen, welche die besondere Dringlichkeit unddie Brisanz des Begriffs und Themenfelds der Kollaboration im Baltikum ausmachen:Dass dieses Thema namentlich im Zusammenhang des Holocaust konfliktgeladenist, bedarf nicht der besonderen Hervorhebung96. Aber auch unabhängig vomJudenmord besitzt dieses Thema eine Sprengkraft von erstaunlichen Ausmaßen. Die

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93 Müller, Europa unterm Hakenkreuz, Sowjetunion, 1991a, S. 195–20694 Zahlen: 8 Million aus SU plus ca. 20 Million in SU allein. Polian, Die Erinnerung an die Deportationen

während der deutschen Besatzung in der Sowjetunion, 2007, hier: S. 59.95 Homze, Foreign labor in Nazi Germany, 1967, S. 310 f.96 Zu diesem Themenkomplex zur Einführung siehe: Jörg Zägel, Reiner Steinweg, Die Sicht auf Krieg,

Diktatur, Völkermord, Besatzung und Vertreibung in Russland, Polen und den baltischen Staaten, Ber-lin 2007.

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Ursache dieser Erscheinung dürfte in dem komplexen Verhältnis der baltischenGeschichtsschreibung zur sowjetischen Historiographie und der angespanntenBeziehung zur russisch–postsowjetischen Sichtweise auf die Ereignisse liegen, wasinsbesondere spürbar ist bei der Beurteilung der Rolle des sowjetischen Widerstan-des im Baltikum97. Für Historiker aus dem Baltikum ergibt sich ein Solidarisierungs-problem, das aus einer „Sandwichlage“ heraus zu erklären ist. Stellt die Verurteilungder russisch–sowjetischen Sichtweisen auf die Ereignisse der deutschen Besatzungs-zeit ein Solidarisierungsangebot an den Westen dar98, so wird dieses unmittelbarzunichte gemacht durch den gerade aus westlicher Forschung zu hörenden Vorwurfder Beteiligung an den Verbrechen des Judenmordes99.

Ohne an dieser Stelle die einzelnen historiographischen Kämpfe im Detail weiterverfolgen zu wollen, kristallisieren sich als signifikante Themenfelder, welche zumVerständnis der deutschen Besatzungszeit unverzichtbar sind, Holocaust, Kollabora-tion und Widerstand heraus, auch wenn eine begriffliche Exaktheit im Hinblick aufletztere trotz intensiver Bemühungen der Forschung100 nicht gewährleistet werdenkann.

Die Vernichtung der Juden im Baltikum stellt zweifelsohne das schwerwiegendsteVerbrechen der deutschen Besatzungszeit dar. Dies umso mehr, als hier die Ermor-

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97 U. Neiburgs u. Dz E-rglis, Nacionala un padomju preto�anas kustı-ba: kopı-gais un at�kirı-gais(1941–1945), in: Latvijas Vesturnieku Komisijas Raksti 3. 2001, S. 267–330, hier: S. 272; Siehehierzu beispielsweise das Vorwort in dem auf Russisch erschienenen Quellenband: Prestuple-nija nacistov i ich posobnikov v Pribaltike (Latvija). 1941–1945; dokumenty i svidetel’stva, Riga2007. Oder die k�mpferischen Publikationen Krysins: Michail Jurevic Krysin, Pribaltijskij fa�izm:istorija i sovremennost, Riga 2007; Michail Jurevic Krysin, Laty�skij Legion SS: vcera i segodnja,Riga 2006.

98 Ein Indiz für diese Neigung stellt die übertriebene Wertschätzung des englischen Historikers NormanDavies dar. Siehe beispielsweise: Bleiere, Latvija Otraja pasaules kara: (1939–1945), 2008 S. 8.

99 Siehe beispielsweise als Reaktion auf diese Erscheinung der westlichen Historiographie den Kom-mentar des lettischen Historikers Aivars Stranga zu der westlichen Tendenz, den Antisemitismus inOstmitteleuropa als außerordentlich stark darzustellen: „Ein wenig übertreibend könnte man sagen,dass Hitler aus dem Baltikum oder der Ukraine kam“. In: A. Stranga, Priekšvards (Vorwort), in: DzE-rglis (Hg.), Latvijas Centralas padomes vestures nezinamas lappuses, Rı-ga 2003, S. 14.

100 Siehe u. a.: Czesław Madajczyk, Zwischen neutraler Zusammenarbeit der Bevölkerung okkupierterGebiete und Kollaboration mit den Deutschen, in: Werner Röhr (Hg.), Europa unterm Hakenkreuz:.Okkupation und Kollaboration, Berlin 1994, S. 45–58; Werner Röhr, Okkupation und Kollaboration,in: ders. (Hg.), Europa unterm Hakenkreuz:. Okkupation und Kollaboration, Berlin 1994b, S. 59–86;Karel Cornelis Berkhoff, Harvest of despair: life and death in Ukraine under Nazi rule, Cambridge2004, S. 10 f.; Röhr, Kollaboration: Sachverhalt und Begriff., 2006, Pingel, Von Kiel nach Riga, 1997,Wolfgang Benz u. Barbara Distel (Hg.), Benz, Distel (Hg.) 2009 Der Ort des Terrors. Arbeitserzie-hungslager, Ghettos, Jugendschutzlager, Polizeihaftlager, Sonderlager, Zigeunerlager, Zwangsarbei-terlager, München 2009, S. 11–14; Semirjaga, Kollaboracionizm: priroda, tipologija i projavlenija vgody vtoroj mirovoj vojny, 2000, S. 21 f.; Cornelius J. Lammers, Levels of Collaboration. A Compara-tive Study of German Occupation Regimes during the Second World War, in: Robert Bohn (Hg.), Diedeutsche Herrschaft in den „germanischen“ Ländern 1940–1945, Stuttgart 1997, S. 47–69; Bohn,Kollaboration und deutsche Mobilisierungsbemühungen im RK Ostland: Grundsätzliche Überlegun-gen, 2004.

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dung der jüdischen Bevölkerung mit einer Geschwindigkeit durchgeführt wurde wiein keiner anderen Region des nationalsozialistischen Machtbereichs. Estland war dererste Machtbereich im nationalsozialistisch beherrschten Europa, der als „judenfrei“deklariert wurde101. In Lettland und Litauen waren bereits vor der „Wannseekon-ferenz“ über 90% der jüdischen Bevölkerung nicht mehr am Leben102. Und dochmuss berücksichtigt werden, dass der Holocaust innerhalb der drei Länder des Balti-kums auch signifikante Unterschiede aufwies. Dies betrifft weniger die Organisati-onsformen der Durchführung und den Prozess der Ermordung, als vielmehr die Tat-sache, dass die bloße Anzahl der jüdischen Bevölkerung sich massiv unterschied,und somit das Ausmaß der Verbrechen und die Bedeutung des Holocaust für die ver-schiedenen Regionen im Baltikum voneinander abwichen. Dieser Aspekt wird imÜbrigen auch seine Auswirkungen auf das Problem der Beteiligung einheimischerKräfte beim Holocaust gehabt haben, was bisher nur wenig in der Forschung beach-tet wurde, wenn es um die Motive der einheimischen Täter und deren antisemiti-schen Tendenzen ging.

Schließlich spielte die Region innerhalb der nationalsozialistischen Vernichtungs-politik auch nach der Ermordung der indigenen Juden eine Rolle als Zielgebiet fürdie aus Mitteleuropa deportierten Juden, welche nach Riga und in die verschiedenenLager Estlands verschleppt wurden.

Die Bedeutung des Baltikums innerhalb der Geschichte des Holocaust beinhaltetalso zwei Hauptaspekte: Zum Einen als „Test- und Erfahrungsfeld“ für die morden-den Einsatzgruppen – in dieser Funktion besitzen die Judenmorde im Baltikum undden anderen besetzten Gebieten der Sowjetunion eine entscheidende Funktion imRadikalisierungsprozess der frühen Phase des Holocaust103. Zum Anderen war dasBaltikum in der darauf folgenden Phase Element der logistischen Planung der „End-lösung“ als Deportationsziel104.

Wie bereits erwähnt, stellt das Thema der Kollaboration insbesondere im Kontextdes Holocaust im Baltikum ein viel beachtetes Thema dar. Im Vordergrund stehendiesbezüglich die vermeintlich spontanen Pogrome der einheimischen Bevölkerung

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101 Birn, Die Sicherheitspolizei in Estland 1941–1944: Eine Studie zur Kollaboration im Osten, 2006,S. 169.

102 Aivars Stranga, Holokausts Latvija: 1941–1945, in: Latvijas Vesturnieku Komisijas Raksti 12.2004, S. 209–224, S. 209; Vincas Bartusevicius u. a., Litauen 1941 im Lichte der internationalenForschung, in: dies. (Hg.), Holocaust in Litauen. Krieg, Judenmorde und Kollaboration im Jahre1941, KÇln 2003b, S. 5–9, S. 6; Al’tman, Il’ja Aleksandrovi, Zertvy nenavisti, Cholokost v SSSR1941–1945 gg, Moskva 2002, S. 235, 238.

103 Zum Radikalisierungsprozess des Holocaust im Sommer und Herbst 1941 siehe u. a.: Peter Longe-rich, Der ungeschriebene Befehl, München [u. a.] 2001, S. 103–121; Hans Mommsen, Auschwitz,17. Juli 1942, München 2002, S. 119–128; Christian Gerlach, Krieg, Ernährung, Völkermord: Deut-sche Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg 1998, S. 10–84.

104 Diana Schulle u. Alfred Bernd Gottwaldt, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich1941–1945, Wiesbaden 2005, S. 110–113, 248 f.

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zu Beginn des deutschen Feldzuges, sowie die Tätigkeit indigener Polizeieinheitenwie das lettische Arajs Kommando105 oder die litauische Einheit YpatingasisBurys106 und andere Polizeibataillone107. Doch sind diese Zusammenh�nge zurBehandlung des Themas „Arbeitseinsatzpolitik“ weniger bedeutsam. GrÇßerenWert besitzt die allgemeinere Bereitschaft sowohl einzelner Verantwortungstr�-ger als auch der GesamtbevÇlkerung, die deutsche Okkupationsmacht in ihremHandeln zu unterstÅtzen.

In diesem weit gefassten Rahmen wird der Begriff „Kollaboration“ hier wertfreials Kooperation (Zusammenarbeit) der Okkupierten mit den Okkupanten verstan-den108. Dies geschieht mit der Absicht, den möglicherweise „aussichtslosen“ Ver-such109 einer semantischen Wende des Begriffs – weg von seiner bisherigen undimmer wieder zum Vorschein kommenden pejorativen Schlagseite – zu unterstüt-zen. Denn die zu enge Bindung des Begriffs an den Nationalstaatsgedanken und das

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105 Angrick u. Klein, Die „Endlösung“ in Riga, 2006, S. 74–77; R. Vı-ksne, The Arajs’ Commando Mem-ber as Seen in the KGB Trial Files: Social Standing, Education, Motives for Joining It, and Senten-ces Received, in: Latvijas Vesturnieku Komisijas Raksti 2. 2001, S. 350–384, Reichelt, Kollabora-tion und Holocaust in Lettland 1941–1945, 2002, S. 116–118; Reichelt, Kollaboration: Zwei Bei-spiele aus der Judenverfolgung in Lettland 1941–1944, 2006, S. 81–84; Felder, Lettland imZweiten Weltkrieg, 2009b, S. 216–219.

106 Michael MacQueen, Einheimische Gehilfin der Gestapo: Die litauische Sicherheitspolizei in Vilnius1941–1944, in: Vincas Bartusevicius u. a. (Hg.), Holocaust in Litauen. Krieg, Judenmorde und Kol-laboration im Jahre 1941, Köln 2003, S. 103–116, S. 104–106; Joseph Levinson, The Shoah (Holo-caust) in Lithuania, Vilnius 2006, S. 44–47; Aivars Stranga, Ebreji Baltija: no ienak�anas pirmsaku-miem lı-dz holokaustam; 14. gadsimts – 1945. gads, Rı-ga 2008, S. 169 f.

107 Allgemein zur Rolle der einheimischen Polizeibataillone grundlegend: Arunas Bubnys, Dielitauischen Hilfspolizeibataillone und der Holocaust, in: Holocaust in Litauen. 2003a, S. 117–131;Martin Dean, Collaboration in the Holocaust: crimes of the local police in Belorussia and Ukraine,1941–44, Basingstoke 2000.

108 Siehe den Überblick zum Kollaborationsbegriff bei Röhr mit Hinweis auf den Kollaborationsbegriffbei Werner Rings in: Röhr, Okkupation und Kollaboration, 1994b; Werner Rings, Leben mit demFeind: Anpassung und Widerstand in Hitlers Europa 1939–1945, München 1979. Selbstverständlichverlagert sich so das Problem in gewisser Weise auf den Begriff der „Okkupation“. Ein Umstand, dersicherlich ebenso zum Gegenstand erbitterter Diskussionen werden kann. Im Fall des Baltikumswährend der deutschen Besatzungszeit dürfte allerdings weitgehender Konsens bestehen, dass voneiner „Okkupation“ auszugehen ist. Gewiss problematischer wäre eine diesbezügliche Unter-suchung der nachfolgenden langen „Okkupationszeit“ des Baltikums unter sowjetischer Herrschaftaufgrund der hier zum Vorschein kommenden Begriffsunschärfe von „Okkupation“.

109 „Ein Versuch, „Kollaboration“ wieder aus diesem semantischen Feld des Nationalismus – von Loyali-tät, Treue und Verrat – zu lösen, erschiene zwar wünschenswert, aber vergeblich und aussichtslos“.In: Christoph Dieckmann, Kollaboration? Litauische Nationsbildung und deutsche Besatzungsherr-schaft im Zweiten Weltkrieg, in: Joachim Tauber (Hg.), „Kollaboration“ in Nordosteuropa. Erschei-nungsformen und Deutungen im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2006a, S. 128–139, S. 130.

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emotional aufgeladene Thema des Landesverrats110 verstellt mehr den Blick auf diehistorischen Ereignisse als es objektive Forschung ermöglicht, was auch eine „aus-ufernde Differenzierung“ nicht zu verhindern vermag. Auch führt ein solches Ver-ständnis durchaus nicht zwangsläufig zum „beliebigen Gebrauch“ des Begriffs,solange er an die Bedingung einer „Okkupation“ gebunden bleibt111. Dies gilt ins-besondere für die Region des Baltikums, wo die nationalstaatliche Frage ohnehindurch die mehrmaligen Okkupationswechsel ungemein komplex war und somit dieZuordnung der einheimischen politischen Akteure in Landesverräter und National-helden a priori zum Scheitern verurteilt ist112.

Gleiches gilt auch für das logische Gegenstück – den Widerstandsbegriff113, dergleichermaßen von der ausschließlich nationalen Sichtweise überlagert wird und soemotional zum politisch aufgeladenen Begriff geworden ist, was eine sachdienlicheAuseinandersetzung behindert114. In diesem Sinne wird hier unter Widerstand einsolches Verhalten verstanden, das sich gegen die deutsche Okkupationsmacht rich-tete, ungeachtet dessen, ob ein solches Verhalten sich zugleich zugunsten der sow-jetischen Rückeroberung auswirkte und in diesem Sinne also ebenfalls als Verrat ander „nationalen Sache“ gesehen werden konnte. Entscheidend für diese Begriffsver-wendung ist die Exklusion jeglicher normativer Bewertungen des Handelns nur auf-grund der Zuordnung zum Kollaborations- bzw. Widerstandsbegriff. Mit anderenWorten soll hier Kollaboration nicht per se „schlecht“ sein und Widerstand per se„gut“115. Diese Begriffe charakterisieren nur die Handlung gemäß ihrer Stoßrichtung,sie eignen sich nicht dafür, eine moralische Kategorisierung vorzunehmen. Es istdemnach auch durchaus möglich, dass ein und dieselbe Person zunächst als Kol-laborateur zu bezeichnen ist, und später zum Widerständler wurde, was insbeson-dere im Baltikum unter deutscher Besatzung sogar recht häufig geschah116.

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110 Zum Zusammenhang von Kollaboration und „Verrat“ siehe schon die Überlegungen bei: David Litt-lejohn, The patriotic traitors. A history of collaboration in German-occupied Europe, 1940–45, Lon-don 1972, S. 338.

111 Mit gegenteiliger Meinung und Zitate aus: Röhr, Kollaboration: Sachverhalt und Begriff, 2006, S. 23.112 Beispielhaft für Lettland: Die Bewertung der Personen Gustavs Celminš und Alfreds Valdmanis.

Bleiere, Latvija Otraja pasaules kara: (1939–1945), 2008, S. 39.113 Zum Widerstand im Baltikum zur Einführung siehe jetzt die entsprechenden Beiträge im: Gerd R.

Ueberschär, Peter Steinkamp (Hg.), Handbuch zum Widerstand gegen Nationalsozialismus undFaschismus in Europa 1933/39 bis 1945, Berlin 2011.

114 Mit gegenteiliger Meinung: I. Feldmanis, Vacu okupacija Latvija (1941–1945): izpetes aktualasproblemas un risinajumi in: Latvijas Vesturnieku Komisijas Raksti 11. 2004, S. 59–70, S. 62.

115 Zum Zusammenhang von Widerstand und Kollaboration und deren Unabhängigkeit von normativenPauschalurteilen: Klemens von Klemperer, Über Widerstand und Kollaboration oder: Im Angesichtdes Absurden, in: Mechtild Gilzmer (Hg.), Widerstand und Kollaboration in Europa, Münster 2004,S. 13–30, S. 13–16, 22.

116 Neiburgs u. E-rglis, Nacionala un padomju preto�anas kustı-ba: kopı-gais un at�kirı-gais (1941–1945), 2001.

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Letzteres wird insbesondere in der Analyse der Beteiligung der „LandeseigenenVerwaltung“ an der Arbeitsverwaltung eine Rolle spielen. Die Gedanken zum The-menfeld der Kollaboration wurden hier vorangestellt, da die folgende Untersuchungder Involvierung der einzelnen Akteure und Betroffenen an der „Arbeitseinsatzpoli-tik“ im Baltikum vor dem Hintergrund des Verhältnisses von Besetzten und Besatzernzu verstehen ist, da die „Arbeitseinsatzpolitik“ selbst als Mobilisierungsbemühungender Besatzungsmacht gegenüber den Besetzten interpretiert wird. Das Thema desgegenseitigen Verhältnisses und der Interaktion zwischen beiden Seiten, somit dieKooperation, rückt damit in den Vordergrund der Analyse. Dies gilt nicht nur für dieBeurteilung der Rolle der „Landeseigenen Verwaltung“ im ersten Teil der Unter-suchung. Auch die Motivationslage der Masse der Bevölkerung als Betroffenen-gruppe und ihrer Bereitschaft, die „Arbeitspflicht“ zu erfüllen, sind von diesem The-menkomplex betroffen und eignen sich, die Besonderheiten der Region des Balti-kums auf dem Gebiet der „Arbeitseinsatzpolitik“ herauszuarbeiten.

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