Tim Mason - Der Primat der Politik (1966)

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    Tim Mason

    Der Primat der Politik -Politik und Wirtschaft im Nationalsozialismus1

    Eine der Hauptfragen einer marxistischen Geschichtswissenschaftist die nach dem Verhltnis von konomie und Politik in der Epochedes Kapitalismus; ihre zentrale These kann vielleicht folgender-maen umrissen werden: die Politik stellt im groen und ganzeneinen wenn auch oft vielfach vermittelten berbau der jeweili-gen Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur dar, darauf abgestellt,

    deren Bestand zu sichern. Die Existenz eines autonomen politischenBereichs mit eigenen Gesetzmigkeiten wird von der marxistischenGeschichtswissenschaft generell verneint, bzw. vorbergehende Ver-selbstndigungstendenzen auf ein Gleichgewicht der sozialen undwirtschaftlichen Krfte zurckgefhrt2. Auf jeden Fall bleibt diePolitik als solche solange unverstndlich, bis die sie bestimmendenKrfte der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung aufgeklrtsind. Alle historischen Darstellungen und Analysen, die den Versuchdieser Aufklrung unterlassen oder den Sinn des Versuchs ausdrck-lich leugnen, gelten zu Recht bestenfalls als unwissenschaftlich,

    schlimmstenfalls als ideologisch motivierte Rechtfertigungen der be-stehenden Gesellschaftsordnung. Da sich die marxistische Fragestel-lung in der Praxis der Forschung und Geschichtsschreibung bewhrthat, bedarf hier keiner nheren Erluterung". Gerade deren Ver-nachlssigung aber kennzeichnet die berwiegende Mehrheit der imWesten erschienenen Abhandlungen zur Geschichte des National-sozialismus, die allzu schnell die Wirtschaft als einen Bereich desffentlichen Lebens neben vielen anderen apostrophieren, die smt-lich und gleichmig dem drakonischen Zwang einer hemmungslosenpolitischen Diktatur ausgesetzt gewesen seien4.

    1 Dem Argument-Redakteur Bernhard Blanke ist der Verfasser zu gro-em Dank verpflichtet, sowohl fr seine sprachliche Hilfe wie auch frmehrere theoretische Anregungen.

    2 Karl Marx: Die Klassenkmpfe in Frankreich; Der 18. Brumaire desLouis Bonaparte. Siehe auch in diesem Heft den Aufsatz von Griepenburgund Tjaden: Faschismus und Bonapartismus.

    3 Siehe z. B. die grundlegenden Werke von Kehr, Rosenberg, Fischerund Franz Neumann zur neueren deutschen Geschichte.

    4 So Gerhard Schulz in Bracher, Sauer, Schulz: Die nationalsozialisti-sche Machtergreifung, Kln und Opladen 1960, Teil 2, Kap. V; IngeborgEsenwein-Rothe: Die Wirtschaftsverbnde von 1933 bis 1945, Berlin 1965;auch David Schoenbaum vertritt diese These in seinem sonst wichtigenneuen Buch: Hitler's Social Revolution, New York 1966; zudem luft diegesamte Totalitarismus-Diskussion auf dasselbe Ergebnis hinaus. Die ein-zigen nennenswerten Ausnahmen in der wissenschaftlichen Nachkriegslite-

    Das Argument n41 (1966)

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    Andererseits steht die Forschung der Zeitgeschichte in der DDRimmer noch im Zeichen von Dimitroffs Definition des Faschismusals der offen terroristischen Diktatur der reaktionrsten, am meistenchauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanz-kapitals"5. Diese Definition hatte wohl 1935 ihre Funktion und Plau-sibilitt, kann aber heute, angesichts der spteren Entwicklung desnationalsozialistischen Deutschlands, nur begrenzt als Ausgangspunkteiner Untersuchung und schon gar nicht als Antwort auf die Fragenach dem Verhltnis von Wirtschaft und Politik im Nationalsozialis-mus dienen. Nicht da die Wahrheit irgendwo in der Mitte zwischenden beiden, hier fast karikaturhaft dargestellten Positionen zu findenwre. Um das Ergebnis dieser allerdings noch vorlufigen Untersuchung vorwegzunehmen: es ist offensichtlich so gewesen, dadie Innen- und Auenpolitik der nationalsozialistischen Staatsfh-rung ab 1936 in zunehmendem Mae von der Bestimmung durch diekonomisch herrschenden Klassen unabhngig wurde, ihren Interes-sen sogar in wesentlichen Punkten zuwiderlief. Dieser Tatbestandist aber einmalig in der ganzen Geschichte der brgerlichen Gesell-schaft und ihrer Regierungen seit der industriellen Revolution 6;

    gerade diesen Tatbestand gilt es zu erklren. Der marxistischenTheorie zufolge ist er nicht allein durch die Errichtung einer unbe-schrnkten staatlichen Gewaltherrschaft, also nicht allein durch diePolitik zu erklren; dafr sind die Eigengesetzlichkeiten des kapita-listischen Wirtschaftssystems zu stark, ihre Bedeutung fr die Politikzu gro. Vielmehr mssen sich schwerwiegende Strukturvernderun-

    gen in Wirtschaft und Gesellschaft vollzogen haben, um die Verselb-stndigung des nationalsozialistischen Staatsapparats, den Primatder Politik", erst zu ermglichen. Der methodologische Ansatz, dieFragestellung mu also im Zeichen der vom Marxismus gewonnenenErkenntnisse stehen.

    Ziel dieses Versuchs ist es, den besagten Tatbestand zu belegenund dessen Grnde in der Wirtschaftsgeschichte des nationalsoziali-stischen Deutschlands zu suchen. Um mgliche Miverstndnisse im

    ratur im Westen sind die Arbeiten von Schweitzer: Big Business in the

    Third Reich, Bloomington 1964; und Petzina: Der nationalsozialistischeVierjahresplan, Diss. Mannheim 1965.

    5 Zit. nach Dietrich Eichholtz: Probleme einer Wirtschaftsgeschichte desFaschismus in Deutschland, im Jahrbuch fr Wirtschaftsgeschichte 1963,Teil III, S. 103; der Aufsatz enthlt wichtige Anstze zur Differenzierungdes marxistisch-leninistischen Faschismus-Begriffs, aber noch schreibt der

    Autor von den Auftrgen des Finanzkapitals an seinen Nazi-Faschis-mus" (S. 105) usw. Siehe hierzu vor allem den Aufsatz von Blanke, Reicheund Werth: Die Faschismus-Theorie der DDR, in Das Argument Nr. 33.Die im Westen erschienenen marxistischen Arbeiten unterscheiden sich vondenen der DDR nur in ihrer wesentlich geringeren Kenntnis des Quellen-

    materials; vgl. Fritz Vmar: Sptkapitalismus und Rstungswirtschaft, inDas Argument, 8. Jhrg., Heft 3.

    6 New Deal 1933, Volksfront in Frankreich 1936 und Labour-Regierung1945 stellen Ausnahmen anderer Art dar, die aber durch ihre begrenztenReformen auch zur Erneuerung der brgerlichen Gesellschaft beitrugen.

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    voraus zu vermeiden, sei betont, da es sich hier nicht um die Fragehandelt, was fr ein Wirtschaftssystem damals bestanden habe: obim Grunde noch marktwirtschaftlich, ob staatsmonopolistisch, obzentralverwaltungswirtschaftlich7. Es wrde ebenfalls den Rahmendes Aufsatzes sprengen, die Frage nach der eigentlichen Struktur desRegierungssystems und nach seiner grundlegenden Motivation und

    Zielsetzung systematisch zu stellen ( setzt man voraus, da dieRegierung etwa als geschftsfhrender Ausschu der Monopolbour-geoisie nicht mehr sinnvoll gedeutet werden kann). Die Vorarbeitenzur Beantwortung dieser Fragen reichen erst fr Mutmaungen aus8.

    Auch innerhalb dieser Grenzen ist der vorliegende Versuch nochstark vorlufigen Charakters; er entstand aus einer Untersuchungder Lage der Arbeiterklasse unter dem Nationalsozialismus, undweder die Sammlung noch die Auswertung des beraus umfangrei-chen Materials ist bis jetzt abgeschlossen. Es geht also hier im we-sentlichen um Arbeitshypothesen.

    Der bergang

    Die nationalsozialistischen Fhrer behaupteten immer wieder, siehtten den Primat der Politik wiederhergestellt. An Stelle derschwchlichen Regierungen der Weimarer Zeit, die weitgehend unterdem Einflu der ihnen nahestehenden Verbnde handelten, sei ,einepolitisch selbstndige und tatkrftige Staatsfhrung' getreten, die esnicht mehr ntig htte, bei wichtigen Entscheidungen ,die egoisti-schen, kurzsichtigen Wnsche sozialer und wirtschaftlicher Interes-

    sengruppen' zu bercksichtigen. Als Schlagwort war der Primat derPolitik zweifelsohne sehr wirksam, denn er versprach, der endlosscheinenden wirtschaftlichen und nationalen Misere ein Ende zusetzen.

    Vom Standpunkt ihrer Trger her gesehen, bestand die Misere derWeimarer Republik darin, da keine dauerhaften Kompromisse zwi-schen den in ihr verfaten gesellschaftlichen Klassen und Interessenund ihren politischen Gruppierungen zustande kamen. In ihrer Ver-fassung war der Widerspruch institutionalisiert, da die Arbeitneh-mer die Mglichkeit politischer Macht ohne gesellschaftliche Garantieund die Besitzenden gesellschaftliche Macht ohne politische Garantiebesaen9. Von noch grerer, unmittelbar politischer Bedeutung wardie Tatsache, da auch die Besitzenden unter sich nicht einig waren:unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise fiel das schon durchden ersten Weltkrieg und die Inflation schwer erschtterte politi-

    7 Diese Frage ist u.E. von sekundrem Interesse; s. hierzu J.S. Geer:Der Markt der geschlossenen Nachfrage, Berlin 1961.

    8 Andreas Hillgrubers sehr materialreiche Studie: Hitlers Strategie,Frankfurt a. M. 1965, konnte bei der Verfassung dieses Aufsatzes noch

    nicht bercksichtigt werden. Aber entscheidend in diesem Zusammenhangist der bisher ganz ungeklrte W i l l e n s b i l d u n g s p r o z e des NS-Systems.

    9 Vgl. Karl Marx: Die Klassenkmpfe in Frankreich, in: Marx, Politi-sche Schriften, Bd. 1, hrsg. v. H. J. Lieber, Stuttgart 1960, S. 162.

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    sehe und soziale Gefge des brgerlichen Deutschland erst rechtauseinander10. Die urschlichen Zusammenhnge zwischen Weltwirt-schaftskrise und nationalsozialistischer Machtergreifung sind nichteindeutig starke Anstze einer rechtsradikalen Entwicklung in derdeutschen Politik waren schon 1928 vorhanden11. Die konomischeKrise trug aber in zweifacher Hinsicht entscheidend zur Machtergrei-

    fung bei: sie raubte dem Brgertum die einzig mgliche Politik,indem sie die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den USA undurch-fhrbar machte12. Das Brgertum zerfiel daraufhin sowohl wirt-schaftlich als auch politisch in seine elementar gegenstzlichen Grup-pierungen; die neue Einigung mit den Westmchten (im Juli 193213)kam zu spt, als da sie diese Entwicklung htte rckgngig machenknnen. Zweitens brachte die Massenarbeitslosigkeit die Klassen-gegenstze wieder unmittelbar zu dem politischen Ausdruck, derihnen durch die grundstzliche bereinstimmung der brgerlichenParteien mit der SPD und dem ADGB seit 1924 genommen wordenwar. Die grundlegende strukturelle Schwche der Weimarer Republiktrat wieder, diesmal in Form eines starken Machtzuwachses der KPDund einer Radikalisierung der Unternehmerverbnde, politisch ver-schrft in Erscheinung. Die zurckgestaute Problematik einer Struk-turvernderung der Gesellschaft war in der Weltwirtschaftskrise erstrecht nicht zu lsen. Angesichts dieser Problematik suchten Brger-tum, Kleinbrgertum und Bauern ihr Heil in einem besinnungslosen

    Aufbruch in die reine Politik": propagandistische Schau, nationaleErhebung, Fhrerkult, Juden- und Kommunistenha, Sehnsucht nacheiner idealisierten, vorindustriellen Gemeinschaft als Ersatzlsungender strukturellen Probleme der Weimarer Gesellschaftsordnung.

    In den Jahren 19241929 hatten die jeweiligen brgerlichen Koa-litionsregierungen einen gewissen Spielraum, worin gegenstzlichewirtschaftliche Interessen im Endeffekt abgestimmt werden konnten,ohne die Position des Kapitals ernstlich zu gefhrden14. Die wach-sende wirtschaftliche Not verschrfte die Klassen- und Interessen-kmpfe und nahm dem Staat diesen Spielraum. Aus demselbenGrund schwand auch der Spielraum der Parteifhrer (insbes. derSPD) ihren eigenen Anhngerschaften gegenber und damit die

    Mglichkeit einer parlamentarischen Koalitionsbildung. Unter die-sen Umstnden konnte die relative Autonomie des Staates, gar seineExistenz, nur dadurch bewahrt werden, da staatliche Herrschaftund politische Interessenkonflikte durch die Ernennung von Prsi-dialkabinetten getrennt wurden. Obwohl das Kabinett Brning eine

    10 Eine wissenschaftliche Untersuchung der gesellschaftlichen Folgender Wirtschaftskrise steht noch aus; es wre eine Studie von groer Be-deutung.

    11 Vgl. Arthur Rosenberg: Geschichte der deutschen Republik; RudolfHeberle: From Democracy to Nazism, Baton Rouge 1945.

    12 Rckzug der amerikanischen Kredite; Rckgang des Welthandels.13 Vertrag von Lausanne; Ende der Reparationen.14 Fr Stresemanns Spielraum gegenber der Schwerindustrie s. Henry

    Ashby Turner: Stresemann and the Politics of the Weimar Republic, Prin-ceton 1963 (deutsche Ausgabe in Vorbereitung).

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    bedeutende Senkung des Lebensstandards der Arbeiterschaft durch-setzte, war es nicht imstande, durch Lsung der auen-, innen- undwirtschaftspolitischen Probleme der brgerlichen Gesellschaft einneues Gefge mit einer neuen Entwicklungsrichtung zu geben. Undwhrend der unpolitischen" Herrschaft Brnings waren die Fragender ffentlichkeit nach dem Gefge und der Zielsetzung der Gesell-schaft notwendigerweise eher dringender und hysterischer geworden.Bis auf die SPD waren im Jahr 1932 alle politischen Gruppierungendavon berzeugt, da ein vollkommen neues Herrschaftssystem er-forderlich war, ob katholischer Stndestaat, ob bonapartistische Au-tokratie (Schleicher), ob nationalsozialistischer Fhrerstaat oder aberDiktatur des Proletariats. Der Staatsapparat vermehrte zwar in die-sen Jahren sein Eigengewicht, hatte aber aufgehrt, eine faktischfunktionierende und nach auen hin (propagandistisch) plausible Ge-samtreprsentation der besitzenden Klassen, geschweige denn des

    Volks zu sein15

    .Der Proze der gesellschaftlichen Reproduktion war ins Stockengekommen. Unabdingbare Voraussetzung zur berwindung dieserSituation war eine Belebung der Wirtschaft, die das Kapital aus ei-gener Dynamik hauptschlich wegen der Macht der schwerindu-striellen Kartelle nicht in Gang setzen konnte. Eine Belebung imbrgerlichen Sinne konnte vielmehr nur von einer Regierung durch-gesetzt werden, die stark genug war: 1. die auseinanderklaffendenInteressen von Schwer- und Konsumgterindustrie auszugleichenund die Sonderinteressen der Landwirtschaft zu wahren; 2. der Wirt-

    schaft allgemeine Ruhe und Ordnung" zu verschaffen; 3. den Le-bensstandard der breiten Bevlkerung vorerst auf dem Krisenniveaufestzuhalten das hie effektiv Ausschaltung der Gewerkschaften,denn die Periode eines zyklischen Aufschwungs ist bekanntlich dieeiner erhhten gewerkschaftlichen Aktivitt; 4. eine strenge Bewirt-schaftung der sehr knapp gewordenen Devisen durchzusetzen; 5. dertiefverwurzelten Inflationsangst im Volk wirksam entgegenzutreten,um somit eine staatliche Kreditexpansion zu ermglichen.

    Allein mit politischen Mitteln konnte die gesellschaftliche Repro-duktion fortgesetzt werden16 . Anfang 1933 erfllte nur der Natio-

    nalsozialismus diese Mindestbedingungen. Seine Unsichrheit gleich Opportunismus in ,Sachfragen', der Sammelbeckencharakterseiner Gefolgschaft, seine Rcksichtslosigkeit in der Durchfhrunggetroffener Entscheidungen und der erwiesene Erfolg seiner Propa-ganda-Methoden machten ihn zum scheinbar am besten geeigneten

    15 Brachers einleuchtender Begriff des politischen M a c h t v a k u u m sin den Jahren 19301933 (s. Die Auflsung der Weimarer Republik, Stutt-gart 1960) mu noch durch Erforschung der Aufsplitterung im wirtschaft-lichen und sozialen Bereich untermauert werden.

    16 Da es hier um einen Ausnahmezustand fr die brgerliche Gesell-schaft geht, mag am Beispiel der BRD verdeutlicht werden, wo Politikerund Politik (nicht dagegen der Staatsapparat) fr die gesellschaftliche Re-produktion so gut wie berflssig geworden sind; nicht umsonst heit dasGesellschaftsmodell der Ideologen der Formierten Gesellschaft" d e r G e -s a m t b e t r i e b o h ne U n t e r n e h m e r .

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    Trger einer Erneuerung der brgerlichen Gesellschaft. Sptestensals Reichskanzler Schleicher mit ADGB und SA verhandelte, zog dieSchwerindustrie die notwendigen Konsequenzen.

    Hauptfunktion der Politik einer stabilen liberalen Demokratieist es, die Interessen der herrschenden Gesellschaftsgruppen aufein-ander abzustimmen, diese gemeinsamen Bedrfnisse zu interpre-

    tieren und mit den geeignetsten Mitteln nach auen und nach innenwahrzunehmen. Diese harmonische Zusammenarbeit zwischen Wirt-schaft und Staat verlangt auf die Dauer das Vorhandensein einesdem Kapital ertrglichen Ausgleichs mit den Interessen der Arbei-terklasse und einen Konsens der strksten Meinungsorgane in Grund-satzfragen. In Deutschland dagegen wurde es zur Funktion des Na-tionalsozialismus, gerade den fehlenden Ausgleich, den fehlendenKonsens, also eine neue Gesamtreprsentation des Volks mit poli-tischen Mitteln herzustellen; und das hie 1933 mit offener Gewalt.Der im Jahr 1933 unwiderlegbar vorhandene Primat der Politik(Terror, politische und kulturelle Gleichschaltung) ergab sich also auseiner gesellschaftlichen Konstellation, der es abzuhelfen galt. In die-sem Sinne hofften Schacht, v. Papen, Teile der Reichswehr u. a. m.,die Nationalsozialisten verdrngen zu knnen, sobald der Wiederauf-bau einer lebensfhigen brgerlichen Gesellschaft einen erneutenMachtanspruch der alten herrschenden Klassen ermglichen wrde.Diese Gruppen erwarteten, ihre auf dem Privateigentum beruhende,von der KPD bedrohte gesellschaftliche Machtstellung durch vor-bergehende Aufgabe der direkten Ausbung der politischen Machtsichern zu knnen. Die Erwartung hat sich bekanntlich nicht er-fllt. In historischer Sicht bedeutete das Unvermgen der politischen

    Vertreter der alten Bourgeoisie, Politik zu machen, ihr wenn auchteilweise durch unbesorgtes Mitlufertum gekennzeichnetes Ab-danken zugunsten des Nationalsozialismus, ihre grte Niederlage17.Die politische Fhrung des Dritten Reiches" hat es verstanden, aufganz ungeplantem Wege ihre aus der Krise gewonnene Selbstn-digkeit der alten herrschenden Klasse gegenber zu behaupten.

    Die Machtverteilung im nationalsozialistischen Regierungsapparat

    Eine Grundbedingung des Primats der Politik war fr den Natio-nalsozialismus ohnehin eine Selbstverstndlichkeit eine starkeKonzentration der Macht in den Hnden eines selbst von seinen eng-sten Mitarbeitern angebeteten Fhrers. Aus Taktik wie aus charak-terlicher Disposition hat sich Hitler den routinemigen Regierungs-arbeiten weitgehend ferngehalten; seine Funktion im Regierungs-system des Dritten Reichs war, mit Ausnahme der Auenpolitik(spter der Strategie) und seiner persnlichen Hobbies (Waffen-technik und Architektur), die Funktion einer bloen letzten Instanz.

    17 Eine Ahnung dieser Niederlage drckten die schon 1932 in diesenKreisen weitverbreiteten Bedenken (Hindenburg, Thyssen, Spengler) ge-gen die Mobilisierung der NS-Gefolgschaft und die damit verbundene Un-ruhe und scheinbar groe Rolle der Strae" aus; diese Kreise waren imGrunde gegen jegliche politische Regung des Volkes.

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    Alle wichtigen Entwrfe oder Vorschlge der Ressortchefs und derParteifhrer bedurften dennoch seiner persnlichen Zustimmung;kollektive Verantwortung innerhalb der Regierung hat es nie gege-ben; seine Entscheidungen konnten nachtrglich von den ausfhren-den Instanzen kaum vereitelt oder umgestaltet werden. Diese Fest-stellung besagt natrlich nicht, da Hitler allein die historische Ver-antwortung fr die gesamte nationalsozialistische Politik zu tragenhat; es geht vielmehr darum, da in wichtigen Fragen die verschie-denen Herrschaftsgruppen im Dritten Reich ihre jeweiligen Interes-sen nur ber diesen Weg durchsetzen konnten; und die Zustimmungdes Fhrers war keine Formalitt18. Eine politische Letztinstanzwurde verherrlicht, die ein vorwiegend sthetisches Verstndnis derPolitik als Wille, Machtgenu, Schau und taktisches Fingerspitzen-gefhl besa, die alle Struktur- und Sachprobleme den Fachmnnernberlie, ber deren gegenstzliche Lsungsvorschlge jedoch nichtentscheiden wollte bzw. konnte.

    Der Gruppe der alten Kmpfer in der Fhrungsschicht des natio-nalsozialistischen Systems denjenigen also, die den besten Zugangzu Hitler hatten war das Denken in wirtschaftlichen Kategorienfremd19 . Unter Wirtschaft verstand Hitler nur das Produzierte. SeineDenkschrift zum 2. Vier jahresplan verlangte ausschlielich und wie-derholt die simple Anhufung von Rohstoffen und Waffen 20; undseine Reichstagsrede vom 20. Februar 1938 wohl seine einzige zudiesem Thema bestand nur aus einer protzigen Aufzhlung desProduktionsanstiegs in Deutschland seit der Machtergreifimg. Fr

    die Frage des Wie in der Wirtschaftspolitik hatte er gar kein Ver-stndnis, und es gibt kaum ein Indiz dafr, da er sich jemals um diewirtschaftlichen Folgen seiner politischen Richtlinien oder auen-politischen Entscheidungen gekmmert hat21.

    Bis 1942 gehrte kein nennenswerter Wirtschaftsexperte dem en-geren Kreis der Fhrerberater an. Von den ersten Verbindungsmn-nern zwischen Partei und Wirtschaft ging Funk ins Propaganda-ministerium, Keler erwies sich als unfhig, und Kepplers Einfluentsprach nie seinem Ehrgeiz22; schon im Sommer 1933 war Thyssens

    18 Hitler gab mehreren von den Fachministern beschlossenen Gesetz-entwrfen nicht seine Zustimmung; darunter waren wichtige wirtschafts-politische Vorschlge; sie traten nicht in Kraft Beispiele im Bundes-archiv Koblenz, R 43 II, Bde. 417 a, 810 a.

    19 Der Landwirtschaftsminister Darr und der Reichskommissar frdie Preisbildung, Wagner, wurden mit der Zeit durch die groen Schwie-rigkeiten auf diesen Gebieten gezwungen, sich diese Kategorien zu eigenzu machen; dem Fhrer standen sie beide nicht nahe.

    20 Text in Vierteljahreshefte fr Zeitgeschichte, 1955, Nr. 3, S. 204 ff.21 Auszge aus der Rede in Max Domarus (Hrsg.): Hitler, Reden und

    Proklamationen, Bd. I, S. 793 ff. (Wrzburg 1962). Ein Musterbeispiel fr

    die Nichtachtung wirtschaftlicher Folgen von politischen Entscheidungenbietet der beschleunigte Bau des Westwalls im Sommer 1938, der die schonaufs uerste angespannte Bauindustrie an den Rand des Chaos fhrte.

    22 Funk, frher bei der B e r l i n e r B r s e n z e i t u n g , war 1931 bis1933 Kontaktmann fr die NSDAP zu Industriellenkreisen und ab 1938

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    Position als Lieblingsindustrieller des Fhrers ausgehhlt seineUntersttzung eines stndischen Aufbaus" Spann'scher Prgungvertrug sich nicht mit dem Machtanspruch der NSDAP. 1934 und1935 durfte Schacht, zugleich Reichsbankprsident und Reichswirt-schaftsminister, die Wirtschaftspolitik praktisch ungestrt bestim-men; seine Kontakte mit Banken, Konzernen und Verbnden warensehr eng, das uneingeschrnkte Vertrauen der Partei und des Fh-rers aber hat er nie gehabt. Diese Regie konnte nur so lange bestehen,wie es keine Krisenerscheinungen in der Wirtschaft gab. 1936 wardas nicht mehr der Fall23. Ab Anfang dieses Jahres muten Grund-satzentscheidungen getroffen werden, die Stellungnahmen des Fh-rers laufend erforderlich machten. Schon aus dem Grund war es not-wendig, einen alten Kmpfer, der Hitlers Vertrauen geno, zum Chefder Wirtschaft zu ernennen. Dem Preuischen Ministerprsidentenund Generaloberst der Luftwaffe, Gring, pate diese Rolle insoferngut, als seine ideologische Voreingenommenheit weitaus geringerwar als die der anderen Spitzenfunktionre der Partei er war densachlichen Argumenten der Ministerialbrokratie in hohem Mae zu-gnglich, ohne da seine Vertrauensposition in der Reichskanzleieffektiv darunter zu leiden gehabt htte. Der zweifachen Auf-gabe, eine Wirtschaftsplanung durchzusetzen und eine Bercksich-tigung der Forderungen der Wirtschaft bei der Formulierung undDurchsetzung der Auenpolitik zu erzwingen, war Gring jedochkeineswegs gewachsen; immer wenn die Ministerialbrokratie unddie Wirtschaft glaubten, ihn in der Hand zu haben, neigte er dazu,

    umzufallen und die sachliche Argumentation seiner Loyalitt zurBewegung und seiner Angst vor dem Fhrer preiszugeben24. Erst imFebruar 1942, als Speer zum Minister fr Bewaffnung und Munitionernannt wurde, dehnte sich der Wirkungsbereich wirtschaftlicherFragen bis ins Vorzimmer der letzten politischen Instanz im DrittenReich aus. Diese Entwicklung der politischen Struktur entsprach miterheblicher Verzgerung dem Heranwachsen einer tiefgreifendenWirtschaftskrise seit Ende 1935. Die durchaus geringe Bedeutung,die der Wirtschaft in der staatlichen Struktur des Dritten Reichs bis1942 beigemessen wurde, ist wohl einmalig in der Geschichte der in-

    dustrialisierten Lnder.Die politische Struktur und die Persnlichkeit des Fhrers botenalso gnstige Grundlagen fr eine fortgesetzte Gewhrleistung desPrimats der Politik, und es ist in der Tat sehr schwer, die auch nurindirekte Beteiligung von Wirtschaftsfhrern oder -verbnden an

    Reichswirtschaftsminister; Keler war nur kurze Zeit, 19331934, Fhrerder Wirtschaft"; Keppler war Hitlers persnlicher Wirtschaftsberater,fungierte 19361938 im Apparat des Vierjahresplans und wurde dannStaatssekretr im Auswrtigen Amt.

    23 Vgl. Dieter Grosser: Die nationalsozialistische Wirtschaft, in DasArgument, 7. Jhrg., Heft 1 ; Petzina, a.a.O., Kap. 1.

    24 In der Auseinandersetzung zwischen DAF und Industrie bzw. Bro-kratie (s. unten) und in der Frage der Lohnpolitik lavierte er hoffnungs-los; auch er hatte geringe volkswirtschaftliche Kenntnisse, wie er auf demReichspartei tag 1938 stolz verkndete.

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    der staatspolitischen Willensbildung im Dritten Reich nachzuweisen.Einen sehr wichtigen Grund dafr bildete die vernderte PositionDeutschlands im Welthandel und im internationalen Kapitalmarkt.Durch das Ende der Reparationen wurde der Komplex, wo sich inder Weimarer Republik Wirtschafts- und Auenpolitik am engstenverzahnt hatten, grtenteils aufgelst. Deswegen und dank derweitgehenden Kontrolle ber alle Devisengeschfte, die SchachtsNeuer Plan bewirkte, war die deutsche Auenpolitik nicht mehr ein-geschrnkt durch eine erzwungene Rcksicht auf mgliche wirt-schaftliche Gegenmanahmen seitens der Westmchte; sie wurde inbetrchtlichem Mae von wirtschaftlichen Schwchen unabhngig.

    Also berrascht es nicht, da bei den Entscheidungen, aus dem Vl-kerbund auszutreten (November 1933), die militrische Dienstpflichtwiedereinzufhren (Mrz 1935) oder das Rheinland wieder zu beset-zen (Mrz 1936), der Druck wirtschaftlicher Inter essen ver bnde keine

    wichtige Rolle gespielt hat. 19331936 wurde den besitzenden Klas-sen die Wirtschaftspolitik, zum Teil auch die Sozialpolitik berlas-sen, aber auerhalb dieser Bereiche haben sie keine unmittelbar po-litische Rolle gespielt. Diese Arbeitsteilung und die Zustimmung derWirtschaft zu den aggressiven auenpolitischen Schritten der Jahre19331936 beruhte auf der Basis einer imperialistischen Konzeption,die Partei und Industrie gemeinsam zu teilen glaubten25. DieserKonsens ist nicht nur aus der Zusammenarbeit von Schwerindustrie,Militr, Partei und Ministerialbrokratie in der Aufrstung ersicht-lich; was den Widerstand angeht, so hat es sehr wohl viele Unter-

    nehmer und Manager gegeben, die die Auenpolitik fr ,etwas ris-kant', die Verfolgung von Kommunisten und Juden fr ,nicht notwen-dig', sogar fr Unrecht hielten; effektiver Widerstand aber wurde vondiesen Kreisen gerade denjenigen, die objektiv dazu in der Lagewaren in diesen Jahren berhaupt nicht geleistet. Diese schein-bare Harmonie der Herrschaftsgruppen in der Zielsetzung hatte einzunchst paradox erscheinendes Nebenprodukt: die direkten Bezie-hungen zwischen den wirtschaftlichen und den politischen Fhrungs-gruppen wurden schwcher als in der Weimarer Republik. In denJahren des relativ unproblematischen wirtschaftlichen und militri-

    schen Aufbaus hatte die Wirtschaft versumt, ihre Machtstellung aufder politischen Ebene absolut abzusichern. Nachdem, in dieser Rei-henfolge, Hugenberg sich als Reichswirtschaftsminister entlassenlie, alle Parteien auer der NSDAP verboten wurden, Arbeitsmini-ster Seldte der berfhrung des von ihm geleiteten Stahlhelm-Ver-bands in die SA tatenlos zusah und v. Papen im Herbst 1934 vom

    Vize-Kanzler zum Sonderbotschafter in Wien herabgesetzt wurde,blieb von den Vertretern der alten Bourgeoisie in der Regierung nur

    25 Diese ziemlich reibungslose Arbeitsteilung kam auf Kosten der NS-Gefolgschaft insbes. des Handwerks und der radikalpopulistischenKreise der Betriebszellenorganisation und der SA zustande; eine impe-rialistische Auenpolitik konnte sich nur auf eine moderne Groindustriesttzen.

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    Schacht brig; alles wurde auf seinen Einflu gesetzt24. Schachtbaute die frheren Verbnde, Kammern und Fachgruppen in eineumfassende Organisation der gewerblichen Wirtschaft" um undschuf, in der Gestalt der Reichswirtschaftskammer, einen neuen Spit-zenverband (1936). Dadurch sollte einmal die Lenkung der Wirt-schaft durch den Staat erleichtert, die Machtstellung der Wirtschaft

    im Gesamtsystem jedoch konsolidiert werden27 . In einem liberalenoder autoritren Staat wre vielleicht auf dieser Basis eine profitableund dauerhafte Zusammenarbeit zwischen Staat und Wirtschaft zumZweck einer schrittweisen imperialistischen Expansion mglich ge-wesen ohne einen weiteren institutionellen Ausbau der politischenMacht der Wirtschaft. Die Folgen der forcierten Aufrstung abermachten diese Mglichkeit zunichte.

    Die Zersplitterung des industriellen Machtblocks

    Seit 1879 ist die Schwerindustrie mageblicher politischer Vertre-ter der deutschen Wirtschaft gewesen. Sie war im Gegensatz zurenglischen Erfahrung Trger der industriellen Revolution ge-wesen, und in ihren vielen Auseinandersetzungen mit den Konsum-gterindustrien, Handwerk und Handel ber Schutzzlle, Preisbin-dungen und zuletzt zivile Arbeitsbeschaffungsmanahmen in derWeltwirtschaftskrise hat sie sich immer behauptet; die Machtergrei-fung des Nationalsozialismus wre ohne die Haltung weiter Kreiseder Schwerindustrie in den Krisenjahren kaum mglich gewesen. ImJahr 1936 aber trat eine gewaltige Strukturvernderung in der deut-

    schen Wirtschaft ein, die, obwohl system-immanent, anscheinend vonkeiner der Herrschaftsgruppen vorausgesehen wurde. Whrend dieProduktion der deutschen Wirtschaft in der Weimarer Zeit durcheinen Mangel an flssigem Kapital gehemmt worden war, tratennun infolge der Rstungskonjunktur handfestere Produktionsgren-zen in Erscheinung: Mangel an importierten Rohstoffen und an Ar-beitskrften. Diese wurden zu den bestimmenden Faktoren derdeutschen Rstungs- und Kriegswirtschaft und brachten eine sehrweitreichende Umbildung der wirtschaftspolitischen Herrschafts-Struktur mit sich, folglich eine Vernderung des Verhltnisses zwi-

    schen Wirtschaft und Politik.Zuerst der Devisenmangel: die Aufrstung verlangte immer zu-

    nehmende Rohstoffimporte, ohne zu einer Steigerung des Exportsentsprechend beizutragen28; hinzu kam die Notwendigkeit, in erhh-

    26 v. Neuraths Position als Auenminister bis Anfang 1938 mag auchfr die alte Bourgeoisie beruhigend gewirkt haben. Es wre sehr wichtigzu klren, ob Beziehungen zwischen der Groindustrie und den erstenoppositionellen Gruppen in der Wehrmacht, 19371938, bestanden haben;dem Verf. ist nichts dergleichen bekannt. Es ist berhaupt merkwrdig,da die Industrie keine Rolle im konservativen Widerstand fr sich bean-

    sprucht hat.27 Esenwein-Rothe, a.a.O., S. 72.28 Der Devisenmangel war so gro, da erhebliche Mengen von Waffen

    und der Waffenproduktion dienenden Werkzeugmaschinen exportiert wur-den, letztere insbes. an Grobritannien.

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    tem Mae Lebensmittel fr eine Bevlkerung zu importieren, derenGesamtkaufkraft durch die Vollbeschftigung langsam anstieg. OhneDrosselung der Aufrstung konnte die Auenhandelskrise von 1936nur dadurch aufgefangen werden, da die einheimische Rohstoff-produktion gewaltig erweitert wurde. Eine Drosselung der Aufr-stung aber war fr den Nationalsozialismus eine politische Unmg-lichkeit; Schacht setzte sich vergeblich dafr ein, und die Stahl- undEisenindustriellen leisteten ihm objektiv (wenn auch nicht bewut)Untersttzung, indem sie sich dem Abbau minderwertiger deutscherEisenerze widersetzten. Zum neuen konomischen Pfeiler des Drit-ten Reichs wurde die chemische Industrie, die nun darauf drngte,wesentliche Rohstoffe (Gummi, Benzin) in groem Umfang knstlichherzustellen29. Die Entscheidung der Staatsfhrung im Sinne derchemischen Industrie und die Verkndung des 2. Vierjahresplans imSeptember 1936 in der letzten Phase ein persnlicher EntschluHitlers zerbrach endgltig die wirtschaftliche und politische Vor-macht der Schwerindustrie; damit ging auch eine geschlossene undeinheitliche politische Willensbildung oder Interessenvertretung desdeutschen Kapitals zu Ende, wie sie der Reichsverband der deutschenIndustrie in der Weimarer Republik noch dargestellt hatte. In derforcierten Aufrstung der letzten Vorkriegs jhre verloren die Spit-zenverbnde den berblick und die Kontrolle ber die gesamte wirt-schaftliche Entwicklung es gab nur noch die Sonderinteressen vonFirmen, hchstens die von Wirtschaftszweigen30. Die Schwerindu-strie konnte nicht mehr behaupten, da ihre Interessen denen des

    deutschen Imperialismus schlechthin gleich waren und diese alteBehauptung schon lngst nicht mehr durchsetzen. Die Aufrstung,wofr sie seit 1919 so stur und verbittert gekmpft hatte, wurde,dank des technologischen Fortschritts, zu ihrem Schicksal; sie wurdezum Opfer ihres eigenen Expansionismus. Die gesamte wirtschaft-liche und auenpolitische Richtung des nationalsozialistischenDeutschland nach 1936 wurde durch die einheimische Rohstoffpro-duktion bestimmt; ohne den beschleunigten Ausbau der chemischenIndustrie htte 1939 ein europischer Krieg nie riskiert werdenknnen.

    Diese Strukturwandlungen wurden durch die Entwicklung aufdem Arbeitsmarkt gestrkt und beschleunigt. Bei schnell voran-schreitender Aufrstung wurde die ffentliche Hand zum gestalten-

    29 Die Anfnge der Aufrstung in der BRD standen a n s c h e i n e n dim Zeichen der schlechten Erfahrungen, die die Industrie gerade in dieserFrage der Beziehungen zwischen einzelnen Firmen und dem Staatsapparatim NS gemacht hatte: das ffentliche Ausschreiben jedes Rstungsauftragssollte zur Verhinderung einer neuen Umwlzung nach dem Muster von1936 beitragen; die Haltung der westdeutschen Industrie zur Aufrstungwar bis Ende der 50er Jahre berhaupt khl s. G. Brandt: Rstung und

    Wirtschaft in der Bundesrepublik, in G. Picht (Hrsg.): Studien zur politi-schen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr, 3. Folge, Witten1966.

    30 Hinweise in diesem Sinn in der sonst formalistischen Arbeit vonEsenwein-Rothe, a.a.O., S. 82 ff.

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    den Faktor der deutschen Wirtschaft; im Jahr 1939 betrug der Anteilder Reichsausgaben am Bruttosozialprodukt 3435 /o, wovon zweiDrittel der Kriegsvorbereitung dienten31; bis Anfang 1939 unterla-gen ffentliche Auftrge nicht dem Preisstop, wurden vielmehr miterheblichen Gewinnspannen kalkuliert. Zur Maximierung des Profitsversuchte jeder Unternehmer, solche Auftrge zu bekommen und

    mglichst pnktlich zu erledigen damit er bei der nchste^ Ver-teilung der Auftrge wieder bercksichtigt wurde. Diese Tatsache,zusammen mit der durch die Aufrstung herbeigefhrten Verknap-pung von Arbeitskrften und Rohstoffen, fhrte zu einem hem-mungslosen Wettbewerb zwischen den Firmen nicht um Absatz-mglichkeiten, die fr die beteiligten Industriezweige geradezu gren-zenlos geworden waren, sondern um die grundlegenden Produktions-faktoren. Die Firmen, die fr die Aufrstung produzierten, genosseneinen privilegierten Status in der Zuteilung von Rohstoffen und wa-ren dank der grozgigen Kostenberechnung in der Lage, Arbeits-krfte durch Lohnerhhungen anzulocken, bzw. von anderen Firmenwegzuengagieren. Zu der durch den Aufstieg der chemischen Indu-strie verursachten Spaltung in der Wirtschaft trat also eine zweiteSpaltung betriebswirtschaftlicher Natur: die zwischen den Firmen,die fr die Aufrstung und denen, die hauptschlich fr den Exportoder fr den Konsum produzierten. Obwohl z. B. der Kohlenbergbaufr die Rstungswirtschaft unentbehrlich war, lieferte er nicht direktan die Wehrmacht; demzufolge blieben die Lhne niedrig, und die

    Arbeiter wanderten in zunehmendem Ma in andere Gewerbe-zweige ab; die Frderung pro Kopf der Bergarbeiter lie nach; beiKriegsbeginn gab es einen Mangel an Kohlen, der u. a. ernstlichdrohte, das Bahntransportprogramm der Wehrmacht zu gefhrden32.

    Diese Verlagerung und Verschrfung des kapitalistischen Wettbe-werbs trug weiter zur Zersplitterung der wirtschaftspolitischen Machtder Industrie bei. Durch den Terror der Gestapo befreit von der Not-wendigkeit, sich gegen eine politisch und gewerkschaftlich organi-sierte Arbeiterklasse zu verteidigen, durch die Rstungskonjunkturbefreit von der Notwendigkeit, die Produktion kartellmig zu pla-nen und zu beschrnken, verloren die besitzenden Klassen jeden

    Sinn eines kollektiven Interesses. Das kollektive Interesse des kapi-listischen Wirtschaftssystems lste sich 19361939 schrittweise ineine reine Anhufung von Firmenegoismen auf; die Firmen umeinen Spruch Lenins umzukehren marschierten getrennt und fie-len zusammen. Zum Interpreten des Interesses der Wirtschaft wur-de, dank ihrer finanziellen Macht, die ffentliche Hand, d. h. die-

    31 Vgl. Burton H. Klein: Germany's Economic Preparations for War,Harvard UP 1959. Der Anteil des B u n d e s 1965 war etwa halb so gro.Eine zuverlssige Wirtschaftsstatistik fr die Jahre 19331945 gibt es

    noch nicht; eine solche Kompilation wre von groer analytischer Be-deutung.

    32 Diesem Abs. liegen unverffentlichte Quellen zugrunde: Bundes-archiv Koblenz R 43 II, Bd. 528, R 41, Bd. 174, WiIF5, Bde. 560/1 u. 2, R 22Gr. 5, Bd. 1206.

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    selbe Institution, die auch die Auenpolitik bestimmte 3S. Die Reichs-wirtschaftskammer, 1936 als Krnungsstck der neuen, verstrkten

    Verbandsorganisation ins Leben gerufen, erfllte fast nur technischeDurchfhrungsaufgaben fr die Reichsregierung und war auer-stande, sich in der groen Politik durchzusetzen.

    Auf dem Gebiet der Rohstoffverteilung ist es dem Staat vor 1941nicht gelungen, den Konkurrenzkampf der Firmen und der Auftrag-geber zu zgeln34; auf dem Arbeitsmarkt dagegen hatte der Staataus politischen Grnden nur begrenztes Interesse an einer Regelungzugunsten der Industrie. Im Herbst 1936 hatte der Mangel an Ar-beitskrften in der Bau- und Metallindustrie schon zu erheblichen, z.T. durch Streiks erzwungenen Lohnsteigerungen und zum weitver-breiteten Wegengagieren von Facharbeitern von einer Firma in dienchste gefhrt. Es htte zu diesem Zeitpunkt klar sein mssen,da diese Phnomene keine vorbergehenden waren, vielmehr not-wendige Folgen einer Aufrstung darstellten, die wiederum selbstnoch in ihrem Anfangsstadium war. Um einer Verbreitung dieserZustnde auf den gesamten Arbeitsmarkt zuvorzukommen und ihreder Rstung abtrglichen Auswirkungen auf den Produktionsablaufund auf die Verteilung des Sozialproduktes zu verhindern, wrenzwei Manahmen erforderlich gewesen: eine allgemeine Beschrn-kung der Freiheit des Arbeitsplatzwechsels und die Festsetzung vonHchstlhnen. Die nationalsozialistische Fhrung unterlie es be-wut, diese Manahmen zu treffen, bis im Sommer 1938 die Zu-spitzung der internationalen Krise ber das Sudetenland den pro-

    pagandistisch notwendigen Vorwand dazu geliefert hatte und denEingriff zugleich unumgnglich machte35. Der Mangel an Arbeits-krften war dann schon lngst allgemein geworden. Die Grndedieses Versumnisses waren ganz eindeutig und werfen zugleich einklares Licht auf die Frage nach dem Primat der Politik: die beidenManahmen wurden von der politischen Fhrung abgelehnt, weil soradikale Schritte gegen das materielle Interesse der Arbeiterschaftmit der politischen Aufgabe, die Arbeiter zum Nationalsozialismuszu erziehen, nicht zu vereinbaren waren. Es war fr das national-sozialistische System, mindestens bis weit in den Krieg hinein, eine

    unabdingbare Notwendigkeit, der positiven Anteilnahme der Masseder Bevlkerung an seiner Weltanschauung und an allen seinen Ma-nahmen sicher zu sein; der Versuch, die Arbeiterschaft durch Pro-paganda, Verbesserung der betrieblichen. Sozialeinrichtungen, KdFusw. soweit zu bringen, war nachweislich gescheitert also mute

    33 Die Erforschung der Rolle der Kartelle 19361945 steht noch aus.Ein sehr plastisches Bild dieser Entwicklung liefern die vom Stadtprsi-denten angefertigten Wirtschaftlichen Lageberichte fr das Wirtschafts-gebiet Berlin" im Bundesarchiv Koblenz, R 41, Bde. 155156.

    34 Nheres ber Rohstoffverteilung bei Geer und Petzina, a.a.O.

    35 Unmittelbarer Anla fr die Einschrnkung des Arbeitsplatzwechselsin der Bauwirtschaft, die Ermchtigung des Reichsarbeitsministers, Hchst-lhne festzusetzen, und die Einfhrung der zivilen Dienstpflicht (wirt-schaftlicher Gestellungsbefehl") im MaiJuni 1938 scheint der beschleu-nigte Bau des Westwalls gewesen zu sein.

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    ihre Zustimmung zum System durch hohe Lhne, bezahlte Feiertageusw. erkauft werden, obgleich diese Taktik im glatten Widerspruchzu den Erfordernissen des Rstungsprogramms stand, welches gleich-zeitig beschleunigt werden sollte38. Aus genau demselben Grundverhinderte die politische Fhrung das Bestreben der Wirtschaft (ge-fhrt von der Reichswirtschaftskammer), die anwachsende Macht der

    Deutschen Arbeitsfront zurckzudrngen: der Deutschen Arbeits-front war die Aufgabe gestellt worden, die Arbeiterschaft fr denNationalsozialismus zu gewinnen nichts, selbst nicht das unge-strte Funktionieren der Rstungswirtschaft, durfte der Erfllungdieser Aufgabe zuwiderlaufen, auch wenn sich die DAF in verkapp-ter Form, aber nach 1936 in zunehmendem Mae als wirtschaftlicheInteressenvertretung der Arbeiterklasse bettigte37.

    Der alte Widerspruch zwischen potentieller politischer Macht undwirtschaftlicher Ohnmacht der Arbeiterklasse war zwar vom Natio-nalsozialismus durch die Vernichtung der Arbeiterorganisationengelst" worden; aber die plebiszitren Elemente des Systems, dienach Erreichen der Vollbeschftigung notwendigerweise immer str-ker hervortraten, machten es notwendig, die Arbeiterschaft nichtallein zu unterdrcken, sondern auch durch materielle Verbesserun-gen Zu mobilisieren. Der Widerspruch zwischen Demagogik (Kraftdurch Freude) und politischer Praxis (forcierte Aufrstung) reprodu-zierte den Widerspruch zwischen der notwendigen Massenbasis undder unvernderten Struktur der Eigentumsverhltnisse.

    Whrend der Vorschlag, die Freiheit des Arbeitsplatzwechsels zu

    beschrnken, in Unternehmerkreisen kaum auf Widerspruch stie,war es anders mit dem Vorschlag, Lhne mit bindender Wirkungnach oben festzusetzen. Die Firmen, die direkt oder indirekt an derRstungskonjunktur beteiligt waren, brauchten immer mehr Ar-beitskrfte; eine Reservearmee von volleinsatzfhigen" Arbeits-losen38 war ab Frhjahr 1937 effektiv nicht mehr vorhanden. Die zu-stzlichen Arbeiter muten also von anderen Firmen wegengagiertwerden, wobei das entscheidende Mittel das Angebot hherer Lhnewar. Bis zur Entwicklung eines leistungsfhigen staatlichen Appa-rates fr den Arbeitseinsatz etwa Ende 1939 , der Arbeitskrfte

    an die Rstungswirtschaft dirigieren und sie dort zwangsverpflichtenkonnte, lag also ein Lohnstop keineswegs im Interesse aller Unter-nehmer; die Hchstlohnstze, die in den letzten 12 Monaten vorKriegsbeginn eingefhrt wurden, wurden von vielen Unternehmern

    36 Zu den Grnden fr diese Taktik ist die Angst der NS-Fhrungvor einer Wiederholung des Dolchstoes" von 19171918 zu zhlen; dieNovember-Revolution hat anscheinend einen nachhaltigen Eindruck aufdie NS-Fhrer gemacht.

    37 Umfangreiche Akten hierzu im Bundesarchiv Koblenz, R 43 II, Bde.530a, 548a u. b, R 41, Bd. 22, WiIF5, Bd. 1260; und im Deutschen Zentral-

    archiv Potsdam, RWM, Bde. 10311 und 10321; vgl. T.W. Mason: Labour inthe Third Reich, Past and Present (Oxford), Nr. 33.

    38 Als volleinsatzfhig" wurden die Arbeitslosen amtlich bezeichnet,die gesund waren, auch bereit, berall in Deutschland auf Anhieb einge-setzt zu werden.

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    durch verkappte Zulagen und Geschenke faktisch auer Kraft ge-setztM . Hinzu kam die Frage der vielfach sinkenden Arbeitsprodukti-vitt; diese war Folgeerscheinung der generellen physischen ber-beanspruchung der Arbeitskrfte (viel berstunden), der teilweisenicht ausreichenden Ernhrung, der neuen Sicherheit des Arbeits-platzes und der verdrossenen Gleichgltigkeit weiter Kreise der Ar-

    beiterschaft gegenber dem ganzen gesellschaftlichen und politischenSystem des Nationalsozialismus. Als Gegenmanahme und als Anreizzu hherer Leistung verstanden viele Unternehmer nur das Mittelder Lohnerhhung. Hinter diesem Vorschlag, der sich in bescheidene-rem Umfang im Krieg noch durchgesetzt hat, standen seitens derUnternehmer eine bemerkenswerte Gleichgltigkeit bezglich dervolkswirtschaftlichen Folgen einer solchen Manahme (Inflation) undeine durch die Grozgigkeit der ffentlichen Hand bedingte Gleich-gltigkeit bezglich einer normalen betriebswirtschaftlichen Kalku-lation. Die historisch-typischen Verhaltensweisen einer kapitalisti-

    schen Wirtschaftsfhrung waren dank der forcierten Aufrstungweitgehend irrelevant geworden; brig blieben allein die primitiv-sten, kurzfristigsten Interessen einer jeden Firma.

    Dabei wurden die groen Firmen noch grer. Aus verschiedenenGrnden, die hier nicht nher erlutert werden knnen, fhrte die

    Aufrstung zwangsweise zu einer Beschleunigung des Konzentra-tionsprozesses in der deutschen Wirtschaft. In der Elektroindustrie(Siemens), Chemie (IG Farben) und Eisen und Metall (ReichswerkeHermann Gring) trat diese Tendenz besonders stark in Erscheinung.

    Kraft ihrer Monopolstellung und der kriegswirtschaftlichen Bedeu-tung ihrer Produkte pflegten diese Unternehmen unmittelbare Be-ziehungen zum Staatsapparat und zur Wehrmacht; manchmal er-reichten sie sogar auf personalpolitischer Ebene eine Gleichsetzungstaatlicher und privatwirtschaftlicher Interessen 4. Aber auch fr denGroteil der brigen Industrie wurden infolge der Aufrstung

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    lassen, deren letzte Instanz die Wirtschaft allein als Mittel fr dieErreichung zwar nur vage umrissener, jedoch offensichtlich prin-zipiell unerreichbarer Ziele betrachtete. Auch das Heranziehen derFhrer der Wirtschaft" 19421944 an die staatliche Auftrags- undMaterialverteilung durch Speer nderte wenig an dieser Tatsache.Die Ringe und Ausschsse des Systems der Selbstverantwortung und

    Verantwortlichkeit der deutschen Industrie" waren zwar von Indu-striellen besetzt, waren aber gem Fhrerprinzip dafr verantwort-lich, da die Richtlinien und Planungen des Ministeriums Speer aus-gefhrt wurden. Dazu wurde ihnen ein verhltnismig groerSpielraum gelassen; in den entscheidenden Fragen der Strategie undder Auenpolitik hatten sie kein Mitspracherecht. Ihre Kompetenzwar eindeutig auf das Wie beschrnkt41.

    Industrie und Weltkrieg

    Alle wichtigen auenpolitischen Entscheidungen 19381939 wur-den von Hitler persnlich getroffen; inwieweit er wirtschaftlicheFaktoren dabei bercksichtigt hat, kann noch nicht mit Sicherheitgesagt werden. Positive Beweise sind bis jetzt fast nicht vorhanden42.Gring und Gen. Thomas, die beide den Fhrern der Wirtschaftnahestanden, schlssen aus ihrer Kenntnis des Mangels an fast allenwehrwirtschaftlichen Reserven, da Hitlers Auenpolitik waghalsigsei, da der groe Krieg vertagt werden msse. Sie haben diesenStandpunkt nicht behaupten knnen; da ihre pessimistischen wirt-schaftlichen Prognosen sich erst spter erfllt haben, lag weitgehend

    an der militrischen Inaktivitt bzw. Schwche der Westmchte19391940 (einem Faktor, den Hitler in seinen Blitzkriegsplnenz. T. miteinkalkuliert hatte) sowie an den Lieferungen der Sowjet-union und der Plnderung der besetzten Gebiete. Die von Thomasverlangte Rstung in die Tiefe" war aus den erwhnten plebiszi-tren Grnden fr den Nationalsozialismus bis zur Niederlage beiStalingrad eine innenpolitische Unmglichkeit: sie htte eine nochnie dagewesene Senkung des Lebensstandards erfordert. Die innen-politische Funktion der Blitzkriegsplne lag in ihrem Versprechen,den Krieg ohne bermige Opfer der deutschen Bevlkerung so

    schnell wie mglich zu beenden und somit die vermeintliche rassi-sche Vormachtstellung des deutschen Volkes in Europa durch einesoziale und wirtschaftliche Privilegierung zu untermauern.

    Obwohl also der Fehlbedarf an Rohstoffen und Arbeitskrftennoch nicht als unmittelbare Kriegsursache zitiert werden kann, wan-

    41 Siehe Alan Milward: Die deutsche Kriegswirtschaft, Stuttgart 1966.42 Eine Ausnahme bilden Hitlers Ausfhrungen ber die mangelnde

    Ernhrungsgrundlage Deutschlands auf der sog. Hobach-Konferenz vom5.11 37. P o s t - f a c t u m -uerungen, z.B. In dem Lande (Polen) soll

    ein niedriger Lebensstandard bleiben, wir wollen dort nur Arbeitskrfteschpfen" (Hitler, 19.10. 39, IMG Dok. 864-PS), gelten im strengen Sinnenicht als Beweis; in seiner programmatischen Rede zur Wirtschaftspolitikvom 18.11.39 vor dem Reichsverteidigungsrat erwhnte Gring n i c h tdie Mglichkeit der Plnderung.

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    delte sich der Krieg, einmal begonnen, zwangsweise in eine sich stn-dig steigernde Ausplnderung ganz Europas43. Die Kriegsfhrungermglichte erst und verlangte gleichzeitig die Plnderung. Dabeiunterschied sich der zweite Weltkrieg in zwei wesentlichen Punktenvon frheren imperialistischen Kriegen: der wirtschaftliche Bedarf,der dadurch befriedigt werden sollte, war keineswegs autonom-wirtschaftlicher Natur (etwa fehlende Absatz- oder Investitionsmg-lichkeiten), sondern stark politisch bedingt. Erst die forcierte Auf-rstung der Jahre 19361939 verursachte den Fehlbedarf an grund-legenden Produktionselementen, der wiederum durch den Krieg ver-strkt wurde, gleichzeitig aber auf brutalste Art und Weise befrie-digt werden konnte. Der Plnderung lagen also politische Entschei-dungen (Aufrstung, gewaltsame Ausdehnung des deutschen Macht-bereichs) zugrunde, die zwar ursprnglich von Wirtschaftskreisenmageblich gefrdert wurden, deren Ausfhrung aber seit 1936 weit-gehend ihrer Kontrolle entglitten war: zum Teil wegen der politi-schen Struktur des Dritten Reichs, zum Teil aber wegen der unver-meidbaren nderungen in der Wirtschaftsstruktur. Kriegsfhrungund Industrieproduktion wurden unter dem Nationalsozialismus zueinem sich gegenseitig bestimmenden Selbstzweck. Die hohen Steuer-stze und die staatliche Kontrolle ber den Kapitalmarkt strtedie Industrie deshalb nicht, weil die Gelder in Form von ffentlichen

    Auftrgen an sie zurckkamen. Und daraus ergab sich der zweitewesentliche Unterschied zu anderen imperialistischen Kriegen. Ankonkreten Kriegszielen hat es dem Nationalsozialismus gefehlt; dem-entsprechend hat es kein Konzept einer neuen imperialistischenOrdnung Europas gegeben, das sich auf die Bedrfnisse der Wirt-schaft sttzte es wurde einfach geplndert, damit der Krieg wei-tergefhrt werden konnte. Weder politisch noch wirtschaftlich besadas System einen Begriff von einem Status quo. Ein Sieg des Natio-nalsozialismus im herkmmlichen Sinne, der eine erstrebte' Frie-densordnung voraussetzt, ist schon aus diesem Grunde unvorstellbar:denn die Rstung hatte eine so groe nderung der Produktions-struktur zugunsten der Grundstoff- und Investitionsgterproduktionbewirkt, da eine friedensmige Nachfragestruktur ohne das Nach-

    fragemonopol des Staates nach Rstungsgtern (d. h. aber ohne eineradikale nderung des wirtschaftlichen und politischen Systems) un-denkbar geworden war44 . In der Tat rief der grenzenlose Expan-sionismus des Nationalsozialismus eine internationale Allianz insLeben, die seine Vernichtung herbeifhren mute.

    43 Auch zu diesem zentralen Thema fehlt eine wissenschaftliche Unter-suchung. Da einzelne Dienststellen auf die Plnderung vorbereitet waren,beweist die Errichtung der ersten Erfassungsstelle fr polnische Fremd-arbeiter" in besetztem Gebiet, die schon am 3. 9. 39 vorgenommen wurde

    hierzu die bedeutende Untersuchung von Eva Seeber: Zwangsarbeiter in

    der faschistischen Kriegswirtschaft, Berlin-Ost 1964 (hier S. 28).44 In den Jahren 19411942, als der Endsieg in Europa in greifbarer

    Nhe zu sein schien, hat diese Frage die NS-Fhrung stark beschftigt; eswurde entschieden, das Problem durch ein groangelegtes, staatlich sub-ventioniertes Wohnungsbauprogramm zu lsen (damaliger Fehlbestand

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    Zusammenfassung

    Ab 1936 wurde der Rahmen des wirtschaftlichen Handelns inDeutschland durch die politische Fhrung definiert. Die Bedrfnisseder Wirtschaft wurden durch politische, vornehmlich durch auen-politische Entscheidungen bestimmt und fr ihre Befriedigung durch

    militrische Erfolge gesorgt. Die Tatsache, da die wichtigsten Indu-striellen bei der Arisierung" der Wirtschaft, bei der Enteignung er-oberter Produktionsmittel, bei der Versklavung von 6 Mio. Menschenaus Osteuropa und bei der Beschftigung von KZ-Hftlingen nichtnur passiv mitgewirkt, sondern oft die Initiative ergriffen ha-ben, bildet zwar ein vernichtendes Urteil ber das Wirtschafts-system, dessen wesentliches Organisationsprinzip Wettbewerb solche Verhaltensweisen hervorrief. Es kann aber nicht behauptetwerden, da selbst diese Aktionen den Ablauf der Geschichte des Na-tionalsozialismus grundstzlich gestaltet haben sie haben vielmehr

    einen gegebenen Rahmen barbarisch ausgefllt. Die groen Firmenhaben sich mit dem Nationalsozialismus identifiziert, um sich wirt-schaftlich weiter entwickeln zu knnen. Ihr vom System gefrdertesProfit- und Expansionsstreben und der verbissene Nationalismusihrer Fhrer hat sie aber, wenn auch ohne jede Bedenken, an einpolitisches System gekettet, auf dessen Zielsetzung insoweit sieberhaupt kontrollierbar war sie so gut wie keinen Einflu hatten.

    Eine elastische Zusammenarbeit von Wirtschaft und Staat zum Vorteil des Wirtschaftssystems hat es allenfalls in den Jahren 1934

    bis 1936 gegeben und da nur in vorgetuschter Form: denn diese Zu-sammenarbeit beruhte nicht auf einem stabilen Ausgleich der Klas-seninteressen und nicht auf einem grundstzlichen Konsens der f-fentlichen Meinung, sondern auf der terroristischen Unterdrckungder Arbeiterbewegung und einer totalitren Publizistik. Die politi-sche Fhrung baute sich eine institutionell weitgehend selbstndigeMachtposition aus, die sich als unerschtterlich erwies und die durchihre Kontrolle ber die Auenpolitik die gesamte Zielsetzung desSystems bestimmte.

    Die Machtergreifung des Nationalsozialismus ist auf eine unver-

    meidliche Zersplitterung der brgerlichen Gesellschaft in Deutsch-land zurckzufhren, und der Primat der Politik in seiner ausgereif-ten Form beruhte auf einer erneuten Zersplitterung in den Jahren19361938. Das Gegen- und Nebeneinander war aber keineswegs aufdie Wirtschaft beschrnkt, es wurde vielmehr zum grundlegendenOrganisationsprinzip des nationalsozialistischen Herrschaftssystems.Eine neue, funktionierende Gesamtreprsentation des Volkes liesich nicht allein durch Terror, Propaganda und auenpolitische Er-folge (d. h. durch die Politik) erzielen; dazu wre vielmehr einerationale Umstrukturierung der Gesellschaft ntig gewesen, wozu es

    weder in der Wirtschaft noch in der NSDAP den geringsten Ansatz

    etwa 3 Mio. Wohnungen). Da diese Lsung die durch die Aufrstungstark ausgebaute c h e m i s c h e und m e t a l l v e r a r b e i t e n d e Indu-strie in eine schwere Krise gestrzt htte, liegt auf der Hand.

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    gegeben hat. Die alten Gegenstze zwischen Landwirtschaft und In-dustrie, Kapital und Arbeiterklasse wurden in neuer Form, aber un-entschrft weitergefhrt; und dazu traten neue Strukturkonflikte:Gauleiter gegen Gauleiter und Reichsregierung, Partei gegen Wehr-macht und Beamtentum, SS und SD gegen alle45. (Es sei hier nur amRande vermerkt, da die in der BRD auffallende Entpolitisierungdes Kampfes um die Verteilung des Sozialprodukts in der deutschenGeschichte schon einmal verwirklicht war, nmlich 1938/39. Die ge-botene Geschlossenheit des nationalsozialistischen Systems nach au-en verbot die ffentliche, d. h. politische Austragung der durchausvorhandenen Gegenstze zwischen den einzelnen Machttrgern indieser Frage; und Versuche, die Frage von unten her zu politisieren,fhrten zumeist ins KZ. Dagegen war eine nachhaltige, unpolitische,d. h. ideologiefreie" Vertretung der eigenen materiellen Interessensehr wohl system-konformes Verhalten, wie es in der Weimarer Re-publik keineswegs der Fall war. Dank des Terrors und der Propa-ganda entwickelte sich also ein breiter, komplexer Interessenplura-lismus", der dem heutigen nicht unhnlich war.) Das ganze Systemwurde durch zweierlei zusammengehalten: die frenetische, zielloseDynamik des Expansionismus, die durch das fortlaufende Setzenneuer Aufgaben eine Zusammenarbeit der verschiedenen Organisa-tionen und Interessen erzwang denn Stillstand htte einen Zer-fall bedeutet; und zweitens durch die Funktion des Fhrerprinzips.Hitlers vermeintliche Taktik, den eigenen Machtbereich durch dieTaktik des divide et impera auszudehnen, war eher eine systembe-dingte Notwendigkeit: denn die Pluralitt der Interessen und Orga-nisationen war schon gegeben; ihre Aufhebung scheiterte wenigeran Hitlers Wunsch, immer schlichten zu knnen, als an der Machtderjenigen Interessen, die durch Grundsatzentscheidungen jeweilshtten geschwcht werden mssen46. Die Treue zum Fhrer, die Be-reitschaft der Leiter der Staats- und Parteiorgane, seine Entschei-dungen anzunehmen, war im Krieg oft die einzige Klammer, die dastausendjhrige Reich" vor der Anarchie bewahrte47.

    Allein aus dem Primat der Politik und aus der ihm zugrunde lie-genden materiellen Pluralitt des Herrschaftssystems sind die selbst-

    45 Die Konflikte unter den Gauleitern und zwischen ihnen und derReichsregierung, die im Krieg auerordentlich scharfe Formen annahmen,waren eigentlich eine Fortsetzung des alten Streits um den Fderalismus;zu den bekannten Aspekten des Kampfes zwischen der NSDAP und demalten Staatsapparat mu ein sozialpolitischer hinzugefgt werden: diePartei widerstrebte mit Erfolg den Plnen des Arbeitsministeriums unddes OKW, bei Kriegsbeginn eine allgemeine Lohnsenkung durchzufhren:Bundesarchiv Koblenz, R 41, Bd. 59.

    46 Diese Ausfhrungen gelten fr die Zeit vor dem Krieg; im Kriegwurde die Taktik d i v i d e et i m p e r a z. T. bewut betrieben.

    47 Nicht zuletzt durch sein persnliches Charisma; in der breiten Be-vlkerung scheint er sehr populr gewesen zu sein, was einen wichtigen

    Ausgleich fr die Unpopularitt seiner Helfer, der Ideologie, des Kriegesusw. schuf vgl. Heinz Boberach: Meldungen aus dem Reich (Rez. in die-sem Heft).

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    zerstrerischen Manahmen des Nationalsozialismus zu verstehen.Unter den ersten polnischen Juden, die in den Vernichtungslagernvergast wurden, befanden sich Tausende von gelernten Metallarbei-tern aus polnischen Rstungsbetrieben. Dies geschah im Herbst 1942,am Wendepunkt des Feldzuges gegen die Sowjetunion, der die An-sprche der Wehrmacht an die deutsche Kriegswirtschaft noch weiter

    steigern sollte. Die Wehrmacht wies nachdrcklich auf die Irrationa-litt dieses Verfahrens hin, das die Kriegswirtschaft nur schwchenkonnte, war aber nicht imstande, die jdischen Rstungsarbeiter frdie Industrie zu retten. Der beschwerdefhrende General wurde sei-nes Postens enthoben48. Der Verwendung knapp gewordener Eisen-bahneinrichtungen fr den Abtransport jdischer Verfolgter gegenEnde des Krieges anstatt fr die Versorgung der Streitkrfte an der'Ostfront lag dasselbe interne Machtverhltnis zugrunde. Dank ihresMonopols ber die Nachrichtendienste und die politisch-polizeilicheWaffengewalt und ihrer Position auerhalb des brigen Rechts-systems und dank Himmlers Sonderstellung bei Hitler war die SSimstande, ihre ideologisch bestimmte Aufgabe der Judenvernichtungzum materiellen Schaden des gesamten Systems durchzufhren. Die

    Verselbstndigung der Politik ist nirgends so klar zu sehen wie amBeispiel der SS, wo die Umsetzung der Ideologie in die Praxis denkriegswirtschaftlichen Interessen glatt widersprach und dennoch ver-wirklicht wurde48 .

    Ein nicht ganz so krasses Beispiel liefert die Entscheidung vom Mrz1942, die Bevlkerung Osteuropas systematisch zu versklaven und

    der deutschen Rstungswirtschaft zur Verfgung zu stellen. GauleiterSauckel, zu dem Zeitpunkt zum Generalbevollmchtigten fr den Ar-beitseinsatz berufen, schlug vor, die Knappheit an Arbeitskrftendurch Rationalisierung der Produktionsmethoden und Zwangsver-pflichtung der deutschen Frauen zu lsen: Sklavenarbeit sei politischund technisch unzuverlssig, unproduktiv und biete zugleich rassen-politische Gefahren fr das deutsche Volk. Sein Programm wurdevon Hitler mit der Begrndung abgelehnt, es bleibe keine Zeit, dieWirtschaft zu rationalisieren, und die deutsche Frau gehre ins Haus.Weitere 5 Mio. Fremd- und Ostarbeiter" wurden daraufhin ins

    Reich verschleppt. Eine ideologisch bestimmte Politik siegte wiederber wirtschaftliche Kalkulation50.

    Der Versuch, diese Ideologie auf einen Nenner zu reduzieren odersie als systematisch zu interpretieren, ist zum Scheitern verur-teilt. Goebbels und sein Apparat haben zwar die Ideologie als be-liebig manipulierbares Herrschaftsinstrument verstanden und be-nutzt. Letztlich wurde sie aber dennoch von der politischen Fhrung,

    48 Gutachten von Dr. H. v. Krannhals im Proze gegen SS-Obergrup-penfhrer Karl Wolff, Mnchen September 1964.

    49 Die Vormachtstellung der SS kam nicht von ungefhr, erwuchs viel-mehr aus ihrer fr das System unerllichen Funktion bei der Zerschla-gung der Linken, 19331936.

    50 Vgl. Proze gegen Fritz Sauckel, IMG, insbes. Bd. 15. Die Mobilisie-rung weiblicher Arbeitskrfte war in England viel umfassender als inDeutschland.

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    Der Primat der Politik 493

    insbesondere von Hitler persnlich und von der SS als rassisch-sittliche" Utopie so ernst genommen, da ihr in entscheidenden Fra-gen selbst die kurzfristigen materiellen Bedrfnisse des Systemsgeopfert wurden. Gerade in den Fllen Judenvernichtung und Ar-beitseinsatz der Frauen war zu dieser Zeit die Ideologie keine not-wendige Sttze des Systems mehr. Denn die Judenvernichtung wur-de unter Geheimhaltung in Polen durchgefhrt, und den Meldungenaus dem Reich" zufolge htte eine Zwangsverpflichtung der Frauenbei einem Groteil der Bevlkerung Verstndnis gefunden. Was dasSystem 1944 noch zusammenhielt, war die Angst: vor dem Russen"und vor dem allgemein gewordenen Terror.

    Unter den Bedingungen kapitalistischer Produktion haftet der Be-hauptung eines Primats der Politik stets etwas Irrationales an, dadas, wodurch sich dieser Primat legitimiert, das Gemeinwohl, nurvorgetuscht werden kann. Erst dann, wenn der Staat einen ber-

    blick und die Kontrolle ber den gesamten wirtschaftlichen und so-zialen Ablauf besitzt und in der Lage ist, die Zielsetzung des Systemsnach Magabe des objektiv Mglichen zu bestimmen, kann von einemrationalen Primat der Politik die Rede sein. Die Radikalitt des Pri-mats der Politik im Nationalsozialismus dagegen wurzelte in der spe-zifisch historischen Auflsung der brgerlichen deutschen Gesell-schaft (19291933), des deutschen Kapitalismus (19361938) und derinternationalen Politik in den 30er Jahren. Der politische Spielraumder nationalsozialistischen Regierung beruhte nicht auf dem Ver-trauen einer politisch homogenen Gesellschaft, entstand vielmehr

    gerade aus der Zersplitterung der gesellschaftlichen Krfte und derinternationalen Opposition. Das Zusammentreffen beider Faktorenermglichte eine Verselbstndigung des Staates, wie sie in der Ge-schichte ihresgleichen sucht. Die Entwicklung des nationalsozialisti-schen Herrschaftssystems tendierte zwangslufig zur Selbstzerst-rung, denn eine Politik, die nicht auf den Bedrfnissen der gesell-schaftlichen Reproduktion basiert, kann sich selbst keine begrenztenrationalen Aufgaben mehr setzen. Die Verselbstndigung der Politikfhrte zu einem blinden Selbstlauf des Systems auf allen Gebieten,wofr die kapitalistische Konkurrenzwirtschaft besonders anfllig

    war: Zur Dialektik des Nationalsozialismus gehrt die Lsung, deskonomischen Konkurrenzprinzips von allen auf die Erhaltung dergesellschaftlichen Reproduktion gerichteten institutionellen Be-schrnkungen. Der sich daraus ergebende wirtschaftliche Sog, be-dingt durch die unbegrenzte staatliche Nachfrage nach Rstungs-gtern, tendierte dazu, das Wirtschaftssystem aufzulsen.

    Die strukturelle Irrationalitt fand ihren konkreten Ausdruck, zumTeil auch ihren Ursprung, in der spezifischen Irrationalitt der natio-nalsozialistischen Ideologie. Diese Ideologie war Produkt einer unter-

    gehenden Gesellschaftsschicht und geriet mit der gerade durch dienationalsozialistische Herrschaft geschaffenen Wirklichkeit zuneh-mend in Konflikt. Die Bewegung, deren Ideologie auf die Bildungeiner Gesellschaft von Einzelhndlern, Handwerkern und Kleinbau-ern gerichtet war, setzte eine gewaltige Beschleunigung des Konzen-

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    494 Besprechungen

    trationsprozesses in Industrie und Handel und der Landflucht inGang. Der Versuch, mit rassisch einwandfreien" Bauernfamilien dieLebensraumideologie im Warthegau" (Westpolen) wortgetreu in diePraxis zu bertragen, war ein eklatanter Mierfolg; ebenso der Ver-such, die Arbeiterklasse zum Idealismus zu erziehen die Arbeitermuten auf Kosten der militrischen Leistungsfhigkeit gekauft

    werden, und doch reichte auch dieses Mittel nicht aus. Am Endekonnte nur in der SS und durch die SS der Ideologie ein Platz im

    Alltag gewhrt werden und dann nur in der und durch die radi-kalste Gewaltanwendung.

    Opferbereitschaft und Kampfgeist auf der einen Seite und durch-greifende wehrwirtschaftliche Planung auf der anderen waren nurunter dem Druck der sich nhernden Niederlage zu verwirklichen.In den letzten Monaten jedoch und zuvor schon im Widerstanddes 20. Juli 1944 , als sich die politische Fhrung in gegenseitige

    Vorwrfe und Intrigen endlich auflste, flackerten schwache Zeichenvon Selbsterhaltung wieder auf: Speer und der Industrie gelang es,die Durchfhrung von Hitlers Verbrannte-Erde-Befehl zu umgehen;und am 12. 3. 1945 entschied sogar Himmler, den Fhrerbefehlnicht auszufhren, alle KZs mitsamt Insassen in die Luft zu sprengenund ordnete gleichzeitig an, da die Vergasung der Juden eingestelltwerden sollte. Die Vorbereitung der Nrnberger Prozesse bei denWestmchten war bekannt geworden.

    Besprechungen

    I. Philosophie

    Beyer, W.R. (Hrsg.): h o m o h o m i n i h o m o , Festschrift frJoseph E. Drexel zum 70. Geburtstag. C. H. Beck'sche Verlagsbuch-handlung, Mnchen 1966 (327 S., Ln., 24, DM).

    Eine Festschrift aber ihr zentrales Thema ist der Schrecken.Zentral insofern, als das mittlere der drei Kapitel allein Gedichtenvon Gnther Anders aus den Jahren 19331948 vorbehalten ist. IhrGesamttitel: Der Schrecken". Welcher Schrecken gemeint ist, gehtschon aus der Widmung hervor. Die Schrift ist Joseph E. Drexel zum70. Geburtstag zugedacht, dem erfolgreichen Verleger, aber auchdem tapferen Kmpfer fr humanistische Ideale gegen faschistischeWillkr, der trotz Mihandlung und Peinigung an Leib und Seele nieden Glauben an den Menschen verlor..." Um den Glauben an denMenschen geht es mehr oder weniger in allen Beitrgen zu dieser

    Festschrift, homo homini homo das ist ein Postulat, dem homohomini lupus deutlich entgegengestellt. Was aber heit es heute, nachder Erfahrung jenes Schreckens, ein Mensch zu sein? In der letztender hier gesammelten Errterungen (Vom ,Alter Ego' zum Wir")schreibt der Herausgeber W. R. Beyer, und es liest sich wie ein Re-

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    Tim Mason

    Der antifaschistische Widerstand der Arbeiterbewegung

    im Spiegel der SED-Historiographie 1

    Es ist ohne Zweifel schwierig, ber diesen Abschnitt in der Ge-schichte der deutschen Arbeiterbewegung zu schreiben. Abgesehenvon der Drftigkeit der Quellen, fehlen uns noch die Mastbe, denfrchterlichen Leidensweg des Widerstands der Arbeiterklasse unddie Motive der einzelnen Widerstandskmpfer und -gruppen ver-stndlich zu machen. Denn, im Gegensatz zum konservativen Wider-stand, hatten die illegalen Organisationen der Arbeiterklasse nicht

    den Anreiz zur Aktion, da sie objektiv imstande gewesen wren,das NS-System zu strzen; ihnen fehlten auch vollends die Stellun-gen innerhalb des Staatsapparats, die den Konservativen zum Auf-bau einer weitverzweigten Organisation und zur Deckung der kon-spirativen Ttigkeit von so groer Bedeutung waren. Sptestens abMitte 1934 und bis Ende 1944 war die Entscheidung, sich dem sozial-demokratischen oder dem kommunistischen Widerstand anzuschlie-en faktisch eine Entscheidung, sich nach kurzer Zeit und ohne zurErschtterung des Systems beigetragen zu haben, von der Gestapoverhaften und foltern und von der deutschen Justiz aburteilen zu

    lassen. Nichts war fr den Arbeiterwiderstand gefhrlicher als derErfolg, denn je grer eine Gruppe wurde, je vielfltiger die Formenihres Widerstands, desto schwieriger wurde die Geheimhaltung; diewenigsten Gruppen bestanden lnger als 3 Jahre, viele nur Monate.Wenn dennoch in den 12 Jahren der NS-Herrsehaft schtzungsweise150 000 Personen wegen sozialdemokratischer, gewerkschaftlicheroder die meisten kommunistischer Opposition verhaftet werdenmuten, dann hat der Historiker mit Problemen der Interpretationzu tun, die jenseits der herkmmlichen Geschichtswissenschaft lie-gen. Wie kommt er ber eine positivistische Schilderung des Auf-

    1 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung Band 5. Von Januar1933 bis Mai 1945. Hrsg. vom Institut fr Marxismus-Leninismus beimZK der SED. Dietz Verlag Berlin, 1966.

    Das Argument n43 (1967)

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    Der antifaschistische Widerstand der Arbeiterbewegung 145

    baus, der Organisation, der Ttigkeit und der Zerstrung der vieleneinzelnen Gruppen hinaus? Hat der linke Widerstand eine histo-rische Bedeutung, indem er die Politik der SPD oder der SED nach1945 geprgt hat? Es scheint fraglich. Unmglich, da es alles um-sonst war; genauso unzureichend, von wirtschaftlichen Klassenge-genstzen zu sprechen wie vom anderen Deutschland" oder vomnackten Heldentum"; lcherlich, die Widerstandskmpfer als Ver-rter der Nation abzutun.

    Die Verf. dieses Bandes haben es sich leicht gemacht. Ungestrtdurch diese oder hnliche Fragen, haben sie sich hauptschlich aufdie Entwicklung der strategischen Linie des ZK der KPD im Exilkonzentriert. Die zentralen Dokumente in dieser Geschichte der deut-schen Arbeiterbewegung sind die Beratungen, Beschlsse, Aufrufe,Plattformen, Erklrungen, Stellungnahmen, Losungen, Aktionspro-gramme und offenen Briefe dieses Gremiums oder anderer ihm

    nahestehender Organisationen. Sie sind ausfhrlich und ohne Kom-mentar wiedergegeben, und ihre Behandlung durch die Verf. wreeher historischen Monumenten als historischen Dokumenten ange-messen; ihre konkrete politische Bedeutung wird durch die Massivi-tt der Darstellung suggeriert und nicht durch Argumentation er-wiesen; es fehlt jede Analyse der praktisch-politischen Bedingungen,unter denen diese programmatischen uerungen entstanden sind.Folgendes Beispiel kann fr viele hnliche Passagen stellvertretendsein:

    Im zweiten Teil des Referates (auf der Berner Konferenz der KPD,

    Ende Januar 1939 TWM) wandte sich Wilhelm Pieck der Haupt-aufgabe zu, die gelst werden mute, sollte das Hitlerregime gestrztund der Krieg verhindert werden:... Von der Einigung der Arbei-terklasse hing die Rettung und Sicherung des Friedens in ersterLinie ab. Die einige deutsche Arbeiterklasse bildete im Bunde mitallen patriotischen Krften des Volkes die entscheidende Macht, diedas faschistische Regime des deutschen Imperialismus und Militaris-mus daran hindern konnte, einen Weltbrand zu entfachen. Die Her-stellung der Einheitsfront der deutschen Arbeiterklasse war diewichtigste Voraussetzung fr das Zustandekommen und fr den Be-

    stand der Volksfront, die das Bndnis der Arbeiterklasse mit denBauern, dem Mittelstand, den Beamten und Intellektuellen dar-stellte. (S. 218-9)

    Das Irreale und das Schematische fallen auf. Hing der Frieden tat-schlich von der Einigung der Arbeiterklasse ab? Das Regime durchden Volkswiderstand strzen? Wie sollte ein Bndnis mit den Bau-ern und dem Mittelstand im ns. Deutschland aussehen? Man solltenicht annehmen, da solche Fragen dem ZK selbst nicht aktuell wa-ren. Die objektive politische Situation des ZK, die in den Jahren193442 sehr problematisch war, ist zum Verstndnis solcher Pro-gramme von grter Bedeutung; sie wird in diesem Band nicht dis-kutiert.

    Das ZK war im Exil, und der ns. Terror hatte es seiner eigentlichenExistenzberechtigung weigehend beraubt. Insbes. nach 1936 wurde

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    146 Tim Mason

    seine faktische Fhrungsfunktion durch die Massenverhaftungen imInland und durch die zunehmende Schwierigkeit der Grenzverbin-dung stark eingeschrnkt. Es war aber dem ZK der KPD im Ge-gensatz zu einigen Gruppen in der Exil-Leitung der SPD prin-zipiell unmglich, diese Situation als solche anzuerkennen. Dies wre

    dem Temperament und dem Sendungsbewutsein der KPD zuwider-gelaufen, wre einem Verrat an der Kommunistischen Internationaleund der SU gleich gewesen und htte dem in der KPD stark verwur-zelten Primat der Organisation widersprochen. Das ZK machte alsoweiter, beriet ber strategische und taktische Linien, als wren sietatschlich von akuter praktischer Bedeutung, erlie Aufrufe an ein inDeutschland kaum noch erreichbares Publikum (wie es hier auchz. T. zugegeben wird S. 130, 366) und verlangte unermdlich denUmsturz des NS-Systems; es benahm sich noch wie die Leitung einerPartei, was, organisationssoziologisch gesehen, leicht verstndlich ist.

    Die Haltung des ZK im Exil wurde dann durch die beiden Kreise, dereres als Publikum sicher sein konnte, nher definiert: die Exil-Leitungder SPD und die Fhrung der KPdSU. Gegenber der SPD mutedas ZK seinen Anspruch auf die Fhrung im Widerstandskampf gel-tend machen; ab Mitte 1935 wurde die SPD wiederholt und ohne Er-folg zur Bildung einer anti-faschistischen Einheitsfront aufgefordertund jede Ablehnung wurde damals und wird noch in diesem Band alseine Schwchung des Widerstands bezeichnet. Es ist aber wirklichnicht einzusehen, da die Zusammenarbeit der beiden Exil-Leitun-gen die Lage der Widerstandsgruppen im Inland bedeutend verbes-

    sert htte; die Zusammenarbeit in Deutschland war 193435 sowie-so ziemlich weitreichend. Auf der anderen Seite waren die Aufrufeusw. dieser Jahre auch teilweise fr Stalin und die KPdSU bestimmt.Die groen Suberungen" 193639 und der Nicht-Angriffs-Pakt mitDeutschland 193941 gefhrdeten die Politik und den Bestand desZK der KPD, zeitweilig auch das Leben seiner Mitglieder. ber dieWirkungen der Suberungen auf die deutsche Emigration sagt derBand kein Wort; die Suberungen selbst werden in einem halben Absatz abgetan und bestimmten negativen CharaktereigenschaftenJ. W. Stalins" sowie provokatorischen Mitteilungen (der) imperia-

    listischen Mchte" zugeschrieben (S. 2067). Es ist wohl nicht ganzfalsch anzunehmen, da die irreal hohe Einschtzung der eigenenWichtigkeit und die wirklichkeitsfremde bertreibung der Mglich-keiten des Volkswiderstands, die die Aufrufe usw. des ZK in diesenJahren kennzeichnen (S. 209, 223, 247, 253, 280, 530), zum Groteilauf die Notwendigkeit zurckzufhren sind, die eigene Existenz ge-genber der Fhrung der KPdSU zu rechtfertigen und zu sichern.

    Gegen all dies ist nichts zu sagen, aber solche berlegungen min-dern etwas den Quellenwert der Aufrufe und Plattformen, sprechen

    gegen die Behandlung dieser Dokumente als Meilensteine in der Ge-schichte der deutschen Arbeiterbewegung und gegen eine Behand-lung des Themas vorwiegend aus der Sicht der Exil-Leitung. Dennder Ausgangspunkt der Verfasser hemmt zwangslufig ihre Darstel-lung des inlndischen Widerstands. Die Fragestellungen und der Stil

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    Der antifaschistische Widerstand der Arbeiterbewegung 147

    sind genauso brokratisch wie in den Kapiteln ber das ZK; die Verf. haben kaum einen einzigen Versuch gemacht, die unmittel-bare, alltgliche Wirklichkeit des Widerstands zu rekonstruieren oderdie Motive der Widerstandskmpfer aufzuspren und verstndlichzu machen. Sie befassen sich fast ausschlielich mit der ideologischen

    Haltung und dem organisatorischen Reifegrad der illegalen Gruppen.Es wird z. B. nirgends erlutert, was es fr die praktische Wider-standsarbeit hie, wenn zwei Gruppen zueinander Verbindungenaufnahmen: wenn Hamburger Funktionre Verbindungen zu ju-gendlichen Sportlern und Knstlern herstellten" (S. 327), oder wennandere Funktionre Kontakte mit Angehrigen des Mittelstandsund antifaschistischen Soldaten" hatten (S. 397). Die Programme vonEinheitsfront-Gruppen werden lobend hervorgehoben, ohne da esim geringsten klar wird, welche Formen die Zusammenarbeit zwi-schen Kommunisten und Sozialdemokraten eigentlich nahm (z. B.

    S. 98). Ging sie ber die Verfassung eines gemeinsamen Aufrufs hin-aus? Haben die Gruppen ihre Informationen ber Gestapospitzel ge-teilt? Oder gemeinsame Schulungen und Flugblattaktionen durchge-fhrt und Lohnforderungen gemacht? Solche Fragen sind umsonst,denn die Darstellung bleibt durchgehend abstrakt und vermittelt abund zu den Eindruck, als wren die illegalen Gruppen hauptschlichals Etappen in der gesetzmigen Entfaltung einer groen Strate-gie von Bedeutung. Ihre Probleme waren aber entschieden andersals die des ZK und verdienen eine selbstndige Behandlung.

    Die starke Betonung der Ideologie fhrt hier zu schweren Ver-

    zerrungen im Gesamtbild des Widerstands der Arbeiterbewegung.Erstens werden rein sozialdemokratische Gruppen kaum erwhnt,obwohl einige unter ihnen aus der ersten Zeit zu den grten Gruppenberhaupt zhlten wie etwa die Blumenberg-Gruppe in Hanno-ver, der Internationale Transportarbeiterverband bei der Reichsbahnim Rheinland und die sog. Brotfabrik" im Ruhrgebiet. Zweitens undnoch schwerwiegender: die Behandlung des kommunistischen Wider-stands in den ersten 3 Jahren der NS-Herrschaft ist vllig unzurei-chend. Beide Unterlassungen haben offensichtlich den gleichen Grund:die strategische Linie der KPD im Widerstand wurde erst gegenEnde 1935 nach dem 7. Kominternkongre und der Brsseler" Kon-ferenz der Partei festgelegt Einheitsfront mit der Sozialdemokra-tie, womglich Volksfront mit allen antifaschistischen Krften mitdem Ziel des Aufbaus einer radikalen Demokratie in Deutschland.Die Linie blieb bis nach Kriegsende im Grunde unverndert, und dieserBand ist nicht zuletzt dazu angetan, ihre Zweckmigkeit zu beweisen(welche seit 1936 kaum von irgendeiner Seite in Frage gestellt wordenist.) Die vorliegende Darstellung hebt nur die Gruppen aus den Jahren193335 hervor, die die Ende 1935 beschlossene Strategie im Keimschon entwickelt hatten; der rein kommunistische und rein sozialdemo-kratische Widerstand wird weitgehend ignoriert. Jener stand in derersten Phase die nach meiner Lektre der Gestapo-Akten beiweitem die aktivste war frmlich im Zeichen des Kampfes gegendie Sozialdemokratie und der bevorstehenden proletarischen Revo-

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    lution und gilt demgem heute als irrtmlich. Entsprechend dieserdamals zwar umstrittenen Strategie wurde der Widerstand im Landevorwiegend regional aufgebaut, htte noch Leitungen auf Bezirks-und Landesebene und versuchte Massenarbeit" (S. 50) zu leisten d. h. Anhnger durch Propaganda zu gewinnen. Die pyramidenartigeStruktur der Organisation und die Formen der Widerstandsttigkeitwirkten beide zum Vorteil der Gestapo: 1936, als sich die Gestapoeingespielt hatte, stiegen die Verhaftungen wegen kommunistischerUmtriebe" auf durchschnittlich 1000 im Monat.

    Dieses Bild ist notwendigerweise provisorischer Natur, denn dieerste Phase des Widerstands ist noch gar nicht grndlich erforschtworden; die Aktivitt der illegalen kommunistischen Gruppen im2. Weltkrieg ist viel besser dokumentiert. Das ist aber nicht der ein-zige Grund, warum dieser Band den Eindruck eines s t n d i g a n -w a c h s e n d e n Arbeiterwiderstands zu vermitteln sucht, warum

    ein Aufschwung des antifaschistischen Kampfes" (S. 129) auf dieBeschlsse der Brsseler Konferenz folgte, warum weitere Auf-schwnge Ende 1941, Ende 1942 und Anfang 1944 konstatiert werdenund die Widerstandsbewegung Mitte 1944 ihre grte Breite undWirksamkeit" erreichte (S. 408). Vielmehr gab es nach Ansicht der

    Verf. eine direkte Beziehung zwischen dem Reifegrad der partei-amtlichen Strategie und Ideologie auf der einen, und dem Ausmades inlndischen Widerstands auf der anderen Seite (vgl. S. 956,397. Ein hnlicher brokratischer Idealismus charakterisiert die Er-klrung des Siegs der Roten Armee 194245). Dieser Ansicht liegt

    eine berschtzung der praktisch-politischen Bedeutung des ZKs undihrer Plattformen fr den Widerstandskampf zugrunde, auch ist einstndig wachsender Kampf quellenmig kaum zu belegen. Das Aus-ma und die Formen des Widerstands hingen vielmehr in ersterLinie von der Intensitt des ns. Terrors ab. Es ist klar, da die um-fangreichen Verhaftungen der Jahre 193536 den Widerstand der'Arbeiterbewegung erheblich geschwcht haben; erfahrene Kaderwurden wiederholt zerstrt, und es wurde immer schwieriger, sie zuersetzen; potentielle Widerstandskmpfer wurden eingeschchtertbzw. wandten sich weniger aufflligen Formen des Widerstands zu

    als der Mitarbeit in einer illegalen Organisation etwa Flster-propaganda oder dem Abhren der von Emigranten gemachten Radio-sendungen. Die Besetzung des Sudetengebiets und Prags und dannder Kriegsbeginn schwchten den Widerstand weiter, insofern seine

    Aktivitt noch von Verbindungen mit den Exil-Leitungen abhngigwar. Der Kriegsbeginn und die Invasion der SU wurden von gre-ren Verhaftungswellen begleitet. Ideologie, Strategie und Taktikdes ZK waren gegenber solchen Faktoren von geringer Bedeutung,und wenn auch mehrere festorganisierte Widerstandsgruppen in denJahren 193741 zeitweilig existierten, so waren sie weder so stark

    noch so aktiv wie die frheren oder die im 3. Kriegsjahr neugegrn-deten Gruppen. Es relativiert keineswegs die enorme politische, or-ganisatorische und propagandistische Leistung dieser kommunisti-schen Gruppen um Bstlein, Abshagen und Jacob in Hamburg,

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    um Poser und Neubauer in Thringen, und vor allem um Saefkow,Uhrig und Sieg in Berlin , da die Grndlichkeit der Gestapo ab1942 wahrscheinlich etwas nachlie. Die Leiter dieser Gruppen warenzwar in Fragen der Widerstandstechnik sehr erfahren, fast alle hat-ten mehrere Jahre im KZ verbracht, aber ihre groen Erfolge beruh-

    ten teilweise darauf, da der-Unterdrckungsapparat zur Terrori-sierung eines weit greren Gebiets in einer Zeit verdnnt werdenmute, als die Kriegseinwirkungen eine immer tiefer werdende Un-ordnung in Deutschland selbst verursachten. Die Wende im Kriegselbst lieferte einen entscheidenden neuen Ansporn zum Widerstand,und der gemeinsame Nenner der politisch und gesellschaftlich sehrverschiedenen Gruppen und Personen, die in den letzten Kriegs jh-ren mit kommunistischen Organisationen zusammenarbeiteten, warwohl eher der Ha gegen das nicht mehr unbesiegbar erscheinendeNS-System als eine positive Zustimmung zur Programmatik der

    KPD.Es bleibt noch die heikle Frage nach dem Verhltnis zwischen Emi-granten und Widerstandskmpfern, nach der Sphre, in der sich diegrten Unterschiede zwischen SPD und KPD herausstellten. Zumin-dest auf rhetorischer Ebene hat das ZK der KPD niemals den Stand-punkt aufgegeben, der Volkswiderstand knne mageblich zum Sturzder NS-Herrschaft beitragen; es versuchte dementsprechend fortwh-rend den illegalen Kampf zu gestalten, Organisationsform, Ideologieund Taktik im Sinne der grtmglichen Aktivitt zu beeinflussen.Die Haltung der Exil-Leitung der SPD war anfangs nicht anders,

    doch machten sich bald Zweifel ber die Ratsamkeit einer tatkrf-tigen Frderung des Widerstands geltend: 1935 hatte sich das NS-Regime offensichtlich gefestigt, und die groen Opfer der Parteimitglie-der schienen in keinem Verhltnis zur geringen politischen Wirkungder Widerstandsaktionen zu stehen. Als Folge ging die SPD in denletzten Jahren vor Kriegsbeginn zu einer Politik ber, die das Schwer-gewicht auf die Sammlung von Informationen im Inland legte. Einweitverzweigtes und zuverlssiges Informationsnetz wurde bis in dasJahr 1939 aufrechterhalten, auf Grund dessen die sog. Grnen Be-richte" monatlich verffentlicht wurden; diese trugen wesentlich

    zur Aufklrung der ffentlichen Meinung im Westen ber denCharakter des NS bei; sie sind in diesem Band leider nicht erwhnt.Fr die Erhaltung der sozialdemokratischen Tradition im Inlandkonnte sich die Exil-Leitung z. T. auf den p r - p o l i t i s c h e nCharakter der lokalen Kader sowohl der Partei wie auch der FreienGewerkschaften verlassen. Die meisten kleinen Funktionre und Be-triebsrte waren ltere Mnner und kannten einander aus jahr-zehntelangem politischem und gesellschaftlichem Kampf zu gut, alsda ihre Geschlossenheit als Gruppe und ihre Solidaritt mit der

    Arbeiterbewegung durch den NS zu erschttern gewesen wren. Die

    Stammtischgruppe dieser Leute, die regelmig zur Diskussion derpolitischen Entwicklungen zusammentraf ( manchmal auch beieinem Mitglied zu Hause), taucht sehr hufig in den Gestapo-Berich-ten der spten 30er Jahre auf; solche Gruppen wurden beobachtet,

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    gaben aber der Gestapo selten einen Vorwand zu ihrer Verhaftung.Die KPD, 1933 erst vor 13 Jahren begrndet und auch im Durch-schnittsalter ihrer Mitglieder eine viel jngere Partei, hatte wohl kei-nen so festen sozialen Rckhalt jenseits der eigentlichen Parteiorga-nisationen. Schon deswegen ist die strkere Betonung des Organi-

    satorischen und der aktiven Massenarbeit durch das ZK der KPD193335 verstndlich. Aber es mu andererseits gefragt werden, obdas ZK in seinem dreijhrigen Beharren auf dieser Taktik die In-teressen der Widerstandskmpfer gengend bercksichtigt und dieder Partei richtig verstanden hat die Opfer waren sehr zahlreichund die vom ZK beschlossene Wende, die ab Ende 1935 die Aufl-sung der greren Organisationseinheiten, eine Verlagerung derWiderstandsarbeit von den Nachbarschaften in die Betriebe ( diebessere Deckung boten) und eine Diversifikation der Kampfmetho-den erwirken sollte, kam wohl zu spt. Der Umbau war zeitraubend,

    und bevor er durchgefhrt werden konnte, sa ein Groteil der er-fahrenen Illegalen im Gefngnis oder im KZ.

    Die neuere Geschichte kennt kaum eine politisch-ethisch schwieri-gere Situation als die des emigrierten Funktionrs, der 193435wissen konnte, da jedes Paket illegaler Druckschriften, das er demKurier zur Verteilung in Deutschland berreichte, die doppelteMglichkeit in sich barg, passiv gewordene, frhere Genossen zumWiderstand anzuspornen u n d zahlreiche entschlossene Widerstands-kmpfer der Folter der Gestapo auszuliefern. Sollte und konnte manden Eifer des Entschlossenen dmpfen, und mit welcher Begrn-

    dung? Was stand den Neu-Aktivierten bevor? Was konnten sie er-reichen?

    Konnte man 1936 die ans Inland gerichteten Aufforderungen zumWiderstand sich selbst gegenber noch auf Grund der politischenWirkung der illegalen Gruppen rechtfertigen? Die Verf. dieses Bandssind von solchen unproduktiven Zweifeln freigeblieben, und dieDarstellung der Jahre 193336 dreht sich um die strategische Aus-einandersetzung innerhalb des ZK, was auf eine gewisse Indiffe-renz gegenber den leidtragenden Illegalen deutet. Obwohl einigeMitglieder des ZK, insbes. Pieck und Ulbricht, in den Anfangsjahren

    sehr bemht waren, in engem Kontakt mit mglichst vielen illegalenGruppen zu bleiben, scheinen die Fragen auch damals keine allzugroe Rolle gespielt zu haben: Anfang 1939 wute das ZK keineandere Reaktion auf die Z