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Prof. Dr. Michael Krüger
Impulsvortrag bei der DOSB-Konferenz Sportentwicklung in Berlin am 11. September 2014
Thema der Tagung: „Mut zur Wertschätzung! Was Vereinssport leistet.“
Tradition verpflichtet – Herausforderungen für den Vereinssport
Im vergangenen Jahr, 2013, beschäftigte sich die DOSB-Konferenz Sportentwicklung mit der Attrakti-
vität der Turn- und Sportvereine und diskutierte Strategien zur Unterstützung der Vereinsarbeit.
Heute soll es darum gehen, was „der Vereinssport leistet“, wie es in der Einladung zu unserer Tagung
lautet, und wie er Wert geschätzt wird.
In den Vorgesprächen mit den verantwortlichen Planern für diese Tagung, insbesondere mit Christian
Siegel und Karin Fehres, wurde die Erwartung deutlich, dass diese Leistungen der Turn- und Sport-
vereine für den einzelnen Menschen, aber auch für Staat und Gesellschaft in ihrer historischen Ent-
wicklung beleuchtet werden sollen, und dies durchaus auch in kritischer Perspektive.1
Dieser Erwartung komme ich gerne nach. Es wird im Folgenden darum gehen, vor dem Hintergrund
der Geschichte von Gymnastik, Turnen, Spiel und Sport in Vereinen und Verbänden in Deutschland zu
verdeutlichen, dass und wie sich einerseits Rahmenbedingungen und Selbstverständnis der Turn- und
Sportvereine verändert haben, wie es aber andererseits die Vereine immer wieder geschafft haben,
sich „neu aufzustellen“, also ihre Ziele, Inhalte, Strukturen und Formen, ihr Vereinsleben und ihre
Vereinsangebote auf die Menschen ihrer Zeit abzustimmen.
Geschichte, Struktur und Zukunft der Vereine im Allgemeinen und der Sportvereine im Besonderen
sind ein gründlich beackertes Feld der sozialwissenschaftlichen Forschung. Der DOSB lässt regelmäßig
Sportentwicklungsberichte zur Lage der Sportvereine erarbeiten, die Sie bestimmt alle kennen. Seit
Jahren werden kleinere und größere Tagungen abgehalten, um über Herausforderungen des Vereins-
sports zu diskutieren: Mitgliederentwicklung, demographische Entwicklung, Ehrenamt, in jüngerer
Zeit Auswirkungen der Einführung der Ganztagsschule und der verkürzten Gymnasialzeit, Integration
und Inklusion, Professionalisierung und Kommerzialisierung des Sports, der Spagat von Spitzensport
und Breitensport, Gesundheitssport und Krankenkassen, Sportvereine und Fitnessstudios usw.2
Menschen im Sport 2000
Vor 27 Jahren veranstaltete der DSB hier in Berlin einen großen Kongress über Probleme und Zukunft
des Sports im Verein. „Menschen im Sport 2000“ lautete der Titel dieser Weg weisenden Veranstal-
1 Siehe im Folgenden auch Michael Krüger, “The history of German sports clubs between integration and emi-
gration,” The International Journal of the History of Sport, 2013, doi:10.1080/09523367.2013.822862. 2 Christoph Breuer, ed., Sportentwicklungsbericht 2011/2012: Analyse zur Situation der Sportvereine in Deutsch-
land, 1st ed., Wissenschaftliche Berichte und Materialien des Bundesinstituts für Sportwissenschaft 2013 (Köln: Sportverlag Strauß, 2013).
2
tung im Berliner Kongresszentrum.3 Vieles, was damals referiert und diskutiert wurde, ist tatsächlich
eingetreten. Diese Zukunft ist längst Wirklichkeit geworden, obwohl die nur knapp zwei Jahre später
erfolgte, wichtigste Weichenstellung der Zukunft eben nicht vorausgesehen worden war, nämlich die
deutsche Wiedervereinigung. Sie brachte für den Sport im Verein und im Verband große Herausfor-
derungen mit sich. Zwei zumindest auf den ersten Blick völlig konträre Sportsysteme konnten zu-
sammengeführt werden, und dies erstaunlich geräuschlos und erfolgreich. In der DDR hatte es keine
freien, zivilgesellschaftlichen, vom Staat unabhängigen Vereine gegeben wie in der Bundesrepublik.
Sie waren schon früh in der DDR als Relikte der verhassten bürgerlichen Gesellschaft abgeschafft
worden; übrigens auch Arbeiter-Turn- und Sportvereine. Nach der Wende gründeten sich dann sehr
rasch wieder Vereine, auch Sportvereine, allerdings bei weitem nicht in dem Maße und Umfang wie
im Westen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich in der über 40 Jahre vom bürgerlichen Vereinsleben
entwöhnten Bevölkerung der DDR wieder der Sinn und Nutzen von freien Sportvereinen herumge-
sprochen hatte.
Dazu noch eine Randbemerkung: Die Bundesregierung hat aus Anlass des 25 jährigen Bestehens der
deutschen Einheit eine Broschüre herausgegebenen, in der an den Prozess der Wiedervereinigung
erinnert und die „Erfolgsstory Aufbau Ost“ nachgezeichnet wird. Mit keinem Wort werden jedoch die
deutsche Sportvereinigung und der Aufbau eines freien Sportvereinswesens gewürdigt, obwohl sie
wesentlich dazu beigetragen haben, die Idee einer zivilen Bürgergesellschaft in Ostdeutschland zu
implementieren.4
Die Schwierigkeiten beim Aufbau und der Verbreitung von Vereinsstrukturen in den neuen Bundes-
ländern waren und sind mehr als ein Teil des Erbes der DDR. Sie sind darüber hinaus ein Ausdruck der
ständigen Veränderungen in unserer Gesellschaft, mit denen auch Vereine mit 100, 150 und inzwi-
schen sogar zweihundertjährigen Traditionen zurechtkommen müssen.
Interessant finde ich in dem Zusammenhang die Diskussion, wer denn nun in Deutschland der älteste
Sportverein ist. Aktuell streiten sich die Hamburger Turnerschaft von 1816 und der TSV Friedland von
1814 um diesen Titel. Beide gehen auf das alte Jahn‘sche Turnen zurück, ebenso wie im Übrigen der
Mainzer Turnverein von 1817. Der eine konnte sich über fast 200 Jahre lang mehr oder weniger kon-
tinuierlich im Rahmen der freien Hansestadt Hamburg entwickeln, der andere hatte im Osten
Deutschlands deutlich längere und existentiellere Durststrecken hinter sich zu bringen, bis er nach
1990 wieder wie Phoenix aus der Asche als Turn- und Sportverein neu gegründet werden konnte.
Hermann Bausinger, der inzwischen betagte große Kulturwissenschaftler aus Tübingen, der in der
Vergangenheit zahlreiche Vorträge zur Turn- und Sportbewegung in Deutschland vor dem DSB und
dem NOK gehalten hat, beantwortete 1995 auf einer Werkswoche des DSB in Grünberg/ Hessen die
Frage „Sind Vereine überholt?“ mit einem klaren „Nein“.5 Nein, sie sind nicht überholt, weil und so-
lange sie elementare Aufgaben und Funktionen in und für eine freie Gesellschaft erfüllen, für ein
demokratisches und soziales Miteinander, für sinnvoll und friedlich verbrachte Freizeit, für freiwilli-
ges, ehrenamtliches Engagement, für Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen, für kör-
perliche Fitness, Gesundheit und Wohlbefinden von Menschen, unabhängig von Herkunft, Alter und
3 Karlheinz Gieseler et al., eds., Menschen im Sport 2000: Dokumentation des Kongresses "Menschen im Sport
2000"; Berlin, 5.-7. 11. 1987 (Schorndorf: Hofmann, 1988).; Klaus Heinemann, ed., Die Zukunft des Sports: Ma-terialien zum Kongreß 'Menschen im Sport 2000' (Schorndorf: Hofmann, 1986). 4 http://www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/2014/08/2014-08-04-broschuere-deutsche-
einheit.pdf?__blob=publicationFile&v=1 (Zugriff 4/9/2014). 5 Hermann Bausinger, Sportkultur, Sport in der heutigen Zeit. Tübinger Schriften zur Sportwissenschaft 6 (Tü-
bingen: Attempto-Verl., 2006).
3
Geschlecht. Allerdings wird es in letzter Zeit auch immer schwieriger, diesen besonderen Charakter
des Vereins, der ihn eben von anderen Sportanbietern unterscheidet, zu behaupten.
Aktuelle Untersuchungen zur deutschen Zivilgesellschaft bestätigen diesen Befund. 580.000 Vereine
gibt es inzwischen in Deutschland, siebenmal so viel wie vor 50 Jahren, davon mehr als 90.000 Turn-
und Sportvereine. Allerdings stagniert die Zahl der Mitglieder in den Vereinen, bei den mittleren
Jahrgängen ist sie rückläufig. Im Vergleich zu 1960 hat sich die Zahl der eingetragenen Turn- und
Sportvereine verdreifacht. Das heißt aber auch, dass die Wachstumsraten der Turn- und Sportvereine
hinter der Vereinsentwicklung insgesamt zurückbleiben, ebenso wie hinter den Wachstumsraten der
kommerziellen Sport- und Fitnessbranche.6 Dies ist in erster Linie ein Hinweis auf die Diversifizierung
der Möglichkeiten der Freizeitverbringung. Sport im Verein ist eben nur noch eines unter zahlreichen
anderen, ebenfalls attraktiven Angeboten. Die Konkurrenz auf dem Kultur- und Freizeitmarkt ist
groß. Kultur und Sport boomen, aber nicht jeder, der gerne Sport treibt, tut dies im Verein, wie aktu-
elle Studien zeigen.7 Allerdings wären die Vereine alleine auch nicht in der Lage, diese Nachfrage zu
befriedigen.
Zur Geschichte des Vereinssports
Wo liegen die historischen Wurzeln des heutigen, modernen Sportvereins, und welche Früchte hat
dieser Baum getragen?
Das 19. Jahrhundert war das „Jahrhundert der Vereine“, schrieb Thomas Nipperdey in seiner „Deut-
schen Geschichte“.8 Die Turnvereine spielten eine herausgehobene Rolle in der deutschen Vereins-
und Nationalgeschichte.9 Sie tun es im Grunde bis heute, auch wenn für die Turn- und Sportvereine
nicht mehr der nationale Gedanke im Mittelpunkt steht, sondern eher die pragmatische Frage, wie
man am besten und schönsten und auch noch sinnvoll seine Freizeit verbringen kann, welche „Ange-
bote“ den Menschen gemacht werden können, um dies zu tun; und nicht zuletzt auch die Frage, ob
es sich lohnt und Sinn macht, sich in einem solchen Verein ehrenamtlich zu engagieren.
Von Freizeit war zu Beginn des 19. Jahrhunderts allerdings nicht die Rede, sondern von Freiheit. Und
an „Angeboten“ bzw. Möglichkeiten für die „Freizeitverbringung“ (so Hermann Lübbe, der 1987 in
Berlin über diese Frage den Hauptvortrag gehalten hatte) dachte schon gar niemand.10 Die Bürger
schlossen sich damals in Vereinen zusammen, um ihre Rechte und Interessen zum Ausdruck zu brin-
gen, um aktiv etwas für sich, also für das Volk zu tun. Deshalb waren die frühen Vereine, insbesonde-
re die Turnvereine in der Zeit der Deutschen Revolution von 1848, in erster Linie politische Vereine.
Denn die öffentliche Artikulation eines bürgerlichen Zwecks, sei es politischer, wirtschaftlicher, kultu-
reller oder eben auch körperkultureller Art, wie das Turnen, war an sich eine politische Demonstrati-
on – weg vom monarchischen Obrigkeitsstaat bin zum liberalen und schließlich auch sozialen und wie
6 Nach einer aktuellen Studie des Fitnessstudioverbandes waren 2013 8,1 Millionen Menschen als Mitglied in
einem Fitnessstudio gemeldet. 2008 waren es noch 6,1 Millionen. Bundesweit wurden 2013 7940 Fitnessanla-gen gezählt. http://www.finanzen.net/nachricht/aktien/Deutsche-Fitnessbranche-auf-Wachstumskurs-Deloitte-DSSV-DHfPG-Studie-quot-Jeder-zehnte-Deutsche-ist-in-einem-Fitnessstudio-angemeldet-quot-3376307 7 Sportivity. Die Zukunft des Sports. Hrsg. vom Zukunftsinstitut GmbH.
8 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 - 1866: Bürgerwelt und starker Staat, 6th ed. (München: Beck,
1993)., S. 267. 9 Michael Krüger, Körperkultur und Nationsbildung: Die Geschichte des Turnens in der Reichsgründungsära; eine
Detailstudie über die Deutschen, Reihe Sportwissenschaft 24 (Schorndorf: Hofmann, 1996). 10
Hermann Lübbe, “Menschen im Sport 2000: Rahmenbedingungen für die künftige Entwicklung des Sports,” in Gieseler; Grupe; Heinemann; Becker, Menschen im Sport 2000 (see note 3).
4
heute demokratisch verfassten Rechtsstaat. Demokratische Partizipation von Bürgern am bzw. im
Gemeinwesen war keine Selbstverständlichkeit, sondern wurde erst in einem langwierigen, mühsa-
men Kampf um bürgerliche Rechte und Freiheiten erkämpft. Dafür waren die Menschen auch bereit,
bürgerliche Pflichten, Verantwortung und soziale Aufgaben zu übernehmen. Dies ist für demokrati-
sche und freiheitliche Gemeinwesen von grundlegender Bedeutung.11
Die Turner des 19. Jahrhunderts verstanden diesen Kampf für die Freiheit und für das Vaterland
durchaus wörtlich, wie Sie hier an diesem Bild sehen, auf dem die ersten frei gewählten Abgeordne-
ten in Deutschland in die Paulskirche einziehen, und die Turner Spalier stehen. Einige politische Füh-
rer der 1848er Bewegung waren nämlich der Auffassung, dass die Turnvereine die ideale Organisati-
onsform für eine Bürgerwehr darstellen würden, oder auf die heutige Begrifflichkeit übertragen, die
Turnvereine sollten den militärischen Arm der frei gewählten Nationalversammlung verkörpern. Vie-
le Turner und Turnführer waren von dieser Idee so nachhaltig begeistert, dass sie sich nach ihrer
Emigration in die Vereinigten Staaten wieder zusammenschlossen und in eigenen Turnercorps an der
Seite Abraham Lincolns im amerikanischen Bürgerkrieg für die Freiheit aller Bürger in den USA
kämpften, auch für die der Sklaven. Deutsche Turner bildeten einen Teil der Leibgarde Abraham
Lincolns, der body guards of honor, allerdings mit wenig Erfolg, wie sich herausstellte.12
Die Turnvereinsbewegung des 19. Jahrhunderts war politisch motiviert. Diese Tatsache sollten wir im
Gedächtnis behalten, wenn wir auf die heutigen Sportvereine blicken. Die Vorstellung, dass man ein-
fach so turnen oder spielen könne oder solle, praktisch als Selbstzweck und weil es Spaß macht, war
den Turnern des 19. Jahrhunderts fremd. Sie erfüllten eine politische Mission für Freiheit und Einheit,
für Volk und Vaterland. Als dieses Ziel der Einheit der Nation mit der Reichsgründung 1870/71 zu-
mindest politisch formal erreicht war, verankerte die Deutsche Turnerschaft in ihrer Satzung das
Prinzip der politischen Neutralität der deutschen Turnvereine. Politische Urteile seien Angelegenhei-
ten jedes Einzelnen, hieß es nun, und das Turnen im Verein trüge dazu bei, dass jeder einzelne befä-
higt werde, sich sein eigenes Urteil zu bilden; ähnlich wie bei der Hilfestellung: ihr Ziel besteht darin,
überflüssig zu werden. Nicht Hilfe und Abhängigkeit ist das Ziel des Turnens im Verein, sondern Frei-
heit, Selbständigkeit und Unabhängigkeit im Äußeren wie im Inneren. Die organisierten Turnvereine
sahen nun ihre Hauptaufgabe darin, die (national-)kulturelle Bildung und Erziehung des Einzelnen
und der deutschen Nation als Ganzes zu vollenden; d.h., gemeinschaftsbildend zu wirken, sich für das
Volk, für die „normalen“ Leute in Stadt und Land einzusetzen, dem „Vaterland“, ein Begriff, der da-
mals ausschließlich positiv besetzt war, zu dienen; was manche Turner schließlich bis zur Selbstver-
leugnung auch getan haben, als nämlich die Politik des Reichs gar nicht mehr den Interessen des
Volks entsprach, für das sie standen. Sie hatten sich vom Glanz der Einheit und der Prosperität des
Deutschen Kaiserreichs auch blenden lassen und ihr ursprüngliches Ziel der Freiheit des Einzelnen
und des Volkes aus den Augen verloren.
Politische Neutralität und gemeinschaftsbildende, nützliche Aufgaben für Staat und Gesellschaft zu
leisten, ist im Grunde bis heute der Anspruch des in Vereinen und Verbänden organisierten Sports in
Deutschland geblieben. Sie sind politisch neutral, und sie erfüllen wichtige Aufgaben und Funktionen
für Staat und Gesellschaft, wie die Bundesregierung unabhängig von ihrer parteipolitischen Zusam-
mensetzung dem organisierten Sport in jedem ihrer regelmäßig erscheinenden Sportberichte be-
scheinigt.
11
200 Jahre Turnbewegung - 200 Jahre soziale Verantwortung (Frankfurt: DTB, 2011); Richard Schaffer-Hartmann, ed., 150 Jahre Revolution und Turnbewegung Hanau: 1848 - 1998, 1st ed., Stadtzeit Reise durch Hanaus Geschichte (Hanau: Hanauer Anzeiger Dr. und Verl, 1998). 12
A. Hofmann and Michael Krüger, eds., Südwestdeutsche Turner in der Emigration. (Schorndorf: Hofmann, 2004); Annette R. Hofmann, “Aufstieg und Niedergang des deutschen Turnens in den USA” (Univ, 2001).
5
Politische Neutralität als Voraussetzung für die kulturelle Entwicklung von Turnen und Sport im Verein
Die sportliche und sportpolitische Wirklichkeit war und ist etwas komplizierter. Dennoch sollten wir
festhalten, dass erst dieser Paradigmenwechsel vom politischen Turnen zum politisch neutralen
Sport den Aufschwung von Turnen und Sport im Verein zu einer Massenbewegung in Deutschland
ermöglichte. Befreit von politischem und ideologischem Ballast konnten sich die Vereine nun ihrer
gesellschaftlichen Aufgabe und Rolle widmen, die Interessen und Bedürfnisse der gesamten Bevölke-
rung nach Bewegung, Gymnastik, Turnen, Spiel und Sport zu befriedigen und gegenüber Politik und
Gesellschaft zu vertreten. Turn- und Sportvereine wurden zur entscheidenden Lobby für Körperkultur
und Sport in Deutschland. Ohne sie hätte es keinen oder zumindest nicht so früh flächendeckenden
Schulsport und Sportunterricht gegeben. Sie waren und sind Anwälte des Rechts auf Bewegung, Spiel
und Sport für Kinder und Jugendliche in Schule und Verein. Sie sind auch sozialer Kitt für die Gesell-
schaft, indem sie Menschen über Spiel und Sport zusammenführen und integrieren.
Die Vereine konnten sich nun auch für neue Zielgruppen öffnen, insbesondere für Mädchen und
Frauen; denn nun mussten ja nicht mehr nur junge Männer für den Kampf fürs Vaterland gestählt
werden. Auch Mädchen und Frauen konnten nun die zahlreichen Möglichkeiten von Gymnastik, Tur-
nen, Spiel und Sport entdecken; für sich, für ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden und vor allem für
Freude und Geselligkeit mit anderen. Natürlich wurde mit dem Blick auf Mädchen und Frauen immer
wieder das Argument bemüht, dass „Starke nur von Starken geboren würden“, aber ich glaube nicht,
dass sich die Mädchen vor hundert und mehr Jahren davon beeindrucken ließen, sondern sie hatten
einfach Spaß am Turnen, Spielen und Sporttreiben.
Der Soziologe Norbert Elias bezeichnete diesen Prozess der Integration und Partizipation immer wei-
terer Bevölkerungskreise als funktionale Demokratisierung – auch und vor allem mit Blick auf Spiel
und Sport.13 Indem sich immer mehr Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlichen Alters
und beiderlei Geschlechts am Sport beteiligen, in neuerer Zeit natürlich auch Menschen mit unter-
schiedlicher Zuwanderungs- oder Migrationsgeschichte, nehmen sie auch Einfluss auf Inhalte, For-
men und Qualität von Turnen und Sport im Verein. Der Prozess der funktionalen Demokratisierung
wird insbesondere durch die direkte Mitbestimmung im Verein auf der Grundlage ihrer demokrati-
schen Satzungen gefördert; eine Errungenschaft, die auf die 1848er-Zeit zurückging, als die demokra-
tische Ordnung und Willensbildung der Vereine eine grundlegende Forderung darstellten.
Funktionale Demokratisierung und demokratische Willensbildung sind sowohl Teil der Entwicklung
moderner Zivilgesellschaften als auch ein Grund für deren Dynamik. Durch sie kann erklärt werden,
wie es möglich war, dass sich die Vereine der Deutschen Turnerschaft von vormärzlichen, eher poli-
tisch motivierten Männerbünden zu Turn- und Gymnastikvereinen von und für Mädchen und Frauen
wandeln konnten. Der Deutsche Turner-Bund ist heute, soweit ich es überblicken kann, der größte
Frauensportverband der Welt. Rund 70% der fünf Millionen Mitglieder im DTB sind Mädchen und
Frauen.
Brüche in der Vereinsentwicklung
Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass dieser Prozess der funktionalen Demokratisierung,
Integration und Partizipation im und durch Gymnastik, Turnen, Spiel und Sport im Verein nicht ohne
zum Teil erhebliche Brüche verlief. Die Deutsche Turnerschaft als Sprachrohr der bürgerlichen Turn-
vereine tat sich sehr schwer mit ihrem selbst auferlegten Prinzip der weltanschaulichen und politi-
schen Neutralität. In Wahrheit repräsentierte sie in der Kaiserzeit und zur Zeit der Weimarer Republik
13
Norbert Elias, Was ist Soziologie?, 11th ed., Grundfragen der Soziologie (Weinheim: Juventa-Verl, 2009).
6
den körperkulturellen Zweig des nationalliberalen und nationalkonservativen Flügels des Bürger-
tums, obwohl die meisten Mitglieder in den Turnvereinen eher der Arbeiterklasse und kleinbürgerli-
chen Schichten angehörten.
Die Arbeiter-Turn- und Sportvereine hatten ebenfalls Mühe, sich auf ihr körperkulturelles Kernge-
schäft zu konzentrieren. Sie hatten gegen Widerstände der Parteipolitiker der Linken zu kämpfen, die
fürchteten, die Arbeiter könnten durch Turnen und Sport vom Glauben an den Sozialismus und die
Weltrevolution abgelenkt werden. Gleichwohl geht eine Tugend, die den deutschen Vereinssport
insgesamt groß und stark gemacht hat, auf die Arbeiter-Kultur- und Sportbewegung zurück. Es han-
delt sich um den Grundsatz der Solidarität, also das Einstehen füreinander und die Unterstützung der
Schwächeren durch die Stärkeren. Die kirchlichen Sportvereine der DJK und des Eichenkreuz im CVJM
sowie der jüdischen Turn- und Sportvereine brachten wiederum ihre religiösen und ethischen Werte
in das Turn- und Sportvereinswesen ein. Sie schwankten jedoch in ihrer Identität als Sportvereine
einerseits und als konfessionelle Jungmännerorganisationen andererseits.14
Die Sportvereine selbst, die sich von der Turnerschaft abgrenzten und den Ideen des bürgerlich-
elitären englischen Gentlemansports folgten, haderten mit ihrem Image als Verfechter eines neuen,
sportiven Internationalismus. Ihre Repräsentanten ließen zumindest nach außen keinen Zweifel auf-
kommen, dass sie dem Nationalismus der Turnerschaft in nichts nachstünden. Carl Diem und andere
Verfechter des Sports in Deutschland waren deshalb beides: Nationalisten in und für Deutschland
und Internationalisten im olympischen Geist. Sie beanspruchten sogar die wahre nationale Gesin-
nung, weil sie bereit waren, die deutsche Ehre auf der olympischen Kampfbahn zu verteidigen, wäh-
rend sich die Turner davor drückten.
Freiheit, Autonomie und Solidarität
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als ein Neuanfang im Vereins- und Verbandsleben gewagt wurde,
konnten dieses Dilemmata gelöst werden. Nun wurden die Weichen, auch mit Hilfe der Alliierten
Besatzungsoffiziere, wieder in Bahnen gelenkt, von denen viele während der NS-Zeit (und einige
schon davor) abgekommen waren, nämlich einerseits in Richtung Freiheit und Unabhängigkeit vom
Staat, und andererseits in Richtung internationale, olympische Sportbewegung. Das erste galt aller-
dings nur für die westlichen Besatzungszonen. Der Deutsche Sportbund, so hieß es 1950 in der Sat-
zung, die in Hannover verabschiedet wurde, ist eine „freie Gemeinschaft der deutschen Sportver-
bände und Sportinstitutionen“ und habe den Zweck, die „großen Aufgaben des deutschen Sports“ zu
fördern. Und diese Aufgaben bestanden in der Pflege von Gymnastik, Turnen, Spiel und Sport in Ver-
einen, in der Durchführung von Wettkämpfen und Organisation von Ligen und Sportfesten. „Der DSB
anerkennt und fordert den Grundsatz der Freiheit und Freiwilligkeit in Sportausübung und Sportge-
meinschaft. Organisationszwang wird abgelehnt“, hieß es in §3 der Satzung, in dem die Grundsätze
der Tätigkeit des DSB beschrieben wurden.15
Über das zweite Ziel bestand ebenfalls große Einigkeit, nämlich wieder in die internationale, olympi-
sche Sportfamilie aufgenommen zu werden. Auch diese Aufgabe leisteten die Vereine. Nach der Sat-
zung des Internationalen Olympischen Komitees sind Freiheit und Unabhängigkeit der Sportorganisa-
tionen vom Staat sogar Voraussetzungen für die Aufnahme in den Olymp. Für die westdeutschen
14
Michael F. Krüger, “The German Workers' Sport Movement between Socialism, Workers' Culture, Middle-Class Gymnastics and Sport for All,” The International Journal of the History of Sport, 2014, DOI: 10.1080/09523367.2014.882327. 15
Hartmut Becker, ed., Die Gründerjahre des Deutschen Sportbundes: Wege aus der Not zur Einheit (Schorn-dorf: Hofmann, 1990).
7
Sportvereine und -verbände im NOK für Deutschland traf dies auch zu, nicht jedoch für das NOK der
DDR. Im Verständnis der politischen Führer der DDR war der Sport eine Staatsaufgabe. Der Leistungs-
und Spitzensport wurde großzügig vom Staat gefördert, aber um den Preis der Freiheit und Autono-
mie.
Der Deutsche Sportbund in der Bundesrepublik Deutschland war und ist dagegen eine bottom-up
Organisation, wie heute gesagt wird. Er beruht auf der Freiheit, Selbständigkeit, Autonomie und auch
auf der Vielfalt, Leistungsfähigkeit und Kreativität seiner Vereine. Die Dachverbände und auch der
DOSB können den Vereinen nichts vorschreiben. Sie sind in ihren Entscheidungen frei, durch ihre
Zugehörigkeit zu den Verbänden aber auf die gemeinsamen Ziele, Aufgaben und Werte verpflichtet.
Das Verhältnis der Vereine zu ihren Dachorganisationen, den Verbänden, wurde in doppelter Hin-
sicht gelöst: Die Fachverbände sind Ansprechpartner, Koordinatoren und Serviceleister für die Verei-
ne in sportfachlicher, inhaltlicher Hinsicht, sprich bei der Organisation von Wettkämpfen, Ligen und
auch in der Ausbildung von Übungsleitern und Trainern sowie Schieds- und Kampfrichtern. Die Lan-
dessportbünde sind dagegen für die Vertretung überfachlicher, sportpolitischer Fragen zuständig, die
alle Sportvereine und Verbände betreffen. In diesem Verhältnis ist, wie Sie wissen, in den letzten
Jahren einiges durcheinander gekommen. Wie Fachliches und Überfachliches auseinanderzuhalten
ist und wie die Zuständigkeiten verteilt sind, darüber besteht in unserer Sportfamilie keineswegs
Einigkeit.
Die Vereine und Verbände sind darüber hinaus prinzipiell frei von Eingriffen durch den Staat, solange
sie sich an das Vereinsrecht halten. Die seit 1950 bestehende Partnerschaft von Staat und Sport-
selbstverwaltung in Vereinen und Verbänden besagt jedoch, dass sie besonders unterstützt werden,
wenn sie wesentliche Aufgaben und Funktionen für das Gemeinwesen erfüllen.
Herausforderungen des Vereinssports
Diese Charakterisierung des ursprünglichen Idealtypus Sportverein seit den 1950er Jahren trifft je-
doch nicht mehr auf die ganze Wirklichkeit des Sports und der Sportvereine zu. Dafür gibt es zahlrei-
che Beispiele. Ich möchte nur einige nennen, die mir typisch zu sein scheinen. Aus ihnen ergeben sich
auch spezifische Herausforderungen des Vereinssports heute.
In den Gründerjahren des Sports nach 1945 herrschte noch die einhellige Auffassung vor, dass die
Vereine das Fundament einer Leistungspyramide bilden, die an der Spitze Topathleten hervorbringe,
die auch im internationalen, olympischen Wettbewerb bestehen können.
Diese Idee entspricht so nicht mehr der Realität des Leistungs- und Spitzensports – zumindest auf
den ersten Blick, und mit einer bedeutenden Ausnahme: Die Fußballvereine und Fußballabteilungen
in den Vereinen sowie der Deutsche Fußball-Bund haben bewiesen, dass dieses klassische Pyrami-
denmodell des Sports keineswegs überholt ist, sondern sozusagen wieder neu erfunden wurde. Trotz
athletischer und fußballerischer Höchstleistungen im Zeitalter des hochprofessionalisierten und
kommerzialisierten Fußballsports ist es gelungen, die große Leistungspyramide des Sports von den
kleinen Vereinen und Clubs bis zur Weltmeisterelf von Rio sichtbar zu machen. Alle spielen dasselbe
Spiel. Haltung und Inszenierung der deutschen Fußballhelden aus Brasilien brachten glaubhaft ihre
Verwurzelung im Vereinswesen des deutschen Sports und damit im Volk zum Ausdruck; selbst wenn
dieses idealtypische Bild zu großen Teilen auf einer cleveren medialen Inszenierung beruhen mag.
Aus sportpädagogischer Sicht boten dabei die so genannten Einlaufkinder ein besonders überzeu-
gendes Bild, also die Grundschulkinder, die jeweils an der Hand eines Fußballstars ins Stadion geführt
werden (oder umgekehrt). Dieses Bild demonstriert die Zusammengehörigkeit der Großen mit den
8
Kleinen. Dass die Großen auch mal klein angefangen haben, und die Kleinen so groß werden wollen
wie ihre Vorbilder. Der Fußball hat es geschafft, nicht zuletzt auch durch großartige Inszenierungen
mit Hilfe der Medien, zentrale pädagogische Botschaften des Vereinssports zu transportieren: dass es
gemeinsam besser geht als allein, was eine Mannschaft ist, was miteinander und gegeneinander
ausmacht, dass sich Anstrengung und Leistung lohnen, dass man üben muss, um etwas zu können,
was Fairness und Respekt voreinander bedeuten (aber auch das Gegenteil), dass Herkunft, Hautfar-
be, Religion und auch Alter (zumindest bis 36) auf dem Platz keine Rolle spielen, dass sich der
Schiedsrichter auch mal irren kann, dass aber auch Glück und Zufall im Sport und im Leben eine gro-
ße Rolle spielen, oder, wie es Lukas Podolski einmal in seiner unvergleichlichen, fußball-
philosophischen Art gesagt hat, dass „manchmal auch der Bessere gewinnt“.
Das Beispiel Fußball verweist auf eine großartige Leistung des Sports in Vereinen generell: Hundert-
ausende von Kindern und Jugendlichen werden in den Vereinen und Verbänden des Sports nicht nur
gut betreut, sondern sie lernen dabei sehr viel – nicht nur Sport und Fußball spielen. Turn- und
Sportvereine sind die zentralen Orte außerschulischer Bildung und Erziehung, nicht nur für Kinder
und Jugendliche, aber besonders für sie. Sie gehen gerade deshalb so gerne in die Vereine, weil sich
diese von den Formalisierungen und Reglementierungen sonstiger Erziehungseinrichtungen, insbe-
sondere von der Schule, unterscheiden, und weil sie im Verein bzw. in ihren Gruppen und Abteilun-
gen Spannung und Aufregung, Gemeinschaft, Freiheit, Solidarität und Verantwortung leben und er-
fahren können.
Dabei sollten wir nicht verschweigen, dass zwischen den Vereinen und Fachverbänden zum Teil ein
regelrechter Kampf um die immer weniger werdenden Kinder in den Kinder- und Jugendabteilungen
begonnen hat. Konkurrenz ist zwar gut und belebt das Geschäft, aber es wäre sicher für die sportli-
che und körperliche Entwicklung und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen im Verein von Vor-
teil, wenn sich alle Fachverbände auf Konzepte einer gemeinsamen, sportarten-übergreifenden, brei-
tensportlichen Grundlagenausbildung im Kindes- und Jugendalter einigen könnten, um dem anhal-
tenden Trend zu früher sportlicher Spezialisierung entgegenzuwirken. Hier wie auch an anderen Stel-
len, auf die ich noch zu sprechen komme, ist mehr Solidarität zwischen den Fachverbänden und Lan-
dessportbünden im Sinne einer Optimierung der Kinder- und Jugendarbeit im Verein gefragt.
Trennung von Spitzensport und Breitensport
Aber zurück zum eigentlichen Problem, dass sich Spitzensport und Breitensport immer weiter vonei-
nander entfernt haben. In vielen Vereinen gibt es kaum noch Spitzensportabteilungen, und auch die
Anzahl leistungsorientierter Wettkampfsportgruppen nimmt ab. Leistungs- und Spitzensport findet
heute vorwiegend in den Leistungszentren und Olympiastützunkten statt, die letztlich vom Staat
finanziert werden. Den Vereinen ist die Rolle als einer von weiteren Anbietern für Breiten-, Freizeit-,
Gesundheits- und Erholungssport für alle geblieben. Leistungssportliches Kunstturnen, um ein mir
vertrautes Beispiel zu nennen, wird nur noch in einem Bruchteil der Turnvereine und Turnabteilun-
gen, unter 5%, wie es heißt, angeboten, und dies sind deutlich weniger, als es Herzsportgruppen oder
Sport in der Krebsnachsorge-Gruppen in Turnvereinen gibt.
Vereine sind immer noch Orte der Begegnung von Jungen und Alten, aber inzwischen sind nicht zu-
letzt aus plausiblen demographischen Gründen die Senioren auch in den Turn- und Sportvereinen auf
dem Vormarsch, und die mittleren Jahrgänge gehen in die Fitnessstudios. Die Schwerpunktsetzung
auf den Gesundheitssport hat dazu geführt, dass das Vereinsleben heute vielfach weniger von Ju-
gendlichkeit, Aufbruch und Dynamik gekennzeichnet zu sein scheint als von Behäbigkeit und Sorge
um das körperliche Wohlbefinden.
9
Die Trennung von Breitensport, respektive Freizeitsport auf der einen und Spitzensport auf der ande-
ren Seite beruht nicht nur auf der Steigerungslogik des Leistungs- und Wettkampfsports. Ihr liegen
auch sportpolitische Entscheidungen zugrunde. Sie gehen in die späten 1960er Jahre zurück, als sich
die deutschen Athleten diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs auf die olympischen Spiele in
München 1972 vorbereiteten. Der „Kalte Krieg auf der Aschenbahn“, wie das Buch von Uta Andrea
Balbier heißt, war in vollem Gange.16 Sport und Sportpolitik in Ost und West stellten die Weichen für
die zweiten Olympischen Spiele auf deutschem Boden und die ersten im geteilten Deutschland.
Die Staats-, Partei- und Sportführung der DDR vollzog Schritt für Schritt die Trennung von besonders
förderungswürdigen olympischen Sportarten, pragmatisch bezeichnet als „Sport I“, und anderen
Sportarten unter „Sport II“. Mit den Leistungssportbeschlüssen des ZK der DDR von 1969 wurde die-
ser Prozess vorläufig abgeschlossen. Alle verfügbaren Ressourcen flossen von nun an in „Sport I“.
Vereine im bürgerlichen Sinn gab es nicht, und die für den Massen- und Erholungssport zuständigen
Betriebssportgemeinschaften hatten von nun an mit dem olympischen Sport I nichts mehr zu tun.
Ohne staatliche Förderung und private Initiativen siechten sie bis zum Ende der DDR hin, zumal der
Arbeiter- und Bauernstaats nicht in der Lage war, für ausreichende und angemessene Sportstätten zu
sorgen.
1968 in Mexiko war die DDR erstmals mit einer eigenen Mannschaft bei Olympischen Spielen gestar-
tet und hatte sofort die Mannschaft der Bundesrepublik überflügelt. DSB und NOK in Westdeutsch-
land zogen nach, unterstützt von Politikern und staatlicher Sportverwaltung. An den Vereinen als
Basis des westdeutschen Sports und der Sportselbstverwaltung rüttelte zwar prinzipiell niemand.
Aber sie sollten für Olympia in München fit gemacht werden. Der bereits seit 1961 existierende und
beim NOK angesiedelte „Ausschuss zur wissenschaftlichen und methodischen Förderung des Leis-
tungssports“ wurde neu erfunden. Auf der Grundlage der Charta des deutschen Sports von 1966 und
der Beschlüsse des Hauptausschusses des DSB vom April 1967 in Duisburg-Wedau wurde der „Bun-
desausschuß zur Förderung des Leistungssports“ gegründet.17 In ihm sollten alle Maßnahmen zur
Förderung des Leistungssports koordiniert werden, wie Willi Daume vorgeschlagen hatte. „Der hohe
Standard des Weltsports (verlangt, MK) unausweichlich nach einer Zentralisation der fördernden
Maßnahmen“, hieß es in den Beschlüssen des DSB-Hauptausschusses, „um daraus höchstmögliche
Wirkung für die gemeinsame Arbeit an der Entwicklung der Leistung zu erzielen. Das gilt für den ein-
zelnen Verband ebenso wie für dessen Zusammenarbeit mit dem Bundesausschuß zur Förderung des
Leistungssports im DSB.“18
Seitdem gibt es zwei Säulen im deutschen Sport: Breitensport und Leistungssport. Der BAL wurde
zum mächtigsten Gremium im deutschen Sport, denn hier wurden die Zuschüsse des Bundes für den
olympischen Leistungssport verwaltet und an die Verbände verteilt. Für den Leistungs- und Spitzen-
sport gab und gibt es bundesstaatliche Förderung, weil dieser Sport als relevant für die gesamtstaat-
liche, nationale Repräsentation des deutschen Sports angesehen wird, und die Vereine und Verbände
selbst nicht in der Lage sind, Spitzensport international konkurrenzfähig zu organisieren. Die Spitzen-
sportförderung des Bundes wuchs in den 1970er Jahren rasant von eher bescheidenen 10 Millionen
DM auf über 50 Millionen.
Zum Verhältnis von Staat und Sport
16
Uta A. Balbier, Kalter Krieg auf der Aschenbahn: Der deutsch-deutsche Sport 1950 - 1972; eine politische Ge-schichte, Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart (Paderborn: Schöningh, 2007). 17
Franz Lotz, ed., Charta des deutschen Sports: Bundestag 1966 in München, 1. Aufl., 1. - 2. Tsd., Schriftenreihe des Deutschen Sportbundes (Frankfurt/Main, 1968). 18
http://www.schattenblick.de/infopool/sport/fakten/sfges191.html (Zugriff 4/9/2014).
10
Wie viel sich in den vergangenen 50 bis 60 Jahren im Verhältnis von Sport und Staat geändert hat,
wird deutlich, wenn wir daran erinnern, dass Carl Diem, der erste Sportbeauftragte der Bundesre-
publik Deutschland, seine Aufgabe noch im „Nebenamt“ erledigte, praktisch auf der Zugfahrt von der
Sporthochschule in Köln ins Innenministerium nach Bonn. Wie viele Beamte heute in Bundesbehör-
den mit Sportangelegenheiten betraut sind, weiß, glaube ich, keiner so ganz genau. Jedenfalls sind es
sehr viele.
Ebenso deutlich wird die Die Veränderung im Verhältnis von Sport und Staat wird deutlich, wenn
man sich eine Äußerung von Willi Daume in seiner Rede am 17. Oktober 1958 auf dem 4. Bundestag
des DSB vor Augen führt. Es ging damals auch um die Frage der Bundeszuschüsse für den Sport, den
so genannten „Bundessportfonds“. „Was den eigentlichen Bundessportfonds angeht“, sagte Daume,
„so erkläre ich mit dem Mut zur Unpopularität, dass er meines Erachtens nach der dankenswerten
Erhöhung auf 1,8 Millionen jetzt ausreicht, die dringenden Bedürfnisse des Sports und der sportwis-
senschaftlichen Forschung – soweit sie den Bund angehen – sowie des Nationalen Olympischen Ko-
mitees und der Spitzenverbände zu befriedigen.“ (Zitat Ende). Und am Ende seiner Rede wurde
Daume wie gewohnt noch grundsätzlicher: „Wer glaubt, nur auf den Krücken der öffentlichen Hand
vorwärtszukommen“, mahnte er seine Zuhörer aus den Mitgliedsverbänden des DSB, „verlernt bald
das Gehen und verliert so auf die Dauer seine Freiheit und Unabhängigkeit. Freiheit und Unabhängig-
keit müssen dem deutschen Sport mehr wert bleiben als noch so hohe Orden und Titel. Und keine
Summe darf hoch genug sein, sie ihm abzukaufen.“19
Es kam anders, wie wir alle wissen.
Im Endeffekt und trotz gegensätzlicher Vorzeichen erfolgte in Ost und West in sportlicher Hinsicht
derselbe Paradigmenwechsel weg vom Pyramidenmodell des Sports und hin zu einem Säulenmodell
von Breiten-, Freizeit-, Massen- und Erholungssport einerseits und dem Leistungs- und Spitzensport
andererseits. In beiden politisch unterschiedlichen Systemen in Deutschland wurde der Staat zum
Sportförderer Nr. 1. Das Kriterium für die Förderung des Sports mit bundesstaatlichen Mitteln be-
stand in der Bundesrepublik und in der DDR gleichermaßen in der Konkurrenzfähigkeit im internatio-
nalen, olympischen Sport. Aber das trifft im Grunde nicht nur auf Deutschland zu, sondern in Zeiten
des Kalten Krieges und der Ideologie des olympischen Amateursports nahezu weltweit. Da nach den
olympischen Regeln Sport nicht vermarktet werden durfte, blieb nur die massive staatliche Sportför-
derung. Inzwischen hat sich auch das wiederum grundlegend gewandelt. Einige Segmente des Leis-
tungs- und Spitzensports sind zu Produkten der Medien- und Unterhaltungsindustrie geworden, die
sich auch den Regeln dieses Marktes anpassen oder eigene Märkte produzieren. Der Fußball ist das
Paradebeispiel für diese Entwicklung.
Die im Kalten Krieg entwickelte Maxime staatlicher Spitzensportförderung in Ost und West war einer
der Gründe, warum die Neugründung von Sportverbänden in den neuen Bundesländern und die Ver-
einigung des deutschen Spitzensports vor 25 Jahren so rasch und erfolgreich gelangen. Denn in die-
sem Punkt waren sich Sportfunktionäre aus Ost und West schon lange vor der Wiedervereinigung
einig: Spitzensport braucht staatliche Finanzierung. Faktisch haben wir heute eine Zweiteilung des
Sports in Deutschland: Auf der einen Seite einen staatlich finanzierten oder gesponserten Spitzen-
sport und auf der anderen Seite einen privat organisierten Breiten- und Freizeitsport in den Verei-
nen. Natürlich bestehen zahlreiche Verknüpfungen und Beziehungen, aber grundsätzlich kann man
sagen, dass im Bereich des deutschen Spitzensports im Wesentlichen das erfolgreiche Modell Ost
übernommen wurde, und zwar im Prinzip schon seit den 1970er Jahren.
19
Willi Daume, Deutscher Sport 1952 - 1972 (München: ProSport, 1973)., S. 94.
11
Inwiefern hatte jedoch diese sportpolitische Weichenstellung Auswirkungen auf die freien Turn- und
Sportvereine der Bundesrepublik Deutschland?
Wie erwähnt, erfolgte der Aufbau von Sportvereinen in den neuen Bundesländern nach der Wende
mühsamer und schleppender als erhofft. Insgesamt hat sich jedoch das basisdemokratische Modell
des deutschen Turn- und Sportvereinswesens trotz aller Schwierigkeiten behaupten und weiterent-
wickeln können. Die Turn- und Sportvereine sind nach wie vor eine zentrale Stütze der kommunalen
Kultur. In keiner Stadt und noch weniger in den Dörfern kommt die Kommunalpolitik an den Sport-
vereinen vorbei. Wegen ihrer Leistungen für die kommunale Kultur und wegen ihrer positiven Funk-
tionen für außerschulische Bildung und Erziehung, für soziales Miteinander in einer Gemeinde, für
Integration und Inklusion werden Turn- und Sportvereine geschätzt, anerkannt und unterstützt.
In Ost und West haben die Turn- und Sportvereine heute ihren Schwerpunkt im Breiten-, Freizeit-
und Gesundheitssport gefunden und auch behaupten können. Dazu gehören auch Wettkämpfe und
Turniere auf breitensportlichem Niveau, insbesondere auch für Kinder und Jugendliche. Die Verbän-
de rekrutieren nach wie vor ihre leistungssportlichen Talente aus den Kinder- und Jugendsportabtei-
lungen der Vereine. Das Kinderturnen ist ein Markenzeichen des Deutschen Turner-Bundes. Die
Scouts der Fußball-Bundesliga grasen systematisch die E- und F-Jugendturniere der Fußballverbände
ab, um den Nachwuchs für die Bundesliga in ihre Fußballschulen und Leistungszentren zu holen. Ähn-
liches geschieht auch in anderen, kleineren Verbänden, bei den Sportspielern vom Tischtennis bis
zum Handball, den Wintersportarten sowie in zahlreichen weiteren olympischen und nicht-
olympischen Sportarten. Verbände und Landessportbünde bemühen sich mit unterschiedlichem Er-
folg und auf unterschiedlichem Niveau, qualifizierte Übungsleiter- und Trainerausbildungen anzubie-
ten, um die fachliche Arbeit in den Vereinen zu verbessern. Der DOSB unterstützt diese in der Regel
ehrenamtlich geleistete, fachliche Arbeit in den Vereinen und Verbänden nach Kräften, steht dabei
jedoch im Schatten der medial spektakulären spitzensportlichen Ereignisse. Viele Vereine sind in der
Regel so offen und flexibel, dass Trendsportarten aller Art einen Abteilungsstatus bekommen. Skate-
Parks rund um Vereinsturnhallen oder kommunale Sport- und Freizeitparks sind eine Selbstverständ-
lichkeit geworden.
Der Kinder- und Jugendsport mit ein bis zweimal Training in der Woche ist ein Alleinstellungsmerkmal
des Vereinssports geblieben. Gewerblich betriebene Sport- und Fitnessstudios haben diesen „Markt“
noch nicht so richtig entdeckt, obwohl es auch hier in einigen Sportarten Ausnahmen gibt. Trotzdem
gilt: der Kinder-, Jugend- und Familiensport im Verein bietet hohe Qualität zu konkurrenzlos günsti-
gen Preisen. Dies ist nur möglich durch die ehrenamtliche Arbeit in den Vereinen. Der jüngste Sport-
entwicklungsbericht hebt gerade diese Aspekte besonders hervor. Sie stehen besonders für die pä-
dagogische, soziale, körperkulturelle und letztlich zivilgesellschaftliche Qualität des Vereinssports.
Herausforderungen durch Bildungspolitik und Wirtschaft
Wir sollten jedoch die Probleme dieses über 200 Jahre gewachsenen Erfolgsmodells Vereinssport
nicht ignorieren. Einige wurden schon angesprochen, zwei weitere sollen noch hervorgehoben wer-
den. Erstens die Veränderungen im deutschen Bildungswesen und ihre Auswirkungen auf die Turn-
und Sportvereine. Und zweitens die fortschreitende Kommerzialisierung und Professionalisierung des
Markts unterschiedlicher Sport- und Freizeitanbieter.
Ganztag und Vereinssport
12
Zu 1) Es ist unumgänglich, das deutsche Schul- und Bildungswesen immer wieder auf den Prüfstand
zu stellen und zu reformieren. Zwei Reformmaßnahmen der jüngeren Vergangenheit haben jedoch
erhebliche Auswirkungen auf die Vereine und ihr Konzept außerschulischer Bildung und Erziehung.
Dies sind zum einen die Einführung der Ganztagsschule und zum anderen die Verkürzung der Gymna-
sialzeit auf zwölf Jahre. Beides führt in vielen Fällen dazu, dass die immer stärker beanspruchten bzw.
gestressten Schülerinnen und Schüler immer kleinere Zeitfenster in ihren engen Wochenplänen ha-
ben, in denen sie noch regelmäßig ins Training in ihren Verein gehen können. Am Wochenende dür-
fen sie nicht mehr zu Sportwettkämpfen gehen, sondern müssen auf Klassenarbeiten lernen. Dass die
meisten es immer noch schaffen, Schule und Sportverein miteinander zu verbinden, wie die Zahlen
belegen, ist ein Zeichen dafür, dass und wie beliebt der Vereinssport bei Kindern und Jugendlichen
ist. Wer möchte es den Kindern verdenken, wenn sie nach einem anstrengende Schultag, der in der
Ganztagsschule bis mindestens vier oder halb fünf geht, zuzüglich des Schulwegs, keine Power mehr
haben, auch noch ins Training in ihren Verein zu gehen.
Viele Vereine, Verbände und Landessportbünde haben sich aber auch hier wieder als offen und flexi-
bel gezeigt und Modelle entwickelt, den Vereinssport in den Ganztag zu bringen. Aus meiner sport-
pädagogischen Sicht können diese Bemühungen jedoch nur begrenzt erfolgreich sein und weder Sinn
und Zweck des staatlichen Sportunterrichts erfüllen noch die besondere pädagogische Qualität des
Vereinssports nach der Schule bieten.
Sporthistorisch gesehen ist die Situation im Übrigen nicht ganz neu. Die Einführung des Schulturnens
in Preußen im 19. Jahrhundert erfolgte u.a. mit der Absicht, das Vereinsturnen überflüssig zu ma-
chen, weil man die Vereine als Keimzellen des „Umsturzes“ betrachtete, wie sich der preußische In-
nenminister ausdrückte. Das ist nun heute wahrlich nicht mehr zu befürchten, und es ist sicher auch
nicht die Absicht der Bildungsreformer und Bildungspolitiker, dem Vereins-Jugendsport zu schaden.
Aber de facto ist genau dies der Fall. Die über mehr als hundert Jahre gewachsene, erfolgreiche und
pädagogisch nützliche Arbeitsteilung zwischen schulischer und außerschulischer Sport- und Körper-
erziehung wird gefährdet. Die erwähnten Bildungsreformen leisten einer weiteren Verschulung des
Lebens unserer Kinder Vorschub, die keineswegs zu mehr und besserer Bildung führen muss. Im Ge-
genteil werden auf der Grundlage zweifelhafter PISA-Tests die Chancen weniger verschulte Bildung
und Erziehung in Vereinen, im Übrigen nicht nur in Sportvereinen, aufs Spiel gesetzt. Ob dies am En-
de unsere Kinder und die Gesellschaft insgesamt voranbringt, bleibt offen und für mich auf jeden Fall
fraglich. Nachdem bereits der Nachwuchs-Leistungssport zu großen Teilen von den freien Vereinen in
schulische Einrichtungen, Internate, Spezial- und Eliteschulen des Sport sowie die Bundeswehr abge-
zogen wurde, droht nun auch der allgemeine Kinder- und Jugendsport den Weg der Verschulung und
Verstaatlichung zu gehen bzw. gehen zu müssen.
An der Ganztagsschule wird aus bildungs- und familienpolitischen sowie auch wirtschaftlichen und
sozialen Gründen auf Dauer kein Weg vorbeiführen. Deshalb sind Politik und Sportverbände gemein-
sam gefordert, nach konstruktiven Lösungen zu suchen. Ganztagsschule ohne Sport und Bewegung
sind undenkbar und nicht akzeptabel. Weltweit spielt der Sport in Ganztagsschulen eine zentrale
Rolle. Das muss auch in Deutschland so sein, wenn denn die Ganztagsschule flächendeckend einge-
führt wird. Wenn Sport im Ganztag, dann müssen die Vereine von der Schul- und Bildungspolitik mit
ins Boot geholt und in die Lage versetzt werden, ihr Know-How im Kinder- und Jugendsport im
Ganztag zu implementieren.20
20
Michael Krüger and Nils Neuber, eds., Bildung im Sport: Beiträge zu einer zeitgemäßen Bildungsdebatte, 1st ed., Bildung und Sport 1 (Wiesbaden: VS-Verl. für Sozialwiss., 2011)., darin besonders Julian Nida-Rümelin, “Die physische Dimension der Bildung,” in Bildung im Sport: Beiträge zu einer zeitgemäßen Bildungsdebatte, ed.
13
Vereinssport und gewerblicher Sport
Zu 2) Wenn der Vereinssport aufgrund politischer und struktureller Zwänge seine Kinder und Jugend-
lichen an das staatliche Bildungswesen abgeben muss, wird die Unterscheidung zu anderen, gewerb-
lichen Sportanbietern auf dem großen Markt des Breiten-, Freizeit- und Gesundheitssports immer
schwieriger. Der Vereinssport lebt vom Neben- und Miteinander von Jungen, Erwachsenen und Älte-
ren. Viele Eltern engagieren sich deshalb ehrenamtlich in ihrem Verein, weil auch ihre Kinder und
Enkel dort Sport treiben, und weil sie in ihrer Freizeit ihre Kinder und Enkel im Sport begleiten möch-
ten; bei Großeltern gilt dies aber meistens nur dann, wenn sie nicht grade im Urlaub sind. Spaß bei-
seite: Ohne Kinder und Jugendliche verlieren die Vereine einen wesentlichen Teil ihrer gesellschaftli-
chen Legitimation.
Für Erwachsene, die aus Gründen der Fitness, der Gesundheit und Geselligkeit ab und zu Sport be-
treiben, muss es nicht unbedingt der Verein sein, wie die Untersuchungen zeigen. Sport- und Fitness-
studios boomen nach wie vor, geht aus der neuesten Studie des Dachverbandes des Sportstudiover-
bandes hervor. Ihre wesentliche Klientel sind Erwachsene ohne Kinder, also die Gruppe, die nach den
Sportentwicklungsberichten des DOSB im Vereinssport seit Jahren einen kontinuierlichen Rückgang
verzeichnet. Die Unterschiede von privatwirtschaftlich organisierten Clubs zu professionell und z.T.
auch kommerziell geführten Großsportvereinen verschwimmen in diesem Segment immer mehr. Aus
steuerrechtlichen und ökonomischen Gründen stellt sich die Frage, warum die einen als gemeinnüt-
zig steuerlich gefördert werden und die anderen nicht, obwohl sie doch dieselbe Dienstleistung er-
bringen. Auch der ADAC, das war schon fast vergessen, ist ein Verein.
Der Sportverein hat schon längst sein Monopol auf den Freizeit- und Breitensport für Erwachsene
und Ältere verloren. Er konkurriert und kooperiert je nach den Rahmenbedingungen und Örtlichkei-
ten mit gewerblichen Anbietern, aber auch mit sogenannten Drittanbietern, Volkshochschulen, Fami-
lienbildungsstätten, Bildungswerken usw. Viele Sportarten wie Joggen, Radfahren, Skifahren oder
Tischtennis können auch ganz ohne jede Organisation oder gar Mitgliedschaft betrieben werden.
Manche Großsportvereine, die auch im Freiburger Kreis zusammengeschlossen und bewusst nur im
Bereich des Breiten-, Freizeit- und Gesundheitssports tätig sind, stellen inzwischen ihre Mitglied-
schaft in Sportverbänden in Frage. Sie möchten die Mitgliedsbeiträge an die Verbände sparen, um
ihrerseits günstige Vereinsbeiträge für Freizeit- und Gesundheitssportler anbieten zu können. An
Wettkämpfen, die die Verbände organisieren, nehmen ihre Mitglieder ohnehin nicht teil.
An dieser Stelle zeigt sich besonders, dass die im DOSB zusammengeschlossenen Vereine und Ver-
bände von Turnen und Sport vor allem eine Tugend wieder neu entdecken müssen, die den Vereins-
sport in Deutschland groß gemacht hat: Solidarität.
Schlussbemerkungen
Die Entwicklung der Turn- und Sportvereine und ihrer Verbände weist zahlreiche Parallelen zu ande-
ren Non-Profit- oder Dritte-Sektor-Organisationen auf, zu Kultur- und Freizeitvereinen und -
verbänden ohnehin, zu Schützen-, Musik- und Gesangvereinen, aber auch zur Freiwilligen Feuerwehr,
zu Gewerkschaften, Kirchen oder zum schon erwähnten ADAC. Alle Vergleiche hinken zwar, können
aber auch erhellend sein. Ein Beispiel können wir herausgreifen und auf den im DOSB organisierten
Sport beziehen: Die Kirchen. Sie leben wie der Sport vom Engagement der Mitglieder an der Basis der
Michael Krüger and Nils Neuber (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / Springer Fachmedien Wies-baden GmbH Wiesbaden, 2011), 17–34.
14
Gemeinden. Dieses Engagement hängt im Wesentlichen davon ab, ob die Menschen ihren Glauben
und ihre Wertvorstellungen von der Kirche insgesamt, vom Gemeindepfarrer angefangen bis zu den
Bischöfen und anderen hohen Repräsentanten der Kirche richtig vertreten sehen. Viele Menschen
haben sich von den Kirchen abgewendet, weil sie Kindesmissbrauch und Verschwendungssucht in der
Kirche nicht mehr mit ihrer Vorstellung von christlichen Werten vereinbaren können.
Die Turn- und Sportvereine vor Ort stehen vor einem ähnlichen Problem wie viele Gemeinden. Ob-
wohl die Menschen sportbegeistert sind und an den Sport glauben, wollen sie nichts mit den großen
Sportskandalen zu tun haben, mit Doping, Gewalt und Manipulation, auch mit Korruption, Bereiche-
rung und der Machtpolitik von Sportfunktionären großer internationaler Sportverbände. Viele haben
das Gefühl, dass der große Sport nicht mehr ihr Sport ist. Sport wird verkauft, aber nicht mehr glaub-
haft ethisch im Sinne der „einfachen“ Mitglieder in den Vereinen vertreten. Die Dopingskandale im
Sport haben selbstverständlich dazu geführt, dass viele Eltern gegenüber dem Leistungssport ihrer
Kinder sehr skeptisch geworden sind.
Deshalb bleibt es eine großer Herausforderung des in Vereinen und Verbänden organisierten Sports
in Deutschland, freiwillig vereint und solidarisch die Basis der Vereine im Blick zu behalten und nicht
nur den in den Medien glänzenden Spitzensport. Die grundlegenden Werte des Sports im Verein
müssen glaubhaft gelebt werden, von den Athleten angefangen bis zu den Funktionären an der Spit-
ze der Verbände. Der Prozess der funktionalen Demokratisierung des Sports in Vereinen und Ver-
bänden muss vorangetrieben werden, indem die Unterschiede zwischen oben und unten, zwischen
den Größeren und den Kleineren, den Schwächeren und den Stärkeren verringert werden. Um dies
zu schaffen, braucht es weiterhin und verstärkt Solidarität zwischen Vereinen und Verbänden, Solida-
rität auch zwischen den Fachverbänden und zwischen Fachverbänden und Landessportbünden.
Die Sportselbstverwaltung in Deutschland ist in der Gesellschaft verwurzelt und kann auf eine lange
und erfolgreiche Tradition verweisen. Sie lebt von der Vielfalt und Leistungsfähigkeit ihrer Vereine
sowie von der Sportbegeisterung und dem ehrenamtlichen Engagement ihrer Mitglieder. Diese gilt es
zu erhalten und zu fördern.
Empfehlungen
Aus der Geschichte lassen sich bekanntlich keine direkten Lehren für die Zukunft ableiten. Trotzdem
komme ich gerne der Bitte der Veranstalter nach, einige Empfehlungen für die zukünftige Vereinsar-
beit auszusprechen, die sich aus meiner Sicht aus der über 150jährigen Geschichte von Turnen und
Sport in Vereinen und Verbänden ergeben. Ich empfehle das zu stärken, was die Vereine groß und
unverzichtbar für unsere moderne Zivilgesellschaft gemacht hat. Das meiste wurde gesagt und soll
deshalb nur nochmal in Form eines 10-Punkte-Programms zusammengefasst werden:
1) Stärkung des zivilgesellschaftlichen Charakters der Vereine und Verbände: Integration, Parti-
zipation, Demokratie, bürgerschaftliches Engagement (Ehrenamt)
2) Stärkung von Vielfalt und Qualität der Vereinskultur. Dies ist ein Ergebnis von bürgerschaftli-
chem Engagement im Verein.
3) Stärkung ihrer Autonomie. Sie ist Voraussetzung und Ergebnis bürgerschaftlichen Engage-
ments im Verein.
4) Schärfung ihres fachlichen und ethischen Profils. Dies bedeutet auch eine Abgrenzung zu an-
deren Sportanbietern
5) Profilierung der Kinder- und Jugendarbeit in den Vereinen und Verbänden, um die zentrale
Rolle von Bildung und Erziehung in den Vereinen zu verdeutlichen.
15
6) Verständigung auf Verein- und Verband-übergreifende Konzepte einer breiten sportlichen
Grundlagenausbildung für Kinder und Jugendliche (gegen zu frühe Spezialisierung)
7) Engagement im Ganztag
8) Forderungen an die Politik nach konstruktiven Lösungen im Zusammenwirken von schuli-
schen und außerschulischen Bildungsträgern wie den Turn- und Sportvereinen
9) Breite und Spitze im Sport in Vereinen und Verbänden wieder mehr zusammenführen
10) Mehr Solidarität im Verhältnis von Vereinen und Verbänden sowie zwischen den Verbänden.
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Internetquellen:
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http://www.vdf-fitnessverband.de/downloads/kategorie/der-vdf-in-den-medien.html#prettyPhoto
http://de.wikipedia.org/wiki/Deutscher_Sportstudio_Verband
HTTP://WWW.STIFTUNGFUERZUKUNFTSFRAGEN.DE/DE/NEWSLETTER-FORSCHUNG-AKTUELL/254.HTML