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TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Pat zelt Vorlesung: Systemvergleich I: Grundlagen und freiheitliche Systeme Teil A: Aspekte der Funktionslogik politischer Systeme Bachelor - Studiengang : Profilmodul ‚Politische Systeme‘ Kleines Modul ‚Politische Systeme‘ Großes Modul ‚PolitischeSysteme‘

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Vorlesung:

Systemvergleich I:Grundlagen und freiheitliche Systeme

Teil A: Aspekte der Funktionslogik politischer Systeme

Bachelor - Studiengang:• Profilmodul ‚Politische Systeme‘• Kleines Modul ‚Politische Systeme‘• Großes Modul ‚PolitischeSysteme‘

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Gliederung des Gedankengangs

Politische Prozesse verlaufen entlang einer Reihe von für den Fachmann leicht zu erkennenden Grundmechanismen, die man praktisch nutzen kann. Manche von ihnen laufen unter Menschen immer ab, manche andere

nur unter besonderen institutionellen Bedingungen. Mit den ersteren muß man immer rechnen; die anderen kann man –

unter entsprechendem Ressourceneinsatz – schaffen oder deaktivieren.

Wer diese Grundmechanismen kennt sowie weiß, wie sie in einem gegebenen politischen System geschaffen oder deaktiviert werden, kennt die ‚Funktionslogik‘ dieses Systems.

Politik zu betreiben, heißt praktisch: seiner Ziele willen mit solchen Grundmechanismen arbeiten – und zwar möglichst kompetent.

Politische Ordnung zu gestalten, heißt praktisch: wünschenswerte Grundmechanismen implementieren, wenig wünschenswerte Grundmechanismen deaktivieren.

große Praxisnähe – allerdings die des Maschinenbauers, nicht die des Anwenders!

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Politik zu verstehen ...

... gelingt besonders dann,

wenn grundlegende politische Wirkungs-zusammenhänge einem bekannt sind;

wenn man gut versteht, warum sie so wirken;

wenn man ihr Auftreten verläßlich erkennt;und wenn man gegebenenfalls sogar in der

Lage wäre, sie auch selbst zu nutzen.= (Aus-) Bildungsziel

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politisch zentrale Wirkungszusammenhänge

Wirklichkeitskonstruktions-Mechanismus beruht auf dem Zusammenwirken von

Operationswirklichkeit, Medienwirklichkeit, Perzeptionswirklichkeit und Situationsdefinition

vom ‚Thomas-Theorem‘ beschrieben Vorauswirkungs-Mechanismus

(‚Antizipationsmechanismus ‘)zwei politisch besonders wichtige Antizipationsmechanismen: ‚Wiederwahlmechanismus‘ ‚Mehrheitsmechanismus‘

Vielerlei intra- und inter-institutionelle Mechanismen (‚institutionelle Mechanismen‘)

= nutzbar für ‚political engineering‘

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Operationswirklichkeit I

= die Wirklichkeit ‚da draußen‘,

in der man handelt (‚operiert‘)die so-und-nicht-anders beschaffen ist und

funktioniert, und zwar ...ganz gleich, wie man sie sich ...

vorstellt wünscht

„Jene Wirklichkeit, die ‚zurückschlägt‘, wenn man sie falsch

behandelt!“

In ihr stellen sich alle politischen Herausforderungen, und nur in ihr können sie gelöst werden – nicht in eingebildeten Wirklichkeiten!

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Operationswirklichkeit II

wird zu einem gewissem Teil von Menschen bewußt (mit-)gestaltet

besteht auch, wenn kein Beobachter sie sich vorstellt

ist hier und jetzt ganz unabhängig von des Beobachters Ansichten und Wünschen

besitzt eine hier und jetzt allem Handeln in ihr rahmengebende Funktionslogik

... was für viele politisch engagierte Leute nicht leicht zu verdauen oder zu akzeptieren ist: Voluntarismus

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Perzeptionswirklichkeit

ist jene Wirklichkeit, die sich einem Beobachter als so und nicht anders darstellt

ist geprägt durch des Beobachters Perspektivität und Selektivität kann vom Beobachter selbst durch

verändertes Beobachten verändert werden konkretisiert die ‚Welt-Anschauung‘, d.h. die

Ideologie des Beobachtersverändert die Operationswirklichkeit

allenfalls über von ihr angeleitetes Handelnpolitisch bedeutsame Ausprägungen: populäre Vorstellungen und Vorurteile; Ideologie bei politischen Elitegruppen und ihren Unterstützern

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Ideologie ist ...

... für die politische Praxis höchst brisant!

weite Bedeutung: Eine unter den vielen Weisen, die Welt anzuschauen eine perspektivische, selektive Welt-Anschauung

enge Bedeutung: Eine die Operationswirklichkeit für einen gegebenen Zweck falsch wieder-gebende Perzeptionswirklichkeit falsches Bewußtsein, eine falsche Weltanschauung die folglich auch zu Handlungen führt, deren

Folgen sich in der Operationswirklichkeit anders als erwartet auswirken (‚Thomas-Theorem‘)

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= ‚Gesetz‘ von der wirklichkeitskonstruktiven Rolle bloßer Situationsdefinitionen

„Wenn Menschen eine Situation als so-und-nicht-anders-beschaffen definieren

und von dieser Situationsdefinition ausgehend handeln,

dann sind die Folgen dieses Handelns real,ganz gleich, wie irreal die

Situationsdefinition war.“

Das ‚Thomas-Theorem‘

Ideologie, gerade auch

als falsches Bewußtsein

reale

Handlungsfolge

einer irrealen

Ursache

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Beispiel zum ‚Thomas-Theorem‘

Eine Bank ist wirtschaftlich gesund. Dennoch wird in den Medien

berichtet, sie stehe vor dem Bankrott. Viele Einleger glauben den Medien. Sie ziehen darum ihre Einlagen von

der Bank ab. Die Bank kommt in

Liquiditätsprobleme. Jetzt erleben die Einleger, daß die

Bank wirklich Liquiditätsprobleme hat. Auch die Zweifler ziehen nun ihre

Einlagen ab. Die Bank geht in Konkurs.

Operationswirklichkeit

Medienwirklichkeit

Perzeptionswirklichkeit Situationsdefinition

Handeln auf der Grundlageder Situationsdefinition

Operationswirklichkeit Beglaubigung der

zunächst irrealen Situationsdefinition

Handeln auf der Grundlageder Situationsdefinition

Operationswirklichkeit

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FolgerungenPolitisch läßt sich viel erreichen, wenn man

zielgerichtet die Situationsdefinition von solchen Akteuren prägt, deren Handeln man beeinflussen will.

Mittel: Information und DesinformationPropaganda, Zensur, ‚Kommunikationsmanagement‘Etablierung von erwünschten Standards ‚politisch

korrekten Denkens, Deutens und Darstellens‘Symbolische Politik & politische Symbolik in jedem Fall: enges Zusammenwirken mit

Journalisten und ‚Medienpotentaten‘

‚drittes Gesicht‘ der Macht

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Die ‚Antizipationsschleife‘

will etwas Bestimmtes erreichen oder vermeiden

überlegt sich, wie für ihn wichtige Andere auf welche eigene Handlung vermutlich reagieren dürften(‚geplante Aktion‘)

wählt seine Handlung so,daß mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit- das zu Erreichende erreicht- das zu Vermeidende vermieden wird

Erwartungssicherheit

antizipierte Reaktion

durchgeführte Aktion

Reaktionsstabilität

tatsächlich eingetretene Reaktion

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Politikgestaltung über Antizipationsschleifen

Es ist vorteilhaft, von vornherein Anreize für solches Verhalten zu erzeugen, das herbeigeführt werden soll.

Zu diesem Zweck muß Erwartungssicherheit geschaffen werden über ... erhältliche Gratifikationen bei Wohlverhalten eintretende Bestrafungen bei Fehlverhalten.

Das erreicht man am sichersten durch ... Einführung beeindruckender Möglichkeiten, zu belohnen oder zu bestrafen verläßliches Belohnen oder Bestrafen, sobald Anlaß dafür gegeben ist.

Besteht erst einmal Erwartungssicherheit, so müssen Bestrafungen meist gar nicht mehr durchgeführt werden, weil jenes Verhalten, das sie nach ziehen würde, seitens rationaler Akteure von vornherein unterbleibt.

Grundsätzliche Asymmetrie: Erwartungssicherheit hinsichtlich von Bestrafungen braucht meist nur die

Demonstration der Möglichkeit, zu bestrafen. Erwartungssicherheit hinsichtlich von Belohnungen läßt sich nur erhalten

durch tatsächliches Belohnen.

‚Vorauswirkung‘ von Ursachen

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Beispiele für Antizipationsschleifen

Folter: Vorzeigen der Folterwerkzeuge reicht meistens!

MAD: ‚Mutual Assured Destruction‘ als zentrales sicherheitspolitisches Konzept im Kalten Krieg

ABV: unübersehbare Präsenz von Polizisten im Wohnviertel und auf der Straße zur Prävention von Rechtsverstößen

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‚Antizipationsschleifen-Politik‘Wenn ...

die Adressaten einer Handlung wissen, daß diese Handlung eintreten und sicher ganz bestimmte Folgen haben wird

oder wenn ...der Autor einer Handlung weiß, daß die Adressaten

seiner Handlung (darum) ganz sicher auf eine bestimmte Weise reagieren werden

dannreicht es für den Autor der Handlung meist aus, seine

Handlung nur anzudeuten oder zu symbolisieren,aber nur solange wie ...

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Grundproblem bei Politikgestaltung über ‚vermiedene Bestrafung‘

Ausgangslage: Bestimmtes Verhalten unterbleibt, weil die Akteure eine andernfalls

eintretende Bestrafung erwarten. Schlußfolgerungen eines unbedarften Beobachters:

(a) „Da Bestrafungen ja nicht erfolgen, gibt es keinen Grund, jenes Verhalten zu unterlassen!“

(b) „Bestimmtes Verhalten unterbleibt doch; deswegen gibt es keinen Grund, mit Strafen zu drohen und in zum Strafen geeignete Zwangsmittel zu investieren!“

Reale Folgen, falls solche Schlußfolgerungen die Politik zu prägen beginnen: Fall (a): Es wird die Glaubwürdigkeit der Strafandrohung getestet.

Erweist diese sich als unglaubwürdig, bricht ihre gesamte verhaltensprägende Vorauswirkung zusammen.

Fall (b): Bislang unterbliebenes Verhalten breitet sich aus, sobald klar wird, daß es am Willen oder der Fähigkeit am Strafen fehlt!

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Der ‚Wiederwahlmechanismus‘

Er verdankt sein Amt freien Wahlen.

Er möchte so gerne wiedergewählt werden.

Er ist aber abhängig von der freien Entscheidung der Wähler.

Er kann wiedergewählt werden.

Also fühlt er starken Anreiz sein Amt so führen,

daß ihn die Wähler wirklich wiederwählen

wollen.

... hat ein Amt auf Zeit.

Und darum kann er während seiner Amtszeit nicht allzu lange oder allzu weit von dem abweichen, was die Wähler zu akzeptieren bereit sind!

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Der ‚Mehrheitsmechanismus‘

möchte Mehrheit

will solche Mehrheit verhindern

• sucht Schwachpunkte in der Argumentation des Gegner

• appelliert an mehrheits-verhindernde Interessenlagen

• ausnutzbare Schwachpunkte zu vermeiden

• so viele Interessen zu berücksichtigen, wie für eine Mehrheit nötig sind

• führt nachteilige Folgen der Politik des Gegners vor Augen

• Nachteile für möglichstwenige zu verursachen

entscheiden

Lernen(aufgezwungenes)

Vortei

l

antizipiert mehrheitsverhindernde Argumentedes Gegners und versucht darum ...

im Optimalfall: kenntnisreich und kritisch

• weniger Nachteile verursacht• mehr Interessen berücksichtigt

Konflikt

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Institutionelle Mechanismen

sind verläßlich auslösbare und zielgerichtet einsetzbare Handlungsketten, die angeleitet von Interessen entlang von Regeln beruhend auf Positionen und den mit diesen

verbundenen Ressourcen in und zwischen Sozialorganisationen zur

Erreichung von Zielen genutzt werden können, sofern Interessen-, Struktur- und

Verhaltensstabilität für Erwartungssicherheit und verläßlich wirkende Antizipationsschleifen sorgen.

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Wirkungen der Handlungskette

‚Institutioneller Mechanismus‘

PositionRessourcen

RessourcenRessourcen

Macht

Macht

Macht

ausgelöste Handlungskette

- beabsichtigte- unbeabsichtigte

erzeugt durch Organisations-und Institutionenbildung

formal oder informalRegeln

persönlich definiertGrundlage:Erwartungssicherheit (‚Antizipationsschleifen‘)

InteressenverwirklichungZielverwirklichung

Position

Position

Regeln

Interessen

Regeln

Interessen

Interessen

?

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Beispiele für politisch wichtigeinstitutionelle Mechanismen

GegenseitigkeitsmechanismusVerantwortlichkeitsmechanismusGegenzeichnungsmechanismusMannschaftsmechanismusKopplungsmechanismusÜbersteuerungsmechanismusKommissionsmechanismus

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Gegenseitigkeitsmechanismus

Funktion: Sorgt für Geben und Nehmen mit Erwartungssicherheit einer fairen Leistungsbalance

Beispiel: Budgetrecht von Ständevertretungen im dualistischen Fürstenstaat Mechanismus:

Regel: Monarch bekommt gesellschaftliche Ressourcen (Geld, Naturalien, Dienstleistungen, Soldaten) nur gegen Zweckbindung oder gegen die Zusicherung von Gegenleistungen.

Positionen und Ressourcen: Monarch: Hat Vollmacht und Aufgabe zu regieren; kann das aber mit Eigenmitteln nicht leisten. Ständevertreter: Verfügen über jene Ressourcen, die der Monarch benötigt – als Vertreter bzw.

Besitzer reicher Städte, Stifte oder Herrschaften Interessen:

Monarch: Will in der Regel seine – auch: selbstdefinierten! – Aufgaben erfüllen, dafür nötige Ressourcen, doch möglichst wenige Konflikte mit seinen Ständen.

Ständevertreter: Wollen die unverzichtbaren öffentlichen Aufgaben zwar erfüllt sehen, doch den Monarchen nicht übermächtig machen, vielmehr ihre eigene Machtstellung sichern oder ausbauen und im Grunde von den von ihnen kontrollierten Ressourcen möglichst wenig abgeben.

Allgemeine Anwendung: Etablierung von Kontrolle über ressourcenschwache (!) Machtinhaber – wobei Ressourcenschwäche relativ ist

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Verantwortlichkeitsmechanismus

Funktion: Sorgt für Einfluß von Regierten auf Regierende Beispiel: Verantwortlichkeit eines Regierungschefs vor dem Parlament Mechanismus:

Regel: Parlament (möglicherweise auch dessen Minderheit!) darf Regierungschef auch gegen seinen Willen zur Rede stellen, dessen Antworten politisch bewerten und an die Bewertung Konsequenzen knüpfen.

Positionen und Ressourcen: Regierungschef: Kann kritischen Nachfragen nach seinen Handlungen nicht entgehen

und muß darum entweder schwer verteidigbares Handeln unterlassen oder vertuschen, was letzteres mit einem großen Risiko verbunden ist

Parlament: Hat die Möglichkeiten (ggf. als Minderheitenrechte ausgestaltet), den Regierungschef zur öffentlichen Rechenschaftslegung zu zwingen und kann ihn kritisieren, seinen Rücktritt fordern, sein Budget kürzen, seine Gesetzesvorlagen ablehnen oder ihn gar abwählen

Interessen: Regierungschef: Will in der Regel Amt behalten und öffentlich angesehen sein. Parlament: Wünscht entweder gute Arbeit des Regierungschefs oder dessen Sturz.

Allgemeine Anwendung: Etablierung von Kontrolle über Amtsinhaber

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Gegenzeichnungsmechanismus

Funktion: Institutionalisiert Kontrolle (‚Zwei-Schlüssel-System‘) Beispiel: Kontrasignatur in konstitutioneller Monarchie (= ‚Erster Minister

unterzeichnet Rechtsakte des Monarchen und übernimmt die Verantwortung‘) Mechanismus:

Regel: Rechtsakt des Monarchen braucht Gegenzeichnung durch Ersten Minister Positionen und Ressourcen:

Monarch: materielle Herrschaftsbefugnis, symbolische Macht Parlament: Seine Zustimmung für Haushaltsvorlagen ist sowohl nötig als auch aus rein

politischen Motiven verweigerbar Erster Minister: stets suspensives Veto-Recht; dann ein quasi-absolutes Vetorecht, wenn er

sich auf eine Parlamentsmehrheit stützen kann, mit der sich im Wahlkampf anzulegen der Monarch scheut

Interessen: Monarch: Will seine Wünsche von Erstem Minister durchgesetzt sehen, aber Streit mit Ersten

Minister / Parlament vermeiden Erster Minister: Will seine Wünsche vom Monarchen durchgesetzt sehen, aber Streit mit ihm

vermeiden Parlament: Mehrheit will ihre Wünsche durchgesetzt sehen, scheut aber meist Neuwahl

Allgemeine Anwendung: Institutionalisierung eines Veto-Spielers – den man dann seinerseits mit weiteren institutionellen Mechanismen kontrollieren kann

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Mannschaftsmechanismus Funktion: Sorgt für die Bildung stabiler, konkurrenzfähiger politischer

‚Kampfgemeinschaften‘ Beispiel: Fraktionenbildung im parlamentarischen Regierungssystem Mechanismus:

Regel: Parlamentsmehrheit kann Regierungschef abwählen Positionen und Ressourcen:

Parlament: Bei Mehrfraktionenparlament in der Regel parteipolitische Konkurrenz um die Regierungsrolle; also Auseinandertreten von Regierungsmehrheit und Opposition

Regierungschef: Kann sich schadlos mit Opposition anlegen, nur unter großem Risiko aber mit Regierungsmehrheit

Regierungsmehrheit: Kann jederzeit Regierungschef auswechseln Opposition: Kann Ansehen des Regierungschefs zu mindern versuchen und so Druck auf

Regierungsmehrheit ausüben Interessen:

Regierungsmehrheit und Regierungschef: Wollen an Macht bleiben Opposition: Will die politische Stellung des Regierungschefs und seiner Mehrheit

schwächen Allgemeine Anwendung: Sicherung eines Gefolgschaftsverhältnis und von

Mannschaftsdisziplin unter einem als stark geltenden politischen Führer

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Kopplungsmechanismus Funktion: Sorgt für die Verkoppelung ansonsten getrennter Handlungs- und

Verantwortungsketten Beispiel: Selektion von – auch informellen – Parteiführern für

Abgeordnetenmandate Mechanismus:

Regel: Nur der erlangt eine aussichtsreiche Kandidatur, der sich zuvor als Parteiführer durchgesetzt hat. D.h.: Parteiamt und Parlamentsmandat werden faktisch gekoppelt

Positionen und Ressourcen: Abgeordneter-Parteiführer: Hat als Abgeordneter ein freies Mandat, braucht als Parteiführer

aber innerparteiliche Unterstützung Partei / Selektorat: Kann zwar nicht auf den Abgeordneten Einfluß nehmen, sehr wohl aber auf

den Parteiführer Interessen:

Abgeordneter-Parteiführer: Will in der Regel Abgeordneter bleiben und kann darum als Parteiführer nicht die Grenzen der Zustimmungsbereitschaft seiner Partei ignorieren

Partei / Selektorat: Wünscht Einfluß auf das parlamentarische Verhalten des ‚eigenen‘ Abgeordneten – weiß es aber zu schätzen, wenn dieser unpopuläre Entscheidungen in Ausübung seines ‚freien Mandats‘ auf die eigene Kappe nimmt

Allgemeine Anwendung: Etablierung von effektiven principal-agent-Verhältnissen, wo rechtlich Unabhängigkeit besteht; u.a.: Verbindung von Repräsentation mit Demokratie

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Übersteuerungmechanismus Funktion: Sorgt für die starke Führung ‚hinter den Kulissen‘ oder in

Abweichung von formalen Normen Beispiel: Führung des politischen Systems der DDR durch die SED Mechanismus:

Regel: Entscheidungen formal zuständiger Institutionen oder Amtsträger bedürfen der Bestätigung durch einen ‚Hintergrundakteur‘ (‚herrschende Partei‘ oder ‚graue Eminenz‘, ‚Pate‘)

Positionen und Ressourcen: formaler Akteur: entscheidet gemäß formalen Normen Hintergrundakteur: hat jederzeit Veto-Möglichkeit, die ihrerseits durch Antizipation

vorauswirkt Interessen:

formaler Akteur: Will seine Aufgaben erfüllen, ohne sich vom Hintergrundakteur Ärger einzuhandeln

Hintergrundakteur: Will seine Ziele durchsetzen – bisweilen ganz offen, bisweilen ohne erkannt zu werden

Allgemeine Anwendung: Sicherung von erwünschten realen Machtverhältnissen selbst dann, wenn – aus gleich warum ins Gewicht fallenden Gründen – andere Machtverhältnisse simuliert werden sollen / müssen.

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Kommissionsmechanismus Funktion: Sorgt für das Versickern von Verantwortung Beispiel: Berufung einer Expertenkommission, wenn ein politisches Problem

akut wird, aber nicht sofort nach einer Führungsentscheidung verlangt Mechanismus:

Regel: Es ist möglich, Kommissionen zur Vorbereitung von Entscheidungen zu bilden

Positionen und Ressourcen: Einberufender: Legt Personenkreis, Beratungsgegenstand und Zeitrahmen für

Kommission fest Kommissionsmitglieder: Können beraten und die (Zwischen-) Ergebnisse ihrer

Beratungen ggf. an die Öffentlichkeit tragen Interessen:

Einberufender: Kann Handlungserwartungen an ihn verringern, Zeit gewinnen, Versuchsballons starten (lassen) und Politikvorschläge vorlegen lassen, beim Umgang mit welchen ihm eine Reihe von Handlungsoptionen bleibt

Kommissionsmitglieder: Selbstbestätigung, Einflußmöglichkeit, loyales Mannschaftsspiel

Allgemeine Anwendung: ‚Wenn du nicht mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis!‘

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Politisches Systemdesign (‚polity engineering‘)

Besteht ganz wesentlich darin, solche Positionen zu schaffen und Regeln zu setzen, welche aufgrund von erwartbaren Interessen solche Folgen zeitigen, die man im Dienst angestrebter Werte wünscht.

Das heißt: Systembildung = Schaffung wünschenswerter

institutioneller Mechanismen

Ordnungspolitik = Feinsteuerung der Wirkung institutioneller Mechanismen

Nötig: klares Verständnis der ‚Funktionslogik‘ des zu konstruierenden oder umzukonstruierenden politischen Systems

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‚Funktionslogik‘ = die Logik des Funktionierens eines Systems (oder Systemteils)

wird geprägt von …

Antriebsursachen:

‚Was bringt das System zum Ticken?‘

Zweckursachen:

‚Auf welchen Zweck sind die Aktivitäten des Systems ausgerichtet?‘

Materialursachen:

‚Wie prägt die materielle Beschaffenheit des Systems sein Funktionieren?‘

Formursachen:

‚Wie prägt die Form des Systems sein Funktionieren?‘

‚Urs

ach

enfo

rmen

des

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iwirken ‚von oben nach unten‘

wirken ‚von unten nach oben ‘

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Beispiele für Zweckursachen

Ursache eines Hauses ist der Zweck, Schutz vor der Witterung oder vor anderen zu haben.

Ursache der Hörfunknachrichten ist der Zweck, Zuhörer zu informieren.

Ursache von Regierung ist der Zweck, verläßlich wirksame Institutionen mit der Herstellung allgemein verbindlicher Entscheidungen betrauen zu können.

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Beispiele für Antriebsursachen

Ursache eines Hauses sind menschliche Possessivität (= Drang, etwas haben zu wollen) und menschliche ‚Territorialität‘ (= Drang, einen Raum für sich und die Seinen zu haben).

Ursache von (Hörfunk-) Nachrichten ist der menschliche Drang, Dinge zu erzählen und zu hören.

Ursache von Regierung ist, daß immer wieder Menschen gerne Macht über andere ausüben.

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Beispiele für Materialursachen

Ursache, daß ein Haus so und nicht anders beschaffen ist, sind die verfügbaren Materialien: Eskimos bauten Iglus (vorhanden: Schnee, Eis), in der Südsee baute man Häuser aus Holzstangen und großen Blättern.

Ursache dafür, daß (Hörfunk-) Nachrichten typischerweise die Inhalte A-E, nicht aber V-Z haben, sind die wirksamen Nachrichtenfaktoren (z.B. besonderer Berichtswert des Dramatisierbaren, Personalisierbaren und Skandalisierbaren).

Ursache von Regierung ist, daß es in halbwegs komplexen menschlichen Gruppen immer wieder einen Bestand an gemeinsam zu bewältigenden Aufgaben gibt (d.h.: an ‚politischen Materien‘): grundlegende Aufgaben: Sicherheit im Inneren, Schutz nach

außen speziell zugewiesene Aufgaben: Sicherung von persönlicher

Freiheit, von Teilhabemöglichkeiten, gar auch von sozialer Sicherheit (‚Sozialstaat‘)

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Beispiele für Formursachen

Ursache, daß ein Iglu runde Gestalt und eine Kuppelkonstruktion besitzt, ist, daß sich Eis am besten so zu einer selbsttragenden Konstruktion zusammenfügen läßt.

Ursache der sprachlichen Form von Hörfunknachrichten sind journalistische Regeln des Textaufbaus: Wichtiges am Anfang, kurze Sätze usw.

Ursache von (Institutionen einer) Regierung sind bewährte Möglichkeiten, Prozesse der Willensbildung und Entscheidungsfindung genau so auszugestalten, daß sie sogar unter Zeit- und Problemdruck effektiv sind.

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Was sind die ‚Funktionen‘, um deren ‚Logik‘ es geht?

System Suprasystem: Umwelt, Nische

setzt dem Subsystem RahmenbedingunRahmenbedingungengen

erbringt LeistungenLeistungen für das Suprasystem (die Umwelt, die Nische)

Funktion = eine Leistung, die ein (Sub-) System für ein

(Supra-) System erbringtTräger der Leistungserbringung: Strukturen

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‚funktionelle Bürden‘

Eine Struktur, welche eine Funktion erfüllt, trägt eine ‚funktionelle Bürde‘ z.B.: Fundamente eines Hauses tragen die Mauern z.B.: disziplinübende Fraktionen im parlamentarischen Regierungssystem

tragen eine Regierung Üblich sind Schichten von funktionellen Bürden:

z.B.: Fundamente eines Hauses tragen die Mauern, die Mauern tragen das Dach, das Dach trägt im Winter den Schnee

z.B.: disziplinbereite Abgeordnete tragen die Fraktionsführung, die Fraktionsführung die Regierung, die Regierung eine berechenbare Position in einer internationalen Organisation

Folglich wird es fatale Folgen haben, an den tieferen Trägerschichten funktioneller Bürden etwas zu verändern, solange nicht funktionelle Äquivalente zur verläßlichen Erfüllung der bisherigen Trageleistung bereitstehen. z.B. ist es fatal eine stabile Regierung eines Landes zu stürzen, solange nicht

eine alternative stabile Regierung zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung verfügbar oder wenigstens verläßlich in Aussicht ist; siehe Irak!

Achtung: Die funktionserfüllenden Strukturen müssen zu den realen Funktionsanforderungen der Umwelt passen!

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‚memetische Bürden‘ Ein ‚Mem‘ ist ...

ein Informations- oder Sinndeutungsmuster, das weitergegeben werden kann (z.B. eine Aussage darüber, wie Fraktionsdisziplin entsteht oder wie sie zu verstehen ist)

eine Regel, die befolgt werden kann (z.B. eine Geschäftsordnungsregel) eine Handlung, die nachgeahmt werden kann (z.B. ein Führungsstil)

Ein Mem, von dem folgendes abhängt, trägt eine ‚memetische Bürde‘: Plausibilität einer weitergehenden Argumentation oder Interpretation (z.B.: ‚Es ist

gut, daß es Fraktionsdisziplin gibt!‘) Gültigkeit bzw. Überzeugungskraft einer Regel (z.B. wird eine Rechtsverordnung

ungültig, wenn das sie begründende Gesetz außer Kraft tritt) Nachahmungswahrscheinlickeit einer Handlung (z.B. werden Handlungen

charismatischer oder angesehener Politiker eher nachgeahmt als die von für ganz unbegabt gehaltenen Politikern)

Üblich sind Schichten von funktionellen Bürden; siehe oben! Folglich wird es fatale Folgen haben, an ‚tieferliegenden‘Memen etwas zu

verändern, solange nicht funktionelle Äquivalente zur verläßlichen Erfüllung der bisherigen Trageleistung bereitstehen. z.B. ist es fatal, das Verbot von Kinderpornographie aufzuheben, wenn man einen

Markt für Kinderprostitution gerade nicht will; analog: Drogen, Gewalt ...

Hinweis: ‚Meme‘ sind in der kulturellen Evolution die Seitenstücke zu den Genen der biologischen Evolution

‚mem

etis

ch

e

Rep

likatio

n‘

Wichtig neben den funktionellen Bürden:

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Strukturbildung und Meme

Strukturen werden über Prozesse aufgebaut, bei denen die Replikation von Memen eine große Rolle spielt.z.B. Mem ‚Frauen gehören zu Haushalt und

Kindern!‘

Ändern sich Meme, so ändern sich auch Strukturen – vor allem dann, wenn grundlegende Meme verändert werdenz.B. Mem ‚Frauen sollen gleiche Rollen spielen

wie Männer!‘

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funktionelle und memetische Bürden Strukturen erfüllen Funktionen

z.B. Parteien die Funktion politischer Rekrutierung Veränderte Strukturen werden bisherige Funktionen manchmal besser,

häufiger schlechter und bisweilen überhaupt nicht mehr erfüllen. z.B. verächtlich gemachte, wenig attraktive Parteien die Funktion politischer

Rekrutierung Zu genau solchen nicht verläßlich vorhersagbaren Effekten werden also

veränderte Meme führen. z.B. ein gesellschaftlich kultivierter ‚Anti-Parteien-Affekt‘

Es gibt keine Garantie dafür, daß memetisch attraktive Veränderungen zu funktionell besser geeigneten Strukturen führen. z.B. die Schwächung der Stellung von Parteien zur Rekrutierung besseren

politischen Personals Besonders dramatische Konsequenzen können darum Veränderungen an

Trägern solcher memetischer Bürden haben, die zu funktionell stark bebürdeten Strukturen führen. z.B. die Verächtlichmachung von Parteien für das Funktionieren eines von

starken Parteien getragenen politischen Systems

Achtung: ‚memetische Attraktivität‘ ≠ ‚funktionelle Tauglichkeit‘; und somit scheitern viele plausibel anmutende Reformen!

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Damit sollte klar sein,

was man sich unter ‚politischen Grundmechanismen‘ vorstellen sollte;

welches besonders wichtige politische Grundmechanismen sind;

was die ‚Funktionslogik‘ eines Systems ist und wie man das sie konstituierende Zusammenwirken von unterschiedlichen Ursachenformen zu verstehen hat;

Welche Probleme sich aus dem Zusammenwirken von memetischer Attraktivität und funktioneller Tauglichkeit ergeben;

was das alles mit der Konstruktion und Analyse politischer Systeme zu tun hat.

Aber: Woher weiß man das alles?

Aus vergleichenden Studien – weswegen die

Logik und Methodik des Vergleichens unser

nächstes Thema ist!

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Noch Fragen? -

Bitte!

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Ende: Politikgestaltung üpber Antizipationsschleifen