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TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Pat zelt Vorlesung: Systemvergleich I: Grundlagen und freiheitliche Systeme Teil C: ‚Staatlichkeit‘ und ihre Alternativen Bachelor - Studiengang : Profilmodul ‚Politische Systeme‘ Kleines Modul ‚Politische Systeme‘ Großes Modul ‚PolitischeSysteme‘

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Vorlesung:

Systemvergleich I:Grundlagen und freiheitliche Systeme

Teil C: ‚Staatlichkeit‘ und ihre Alternativen

Bachelor - Studiengang:• Profilmodul ‚Politische Systeme‘• Kleines Modul ‚Politische Systeme‘• Großes Modul ‚PolitischeSysteme‘

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Gedankengang

Bekannt sind nunmehr wichtige politische Grundmechanismen. Ihnen liegen zugrunde ...

allgemeine menschliche Verhaltenskompetenzen, wie sie etwa von den Humanethologie untersucht und von der Soziobiologie evolutionstheoretisch verständlich gemacht werden.

nicht im Lauf dieser Lehrveranstaltung zu behandeln. Erwartungssicherheit stiftende Handlungsrahmen, i.d.R. stabile staatliche

Strukturen Gegenstand dieser Lehrveranstaltung.

Somit ergeben sich folgende Fragen: Wie gewiß kann man sich eigentlich dessen sein, daß es stets ‚staatliche‘

Strukturen als als Erwartungssicherheit stiftenden institutionellen Rahmen politischer Grundmechanismen geben wird?

Welche Rolle spielen unter staatlichen Strukturen einesteils jene der freiheitlichen Staaten, andernteils jene von Diktaturen, und in welchen Formen entfalten sie sich aus welchen Gründen?

Die Frage nach den Diktaturen wird in der Vorlesung des Wintersemesters behandelt (Prof. Backes), die Frage nach freiheitlichen politischen Ordnungsformen im besonderen und nach staatlichen Strukturen im allgemeinen in dieser Vorlesung.

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Was ist ein ‚Staat‘?

verläßlich funktionierendes Gefüge von Institutionen, welches die Herstellung und Durchsetzung allgemein verbindlicher Regeln und Entscheidungen (≈ ‚Staatsgewalt‘) übernimmt, und zwar … auf einem mehr oder minder klar umrissenen Gebiet (≈ ‚Staatsgebiet‘) über einen mehr oder minder klar umrissenen Personenkreis, dessen Zusammenleben

durch jene Staatsgewalt geregelt wird (≈ ‚Staatsvolk‘) verläßliches Funktionieren der Staatsgewalt wird in der Regel bewerkstelligt durch

… informale und formale Rechtsnormen Legitimitätsglauben bei einem großen Teil des Staatsvolkes Unterscheidung zwischen akzeptierter Staatsgewalt und nicht akzeptierten derzeitigen

Inhabern der Staatsgewalt ‚Produkt‘ dieses Institutionengefüges: ‚politische Güter‘ / ‚öffentliche Güter‘ –

aufsteigend von denen, derentwillen man Staaten schafft, bis zu jenen, die einen Staat an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit bringen: Sicherheit nach außen und im Inneren; Rechtsstaatlichkeit; persönliche Freiheit und praktizierter Pluralismus; gute sowie nachhaltige Gesundheits-, Bildungs-, Infrastruktur-, Finanz- und

Wirtschaftssysteme; soziale Gerechtigkeit, Demokratie

Alternativen zum Staat im wesentlichen: persönliche Herrschaft, Protektorat, Reich

... mehr als ein ‚politisches System‘!

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persönliche Herrschaft

Herrschaft = Eigenschaft, ganz persönlich – und nicht als Inhaber eines Amtes – Herr über andere zu sein

Begründungsmöglichkeiten / Erscheinungsformen Mann über Frau und Gesinde (vgl. Aristoteles:

Unterscheidung von Oikos und Polis) Vater über Kinder (vgl. Robert Filmer, 1588-1653,

Hauptwerk ‚Partriarcha‘, wo dieses Verhältnis von ‚Gott über die Menschen‘ bis hin zu ‚Monarch über Untertanen‘ ausgearbeitet wird)

Führer über – mehr oder minder freiwillige – Gefolgschaft (z.B. germanisches Heerkönigtum, Lehensbeziehung mit Dialektik von Treue und Huld, ‚Pate‘ über ‚cosa nostra‘ …)

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Protektorat

Begriffvon lat. protégere = beschützen, protéctor = Beschützer; also: ein von einem Beschützer verwaltetes / gesichertes Gebiet

Begründungsmöglichkeiten / Erscheinungsformen ein Gebiet braucht ein Mindestmaß an politischen Gütern,

schafft aber nicht den Aufbau oder Erhalt eines Institutionensystems, das diese zu produzieren in der Lage ist – weswegen ein anderer Träger von Herrschaftsmacht aus eigenem Interesse dafür sorgt

Beispiele: Bosnien-Herzegowina, Kosovo; perspektivisch vielleicht Afghanistan

Form der Annexion anderer Staaten Beispiele: ‚Schutzgebiete‘ wie im

Kolonialismus/Imperialismus; Reichsprotektorat Böhmen und Mähren

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Reich

Begriffshintergrund germanisches Wort ‚Reich‘: von ‚reichen‘ im Sinn einer Ausdehnung von etwas,

hier: des Reichens von Regeln, Zuständen, Verhältnissen romanisches Wort ‚empire‘ (engl. u. franz.): von lat. imperium, d.h.

Befehlsgewalt, Befugnis. Definition

Verständnishilfe: Definiton beim mittelalterlichen Historiker Wipo, nach welchem ein Reich ein politisches Gebilde ist, das mehrere Königreiche umfaßt

Reich = eine politische Organisationsform, welche mehr oder minder lose eine Mehrzahl von gleichwie strukturierten politischen Systemen umfaßt (Staaten ebenso wie persönliche Herrschaften oder Protektorate) und genau so weit ‚reicht‘, wie eine wenigstens symbolisch akzeptierte Herrschaftsbefugnis besteht

d.h.: Ein Reich ist einesteils ‚mehr‘ als ein Staat, insofern es eine höhere Systemebene politischer Integration darstellt, und andernteils ist ein Reich ‚weniger‘ als ein Staat, insofern es weder selbst ein Staat sein muß noch seinerseits Staaten umfassen muß

Erscheinungsformen Reiche der Hethiter, Perser, Römer, Franken, Deutschen, arabischen und

osmanischen Kalifen, Mongolen, Chinesen, Engländer (im Imperialismus) und US-Amerikaner (heute!)

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Historische Tatsachen I ‚Staatlichkeit‘ – und gar erst der moderne Staat! – ist eine Ausnahmeform

politischer Ordnung – mit großen Vorzügen und etlichen Kosten Beispiele: Ägypten, Hethitisches Reich, mesopotamische Reiche, Persien,

griechische Poleis, Karthago, Rom/Byzanz; europäische ‚Staaten‘ seit dem Frankenreich, Rußland; China, Japan; mittelamerikanische Staaten (Maya, Azteken), Inka; Äthiopien, Timbuktu, Benin …; arabische Reiche, osmanisches Reich …

viel häufiger: ausgedehnte herrschaftslose Räume mit instabilen und oft eher clanartigen als fest institutionalisierten machtausübenden Gruppen Beispiele: große Teile des Mittelmeerraums bis zur phönizischen und später

griechischen Kolonisation; Nordeuropa bis zum (Früh-) Mittelalter, Sibirien bis zum russischen Imperialismus; große Teile von Afrika, Amerika und Australien bis zum Kolonialismus/Imperialismus

nicht selten auch: ‚Übergangszustände‘ zwischen ‚autonomen Stammesstrukturen‘ und ‚loser Oberherrschaft einer Hegemonialgewalt‘ Beispiele: Peripherie der antiken Großreiche, große Teile West- und

Mitteleuropas zwischen Völkerwanderung und Frühmittelalter, große Teile Afrikas in den ersten gut zwei Jahrhunderten des Kolonialismus

Ferner gilt: Die meisten Staaten, die es je gab, waren autoritäre Diktaturen. Warum? Siehe Stoffe des Basismoduls ‚Systeme‘!

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Vorzüge von Staatlichkeit

Bannung der Gefahr des Bürgerkriegs, Chancen friedlicher Entwicklung im Inneren.

Effektivierung der Steuerungs- und Gestaltungsmöglichkeiten des Staates: wirksame Fiskalsysteme rationale Verwaltungsstrukturen nachhaltige Infratstruktur Erzeugung eines – ggf. nach

Gerechtigkeitsgesichtspunkten staatlich umzuverteilenden – ‚Mehrprodukts‘.

Klare institutionelle Ansatzpunkte für die Bändigung und Begrenzung von Staatsmacht.

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‚Kosten‘ von Staatlichkeit

politische Kosten: Durchsetzung eines staatlichen Waffen- und Bewaffnetenmonopols, Notwendigkeit der Unterdrückung von Aufständen, Mißlingen ‚guten Regierens‘ mit erheblichen Folgelasten für die Legitimitätslage

soziale Kosten: schwer durchzusetzender oder durchzuhaltender Verzicht auf Sozialstrukturen und Kulturmuster, die sich schlecht mit einem hierarchischen Institutionengefüge vertragen (z.B. stets Nomadentum, oft auch auf Eigenleben bedachte ethnische Vielfalt)

wirtschaftliche Kosten: teuer sind Armeen und Verwaltungen (‚harter Kern‘ von Staatlichkeit), desgleichen jene sozialstaatlichen Leistungsstrukturen, nach deren Umfang heute oft die Legitimität von Staatsgewalt bemessen wird. das heißt: Staatlichkeit ‚funktioniert‘ ohnehin erst ab einem

Mindestmaß an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit! Transaktionskosten sowohl von Verfassungsstaatlichkeit als

auch von Diktatur

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Historische Tatsachen II ‚Moderne Staatlichkeit‘ entstand in Europa seit den Religions- und Bürgerkriegen

des 16./17. Jahrhunderts (‚westfälisches Staatensystem‘) aus mindestens drei Ursachen. Kulturelle Voraussetzungen u.a.: sehr konkretes Nachwirken von römischer Reichsidee und

römischem Recht, Institutionenmodell und Regierungspraxis der römischen Kirche, Verbindung von stabilem Ständewesen mit stabiler Zentralgewalt.

Mit der außergewöhnlichen technischen Entwicklung Europas und dem so möglich gewordenen Kolonialismus / Imperialismus werden die Leitideen und institutionellen Formen europäischer Staatlichkeit über einen Großteil der Erde verbreitet. Achtung: zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren außer v.a. China, Japan, Thailand und

Äthiopien nur sehr wenige Gebiete der Erde nicht unter die (indirekte) Regierungsgewalt europäischer Staaten geraten!

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schaffen Entkolonisierung und kommunistische Revolutionen in den allermeisten Ländern der Erde politische Strukturen, die der europäischen Staatlichkeit nachgebildet sind. Wichtiger Stabilisierungsfaktor: weltweit prägender Ost/West-Konflikt samt ‚Kaltem Krieg‘. In genau dieser Zeit wird das System der modernen internationalen Beziehungen immer

komplexer, dessen Rechtsgrundlagen auf der Annahme beruhen, alle bewohnten Gebiete der Erde gehörten zu für sie verantwortlichen souveränen Staaten.

Seit dem Ende des Ost/West-Konflikts sowie dem Einsetzen von Globalisierung beobachten wir den Wegfall von dessen Stabilisierungsleistung sowie Prozesse, in denen Staatlichkeit zusammenbricht (etwa: Somalia), mühsam von außen stabilisiert wird (z.B. multinationale Protektorate wie auf dem Balkan) oder sich nach Zerstörung von außen kaum mehr wieder errichten läßt (z.B. Afghanistan, Irak).

Faustformel: „Staatlichkeit ist ein europäischer Exportartikel, dessen Import oft mehr Probleme schuf als löste!“

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Ursachen für Entstehung des modernen Staates Realpolitische Erklärung:

Im Grunde ein nicht-beabsichtigter, evolutionärer Prozeß, bei dem die Gewährleistung von (minimaler) Sicherheit durch politische Eliten mit (wachsender) Bereitschaft der Gesellschaft einherging, dafür die Ressourcen aufzubringen – was sich im Lauf der Zeit immer mehr verfeinerte und das Institutionensystem des modernen Staates hervorbrachte.

Liberale Erklärung: Ein auf wechselseitige Einsicht gegründeter ‚kontraktualistischer‘

Prozeß, bei dem politische Eliten und Bürgerschaft übereinkamen, daß die erstgenannten solange Privilegien haben dürften, wie sie sich als als Treuhänder der Bürgerschaft verstünden und für sie Sicherheit und Wohlfahrt gewährleisteten.

Politisch-ökonomische Erklärung: Moderner Staat entsteht als effizienter Mechanismus, der Märkte

möglich macht und Eigentumsrechte sichert und dergestalt jenes Mehrprodukt zu realisieren erlaubt, das die Finanzierung differenzierter staatlicher Institutionen und deren Legitimation über – auch nur ansatzweise – ‚Sozialstaatlichkeit‘ erlaubt.

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Besonderes Problem: ‚Nation & Staat‘

Besonderheit der voll entfalteten europäischen Staatlichkeit des 19. Jahrhunderts: Verbindung von Nation (= Sprößling von ‚Rousseau & Romantik‘) und Staat (= Sprößling des Absolutismus) zum ‚Nationalstaat‘ sowie, in seinem Rahmen, mit Demokratie

Ist schwierig bzw. scheitert sogar schon in Europa: ‚mild‘ in Deutschland: Was tun mit der Donaumonarchie? ‚scharf‘ in Mittel- und Osteuropa nach Erstem Weltkrieg

Problematisch erst recht in Weltgegenden, in welchen das ganze Konzept der ‚Nation‘ keine Wurzeln hat und keinen handlungsleitenden Sinn besitzt, v.a. : in AfrikaDort Anschlußfragen: Kann dort das europäische Nationalstaatsmodell überhaupt sinnvoll sein – oder ist

es an sich schon ein Sprengsatz für ‚Staatlichkeit‘? Welche Form von ‚Nationalismus‘ entsteht, wo der staatliche Rahmen eine ‚Nation‘

voraussetzt, die Bedingungen für das Entstehen von (Staats-) Nationen ‚europäischer‘ Art aber nicht gegeben sind? Und wie fatal ist genau dies dann für einen formal bestehenden ‚National‘-Staat?

Welche institutionellen Formen politischer Repräsentation könnte es für die Vielfalt von ‚nicht-europäischen Nationen‘ geben, die nun einmal bestehen und von einem stabilen, legitimen politischen System vielfachen Nutzen ziehen könnten?

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Nachfolgeprobleme des globalen Siegeszugs ‚europäischer Staatlichkeit‘ Zerstörung der Tradition alternativer politischer Ordnungsformen seit dem

imperialistischen Institutionentransfer und den kommunistischen Revolutionen auf allen vom europäischen Kolonialismus und Imperialismus betroffenen Kontinenten ‚problemlos‘ nur dort, wo lange Zeit auch eine neu und vor allem aus Europa

zugewanderte Bevölkerung dominierte: USA, Kanada, Australien; mit Einschränkungen: Südamerika

Verbindung ‚europäischer‘ Institutionenruinen mit regionalen Traditionen zu wenig lebensfähigen politischen Systemen, v.a. in Afrika

Fehladaptation des internationalen Staatensystems auf die sehr brüchige Voraussetzung gesicherter Staatlichkeit in weiten Teilen der Erde

Umsetzung des Glaubens an den Wert europäischer Staatlichkeit (mit u.a. Gewaltenteilung, weltanschaulichem Pluralismus und Demokratie) in abenteuerliche Programme der Staatenbildung und Demokratisierung, die … ihrerseits den ‚clash of civilizations‘ auslösen (können): arabische Welt, China offenkundig mangels gegebener oder willentlich schaffbarer Voraussetzungen

scheitern: Afghanistan, Irak, viele afrikanische Staaten

Das heißt: ‚scheiternde Staaten‘ sind (auch) Opfer des Scheiterns der europäischen Staatsidee unter Bedingungen, für die sie wenig geeignet ist !

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Einige Einsichten Staatlichkeit entsteht aus dem Zusammentreffen sehr spezieller und

keineswegs allenthalben verfügbarer Vorbedingungen. Staatlichkeit ist darum keine universell verallgemeinerbare politische

Ordnungsform, sondern hat lebensfähige Alternativen. Problem: Wir kennen bislang nur deren traditionelle Formen und wissen

nicht, ob diese auch künftig akzeptabel sind (etwa wegen der Verfügbarkeit von ABC-Waffen und optimalen Bedingungen für international agierenden Terrorismus)

‚Scheitern von Staaten‘ ist darum vielfach keine Abweichung von einem Normalfall, sondern das Ende einer geschichtlichen Ausnahmesituation.

Stimmt das, so … sind bereits die normativen Grundlagen unserer internationalen Ordnung

brüchig kehren als ‚geschichtlich überwunden‘ geglaubte Formen

zwischenstaatlicher Politik wieder als aktuelle Herausforderungen zurück: Bildung einesteils von Protektoraten, andernteils von Reichen langfristige Zusammenarbeit von freiheitlichen Staaten mit Diktaturen ohne

Versuche, dort auf Systemwechsel hinzuwirken Versuche einer Abschottung gegen die nicht beseitigbaren ‚Slums der Weltpolitik‘

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Wie kann man Staaten gliedern?

starke Staaten (‚strong states‘)schwache Staaten (fragile Staaten,

marginale Staaten, ‚weak states‘)gescheiterte Staaten (‚failed states‘)zusammengebrochene Staaten

(‚collapsed states‘)

ordnende Begriffe, weitgehend nach Robert I. Rotberg:

... hier nicht nach ihrer institutionellen Form ( Staatsformenlehre), sondern nach ihrer institutionellen Stabilität !

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starke Staaten

kontrollieren wirkungsvoll ihr Territorium stellen ihren Bürgern die ganze Bandbreite politischer Güter

zur Verfügung:

Sicherheit nach außen und im Inneren; Rechtsstaatlichkeit; persönliche Freiheit und praktizierten Pluralismus; gute sowie nachhaltige Gesundheits-, Bildungs-, Infrastruktur-,

Finanz- und Wirtschaftssysteme; Demokratie, soziale Gerechtigkeit

Haben gute Performanz in allen diesen Dingen, gemessen etwa

mit … Bruttosozialprodukt pro Kopf Human Development Index Transparency International Corruption Perceptions Index Freedom House Index

... umfassen vor allem die ‚westlichen‘ Staaten

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Merkmale ‚schwacher‘ Staaten I

für die Erreichung offizieller Ziele unangemessene Verwaltungskapazität geringes Maß an gesellschaftlicher Penetrationskraft des Staates wegen

zu großem Gebiet und / oder ortdauernder Macht örtlicher und intermediärer Autoritäten

Überwiegen von informeller Politik, wobei das Zentrum des politischen Prozesses außerhalb formeller Zuständigkeiten und Prozesse liegt. Folgende Merkmale: Wichtigkeit persönlicher Bindungen und persönlicher Herrschaft kaum begrenzte Machtkämpfe von Machthabern, d.h. wenige Grenzen für die

Wahl von Handlungen und Strategien Kanalisierung der Machtkämpfe entlang der Grenzen von Parteiungen,

Familienclans, ethnischen Gruppen, regionalen Autoritäten, nepotistischen Cliquen, personalisierten Netzwerken, Klientelallianzen und Institutionen

soziale Bewegungen können institutionelle Schranken leicht überwinden und großen Einfluß auf das Funktionieren und die Dynamik innerstaatlicher Politik nehmen

Die Schrankenlosigkeit des politischen Prozesses macht Gewalt und Staatsstreiche zu gewöhnlichen politischen Mitteln. Das macht jene, welche das Gewaltinstrumentarium monopolisieren können (v.a.: Militärführer)zu zentralen politischen Akteuren.

Joshua B. Forrest, Weak States in Post-Colonial Africa and Mediaeval Europe, in: Mattei Dogan / Ali Kazancigil, eds., Comparing Nations. Concepts, Strategies, Substance, Oxford 1994, S. 260-296

sind offenbar sehr aktuelle Themen: Afghanistan, Irak, Kongo …

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Merkmale ‚schwacher‘ (fragiler, marginaler) Staaten II

schwach, weil … schwierige geographische oder wirtschaftliche Grundsituation interne Spannungen (ethnische, religiöse, sprachliche, kulturelle, soziale

Konflikte) und / oder Kleptokratie übliche äußere Anzeichen:

reduzierte oder sich verringernde Fähigkeit, politische Güter (von innerer Sicherheit bis zur Demokratie oder gar sozialen Gerechtigkeit) in ausreichendem Umfang herzustellen

Anzeichen von Vernachlässigung bei Infrastruktur, Bildungssystem, Rechtssystem sinkendes Bruttosozialprodukt, steigende Korruption Beeinträchtigungen der Selbstorganisation und Eigenaktivität der Zivilgesellschaft

Sonderform: autoritäre Diktaturen einesteils: stabiles Herrschaftssystem – gegründet auf ressourcenverschlingenden

Repressionsapparat sowie auf soziale Gruppen und informelle Politik andernteils:

keine Nachhaltigkeit der Machtressourcen Bereitstellung von nur wenigen politischen Gütern

Beispiele: Kambodscha unter Pol Pot, Irak unter Saddam; heutiges Weißrußland, Turkmenistan, Nordkorea und Libyen

an die 40 Fälle, darunter etwa Haiti und Niger, Tschad und Papua-Neuguinea

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Verwaltung und Staatlichkeit zwei Brennpunkte der ‚gouvernementalen Ellipse‘:

‚Extraktionsfähigkeit‘: Staat braucht verläßlichen Zugriff auf wirtschaftliche Ressourcen, um sein Personal und seine Aktivitäten zu finanzieren

Naturalabgaben (‚Zehnt‘) , ‚Hand- und Spanndienste‘ Steuern und Abgaben

Durchsetzungsfähigkeit: Staat braucht Mittel, als allgemein verbindlich gemeinte Entscheidungen auch durchzusetzen

‚mitgenutzte‘ Personalressourcen: arbeitsteilige Herrschaftsdienstleistungen (v.a.: Polizeiwesen und niedrige Gerichtsbarkeit), Gefolgschaft bei Feldzügen

eigene Verwaltung für beides nötig: verläßliche Verwaltungsstrukturen Darum: Staatlichkeit verfestigt sich (oder eben nicht!) gemeinsam mit

Verwaltungsstrukturen von folgender Eigenart: ausreichend umfangreich und für seine Steuerungsleistung nicht stark auf

Aushandelungsprozesse mit gesellschaftlichen Gruppen angewiesen verläßlich finanziert und nicht in Versuchung, Loyalitäten zu anderen

Financiers als der Regierung aufzubauen fachlich kompetent nicht an politischen Führern orientiert, sondern am politischen

Gemeinwesen und an seinen Rechtsnormen

Der Aufbau von alledem braucht Zeit und Kulturmuster, die Staatlichkeit auch wertschätzen!

schwachen Staaten fehlt es an Verwaltungskapazität und qualifiziertem Verwaltungspersonal

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staatliche Penetrationskraft

Was kann eine Staatsführung tun, um sich auch ohne starke Verwaltung gegenüber der Gesellschaft durchzusetzen? Einbindung lokaler Eliten- und Herrschaftsgruppen in den politischen Prozeß

Beispiele: Adelige und Großgrundbesitzer ( europäische Ständeversammlungen!), Dorfälteste oder deren Räte, Führer ethnischer Gruppen (z.B. Afghanistan, Irak ...)

Problem: so wird ‚Gewaltenteilung‘( noch besteht keine effektive

Herrschaftsmacht!) institutionalisiert und eine Vielzahl von in der Regel lokalistischen und selbstsüchtigen ‚Vetospielern ‘ akzeptiert

später dann: mühsame und oft auch erfolglose Versuche der Zentralregierung, die zunächst ja ganz selbstverständliche Machtteilung zu ihren Gunsten abzuschaffen.

typische Folge I: sich verdichtende staatliche Repression gegen regionale Machthaber und deren Unterstützer; im Grenzfall: Bürgerkrieg

typische Folge II: Auseinanderfallen von Herrschaftsverbünden – mit oder ohne Einmischung von Nachbarstaaten

im faktischen Ausnahmefall: Durchsetzung einer effektiven Zentralmacht bei ... Aufbau eines Systems ausgewogener Gewaltenteilung

… dafür dürfen wohl das Staats-

gebiet und die gesellschaftliche

Heterogenität nicht zu groß sein

Die einschlägigen Probleme sind derzeit gut zu beobachten an den Fällen von Afghanistan und Irak

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Informelle Politik

Wenn es an den (infra-) strukturellen Möglichkeiten zur Implementation von Politik fehlt, dann wird Politik wird zu einem informellen Beziehungsgefüge zwischen den wirklich mächtigen Personen – ganz gleich, worauf ihre Macht beruht ( Max Weber).

Achtung: Unter ‚politischer Begabung‘ versteht man schon in der Alltagssprache die Fähigkeiten, sich ohne den Schutz formaler Positionen erfolgreich durchzusetzen!

Folgen: Ausübung von Herrschaft beruht auf der Fähigkeit eines politischen

Führers, persönliche Allianzen zu schmieden und zu erhalten Staatsgewalt zerfällt in konkurrierende (institutionelle) Blöcke unter

Führern, welche um die politischen und wirtschaftlichen Vorteile des Innehabens staatlicher Stellen kämpfen

Innerstaatliche Politik wird – entlang der Grenzen von Klans, Klientelgruppen, Ethnien, Klassen, Religionen … – zu einem Machtkampf von ‚Beutegemeinschaften‘

Die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft werden fluide und informell, was es den Führern von sozialen Bewegungen leichtmacht, sich in die Zuständigkeiten staatlicher Institutionen einzumischen oder diese sogar zu dominieren.

Achtung: Derlei ist im Rahmen der EU oder auf

internationaler Ebene genauso zu beobachten!

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Rolle sozialer Bewegungen

Vor allem in Krisenzeiten werden staatliche Strukturen in den Strudel der Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen hineingezogen.

Die politische Klasse wird unfähig, solche Konflikte im staatlichen Institutionensystem auszutragen oder wenigstens zu moderieren. Beispiele: staatliche Institutionen am Ende des deutschen

Kaiserreiches (statt dessen: Soldaten- und Arbeiterräte); Volkskammer am Ende des SED-Staates (statt dessen: Runder Tisch)

gilt sogar für die dafür am besten geeigneten Institutionen: Vertretungskörperschaften / Parlamente

Folge: staatliche Amtsträger lassen sich auf wechselseitiges Geben und

Nehmen mit regionalen, ethnischen und religiösen Führern ein an die Stelle von generalisierten Beziehungen zwischen Regierenden

und Regierten treten personalisierte zwischen Patronen und Klienten Wichtig: Jene ‚kritischen Situationen‘ beachten, in denen die

Weichen auf künftig eher ‚staatliche‘ oder ‚klientelistische‘ Politikmuster gestellt werden ( Pfadabhängigkeit)

… unter den besonderen Bedingungen schwacher Staatlichkeit

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vom schwachen zum gescheiterten Staat

leicht Absinken von schwachen zu gescheiterten Staaten bei inkompetenter, korrupter und zugleich arroganter politischer Führung

Anzeichen für solches Absinken im Verhalten politischer Führer: Ausbeutung / Beraubung der eigenen Bevölkerung sich intensivierende autoritäre Herrschaft Einschränkung bürgerlicher Freiheitsrechte Wahlbetrug steigende Zahl politischer Gefangener und unaufgeklärter Morde

weitere Anzeichen für solches Absinken: Abnahme des Bruttosozialprodukts pro Kopf Inflation samt Gebrauch ausländischer Währungen als der

vertrauensstärksten Zahlungsmittel im Inland schlechter werdende Infrastruktur Absinken der durchschnittlichen Lebenserwartung Zunahme von Auswanderung

‚Kandidaten‘ dafür: Zimbabwe, Nepal, vielleicht auch Bolivien

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gescheiterte Staaten stellen nur noch in geringem Umfang politische Güter (von innerer Sicherheit bis

zur Demokratie oder gar sozialen Gerechtigkeit) bereit verwirken dadurch ihre Rolle als erstrangige Anbieter politischer Güter, so daß

Clan- und Bandenführer und sonstige nicht-staatliche Akteure (z.B. INGOs) ihrerseits in diese Rolle rücken.

staatliche Institutionen sind defekt: Bürokratie verliert an Professionalität und wird zum – oft auch noch korrupten –

Unterdrückungsinstrument Gerichte agieren auf Weisung der Regierung und werden für den rechtssuchenden Bürger

unnütz Parlamente, falls existent, sind ‚Abnickorgane‘ demokratische Willensbildung fehlt

Es verfallen: Infrastruktur: Wasser- und Stromversorgung, Telefon, Eisenbahn, Straßen ... Gesundheitssystem, mit Zunahme von Aids und Kindersterblichkeit Bildungssystem, mit steigenden Raten von Analphabeten

Für Reiche bieten sich spektakuläre Profitmöglichkeiten: Währungsspekulation, passive Korruption

Arme werden immer ärmer: sinkendes Bruttosozialprodukt pro Kopf, Wirtschaf schrumpft, Zunahme von Versorgungsengpässen und Hunger

Folge: Aufständische organisieren sich und bedrohen die wohlhabenderen Städte und Personen

= ‚ausgehöhlte Form, in deren Rahmen die grundlegenden Aufgaben eines Staates eben nicht mehr erfüllt werden

z.B. Liberia, Nepal, Sierra Leone, Kongo, Elfenbeinküste …

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Folgeprobleme des Scheiterns von Staaten

‚Export‘ eigener Instabilität in das staatliche Umfeld: Sierra Leona – Liberia – Guinea – Elfenbeinküste Kirgisien – Tadschikistan – Afghanistan

Stützpunkte und Rekrutierungspools von internationalem Terrorismus

z.B. Somalia, Irak nähren internationales Waffen- und

Rauschgiftgeschäft Vermutung:

Es ist vielleicht billiger, dem Scheitern von Staaten vorzubeugen, als nach dem Scheitern von Staaten in humanitäre Hilfe und in Maßnahmen zur Wiederherstellung von Staatlichkeit zu investieren

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zusammengebrochene Staaten

sind sehr seltene und extreme Formen gescheiterter Staatentypisch: Absenz von zentraler politischer Autorität; im Grunde nur noch geographische Begriffe

Kennzeichen: politische Güter (v.a. Sicherheit) durch private Mittel bzw. fallweise

beschafft ‚Sicherheit‘ läuft hinaus auf ‚Recht des Stärkeren‘

nicht-staatliche Akteure übernehmen das Kommando (von Clans bis zu INGOs)

falls noch Teile der früheren Staatsmacht bestehen, arbeiten sie unorganisiert und schwer erkennbar.

einzige Chance des Wiederaufstiegs zur Form des (bloß) ‚gescheiterten‘ Staates: Wiedererlangung von Sicherheit im Inneren und – davon abgeleitet – von Legitimität einer Zentralmacht. Eben das ist die Kernaussage der politischen Analyse von Thomas

Hobbes!

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Folgerungen Die vorrangige Aufgabe ist es wohl weniger, gescheiterte Staatlichkeit

‚wiederherzustellen‘, als vielmehr Möglichkeiten zu finden, mit Weltgegenden zurechtzukommen, in denen … es keine Staatlichkeit gibt Staatlichkeit so schlecht funktioniert, daß die zentralen Staatsfunktionen eben nicht

erfüllt werden (v.a.: Durchsetzung von Recht und Ordnung im Inneren). Es ist einzusehen, daß dieses Problem kleiner ist, als es zunächst erscheint:

‚Staatlichkeit‘ ist kein Entweder/Oder, sondern es gibt immer schon Übergangsstufen. Also ist ein eher traditionelles Problem zu lösen, für das wir viele geschichtliche Erfahrungswerte besitzen.

‚Entstaatlichung‘ muß nicht zu sozialer Unordnung führen. Im Gegenteil scheint erst die Einführung des Staates in Gesellschaften ohne staatliche Tradition viele Formen sozialer Unordnung erzeugt zu haben. Also kann vermutet werden, daß sich jenseits von Staatlichkeit aufs neue stabile Ordnungsformen einspielen werden.

Viele wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse brauchen gar keinen staatlichen Ordnungsrahmen ‚vor Ort‘: etwa benötigen Technik, Währung und Gerichtsbarkeit nur irgendwelche funktionierenden Staaten zur ihrer Nutzbarkeit, nicht aber notwendigerweise den Staat, in dem man sich gerade aufhält.

Bei Bedarf läßt sich seitens von NGOs oder von Staaten mit oder ohne UN-Mandat zur Behebung dringender Probleme zweckbezogen und begrenzt in staatsfreien Regionen intervenieren.

Ende des westlichen Traums einer ‚demokratischen Staatenwelt‘;freilich: kein schönes Erwachen!

Obendrein ist unklar, wohin, wie weit und wie gut die

Reise mit ‚poststaatlichen Strukturen‘ gehen wird!

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Staatsformen im Überblick

Typologie funktionstüchtiger politischer Systeme

‚marginale‘ Staatlichkeit und ihre Rolle unter den politischen Systemen

einige Pathologien politischer Systeme

weitgehend auf zeitgenössische Staatsformen beschränkt

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Arten politischer Systeme

Herrschaftsstruktur

Willensbildung

• monistisch

• gewaltenteilend

politischerGestaltungsanspruch

• begrenzt• unbegrenzt

• konkurrierend

• monopolisiert

(2) totalitäre Diktatur

(1) liberaler demokratische

r Verfassungsstaat

(3) autoritäre Diktatur

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Unterschiede zwischen demokratischen Verfassungsstaaten

Regierungssystempräsidentiell ... semi-präsidentiell / semi-parlamen-tarisch ... parlamentarisch ... Proporzsystem

Rolle plebiszitärer Instrumenterein repräsentative Demokratie ... plebiszitär angereicherte repräsentative Demokratie ... Referendumsdemokratie

Rolle politischen StreitsKonkurrenzdemokratie ... Konkordanzdemokratie (‚Neokorporatismus‘)

Rolle von Föderalismus Einheitsstaat – dezentralisierter Einheitsstaat – Bundesstaat – Staatenbund konkrete institutionelle Ausgestaltung: Zuständigkeitsverteilung,

Finanzbeziehungen, Mitwirkung der Gliedstaaten an der Politik des Gesamtstaats

Art des Parteiensystems, stark wechselwirkend mit der Art des Wahlrechts Verhältniswahlecht – Mischformen – Mehrheitswahlrecht Hegemonialsystem ... Bipolarität ... Fragmentierung; Mischungsverhältnis

zwischen systemtragenden und ‚fundamentaloppositionellen‘ Parteien politische Kultur

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Gesellschaft

Entstehung von Totalitarismus

neue Führungsgruppe

Widerstand

Brechung des

Widerstands

‚Primärphänomen‘

‚Sekundärphänomen‘

will neues Werte-system

durchsetzen

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Autoritäre Diktaturen

Grad der Machtteilung

Grad der Partizipation

• durchstrukturierte Ein-Parteien-Herrschaft

• ‚synarchische‘ Clanherrschaft

Grad derIdeologisierung

• Ideologisierung• Mentalitätspflege

• Depolitisierung• Mobilisierung

‚starker‘ Autoritarismus Totalitarismus

‚schwacher‘ Autoritarismus

‚Sultanismus‘

vielfältige Misch- und

Übergangsformen

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Diktaturen autoritärer Art

Sultanismus (= ressourcenmäßig begrenzte,oft traditional legitimierte persönliche Macht)

‚Palastregierung‘militärisch-bürokratische Herrschaft ‚Ständestaat‘ (alter oder neuer Prägung:

Geburtsstände vs. Berufsstände)vorgeblendeter PluralismusEntwicklungsdiktaturErziehungsdiktatur

schwacher Autoritarismus

starker Autoritarismus

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Auswege ausautoritären Diktaturen

Grad der Machtteilung

Grad der Partizipation

• durchstrukturierte Ein-Parteien-Herrschaft

• ‚synarchische‘ Clanherrschaft

Grad derIdeologisierung

• Ideologisierung

• Mentalitätspflege

• Depolitisierung• Mobilisierung

‚Erziehungsdiktatur‘ Totalitarismus

sultanistischer Autoritarismus

Verfassungsstaatlichkeit

selbstbestimmte Partizipation

kritische Haltung zum System

pluralistischer demokratischer Verfassungssta

atvie

lfälti

ge

Übergan

gsform

e

n

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‚marginale‘ Staatlichkeit

Grad der Machtteilung

Grad der Partizipation

• durchstrukturierte Ein-Parteien-Herrschaft

• Clanherrschaft

Grad derIdeologisierung

• Ideologisierung• Mentalitätspflege

• Apolitizität• Mobilisierung

‚starker‘ Autoritarismus Totalitarismus

‚marginale‘ Staatlichkeit

vielfältige Misch- und

Übergangsformen

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TU Dresden – Institut für Politikwissenschaft – Prof. Dr. Werner J. Patzelt‚marginale

‘ Staatlichke

it

‚marginale Staatlichkeit‘ und die Arten politischer Systeme

Herrschaftsstruktur

Willensbildung

• monistisch

• gewaltenteilend

politischerGestaltungsanspruch

• begrenzt• unbegrenzt

• konkurrierend

• monopolisiert

(2) totalitäre Diktatur

(3) liberaler demokratische

r Verfassungssta

at(1) autoritäre

Diktatur

Ausweg aus marginaler Staatlichkeit: Aufbau einer funktionierenden

autoritären Diktatur – idealerweise mit ‚good governance‘

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Das politische System

Massenmedien

Gesellschaft

Verwaltung

Ford

erun

gen

Unt

erst

ützu

n

g

Entscheidungen /

Regeln

zentrales politisches

Entscheidungs-system

Auswirk

unge

n

Rückkoppelung

Legitimitä

t

… ist eine ‚Maschine zum Politikmachen‘. also: Politikwissenschaftler = Ingenieure

Zweck: Herstellung und Durch-

setzung allgemein verbindlicher

Regeln und Entscheidungen

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Pathologien politischer Systeme I

Massenmedien

Verwaltung

Gesellschaft

Ford

erun

gen Entscheidungen /

Regeln

GesellschaftAusw

irkunge

n

zentrales politisches

Entscheidungs-system

Illegitim

itä

t

korrupt, ineffizient

Unt

erst

ützu

n

g

Rückkoppelung

unglaubwürdig

zentrales politisches

Entscheidungs-system

Achtung: So komplizierte Systeme sind höchst voraussetzungsreich und arbeiten nicht störungsfrei!

= ein sehr weit verbreiteter Zustand politischer Systeme!

‚gescheiterte Staaten‘ / ‚failing states‘

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Pathologien politischer Systeme II

Massenmedien

Verwaltung

GesellschaftGesellschaft

zentrales politisches

Entscheidungs-system

kaum / gar nicht existentkaum / gar nicht existent

zentrales politisches

Entscheidungs-system

Entscheidungen /

Regeln

Unt

erst

ützu

n

g

Auswirk

unge

n

Rückkoppelung

Ford

erun

gen

rudimentäres

Funktionieren

wenig belastbare

Legitimität

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Damit sollte klar sein, ...

wie ausnahmeartig und voraussetzungsreich die Ausformung des politischen Systems als eines ‚Staates‘ ist

welche Folgen der Export von Staatlichkeit in Gesellschaften ohne die Voraussetzungen für Staatlichkeit nach sich zieht

wie politische Systeme sich gliedern lassen:zwischen ‚starken‘ und ‚zusammengebrochenen

Staaten‘nach Kriterien der Staatsformenlehrenach Systempathologien

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