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OBER DEN METHODISCHEN FORTSCHRITT IN DER UMFRAGEFORSCHUNG von Dr. Elisabeth NOELLE-NEUYANN Kaum einer von Ihnen wird die Ansicht hegen, dass sich ein Forschungszweig einfach dadurch entwickelt und vervollkommnet, dass er alter wird. Man miisste wenig von geistiger Arbeit wissen, wenn man eine solche mechanische Vorstellung von wissenschaft- lichem Fortschritt hatte. Allein mit der zunehmenden Zahl von Jahren, die eine wissenschaftliche Methode benutzt wird, verbessert sie sich noch nicht, sondern es wachst lediglich die Zahl der Anwen- dungsfalle. Diese Tatsache erklart, wie es moglich ist, dass die Umfrage- forschung ein immer mehr benutztes Instrument ist, ohne dass ein- drucksvolle wissenschaftliche Fortschritte dabei verzeichnet werden. Stichproben-Auswahl, mehr oder weniger gebundener Frage- bogen, miindliches Interview, Lochkarten-Verarbeitung - im Groben liegen die Arbeitsprinzipien fest. Eine Wahlprognose inner- halb geringer statistischer Toleranzen kann man damit fertig- bringen - dieses Zauberkunstiick : wenige tausend Personen zu befragen und daraus abzuleiten, wie Millionen Menschen wahlen werden. Dass diese massive Demonstration der Tauglichkeit des Ver- fahrens trotz der Kinderschuhe der wissenschaftlichen Entwicklung, in denen wir noch stecken, immer und immer wieder moglich ist, ist entscheidend gewesen fur die grosse Rolle, die heute die Umfrage- forschung in einem grossen Teil der Welt spielt. Ohne diese Demon- stration gabe es heute nicht Hunderte von privatwirtschaftlichen und Universitats-Instituten, die Umfragen (sample surveys) durch- fuhren. Ohne diesen leicht fasslichen Beweis wiirde die Umfrage- forschung in der Politik, der Wissenschaft und im kulturellen Leben kaum in der heutigen unausgesprochen respektvollen Weise ernst genommen.

ÜBER DEN METHODISCHEN FORTSCHRITT IN DER UMFRAGEFORSCHUNG

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OBER DEN METHODISCHEN FORTSCHRITT IN DER UMFRAGEFORSCHUNG

von Dr. Elisabeth NOELLE-NEUYANN

Kaum einer von Ihnen wird die Ansicht hegen, dass sich ein Forschungszweig einfach dadurch entwickelt und vervollkommnet, dass er alter wird. Man miisste wenig von geistiger Arbeit wissen, wenn man eine solche mechanische Vorstellung von wissenschaft- lichem Fortschritt hatte. Allein mit der zunehmenden Zahl von Jahren, die eine wissenschaftliche Methode benutzt wird, verbessert sie sich noch nicht, sondern es wachst lediglich die Zahl der Anwen- dungsfalle.

Diese Tatsache erklart, wie es moglich ist, dass die Umfrage- forschung ein immer mehr benutztes Instrument ist, ohne dass ein- drucksvolle wissenschaftliche Fortschritte dabei verzeichnet werden.

Stichproben-Auswahl, mehr oder weniger gebundener Frage- bogen, miindliches Interview, Lochkarten-Verarbeitung - im Groben liegen die Arbeitsprinzipien fest. Eine Wahlprognose inner- halb geringer statistischer Toleranzen kann man damit fertig- bringen - dieses Zauberkunstiick : wenige tausend Personen zu befragen und daraus abzuleiten, wie Millionen Menschen wahlen werden.

Dass diese massive Demonstration der Tauglichkeit des Ver- fahrens trotz der Kinderschuhe der wissenschaftlichen Entwicklung, in denen wir noch stecken, immer und immer wieder moglich ist, ist entscheidend gewesen fur die grosse Rolle, die heute die Umfrage- forschung in einem grossen Teil der Welt spielt. Ohne diese Demon- stration gabe es heute nicht Hunderte von privatwirtschaftlichen und Universitats-Instituten, die Umfragen (sample surveys) durch- fuhren. Ohne diesen leicht fasslichen Beweis wiirde die Umfrage- forschung in der Politik, der Wissenschaft und im kulturellen Leben kaum in der heutigen unausgesprochen respektvollen Weise ernst genommen.

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Die Umfrageforschung verdankt den Wahlprognosen vielfach ihre aussere Anerkennung. Konnte es sein, dass die Wahlprognosen jetzt umgekehrt die Umfrageforschung hemmen, sie in ihrer methodischen Entwicklung aufhalten ? Fiihrt die Genauigkeit der Wahlprognosen dazu, die Umfragemethode fur fertig, fur wissen- schaftlich ausgereift zu halten ? Tauscht sie uber die Empfindlich- keit und Schwierigkeit der Verfahren hinweg ? Lasst sie wirkliche Anstrengungen, neue Kontrollmoglichkeiten zu erfinden und iiber die Grundlagen der Methode nachzudenken, uberfliissig erscheinen ?

In den vergangenen zehn, fiinfzehn Jahren ist die Stagnation der Forschungsmethode der Sozialwissenschaft kaum aufgefallen, weil - nach aussen hin sehr dekorativ, sehr wirkungsvoll - zahl- reiche von der Psychologie entwicltelte Testinstrumente adoptiert wurden. Satzerganzungstests, Wortassoziationstests, Rorschach- test, Zeichentest, Farbentest, T A T . , semantische Profile, Varia- tionen des Szondi-Tests, Intelligenztests, Baumtests, grapholo- gische Tests sind so eingerichtet worden, dass si sogar in standar- disierten Interviews bei Befragung reprasentativ-statistischer Querschnitte durch normale Interviewer ohne besonderes Training benutzt werden konnen.

Durch den Aufsatz von Paul F. Lazarsfeld The Art of Asking Why, 1935 zuerst - soweit ich sehen kann - eingeleitet l, wird mit der ubernahme dieser Testinstrumente die naive Fragetechnik wenigstens fallweise abgelost. Es handelt sich um einen sehr wich- tigen Schritt. Die Umfrageforschung iiberschreitet damit zum erstenmal die Grenze der Aussagefahigkeit oder Aussagebereit- schaft der Person, die befragt wird ; mit psychologischer Technik befragt, teilt der Befragte mehr mit, als ihm bewusst ist.

Als charakteristische Fortschritte sind dabei zwei Punkte fest- zuhalten :

1. Man beginnt zu verstehen, dass bestimmte Fragen - vor allem Fragen nach Motiven und nach Wirkungen - nicht direkt im Interview gestellt werden konnen, sondern in geeignete Test- fragen iibersetzt werden miissen. Und in Verbindung damit setzt sich

Paul F. LAZARSFELD, The Art of Asking Why. National Marketing Review, Sommer 1935, Vol. I, Nr. 1.

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2. eine immer sauberere Unterscheidung durch zwischen den Programmfragen einer Untersuchung, den Ermittlungsaufgaben, den (( Ausgangsfragen o einerseits also den Problemen, die durch die Untersuchung geklart werden sollen, und anderseits den Testfragen des Fragebogens, also den Fragen, in die die Programm- fragen iibersetzt worden sind.

Hiermit kommt eine Entwicklung in Gang, die nach meiner Erwartung auch das nachste Jahrzehnt in methodischer Hinsicht bestimmen wird : ich meine eine Verlagerung des methodischen Interesses von Fragen der statistischen Stichproben-Theorie, der Bildung des reprasentativen Querschnitts auf die Probleme der Fragebogen-Gestaltung und die Probleme der Analyse.

Ich bin uberzeugt, dass die Umfrageforschung noch einmal eine Vertrauenskrise durchzustehen haben wird, wenn offenkundig wird, wie stark die Ergebnisse der Erhebungen durch den Fragebogen bestimmt werden, und wie wenig bisher von Universitats-Instituten und privaten Instituten unternommen worden ist, um diese emp- findlichen Stellen der Methoden zu verstehen.

Ein konkretes Beispiel, um nicht so im allgemeinen zu bleiben, ein Vergleich von zwei Umfragen, die zu gleicher Zeit nach gleichem statistischen Auswahlverfahren durchgefuhrt wurden und die sich nur darin unterscheiden, dass einmal nur eine Alternative, dass andere Ma1 beide Alternativen ausformuliert waren :

Frage: (( Finden Sie, dass in einem Betrieb alle Arbeiter in der Gewerkschaft sein sollten ? D

(Nicht ausformulierte Alternative.) Und im Vergleich dazu : Frage: (( Finden Sie, dass in einem Betrieb alle Arbeiter in der

Gewerkschaft sein sollten, oder muss man es jedem einzelnen iiber- lassen, ob er in der Gewerkschaft sein will oder nicht ? o

(Beide Alternativen ausformuliert.) Wahrend in unzahligen Aufsatzen, Diskussionen, Vortragen die

berechenbare statistische Fehlerspanne bei Random-Stichproben gepriesen wird, verschiebt sich das Meinungsbild in der Frage des a closed shop o, der geschlossenen Gewerkschaftszugehorigkeit der

Juristen sprechen auch von 6 Beweisfragen o und von Testfragen.

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Ergebnisse der ersten Fassung : Alternative nicht ausformuliert

Es sollten alle Arbeiter in einem Betrieb in der Gewerkschaft sein 44 % . . . . Es ist Sache des einzelnen, ob er in der Gewerkschaft sein will . 20 % . . . . Unentschieden , . . . . . . . 36 % . . . .

100 %

Ergebnisse der zweiten Fassung : Beide Alternativen ausformuliert

. . . . 2 4 %

. . . . 70 Yo

. . . . 6 % 100 yo

Arbeiterschaft eines Betriebes von 20 Prozent auf 70 Prozent Gegner allein durch Veranderung des Fragetextes. Die Sozial- forscher werden sich viele Jahre lang mit den psychologischen Gesetzen der Befragungen beschaftigen miissen, so sehr gerade die wenigen unter ihnen, die die wissenschaftliche Entwicklung der Umfrageforschung zu ihren Anliegen gemacht haben, die klarere Materie der Mathematik auch bevorzugen mogen.

* * * Stanley L. Payne schliesst sein 1951 erschienenes Buch, The Art

of Asking Quesfions, mit den folgenden Worten :

(( One last recommendation tha t I have already stated many times but which deserves the prominence of these final words is this : Controlled experiment is the surest way of making progress in our understanding of question wording. Never overlook an opportunity t o employ the split-ballot technique. ))

Der methodische Fortschritt in der Umfrageforschung steht und fallt mit der Frage, ob das kontrollierte Experiment als Erkenntnismittel in den kommenden Jahren mehr als bisher benutzt werden wird. Die Situation ist zur Zeit - zehn Jahre nach der dringlichen Empfehlung von Payne - nicht gunstig. Vor einigen Monaten besuchte ein Sozialforscher eine Reihe von euro- paischen Marktforschungsinstituten, um mit einem vorbereiteten Fragebogen die Ansichten der Institutsleiter iiber einige metho-

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dische Probleme unseres Faches zu erfragen. Dabei stellte er fest, dass die Mehrzahl von der Methode der gegabelten Befragung noch nichts gehort hatte. Die Anwendung dieses Prinzips, die Zahl der kontrollierten Experimente ist entsprechend gering, und das Ergebnis ist jene methodische Stagnation in unserem Fach, die durch gute Wahlprognosen und ubernahme psychologischer Tests nicht mehr lange uberdeckt werden wird.

Ober Payne hinausgehend mochte ich sagen : in den nachsten Jahren ist der methodische Fortschritt in der Umfrageforschung nur auf zwei Wegen moglich :

1. Theoretisch durch eine Auseinandersetzung mit der Idee der Statist&, ein klares Verstandnis der Bedingungen statistischer Untersuchungsmethoden und eine konsequente Anwendung dieser Erkenntnisse auf die Methodengestaltung.

Ich kehre zu diesem Punkt spater zuruck.

2. Empirisch durch fortgesetzte, mannigf altige, unermudliche Anwendung des Prinzips der gegabelten Untersuchungsanlage, des statistischen Experiments.

Die kommenden Jahre miissen durch eine Hinwendung zum experimentellen Denken gekennzeichnet sein, und die kontrollierten Experimente diirfen sich nicht auf die Klarung von Problemen der Frageformulierung oder Konstruktion von Fragebogen beschran- ken, sondern sie mussen uberall gebraucht werden. An die Stelle der dogma tischen Diskussionen uber die statistische Auswahlmethode - Random und Quota -, die sich durch einen bemerkenswerten Mange1 an Blick fur psychologische Faktoren auszeichnen - miissen kontrollierte Experimente treten, die zu den theoretischen Ober- legungen die Beobachtungen hinzufugen werden l. Ebenso miissen die Fragen der besten Interviewer-Auswahl, Ausmass und Dauer der Beschaftigung, Anleitungund Kontrolle der Interviewer durch Ex-

Bekanntgewordene Experimente dieser Art zahlen F. F. STEPHAN, Ph. J. MCCARTHY : Sampling Opinions ; An Analysis of Survey Procedure, New York, London 1958 in Kapitel 8 : Comparison of Estimates Obtained from Two or More Sample Surveys, auf ; siehe auch das weitere Beispiel von C. A. MOSER und A. STUART : An Experimental Study of Quota Sampling, Journal of the Royal Statistical Society, 116 (1953), 349-405.

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perimente gegabelterverfahrensweisen geklart werdenl. Und schliess- lich bieten sich bei der Entwicklung der Aufbereitungstechniken und bei der Analyse gute Ansatzpunkte fur kontrollierte Experimente.

Ich illustriere diese uberlegungen durch einige Experimente, die im Allensbacher Institut fur Demoskopie in den letzten zehn Jahren durchgefiihrt wurden.

Zuerst ein Beispiel fur die Entwicklung von Regeln der Frage- bogentechnik. Wir haben ungefahr zweihundert gegabelte BeIra- gungen - jede einzelne mit im allgemeinen zweitausend Inter- views im reprasentativen Bevolkerungsquerschnitt - durchgefuhrt, um zu untersuchen, welchen Einfluss verschiedene Arten, Alter- nativen oder Auswahlantworten zu prasentieren, auf das Ergebnis von Umfragen haben ; welchen Einfluss die Reihenfolge und die Lange der Alternativen hat, welchen Einfluss die Form : ob man die Alternativen nur ausspricht oder auf einer Liste zeigt oder in die Form eines Dialoges zwischen zwei Personen kleidet, ob man Listen oder Kartenspiele verwendet, um eine grossere Zahl von Auswahlant- worten vorzulegen. Welchen Einfluss es hat, ob aus einer grosseren Zahl vonAuswahlantworten beliebigviele genannt werden diirfen,eine begrenzte Zahl genanntwerden darf, odernureineAntwort ausgewahlt werden soll. Weiter, welchen Einfluss die Numerierung bei Karten- spielen hat, die Reihenfolge der Punkte auf einer Liste und so fort.

In gegabelten Befragungen wurde die Halfte der Interviews mit der Reihenfolge der Alternativen A, dann B - und wiederum die Halfte mit. der Reihenfolge By dann A, durchgefuhrt. Wir beobach- teten : Werden die Ergebnisse davon beeinflusst, ob eine Alterna- tive am ersten oder zweiten Platz steht, und falls ja : wie stark werden sie davon beeinflusst ?

Wenn wir fanden, dass unter bestimmten Bedingungen die Ergebnisse nicht dadurch beeinflusst wurden, ob die Alternative am ersten oder zweiten Platz stand, zogen wir daraus die Konse-

Vgl. dazu : Donald RUGG, Trained us. Untrained Interviewers. In : Hadley CANTRIL, Gauging Public Opinion. Princeton University Press, Humphrey Milford, Oxford University Press. London 1944.

J. DURBIN und A. STUART, Differences in Response Rates of Experienced and Inexperienced Interviewers. Journal of the Royal Statistical Society, A 114 (1951). 13. S. BOOKER und S. T. DAVID, Differences in Results Ob- tained by Experienced and Inexperienced Interviewers. Journal of the Royal Statistical Society, A 115 (1952).

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quenz, dass wir bei unseren Fragebogen, wenn diese bestimmten Bedingungen gegeben waren, die Alternativen nicht mehr wie fruher in der Halfte der Interviews zu tauschen brauchten; wir konnten eine einheitliche Fragefassung verwenden und dennoch sicher sein, neutrale, von der Reihenfolge der Alternativen unbeein- flusste Ergebnisse zu erhalten.

Fanden wir unter anderen bestimmten Bedingungen, dass die Ergebnisse verschieden ausfielen, je nachdem, ob eine Alternative den ersten oder zweiten Platz hatte, so folgten zwei Konsequenzen :

1. Wir legten fest, dass unter diesen Bedingungen die Alter- nativen der Frage grundsatzlich in der Halfte der Interviews ver- tauscht werden mussten.

2. Wir priiften, bei welcher Anordnung die Reihenfolge der Alternativen relativ am wenigsten ausmachte, wann sich die Ergeb- nisse der einen und der anderen Reihenfolge am nachsten kamen, und bevorzugten in zukunftigen Fallen diese Form.

Ich mochte dazu konkrete Beispiele geben. - Bei Fragen nach Meinungen mit kurzen Alternativen - nicht

mehr als vier Worte - weichen die Ergebnisse durchschnittlich um 3,O Prozent voneinander ab, je nachdem, ob eine Alternative am ersten oder zweiten Platz im Fragetext erscheint.

- Bei Fragen nach Meinungen mit langeren Alternativen ver- andern sich die Ergebnisse durchschnittlich um 4,s Prozent je nach Stellung der Alternativen.

- Wenn die Meinungen, zwischen denen die Befragten zu ent- scheiden haben, in Dialog-Form gekleidet werden (Herr A sagt . . ., Herr B sagt . . .), und die Dialoge sind verhaltnis- massig kurz, verandern sich die Ergebnisse durchschnittlich um 5,l Prozent je nach Stellung der Alternativen.

- Sind die Dialoge lang, verandern sich die Ergebnisse durch- schnittlich um 7,3 Prozent je nachdem, welche Aussage zuerst kommt und welche am Schluss.

- Schreibt man solch einen langeren Dialog jedoch auf eine Liste, die dem Befragten vorgelegt wird, so dass er den Text noch einmal nachlesen kann, so vermindert sich der Einfluss der Position. Die Veranderung der Ergebnisse betragt durchschnittlich 6,7 Prozent.

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- Wenn man nun das Interesse der Befragten dadurch belebt, dass man den langeren Dialog zwei auf einem Bildblatt darge- stellten Figuren in den Mund legt (Bildblatt), so vermindert sich der Einfluss der Reihenfolge weiter, die Ergebnisse weichen durchschnittlich um 5,4 Prozent voneinander ab.

Man wird sich zu Recht scheuen, aus den Ergebnissen einzelner Split-Ballot-Experimente Regeln abzuleiten. Hier aber handelt es sich nicht um Einzelfalle, sondern um statistische Durchschnitts- werte - allein fur die Frage der Reihenfolge von Alternativen rund achtzig Umfragen mit etwa 150000 Interviews -, mit denen bewiesen ist, dass

- die Benutzung von Bildblattern keine Spielerei ist, sondern nutzlich, um zuverlassige Ergebnisse zu erhalten ;

- langere Alternativen, wenn sie nicht zu vermeiden sind, auf eine Karte geschrieben werden sollten, damit sie die Befragten noch einmal selbst nachlesen konnen ;

- das Bemuhen um kurze statt langer Alternativen nicht grundlos ist, sondern die Qualitat der Ergebnisse verbessert ;

- keine uberflussige Pedanterie darin liegt, bei Fragen nach Mei- nungen die Alternativen in der Halfte der Interviews zu ver- tauschen.

Bei Fragen nach Verhaltensweisen oder anderen einfachen Fakten brauchen dagegen die Alternativen in der Regel nicht ver- tauscht zu werden. Die Ergebnisse sind praktisch unabhangig von der Stellung der Alternativen.

Warum halten wir ubrigens jene Frageform fur am besten, bei der der Einfluss des Platzes der Alternativen am geringsten ist?

Wir konnen sagen : je mehr der Inhalt der Frage die Befragten fesselt, desto weniger Einfluss wird die Reihenfolge der Alterna- tiven, also die blosse aussere Form der Frage auf die Antworten haben; oder umgekehrt: wenn sich die Ergebnisse einer Frage stark verandern, je nachdem, ob eine Alternative am ersten oder zweiten Platz steht, haben offenbar blosse ausserliche Formfragen, die nichts mit dem Inhalt unserer Frage zu tun haben, die Ant- worten beeinflusst, und selbstverstandlich suchen wir nach der-

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jenigen Frageform, bei der der Inhalt am starksten und die aussere Form am wenigsten die Ergebnisse bestimmen.

Mit Hilfe dieser Formel haben wir sogar ein objektives Krite- rium gewonnen, welche von zwei Fragen zum gleichen Thema klarer, besser, treffender formuliert ist : diejenige namlich, bei der die Drehung der Alternativen bei einem Split-Ballot-Test die geringste Wirkung auf das Ergebnis hat. Wir haben auch erste Anhaltspunkte, dass Suggestiv-Fragen mit der Split-Ballot- Methode erkannt werden konnen : die Drehung der Alternativen scheint bei ihnen besonders starke Schwankungen in den Ergeb- nissen zu bewirken.

Dieses Beispiel illustriert, wie die zukunftige Entwicklung der Methoden aussehen wird. Wir werden nicht Ansicht gegen Ansicht stellen - begriinden, warum Bildblatter zur Darstellung von Dia- logen die Antworten verbessern, oder die These aufstellen, dass sie eine Spielerei sind -, sondern wir werden kontrollierte Experimente machen. Da uns vereinzelte Experimente wenig helfen, werden Ergebnisse verschiedener Forschungsgruppen zusammengetragen und gemeinsame Forschungsprogramme verabredet werden miis- sen, um Fortschritte zu machen.

Ich mochte diese methodischen Zukunftsperspektiven nicht nur an einem Beispiel der Fragebogen-Konstruktion erlautern, sondern auch a n Interviewer-Problemen.

Zunachst ein Experiment, das in der Anlage sehr ahnlich wie eine gegabelte Befragung aussieht. Es war zu uberprufen, ob die schriftlichen Anweisungen, die den Interviewern zusammen mit den Fragebogen iibersandt werden, die Interviewer tatsachlich zu steuern vermogen, oder ob sie ziemlich wirkungslos sind ((( Lesen die Interviewer doch gar nicht ! v) .

Bei Anwendung der Quotenauswahl ist eine gewisse Tendenz der Interviewer zu beobachten, als ((Landwirte )) bevorzugt grossere, gleichsam besonders augenfallige Bauern aufzusuchen. Dies sollte, wenn moglich, durch schriftliche Anweisungen korrigiert werden.

Achtzig an einer Umfrage in Bayern mitwirkende Interviewer wurden in zwei gleich grosse Gruppen - Versuchsgruppe und Kontrollgruppe - eingeteilt. Den Interviewern der Versuchs- gruppe wurde geschrieben : (( Achten Sie bitte darauf, dass nicht alle

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Ihre Landwirte Grossbauern sind oder nur ganz kleine Hofe besitzen. Wechseln Sie ab, nehmen Sie einmal einen grossen Hof und dann wieder einen kleineren. n Die Interviewer der Kontroll- gruppe bekamen zu diesem Punkt keine besonderen Anweisungen.

Der Vergleich der Ergebnisse zeigte, dass eine derartige schrift- liche Anweisung wirkungsvoll ist. Der Anteil von Bauern mit mehr als zwanzig Hektar Landbesitz fie1 von 40 Prozent bei Interviewern, die keinen besonderen Hinweis erhalten hatten, auf 21 Prozent - statistisch genau richtige Verhaltnis - bei der Versuchsgruppe. Ahnliche Beobachtungen wurden bei Umfragen mit einer besonders grossen Zahl politischer Fragen gemacht, bei denen jeder zweite Interviewer die Anweisung erhielt, eine normale Auswahl zu treffen und nicht speziell nach politisch interessierten Befragten zu suchen. Der Anteil der politisch informierten Befragten war bei Interviewern, die keine besondere Anweisung erhalten hatten, hoher als iiblich, wahrend er bei Interviewern der Versuchsgruppe, denen der besondere Hinweis gegeben worden war, den gleichen Anteil erreichte, der bei sonstigen allgemeinen Bevolkerungsum- fragen gemessen wird.

Das zweite Experiment : Da sich auch in Deutschland die Un- sitte ausbreitet, dass Vertreter sich als Interviewer von Meinungs- forschungsinstituten vorstellen, um leichter in den Haushalt Einlass zu finden, wurde geplant, die Interviewer aller Institute, die im Arbeitskreis Deutscher Marktforschungs-Institute zusammenge- fasst sind, einheitlich anzuweisen, am Beginn des Interviews ihren Ausweis vorzulegen. Wiirde ein Vorzeigen eines Ausweises am Beginn den Kontakt erschweren, gleichsam wie eine (( Amtshand- lung 1) wirken ?

Diese Frage sollte gepruft werden, bevor irgendwelche allge- meinen Vorschriften ergingen. Bei einer Umfrage, bei der insge- samt dreihundert Interviewer mitwirkten, wurde jeder zweite auf- gefordert, diesmal am Anfang seinen Ausweis zu zeigen. Alle drei- hundert Interviewer hatten bei jedem Interview zu notieren, ob der Kontakt leicht oder schwer herzustellen war. Der Vergleich der Aufzeichnungen der beiden Interviewergruppen zeigte, dass das Vorzeigen der Ausweise keinen Einfluss auf den Beginn des Inter- views hatte. Die geplante Anordnung konnte also erlassen werden.

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Diesen beiden Experimenten war gemeinsam, dass sie in Ver- bindung rnit Umfragen abgewickelt wurden, also dem Model1 der gegabelten Befragung noch recht ahnlich waren. Anders ein Expe- riment, um die beste Formulierung f iir schriftliche Anweisungen f iir Interviewer zu finden, bei Random-Adressen mit Hilfe von Zufallsziff ern die Zielpersonen fur die Befragung zu bestimmen. Einige Zeit hindurch erhielten Interviewer-Bewerber im gleich- massigen Wechsel die eine oder andere Anweisung und dazu ver- schiedene Obungsaufgaben, die sie nach der Anweisung zu losen und an das Institut zuriickzuschicken hatten. Eine der beiden Formulierungen brachte ein Drittel mehr fehlerfreie Losungen und wurde daraufhin allgemein eingefiihrt.

Solche systematische experimentelle Oberpriifung von Inter- viewer-Anweisungen wird insbesondere bei der Arbeit in Entwick- lungslandern eine grosse Bedeutung gewinnen. Dies gilt auch fur das nachste Experiment.

1st es erforderlich, Interviewer selbst auszuwahlen, oder kann man ebenso gut oder besser geeignete schriftliche Tests entwickeln ?

Nachdem wir einige Jahre hindurch schriftliche Eignungstests festgelegt hatten, liessen wir eine Gruppe von fiinfzig Bewerbern auf zwei unabhangig gefiihrten Wegen beurteilen : ein Psychologe, der scho n lange mit Interviewern gearbeitet hatte, besuchte per- sonlich alle funfzig Bewerber, testete sie und stellte ihre Eignung nach einer Punkt-Skala fest. Gleichzeitig und ohne Kontakt rnit dem reisenden Psychologen wurden in der Zentrale im Institut schrift- liche Tests der funfzig Bewerber ausgewertet.

Die Ergebnisse der beiden Beurteilungsmethoden stimmten so genau uberein, dass im weiteren in unserem Institut die Auswahl nach schriftlichen Tests vorgenommen wurde (das Experiment muss allerdings in regelmassigen Abstanden wiederholt werden). Der Vorteil bei einer Interviewerauswahl nach schriftlichen Tests liegt darin, dass die Bedingungen statistischer Arbeit, die strikte Einheitlichkeit der Behandlung aller Interviewer auf diese Weise besser gesichert werden kann. Bei der Zusammenarbeit zwischen unserem und einem anderen Institut, dessen Interviewer-Organi- sation nicht streng zentralisiert ist, sondern dezentralisiert rnit Bezirks-Interviewerchefs, zeigten die regionalen Umfrage-Resultate

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bei dezentralisierter Interviewer-Streuung starkere Abweichungen als bei zentralisiertem Interviewereinsatz. In diesem Fall war die gemeinsame Umfrage der beiden Institute mit zwei reprasentativen Random-Stichproben mit je etwa 7 000 Interviews als Feldexperi- ment zu betrachten.

Waren bei dem Experiment mit den funzig Bewerbern die Ergebnisse der personlichen und schriftlichen Beurteilung vonein- ander abgewichen, hatte ein anschliessendes Beobachtungsexperi- ment von ein bis zwei Jahren zeigen mussen, ob im Hinblick auf Kontaktfahigkeit, Punktlichkeit, Sorgfalt, Korrektheit und Aus- dauer die personliche oder die schriftliche Beurteilung das treff en- dere Bild gab. Dieses interessante Experiment, das wir naturlich vorbereitet hatten, musste also ausfallen.

Aber ein anderes langfristiges Experiment wurde durchgefuhrt, um festzustellen, ob regelmassige monatliche u News letters % an Interviewer uns nur Spass machen - oder Arbeit, je nachdem -, oder ob sie bei der Betreuung der Interviewer eine nutzliche Funktion erfullen.

Am Beginn eines Jahres teilten wir unsere Interviewer-Organi- sation von rund 600 Interviewern in zwei Gruppen: jeder zweite Interviewer in der Kartei wurde der Testgruppe zugeteilt, die zwolf Monate hindurch keine Rundbriefe mehr erhielt.

Nach Ablauf des Experiments stellten wir fest : ohne Rund- briefe gaben die Interviewer rascher ihre Tatigkeit wieder auf. Dabei verliert man, wenn man auf die Rundbriefe verzichtet, Interviewer in Dorfern, die ohnehin schwerer zu gewinnen sind, und besonders gute Interviewer schneller als mittlere oder massige Interviewer. Auffallend hoch ist auch erst neu eingestellten Interviewern.

die Verlustquote unter eben

* * * Notwendig und der vereinten Anstrengungen der Statistiker und

Sozialwissenschaftler wert erscheinen mir kontrollierte Experimente uber die Wirkung der Quota- und Random-Auswahlmethode. Hier besteht die Gefahr, dass ein fur die Sozialforschung besonders geeignetes Instrument - die gezielte Auswahl nach statistischen

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Quoten - durch rein theoretisch-mathematische Argumente, ein unsoziologisch-statistisches Denken disqualifiziert wird. Gegabelte Befragungen, die je zur Halfte mit Quota- und Random-Stichpro- ben vorgenommen werden, einen breiten Facher psychologischer und sozial-okonomischer Kriterien erfassen und an externen Daten kontrolliert werden (nicht etwa - wie in einem unbewussten Vor- urteil zugunsten des Random-Systems oft angenommen wird - daran, ob Ergebnisse einer Umfrage mit Quotenauswahl mit Ergeb- nissen einer Random-Stichprobe ubereinstimmen), mussen uns die Grundlagenkenntnisse bringen, wann das eine und wann das andere Prinzip mit grosserem Nutzen angewandt wird. Die Bedingungen, unter denen die Quotenauswahl benutzt werden kann, sind kompli- zierter als beim klassischen Random-Verfahren. Aber schon heute steht nach vorliegenden Experimenten fest, dass beide Prinzipien - teilweise sogar kombiniert - zu unserem Handwerkszeug gehoren miissen. Ober die Ergebnisse eines Experiments mit 2 000 Quota- und 2 000 Random-Interviews, das unser Institut in diesem Jahr durchfiihrte, ist in einem Referat auf der kiirzlichen Jahrestagung der Deutschen Statistischen Gesellschaft - dessen Text Interessenten auf Anforderung beim Allensbacher Institut zur Verfugung steht - ausfuhrlich berichtet worden. Ich greife hier nur zwei Ergebnisse zur Illustration heraus.

Der gelaufigste praktische - nicht theoretische - Einwand gegen die Quota-Methode lautet, die Interviewer suchten sich leicht zugangliche, aufgeschlossene, sympatisch wirkende Befragte aus, wenn ihnen innerhalb ihrer Quote die Auswahl selbst uberlassen sei.

Bei den eben erwahnten parallel durchgefuhrten Random- und Quota-Umfragen notieren die Interviewer am Ende des Interviews, wie sympathisch ihnen der Befragte war, und wie leicht das Inter- view lief. Das Ergebnis : sympathisch waren 58 yo der Zielpersonen der Random-Umfrage. den Interviewern 62 yo der nach Quota ausgewahlten Personen. mittel 29 yo der Zielpersonen der Random-Umfrage.

25 % der nach Quota ausgewahlten Personen.

unsympathisch 13 % der Zielpersonen der Random-Umfrage. 13 yo der nach Quota ausgewahlten Personen.

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Das Interview lief sehr leicht bei 28 yo der nach Random ausgewahlten Ziel-

personen. 26 Yo der nach Quota ausgewahlten Personen. 30 yo der Random-Stichprobe. 32 yo der Quota-Stichprobe.

ziemlich leicht

mittel 25 yo der Random-Stichprobe. 26 yo der Quota-Stichprobe.

etwas schwierig

sehr schwierig

13 yo der Random-Stichprobe. 13 % der Quota-Stichprobe. 4 % der Random-Stichprobe. 3 % der Quota-Stichprobe.

Man kame, wenn man diesen Vergleich betrachtet, kaum auf den Gedanken, dass die Interviewer hier in dem einen Fall iiber Personen berichten, die sie selbst ausgewahlt haben, und in dem anderen Fall iiber Personen, deren Adressen ihnen zugewiesen wurden - so ahnlich scheint das menschliche Klima der Befragun- gen gewesen zu sein.

Irgend etwas zwingt offenbar die Interviewer, auch da, wo ihnen nach dem Quota-System die Wahl iiberlassen ist, von per- sonlichen Neigungen abzusehen, und wir konnen vermuten, was sie zwingt : die Schwierigkeit namlich, iiberhaupt Personen zu finden, die die Anforderungen der Quote erfullen. Hier zeichnet sich ab, wie wir die Wirkungsweise der Quotenauswahl zunehmend besser durchschauen werden, und wahrscheinlich wird es gelingen, den Nachweis zu fiihren, dass unter bestimmten, angebbaren Bedin- gungen die Quotenauswahl den gleichen statistischen Zufallscha- rakter hat wie die Random-Auswahl.

* * * Ich habe eingangs zwei Wege des methodischen Fortschritts

in der Umfrageforschung erwahnt - einen theoretischen und einen empirischen. Beide gehoren zusammen, wir mussen wechselnd einmal auf dem einen, einmal auf dem anderen vorankommen.

METHODISCHEN FORTSCHRITT I N DER UMFHAGEFORSCHUNG 321

Wir haben Anlass, sehr vie1 mehr als bisher uber das Wesen des Zahlens nachzudenken.

Die heute gelaufigen Verbesserungsvorschlage fur die Methoden der Umfrageforschung : - weniger oberflachlich zu fragen, inten- siver zu fragen, die Interviewer besser zu schulen und was der- gleichen Ratschlage mehr sind - zeigen nur die Fremdheit gegen- uber dem statistischen Denken, zeigen den Versuch, sich in die traditionellen Formen der Erkundigung im klugen Einzelgesprach zu retten.

Die Umstellung vom gewohnten Denken auf statistisches Denken fordert eine besondere, auf unseren Bildungswegen vor allem vom Geisteswissenschaftler wenig eingeubte Abstraktions- Leistung. . Der erste und wichtigste Imperativ jeder Zahlung ist : Vergleich- barkeit. Wir konnen nicht zahlen, ohne eine Vergleichbarkeit vorweg hergestellt zu haben. Diese Vergleichbarkeit aber erreichen wir nur, wenn wir bei der Adage von Untersuchungen auf Einheit- lichkeit der Erhebung und Auswertung, auf Inuarianz drangen.

Das Prinzip der Invarianz und ein zweites: das Prinzip der Austauschbarkeit aller von einer Erhebung beruhrten Personen - der Befragten, der Interviewer, der Auswerter - ohne Veranderung der Untersuchungsergebnisse, oder was das gleiche ist :

Die Ablosung des Denkens von der Person mit ihrer komplexen Individualitat und die Hinwendung auf die durch eines oder jeden- falls wenige gemeinsame Merkmale bezeichnete Gruppe : - diese beiden Wesenszuge statistischer Erkenntnis mussen in ihren Folge- rungen durchdacht werden, um die Methode der Umfrageforschung mit theoretischem Denken zu fordern und damit kraftvoll die Methodenentwicklung voranzutreiben.

Alle Beispiele, die ich angefuhrt habe, sollen eines betonen und ganz deutlich machen : Wir brauchen eine Verbreiterung der experi- mentellen Orientierung, wir brauchen kontrollierte Experimente, urn mit der Methode der Reprasentativ-Erhebungen wissenschaft- liche Fortschritte zu machen.

Wie aber kommen wir zu diesen Experimenten? Wer macht sie? Wer finanziert sie? Wir mussen noch fruher mit den Fragen einsetzen : Wer will sie, wer halt sie fur notwendig?

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Wir finden ein eigenartiges, herablassendes Verhaltnis zu den Instrumenten der empirischen Forschung, das im Gedanken an die kommenden Jahrzehnte Sorge bereiten muss.

Junge Sozialwissenschaftler, die sich rnit den Methoden in jahrelanger Arbeit vertraut gemacht haben und ein methodolo- gisches Problem in ihrer Dissertation oder Habilitationsschrift behandeln mochten, erfahren von ihren Universitatslehrern, dass ein solches Thema (( bei der Fakultat nicht durchzubekommen ist )).

Bei einer normalen, zur Eingliederung in die Gesellschaft not- wendigen Veranlagung zum Konformismus passen sie sich bald diesem Wertsystem an. Andere stellen bei der Mitarbeit bei einer oder zwei Erhebungen fest, welche unerwartete, alptraumhafte Arbeit rnit dem Entwurf und der Auswertung verknupft ist, welcher Zeitverbrauch und wie wenig an personlicher Anerkennung heraus- springt bei solchen Untersuchungen, die ja meist nur von einer Gruppe arbeitsteilig bewaltigt werden konnen. Von dann an ziehen sie Aufgaben vor, bei denen sie ihre Krafte okonomischer einsetzen konnen und treffen sich rnit denjenigen Kollegen, die von Anfang an die Ansicht vertraten, dass sie mit der Durchfuhrung von Umfragen nichts zu tun haben wollten, dass man das ruhig den a kommerziellen Instituten )) uberlassen konne.

Allen hier Anwesenden ist zweifellos klar, dass unter diesen Umstanden die Arbeit zur methodischen Fundierung der empi- rischen Sozialforschung nicht geleistet werden wird.

Von den echten kommerziellen Instituten der, wie man sagt, 4 Markt- und Meinungsforschung u, nicht, weil die erforderlichen umfangreichen kontrollierten Experimente unter kaufmannischen Gesichtspunkten gar nicht zu vertreten sind; von den Universi- tats-Instituten nicht, weil die jungen Wissenschaftler sich nicht gerade den Aschenputtel-Aufgaben zuwenden werden, den Berei- chen rnit niedrigerem Prestige, aber besonders grosser Muhseligkeit, und weil auch die Laboratorien, die Organisationen an der Univer- sitiit bisher nicht vorhanden sind, mit denen man kontrollierte Experimente rnit 100000,200000 Interviews durchfuhren konnte, wie ich sie zuerst beschrieben habe und wie sie in der Tat notwendig sind.

Um diese Laboratorien an den Universitaten einzurichten, miissten ganz neue Etat-Titel geoffnet werden, und das gilt nicht

METHODISCHEN FORTSCHRITT IN DER UMFRAGEFORSCHUNG 323

nur in West-Europa, das gilt - mit wenigen Ausnahmen - genauso in den Vereinigten Staaten.

Die Etats kommen erfahrungsgemass und auch berechtigter- weise nicht am Anfang einer wissenschaftlichen Entwicklung, sondern damit sie geschaff en werden, mussen vorweg uberzeu- gungen entstehen, die ihre Notwendigkeit uberwaltigend deutlich machen.

Die gegenwartige, wenig hoff nungsvolle Lage erklart sich - ohne hier im einzelnen bis zu den Wurzeln zuruckzugehen - aus verschiedenen Ansichten und Einstellungen :

In erster Linie halt man die Methoden der Umfrageforschung fur ausreichend entwickelt, glaubt, dass mit einer guten theore- tischen, sozial-wissenschaftlichen Bildung und einigen Literatur- kenntnissen uber die empirischen Methoden Fragebogen aufgestellt und Auswertungen vorgenommen werden konnen, und dass es damit sein Bewenden haben kann.

Tatsachlich muss jemand 30 bis 50 Studien in allen Phasen durchgefuhrt haben, um die Methoden in ihrem heutigen Stand hinlanglich zu beherrschen und vor groben Fehlern geschutzt zu sein (von methodischer Fortentwicklung ganz zu schweigen).

Aber solche Feststellungen begegnen Unglauben. Sicher, hier spielt Wunschdenken mit. Hatten die sozialwissenschaftlichen Universitats-Institute fur empirische Forschungen die gleichen Mittel wie die Naturwissenschaft, ware die Perspektive anders. Aber es kommt hinzu die Schwierigkeit der Validitats-Kontrollen bei solchen Studien oder, umgekehrt ausgedruckt, die verhangnis- volle Leichtigkeit von Trugschlussen : Es ist dem umfangreich und gewissenhaft ausgearbeiteten Tabellenmaterial in der Regel nicht anzumerken, wieviel ausschliesslich methodisch begrundete Fehler darin stecken. Wie selten verfugt man iiber externe Kontrolldaten oder Konfrontationen mit der Wirklichkeit wie bei Wahlprognosen !

Dieser Mange1 an Kontrollmoglichkeiten erklart wohl, warum man die methodischen Probleme des Messens, die Fuhrung stich- haltiger, zahlenmassiger Nachweise im allgemeinen so uninter- essant findet, sich um Fortschritte in der Prazision des Messens zu wenig bemuht. Wenn man bei Irrtumern mit einer raschen Feststellung rechnen musste, ware es wohl anders.

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Der Fortschritt der Naturwissenschaften ist aufs engste mit der Fortentwicklung der Beobachtungsinstrumente, der Verfeine- rung der Messverfahren verkniipft. Es ware interessant fcstzu- stellen, eine wie grosse Zahl von Nobelpreisen verliehen worden ist fur die Entdeckung neuartiger verfeinerter Messverfahren.

Eine entscheidende Voraussetzung fur den methodischen Fort- schritt in der Sozialforschung ist es, die Probleme des prgzisen Messens nicht liinger als (( Technikalien u zu betrachten, soridern zu unterscheiden, wann es sich um Mefhodenfragen handelt, Erfin- dungen, Entwicblungen, durch die neue Bereiche der Untersuchung und Messung zuganglich werden, und wann um Technik, die rou- tinemassige hnwendung einmal gef undener methodischer Losungen.

Die Erfindung und Formulierung von Testfragen, Testanord- nungen, die Entdeckung von Skalen, von Indizes, die ganze uber- setzung der Untersuchungsaufgaben in Fragebogen-Konstruk- tionen, die Entwicklung analytischer Einfalle zur Erschliessung des Materials konnen ihrein Wesen nach nicht als Technik definiert werden.

Technische Fahigkeiten im Umgang mit den Instrumenten mussen hinzukommen, Erfahrung und hohe handwerkliche Geschicklichkeit.

Dies konnte man schon Mitte der vierziger Jahre bei Elton Mayo nachlesen, der sich damals bereits Sorge machte, wie man den Universitatseinrichtungen, bei denen die Studenten der Medizin und Naturwissenschaft die Geschicklichkeiten erwerben, die sie brauchen, urn als Wissenschaftler tatig zu sein - wie man diesen Universitats-Einrichtungen etwas Entsprechendes fur die Sozial- wissenschaften zur Seite stellen konnte.

Man d a d sich nicht dariiber tauschen : Es miissen sehr erschreckende, machtige Barrieren beiseite

geschoben werden, um die methodischen Fortschritte in der empi- rischen Sozialforschung in Breite in Bewegung zu bringen ...

Es muss zum Beispiel die Einstellung zur wirtschafilichen Organisationsform wissenschaftlicher Institutionen uberpriift wer- Iden.

I Elton MAYO : Probleme industrieller Arbeitsbedingungen, Verlag der Fcankiurter Hefte, Frankfurt am Main, 0. J.

METHODISCHEN FORTSCHRITT I N DER UMFRAGEFORSCHUNG 325

Diese Notwendigkeit ist vor der Sozialforschung in dcr Natur- wissenschaft aufgetreten. Als beispielsweise vor einigen Jahren bei der Technischen Hochschule von Karlsruhe ein Zyklotron errichtet wurde, wurde man sich dariiber klar, dass dabei derartig umfang- reiche, wirtschaftlich-organisatorische Aufgaben zu bewaltigen wareii, dass man als Trager dieses Atomforschungs-Zentrums eine GmbH grundete.

Aber noch allgemeiner formuliert : Es geht nicht langer an, dass man als Definition fur * Wissen-

schaft )) - diese Tendenz findet sich verbreitet - bequem sagt : Wissenschaft sind alle Tatigkeiten, die im Rahmen der Unioersi- taten ausgefuhrt werden, und was ausserhctlb der Universitat getan wird, ist keine Wissenschaft.

Man muss genug Urteilsvermogen besitzen, um an Hand der Arbeiten selbst, die hier oder da entstehcn und vorgelegt werden, zu entscheiden, ob es sich dabei urn Wissenschaft handelt oder nicht, ob sie die Kriterien wissenschaftlicher Arbeit - Beobach- tung, Klassifizierung, Erklarung durch Ableitung von Regeln, Prognose unter wiederholbaren und iiberpriifbaren Bedingungen - ob sie diese Kriterien erfullen oder nicht.

Diese Umorientierung ist erforderlich, weil der methodische Fortschritt in der Umfrageforschung noch auf langere Sicht in entscheidenderweisevon den privatwirtschaftlich organisierten, aber mit wissenschaftlichen Zielen tatigen Instituten derumfrageforschung und ihren Laboratorien befordert und mitgetragen werden muss.

Es darf fur den jungen Wissenschaftler hier keine Rangunter- schiede geben. Der mittleren Generation der Universitatslehrer fallt heute in erster Linie die Aufgabe zu, dieseBrucke zu schlagen,in einer nicht formalen, sondern die Sache selbst prufenden Orientierung.

Von ihrer Haltung, ihrer Bereitschaft zum Unbequemen und Vorurteilslosen hangt nach meiner uberzeugung mehr als von irgendeinem anderen Faktor der methodische Fortschritt in der empirischeii Sozialforschung ab.

Die Umorientierung betrifft nicht nur die Organisationsforinen der wissenschaftlichen Forschung - eine andere Barriere, die bei- seite geschoben werden muss, ist die hbneigung, profane Stoffe zu bearbeiten.

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Ebenso wie die Naturwissenschaft keine Grenze ziehen darf zwischen wissenschaftlich wiirdigen und wissenschaftlich unwiir- digen Gegenstanden, so muss sich auch die Sozialforschung frei machen von einem solchen Wertsystem. Der profane Bereich birgt eine Fiille von sozialwissenschaftlich fruchtbaren Themen, deren Bearbeitung dazu beitragen wird, das Gebaude der Gesellschafts- wissenschaften entstehen zu lassen. Und der profane Bcreich bietet in methodischer Hinsicht wichtige Aufgaben-Stellungen und besonders wirksame Validitats-Kontrollen.

Eine weitere Barriere, leicht formuliert, aber schwer zu bewe- gen : der Dogmatismus iiber die wissenschaftliche Prozedur, das Verhaltnis von Theorie und Empirie.

Muss am Anfang einer wissenschaftlichen Untersuchung eine Hypothese stehen, oder kann sie auch beginnen mit nichts anderem als dem Vorhaben, ein bestimmtes Feld - klar abgegrenzt - genau zu beobachten, auszukundschaften?

Dem Naturwissenschaftler erscheint eine solche Feld-Beobach- tung selbstverstandlich, der Sozialforscher weigert sich haufig, die Augen aufzumachen, bevor er eine Hypothese formuliert hat.

Hier mochte ich Patricia Kendall und Paul F. Lazarsfeld zitieren :

((At their present stage of development, the social sciences cannot insist on this paradigm. Our thinking is rarely far enough progressed t o enable us t o start out with a sharply formulated hypothesis; most studies are exploratory, directed toward the general exami- nation of a field in order t o develop theoretical formulations. Furthermore, even if the original problem was well thought through, the actual study often has new and unanticipated impli- cations. o

Neuerdings zum gleichen Thema H. L. Zetterberg a : (( Die soziologische Forschung wird gewohnlich so dargestellt, als ob erst eine Theorie formuliert wiirde, die dann einer empirischen

Patricia KENDALL und Paul F. LAZARSFELD in : Problems of Survey A nalgsis, in : Continuities in Social Research, Herausgeber Robert K. Merton und Paul F. Lazarsfeld, Free Press, Glencoe, Ill., 1950, S. 133.

* H. L. ZETTERBEHO : Theorie, Forschung und Praxis in der Soziologie : in : Handbuch der empirischen Sozialforschung, herausgegehen von Ren6 Konig, Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart, 1962, Seite 79 und 84.

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Priifung unterzogen wird. Wenn dies auch vielleicht das allge- meine Prinzip des Fortschritts soziologischer Erkenntnis ist, so sollte man sich doch nicht zu der Annahme verleiten lassen, als sei dies der tatsachliche Ablauf der Mehrzahl der soziologischen Forschungsprojekte. In der praktischen Forschung werden die gesammelten Daten oft zur Revision der Theorie benutzt. ))

Und : (( ... einzig die Erfahrung durch Versuch und Irrtum kann uns lehren, ob wir von gewohnlichen Aussagen leichter auf dem Umweg iiber theoretische Hypothesen als iiber Einzelergebnisse zu Gesetzen gelangen. Das ist eher eine Frage der Zweckmassigkeit und der aufzuwendenden Arbeit als eine der Wissenschaftslogik. e

Welche Rolle spielt die einfache Beobachtung und der Zufalls- Fund in der Entwicklung der Soziologie ? Es hat einen guten Grund, dass das Wort (( Serendipity )) von Robert Merton aus der engli- schen Literatur des 18. Jahrhunderts herangeholt worden ist - ein in der Sprache des modernen Sozialwissenschaftler bis dahin nicht vorhandener Begriff fur die gluckliche (( Zufalls-Entdeckung rp.

Zu den Hindernissen der geisteswissenschaftlichen Tradition, die den methodischen Fortschritt in der Sozialwissenschaft nicht in Gang kommen lasst, fugt sich die unbeschreibliche Miihseligkeit der Arbeit. Das ha t Max Weber 1911 in einem Diskussionsbeitrag auf der Tagung des Vereins fur Sozialpolitik so beschrieben :

Q Glanzende und bequeme Themata sind Dinge nicht, bei denen man unter Umstanden, wie auch ich es getan habe, etwa 30 000 Rechenexempel - bei einigen Mitarbeitern werden es 100 000 gewesen sein - im Kopfe zu machen hat, um dann viel- leicht zu finden, dass bei neun Zehnteln von ihnen nichts heraus- kam. Wir hoffen auf eine Elite von Mitarbeitern, die diese schwere Last einer rein mechanischen und auf keine Weise auf bezahlte Krafte abzuwalzende Arbeit auf sich nehmen wollen - nicht abwalzbar, weil n u r w a h re n d des eigenen, personlichen fort- wahrenden Errechnens von Zahlen dem Bearbeiter die Einfalle kommen, die er braucht, um diese Zahlen zu deuten und neue Fragestellungen zu finden. n

Max Weber wusste damals noch nicht, dass es nicht nur um die Last der Rechenarbeiten geht, sondern dass aus gleichen Grunden der Sozialwissenschaftler auch Hunderte von Interviews selbst

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ausfuhren muss, weil ihm erst bei der Erprobung der Fragestel- lungen unter den Bedingungen der Wirklichkeit die Einsichten iiber die Eignung der Ansatze kommen.

Wie wenig aber liegt es dem jungen Wissenschaftler, an fremden Hausturen zu klingeln und die Interviews zu erbitten !

Die Gefahr fur den Fortschritt der Sozialwissenschaft liegt heute weniger in der Schwache der Theorie als im Mange1 an expe- rimenteller Gesinnung.

Das Ergebnis ist - auch in den Vereinigten Staaten zu beob- achten - ausserordentliche Verfeinerung der analytischen Ansatze bei mit unzureichenden Methoden erhobenem Material.

Mit diesen Ausfuhrungen habe ich versucht, auf eine Gefahr hinzuweisen, in der sich die Sozialforschung befindet - die Gefahr, zu bauen, ohne die Fundamente zu sichern. Ob diese Gefahr gebannt wird, wird eine Probe auf das wissenschaftliche Gewissen unserer Disziplin darstellen.